Gone Girl - Das perfekte Opfer
Roman
„Gone Girl – das perfekte Opfer“ von Gillian Flynn ist in Amerika ein Riesenerfolg - und auch bei uns ein Mega-Bestseller.
Laut dem Stern ist der raffiniert gewobene Psychothriller „sehr fein, sehr klug, sehr...
Leider schon ausverkauft
Buch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Gone Girl - Das perfekte Opfer “
„Gone Girl – das perfekte Opfer“ von Gillian Flynn ist in Amerika ein Riesenerfolg - und auch bei uns ein Mega-Bestseller.
Laut dem Stern ist der raffiniert gewobene Psychothriller „sehr fein, sehr klug, sehr weiblich“. Und die Frauenzeitschrift Brigitte warnt in weiser Voraussicht „Sie werden Ihren Partner nach der Lektüre mit anderen Augen sehen“ ...
Machen Sie sich gefasst auf eine Geschichte, die Sie immer wieder aus der Bahn wirft. Sie denken, Sie sind ein passionierter Krimileser? Achtung: Kaum haben Sie sich in „Gone Girl“ eine Meinung gefasst und Sie ahnen bereits, worauf alles hinausläuft - einmal umgeblättert, schon ist wieder alles völlig anders. Überraschend, perfide inszeniert, bitter und bösartig. Eine wahre Achterbahnfahrt, auf die Sie sich einlassen sollten, denn der „Fahrpreis“ ist jeden Cent wert. Dieser Pageturner von Gillian Flynn, dieser irrwitzige Strudel aus Lügen, Täuschungen und Verrat wird auch Sie nicht kalt lassen. „Gone Girl“ fesselt bis zur letzten Zeile.
Die Geschichte fängt harmlos an. Amy und Nick sind seit einigen Jahren verheiratet. Es geschieht, was viele Paare kennen: Mit der Zeit verfliegt der Zauber des Anfangs, die Verliebtheit weicht dem Alltag, die Harmonie schwindet. Bei „Gone Girl“ beginnt genau hier eine verstörende Scharade.
Am fünften Hochzeitstag kommt Nick abends nach Hause, bereits alarmiert durch einen besorgten Nachbarn. Die Haustüre steht offen, Amy ist verschwunden: „Ich rannte ins obere Stockwerk. Keine Amy ... Ich bog ins Wohnzimmer ab und erstarrte. Auf dem Teppich schimmerten Glasscherben ... Mitten im Chaos entdeckte ich eine gute, scharfe Schere.“ Nick wird verdächtigt, seine Frau ermordet zu haben. Amys Freunde erzählen, dass sie Angst vor ihm hatte, Nick bestreitet dies vehement. Bald stößt die Polizei auf erdrückende Beweise gegen ihn. Aber ist die wunderbare Amy wirklich so unschuldig, wie jeder denkt? ...
Die amerikanische Schriftstellerin Gillian Flynn ist 1971 in Kansas City geboren und lebt derzeit mit ihrer Familie in Chicago. 2006 erschien ihr Debütroman „Cry Baby“, mit dem sie auf Anhieb einige Krimi-Preise gewann. Auch ihr zweites Buch „Finstere Orte“ war erfolgreich. „Gone Girl“, ihr dritter Roman, ist ein Megaseller: Er verkaufte sich über 3 Millionen Mal, wurde mit Ben Affleck in der Hauptrolle verfilmt und war auch im Kino ein Riesenerfolg.
Bestellen Sie „Gone Girl“ von Gillian Flynn ganz bequem online und freuen Sie sich auf einen intelligenten Psychothriller der Spitzenklasse!
Lese-Probe zu „Gone Girl - Das perfekte Opfer “
Gone Girl von Gillian FlynnNick Dunne
Der Tag, als
... mehr
Zuerst wartete ich in der Küche auf die Polizei, aber der beißende Geruch des verkokelten Wasserkochers machte sich in meinem Hals breit und verstärkte meinen Wunsch, mich zu übergeben, also schlenderte ich auf die Veranda hinaus, setzte mich auf die oberste Stufe und versuchte, mich zu beruhigen. Immer wieder wählte ich die Nummer von Amys Handy, aber jedes Mal meldete sich nur die Voice Mail, und Amy beteuerte in Quickclip-Frequenz, sofort zurückzurufen. Das tat sie immer. Aber jetzt waren schon drei Stunden vergangen, ich hatte fünf Nachrichten hinterlassen, und Amy hatte sich nicht gemeldet.
Das erwartete ich eigentlich auch nicht. Das würde ich auch der Polizei sagen: Amy hätte niemals das Haus verlassen, während der Wasserkocher noch an war. Sie hätte niemals die Tür offenstehen oder etwas zum Bügeln liegen lassen. Sie war eine Frau, die Dinge erledigte, sie brach ein Vorhaben nicht mittendrin ab (zum Beispiel die Ehe mit ihrem renovierungsbedürftigen Mann), selbst wenn sie zu dem Schluss gekommen war, dass es ihr nicht gefiel. In unseren Flitterwochen hatte sie grimmig am Strand von Fidschi gesessen, sich durch die eine Million mystischen Seiten von Haruki Murakamis Roman Mister Aufziehvogel gekämpft und mir säuerliche Blicke zugeworfen, weil ich einen Thriller nach dem anderen verschlang. Seit wir zurück nach Missouri gezogen waren und sie ihren Job verloren hatte, waren winzige, unbedeutende Projekte ihr Lebensinhalt. Das Kleid wäre garantiert von ihr fertiggebügelt worden.
Und dann das Wohnzimmer - dort gab es Spuren, die auf einen Kampf hindeuteten. Mir war sonnenklar, dass Amy nicht zurückrufen würde. Ich wollte, dass der nächste Teil in Gang gesetzt wurde.
Es war die schönste Zeit des Tages, ein wolkenloser Julihimmel, die Strahlen der langsam untergehenden Sonne tauchten alles in ein üppiges goldenes Licht - ein flämisches Gemälde. Endlich tauchte die Polizei auf. Ich fühlte mich ganz entspannt, wie ich da auf der Treppe saß, ein Vogel sang im Baum sein Abendlied, die beiden Cops stiegen gemächlich aus ihrem Auto, als hätte ich sie zu einem Nachbarschaftspicknick eingeladen. Jungspunde, Mitte zwanzig vielleicht, selbstbewusst und brav, gewohnt, besorgte Eltern zu beschwichtigen, wenn ihre Teenager lange nach der vereinbarten Zeit immer noch nicht zu Hause waren. Eine junge Latino-Frau und ein schwarzer Typ mit einer Haltung, als wäre er bei den Marines gewesen. In meiner Abwesenheit war Carthage ein bisschen (ein winziges bisschen) weniger weiß geworden, aber immer noch so streng ausgegrenzt, dass die einzigen Farbigen, die ich sah, meistens von Berufs wegen unterwegs waren: Lieferanten, Sanitäter, Postleute, Cops. (»Die Ecke hier ist so weiß, dass es schon beunruhigend ist«, sagte Amy oft, obwohl sie selbst im Schmelztiegel Manhattan nur eine einzige Afro-Amerikanerin zu ihren Freunden gezählt hatte. Ich warf ihr vor, ethnische Augenwischerei zu betreiben, Minderheiten als Lokalkolorit zu missbrauchen. Natürlich kam das nicht gut an.)
»Mr. Dunne? Ich bin Officer Velásquez«, sagte die Frau, »und das hier ist Officer Riordan. Wir haben gehört, Sie machen sich Sorgen um Ihre Frau?«
Riordan blickte die Straße hinunter und lutschte eifrig an einem Bonbon. Ich sah, dass seine Augen einem Vogel folgten, der pfeilschnell über den Fluss schoss. Widerwillig riss er sich schließlich los und musterte mich. An seinen gekräuselten Lippen konnte ich erkennen, dass er sah, was alle sahen. Ich habe ein Gesicht, in das man reinschlagen möchte: Ich bin ein irischer Arbeiterklasse-Typ, gefangen im Körper eines schnöseligen reichen Idioten. Um mein Gesicht wettzumachen, lächle ich viel, aber das führt nur manchmal zum gewünschten Erfolg. Auf dem College habe ich eine Weile eine Brille aufgesetzt, eine mit Fensterglas, weil ich dachte, sie würde mir eine freundliche, nicht bedrohliche Ausstrahlung verleihen. »Dir ist schon klar, dass du damit noch mehr wie ein Arschloch aussiehst?«, meinte Go eines Tages. Daraufhin warf ich die Brille weg und lächelte noch mehr.
Ich winkte die Cops zu mir. »Kommen Sie ins Haus und sehen Sie sich um.«
Die beiden stiegen die Treppe hinauf, begleitet von leisen Quietsch- und Schlurfgeräuschen ihrer Gürtel und Revolver. Unter der Wohnzimmertür blieb ich stehen und deutete auf das Bild der Zerstörung.
»Oh«, sagte Officer Riordan und knackte forsch mit den Fingergelenken. Auf einmal sah er viel weniger gelangweilt aus.
Riordan und Velásquez setzten sich an den Esszimmertisch und stellten mir all die üblichen Einleitungsfragen: wer, wo, wie lange. Und sie spitzten richtig die Ohren. Außerhalb meiner Hörweite hatte Riordan telefoniert, und er informierte mich, dass man Detectives schicken würde. Man nahm mich ernst, ich konnte stolz sein.
Gerade fragte Riordan mich zum zweiten Mal, ob ich in letzter Zeit irgendjemand Fremdes in der Nachbarschaft gesehen hatte, und erinnerte mich zum dritten Mal an die überall in Carthage herumstreunenden Obdachlosen, da klingelte das Telefon. Ich spurtete durchs Zimmer und griff nach dem Hörer.
»Mr. Dunne, hier ist das Comfort Hill Assisted Living«, sagte eine säuerliche Frauenstimme. Das Pflegeheim, in dem Go und ich unseren Vater, der an Alzheimer litt, untergebracht hatten.
»Ich kann jetzt nicht sprechen, aber ich rufe Sie gleich zurück«, sagte ich kurz angebunden und legte auf. Die Frauen, die im Comfort Hill arbeiteten, waren mir verhasst: kein Lächeln, kein Trost. Aber sie waren auch mörderisch unterbezahlt, wahrscheinlich konnten sie deshalb weder lächeln noch trösten. Ich wusste, dass mein Ärger über sie an die falsche Adresse ging - es machte mich so wütend, dass mein Vater weiterhin auf der Welt herumhing, während meine Mutter unter der Erde war.
Go war mit dem Scheck an der Reihe. Zumindest war ich ziemlich sicher, dass der Juli ihr Monat gewesen war. Bestimmt dachte sie umgekehrt, ich wäre dran. Das war uns schon öfter passiert, und Go meinte, wahrscheinlich würden wir so oft die Schecks vergessen, weil wir eigentlich unseren Dad vergessen wollten.
Als ich Riordan gerade die Geschichte von dem Penner erzählte, den ich im leerstehenden Nachbarhaus gesehen hatte, klingelte es an der Tür. Es klingelte. Das klang so normal, als hätte ich Pizza bestellt.
Müde trotteten die beiden Detectives herein, wahrscheinlich waren sie am Ende ihrer Schicht. Der Mann war dünn und schlaksig, mit einem Gesicht, das sich zum Kinn hin drastisch verengte. Die Frau war erstaunlich hässlich - unverfroren hässlich, über das alltägliche Maß hinausgehend: kleine, engstehende Knopfaugen, eine lange schiefe Nase, mit winzigen Höckern übersäte Haut, lange schlaffe Haare von der Farbe einer Wollmaus. Ich habe eine Schwäche für hässliche Frauen. Schließlich bin ich von drei Frauen großgezogen worden, die alle keine Augenweide waren - meine Großmutter, meine Mom, ihre Schwester - und sie waren allesamt kluge, freundliche, lustige, starke - einfach großartige Frauen. Amy war das erste hübsche Mädchen, mit dem ich jemals ausgegangen bin, also richtig ausgegangen.
Die Hässliche sprach zuerst, wie ein Echo von Officer Velásquez. »Mr. Dunne? Ich bin Detective Rhonda Boney. Das hier ist mein Partner, Detective Jim Gilpin. Wir haben gehört, Sie machen sich Sorgen um Ihre Frau?«
Mein Magen knurrte so laut, dass alle Versammelten es hören konnten, aber wir taten so, als wäre nichts.
»Können wir uns mal umschauen, Sir?«, fragte Gilpin. Er hatte dicke Tränensäcke unter den Augen und graue Zotteln im Bart. Sein Hemd war nicht zerknittert, wirkte an ihm aber so; Gilpin sah überhaupt aus, als müsste er nach Zigaretten und abgestandenem Kaffee stinken, obwohl er das nicht tat. Er roch nach Seife.
Ich führte die beiden über die kurze Treppe ins Wohnzimmer, deutete wieder auf den Trümmerhaufen, in dem die beiden jüngeren Cops noch knieten, als warteten sie darauf, endlich mal bei einer sinnvollen Tätigkeit wahrgenommen zu werden. Boney steuerte mich zu einem Stuhl im Esszimmer, ein Stück weg, aber mit Blick auf die Spuren eines Kampfes.
Dann ging sie mit mir dieselben Grundfragen durch, die ich bereits Velásquez und Riordan beantwortet hatte, und ihre aufmerksamen Spatzenaugen ließen mich keine Sekunde unbeobachtet. Gilpin ließ sich auf ein Knie nieder und taxierte das Wohnzimmer.
»Haben Sie schon Freunden oder Familienmitgliedern Bescheid gesagt - Leuten, bei denen Ihre Frau vielleicht sein könnte?«, fragte Rhonda Boney.
»Ich ... Nein. Noch nicht. Ich hab erst mal auf Sie alle gewartet.«
»Ah.« Sie lächelte. »Lassen Sie mich raten: Sie sind das Nesthäkchen. «
»Ich habe eine Zwillingsschwester.« Ich ahnte, dass mein Gegenüber gerade innerlich ein Urteil über mich gefällt hatte. »Warum?« Amys Lieblingsvase lag auf dem Boden, sie war gegen die Wand gerollt, aber noch intakt. Ein Hochzeitsgeschenk, japanische Kunst. Jede Woche, wenn die Putzfrau kam, wurde die Vase weggepackt, denn Amy hatte Angst, dass die Frau sie kaputt machen würde.
»Nur so eine Vermutung, warum Sie auf uns gewartet haben: Sie sind es gewohnt, dass andere Leute die Führung übernehmen«, erklärte Boney. »Mein kleiner Bruder ist genauso. Ein Gesetz der Geschwisterreihe. « Sie kritzelte etwas in ihr Notizbuch.
»Okay.« Ich zuckte wütend die Achseln. »Brauchen Sie auch noch mein Sternzeichen, oder können wir anfangen?«
Boney lächelte freundlich und wartete.
»Ich hab nicht mit Freunden telefoniert, weil ... ich meine, offensichtlich ist sie nicht bei Freunden«, erklärte ich und deutete auf die Unordnung im Wohnzimmer.
»Sie wohnen seit zwei Jahren hier, Mr. Dunne?«, fragte sie.
»Im September werden es zwei Jahre, ja.«
»Von wo sind Sie hergezogen?«
»New York.«
»City?«
»Ja.«
Sie deutete nach oben, fragte stumm um Erlaubnis, und ich nickte und folgte ihr. Gilpin übernahm die Nachhut.
»Ich hab dort als Journalist gearbeitet«, platzte ich heraus, ehe ich mir auf die Zunge beißen konnte. Selbst jetzt, wo ich seit zwei Jahren wieder hier wohnte, konnte ich es nicht ertragen, dass jemand dachte, dies wäre mein einziges Leben.
Boney: »Klingt beeindruckend.«
Gilpin: »Für wen?«
Ich passte meine Antwort dem Treppensteigen an: Ich hab für eine Zeitschrift geschrieben (Schritt), über Pop-Kultur (Schritt), für ein Männer-Magazin (Schritt). Oben an der Treppe drehte ich mich um und sah, dass Gilpin versonnen auf unser Wohnzimmer hinabschaute. Mit einem Ruck wandte er seine Aufmerksamkeit wieder mir zu.
»Pop-Kultur?«, rief er nach oben, während er die ersten Stufen in Angriff nahm. »Was genau umfasst das denn?«
»Populäre Kultur eben«, antwortete ich. Dann waren wir beide oben, wo Boney bereits auf uns wartete. »Film, Fernsehen, Musik, aber, äh, nicht die hohen Künste, nichts Geschwollenes.« Ich zuckte zusammen. Geschwollen? Wie herablassend. Für euch Bauerntrottel übersetze ich mein Englisch, Komma, Ostküste gebildet, lieber in Englisch, Komma, Mittelwesten rustikal. Ich schreib halt so Zeug, was mir in die Birne kommt, wenn ich grad im Kino war!
»Sie liebt Filme«, sagte Gilpin und deutete auf Boney. Boney nickte: Tu ich.
»Jetzt gehört mir The Bar, eine Kneipe in Downtown«, fuhr ich fort. Ich unterrichtete auch einen Kurs am Junior College, aber auf einmal kam es mir zu bedürftig vor, das auch noch anzuführen. Schließlich war ich nicht bei einem Date.
Boney spähte ins Badezimmer, Gilpin und ich blieben auf dem Flur. »The Bar?«, wiederholte sie. »Kenne ich. Wollte da immer mal vorbeischauen. Toller Name. Treffend.«
»Klingt nach einer guten Idee«, sagte Gilpin. Boney machte sich auf den Weg zum Schlafzimmer, wir folgten ihr. »Ein von Bier umgebenes Leben kann nicht so schlecht sein.«
»Manchmal liegt die Antwort tatsächlich auf dem Boden der Flasche «, sagte ich und zuckte innerlich wieder zusammen, weil es so gar nicht passte.
Wir betraten das Schlafzimmer.
»Ja, das Gefühl kenn ich«, lachte Gilpin.
»Sehen Sie das Bügeleisen? Ist immer noch an.«, begann ich.
Boney nickte, öffnete die Tür zu unserem geräumigen Wandschrank, ging hinein, knipste das Licht an, ließ ihre behandschuhte Hand über Hemden und Kleider gleiten und ging ganz nach hinten. Plötzlich stieß sie einen erstaunten Laut aus, bückte sich, drehte sich um - und hielt eine perfekt würfelförmige, kunstvoll in Silberpapier eingewickelte Schachtel in der Hand.
Mein Magen krampfte sich zusammen.
»Hat jemand Geburtstag?«, fragte Boney.
»Hochzeitstag.«
Boney und Gilpin zuckten wie zwei Spinnen, taten aber, als wäre nichts passiert.
Als wir ins Wohnzimmer zurückkehrten, waren die beiden jugendlichen Polizisten verschwunden. Gilpin ging auf die Knie und beäugte die umgefallene Ottomane.
»Eh, ich bin ein bisschen durch den Wind«, begann ich.
»Verständlich, Nick, absolut verständlich«, erwiderte Gilpin ernst. Er hatte blassblaue Augen, die unruhig flatterten, ein entnervender Tick.
»Können wir irgendwas machen? Um meine Frau zu finden. Ich meine, sie ist ja offensichtlich nicht hier.«
Boney deutete auf das Hochzeitsbild an der Wand: Ich im Smoking, die Zähne zu einem starren Grinsen gebleckt, die Arme förmlich um Amys Taille geschlungen; Amy, die blonden Haare zu kleinen Löckchen aufgedreht und festgesprayt, der Schleier vom Seewind auf Cape Cod verweht, die Augen aufgerissen, weil sie immer in letzter Minute blinzelte und sich furchtbar anstrengte, genau das nicht zu tun. Es war der Tag nach Independence Day, der Schwefelgeruch hing noch in der salzigen Meerluft - Sommer.
Cape Cod hatte es gut mit uns gemeint. Ich erinnere mich, wie ich nach ein paar Monaten unserer Bekanntschaft entdeckte, dass meine Freundin Amy ziemlich wohlhabend war, das einzige Kind kreativ-genialer Eltern. Eine Art Kultobjekt, dank einer nach ihr benannten Buchreihe, an die ich mich aus Kindertagen dunkel zu erinnern glaubte. Amazing Amy. Amy erklärte mir das eines Tages in ruhigem, bedächtigem Ton, als redete sie mit einem gerade aus dem Koma erwachten Patienten. Als hätte sie diesen Vortrag schon zu oft halten müssen, und als wäre es oft genug schiefgegangen - das Geständnis, reich zu sein, das mit zu viel Enthusiasmus aufgenommen wird, die Offenbarung einer verborgenen, von anderen erschaffenen Identität.
Amy erzählte mir also, wer und was sie war, dann fuhren wir zu dem unter Denkmalschutz stehenden Haus ihrer Eltern am Nantucket Sound, gingen zusammen segeln, und ich dachte: Ich bin ein Junge aus Missouri und fliege mit Leuten, die sehr viel mehr gesehen haben als ich, über den Ozean. Selbst wenn ich jetzt anfange, mir Dinge anzuschauen, kann ich sie trotzdem niemals einholen. Ich wurde nicht neidisch. Es war nie mein Ehrgeiz gewesen, reich und berühmt zu werden. Meine Eltern waren keine Träumer gewesen, die sich ausmalten, ihr Sohn sollte Präsident werden. Ich war pragmatisch erzogen worden, von Eltern, die sich ihren Sohn als zukünftigen Angestellten vorstellten, der sich in einem Büro seinen Lebensunterhalt verdienen würde. Für mich war es aufregend genug, mich in der Nähe der Elliotts aufzuhalten, über den Atlantik zu schippern, zu ihrem elegant restaurierten Haus zurückzukehren, das 1822 vom Kapitän eines Walfangschiffs erbaut worden war, und dort Mahlzeiten aus biologischen, gesunden Lebensmitteln zuzubereiten und zu essen, deren Namen ich noch nicht mal aussprechen konnte. Quinoa. Ich erinnere mich noch, dass ich dachte, das wäre eine Art Fisch.
So heirateten wir an einem tiefblauen Sommertag am Strand, aßen und tranken unter einem weißen Zelt, das sich bauschte wie ein Segel, und nach ein paar Stunden schlich ich mich mit Amy fort in die Dunkelheit, zum Meer, zu den Wellen, denn ich fühlte mich so unwirklich, als wäre von mir nur noch ein schimmernder Schatten übrig. Der kühle Nebel auf meiner Haut holte mich zurück, Amy holte mich zurück zum goldenen Glanz des Zelts, dorthin, wo die Götter schlemmten. Alles war Ambrosia. In diesem Stil war auch schon die Zeit vor unserer Hochzeit vergangen.
Boney beugte sich vor, um Amy näher zu betrachten. »Ihre Frau ist sehr hübsch.«
»Ja, sie ist wunderschön«, sagte ich, und mir war flau im Magen.
»Ihr wievielter Hochzeitstag ist denn heute?«, fragte sie.
»Der fünfte.«
Ich trat von einem Fuß auf den anderen, ungeduldig, endlich etwas zu tun. Ich wollte nicht, dass sie darüber diskutierten, wie hübsch meine Frau war, ich wollte, dass sie sich auf die Socken machten und meine verdammte Frau suchten. Aber natürlich sagte ich das nicht laut; ich sage Dinge oft nicht laut, selbst wenn ich das sollte. Ich fresse viel zu viel in mich hinein, ich halte viel zu viel zurück: In meinem Bauch-Keller sind hundert Flaschen voller Wut, Angst und Verzweiflung, aber das würde man niemals erraten, wenn man mich sieht.
»Der fünfte, große Sache. Lassen Sie mich raten - Reservierung im Houston's?«, fragte Gilpin. Das war das einzig gehobene Restaurant der Stadt. Ihr müsst echt alle mal das Houston's ausprobieren, hatte meine Mom gesagt, als wir nach Carthage zurückgekommen waren. Sie dachte, das wäre ein einmaliger Geheimtipp, und hoffte, es würde meiner Frau gefallen.
»Ja, klar. Houston's.«
Damit hatte ich die Polizei zum fünften Mal belogen. Und ich fing gerade erst an.
Amy Elliott Dunne
5. Juli 2008 Tagebucheintrag
Ich bin fett vor Liebe! Heiser vor Überschwang! Ich platze vor Hingabe! Eine glückliche fleißige Biene ehelicher Schwärmerei. Ich summe buchstäblich um ihn herum, kümmere mich, umsorge ihn. Ich habe mich in etwas sehr Seltsames verwandelt, nämlich in eine Ehefrau. Ich ertappe mich dabei, wie ich Gespräche - umständlich, unnatürlich - so steure, dass ich seinen Namen laut aussprechen kann. Ich bin eine Ehefrau geworden, eine Langweilerin, ich laufe Gefahr, aus dem Club der Unabhängigen Jung-Feministinnen ausgestoßen zu werden. Aber das ist mir egal. Ich zahle seine Rechnungen, ich schneide ihm die Haare. Ich bin so retro geworden, dass ich eines Tages wahrscheinlich das Wort Geldbeutel benutzen werde und in meinem schwingenden Tweedmantel, mit rotgeschminkten Lippen, zur Tür rausgehe und mich auf den Weg zum Schönheitssalon mache. Nichts beunruhigt mich. Alles sieht aus, als wollte es gut werden, jedes Ärgernis verwandelt sich in eine amüsante Anekdote, die beim Abendessen zum Besten gegeben werden kann. Ich hab heute einen Landstreicher umgebracht, Schatz ... hahahahaha! Ah, ist das nicht lustig?!
Nick ist wie ein guter starker Drink: Er verleiht allem die richtige Perspektive. Keine andere Perspektive, sondern die richtige Perspektive. Bei Nick ist es echt kein Ding, wenn die Stromrechnung ein paar Tage zu spät bezahlt wird oder wenn mein neuester Test ein bisschen lahm ausfällt. (Der letzte war, ohne Witz: »Was für ein Baum wärst du?« Ich bin ein Apfelbaum! Das hat nichts zu bedeuten!) Es spielt keine Rolle, wenn die neue Amazing Amy von der Kritik verrissen wird und der Verkauf nach einem trägen Anfang nun total stagniert. Es macht nichts, in welcher Farbe ich unser Zimmer streiche, wie lange ich im Verkehr feststecke, ob das, was wir recyceln, wirklich und wahrhaftig recycelt wird. (Mal ganz ehrlich, New York - klappt das?) Es spielt keine Rolle, weil ich endlich den Richtigen gefunden habe. Es ist Nick, entspannt und gelassen, schlau und witzig und unkompliziert. Nicht gequält, sondern glücklich. Nett. Und einen großen Penis hat er auch.
Alles, was ich an mir nicht mag, ist in meinem Kopf ganz nach hinten gerückt. Vielleicht ist es das, was ich an Nick am meisten mag - wie er mich verändert. Nicht, wie er meine Gefühle zu mir selbst verändert, nein, einfach, wie er mich verändert. Ich bin lustig, ich bin verspielt, ich bin mutig. Ich fühle mich auf natürliche Weise glücklich und zufrieden. Ich bin eine Ehefrau! Komisch, dieses Wort zu gebrauchen. (Ernsthaft, noch mal zurück zum Recycling, New York - komm schon, nur ein kleines Zwinkern.)
Wir machen alberne Sachen, zum Beispiel sind wir letztes Wochenende nach Delaware gefahren, weil wir beide noch nie Sex in Delaware hatten. Ich beschreibe die Szene, denn jetzt ist sie echt was für die Nachwelt. Wir fahren über die Staatsgrenze - Willkommen in Delaware! steht auf dem Schild, außerdem: Kleines Wunder und: Erster Bundesstaat und: Die Heimat des Tax-Free-Shopping.
Delaware, ein Staat mit vielen tollen Identitäten.
Ich lotse Nick auf den ersten Feldweg, den ich entdecke, und wir holpern fünf Minuten durch die Schlaglöcher, bis wir schließlich auf allen Seiten von Kiefern umgeben sind. Wir sagen beide kein Wort. Er schiebt seinen Sitz zurück, ich ziehe meinen Rock hoch. Ich trage keine Unterwäsche, und ich sehe, wie sein Mund, sein ganzes Gesicht schlaff wird und einen benommenen, aber entschlossenen Ausdruck annimmt, wie immer, wenn er geil wird. Ich steige auf ihn, wende ihm den Rücken zu, das Gesicht zur Windschutzscheibe, ans Lenkrad gedrückt, und als wir uns zusammen bewegen, gibt die Hupe ein heiseres Jammern von sich, als wollte sie mein Stöhnen imitieren, und meine Hand macht leise Quietschgeräusche auf der Windschutzscheibe. Nick und ich können überall kommen, wir kriegen beide kein Lampenfieber, und darauf sind wir ziemlich stolz. Danach fahren wir direkt wieder nach Hause. Ich esse Beef Jerky und lege meine nackten Füße aufs Armaturenbrett.
Wir lieben unser Haus. Das Haus, das Amazing Amy gebaut hat. Ein Brooklyner Sandsteinhaus, direkt an der Promenade, mit dem Breitwandausblick auf Manhattan. Es ist extravagant, und ich habe ein schlechtes Gewissen, aber es ist einfach perfekt. Wo ich nur kann, kämpfe ich gegen die Aura des reichen, verwöhnten Mädchens. Wir machen viel in Eigenarbeit. Über zwei Wochenenden haben wir die Wände gestrichen: frühlingsgrün und samtblau. Zumindest theoretisch. Keine der Farben kam so raus, wie wir es uns vorgestellt hatten, aber wir tun so, als würden sie uns trotzdem gefallen. Außerdem füllen wir unser Heim mit Krimskrams vom Flohmarkt. Wir kaufen LPs für Nicks Plattenspieler. Gestern Abend haben wir uns auf den alten Perserteppich gesetzt, Wein getrunken und dem Vinyl-Knistern gelauscht, während der Himmel langsam dunkel wurde. Als in Manhattan die Lichter angingen, sagte Nick: »So habe ich es mir immer vorgestellt. Genau so.«
Am Wochenende liegen wir unter vier Schichten Bettzeug, unsere Gesichter warm unter einem sonnenbeschienenen gelben Federbett. Sogar die Dielen sind fröhlich: Zwei alte knarzige Latten rufen uns freundlich zu, wenn wir zur Tür gehen. Ich liebe es, ich liebe es, dass es uns gehört, dass zu der alten Bodenlampe und dem unförmigen Tonbecher neben dem Kaffeebereiter, in dem sich lediglich eine einzelne Büroklammer befindet, großartige Geschichten gehören. Ich verbringe die Tage damit, mir Gedanken darüber zu machen, was ich Nettes tun kann - eine Pfefferminzseife für ihn kaufen, die sich in seiner Hand anfühlt wie ein warmer Stein, oder vielleicht eine schmale Scheibe Forelle, die ich braten und ihm servieren könnte, eine Ode an seine Flussdampferzeit. Ich weiß, ich bin albern. Aber es gefällt mir so - ich habe nicht gewusst, dass ich in der Lage bin, für einen Mann so alberne Dinge zu tun. Es ist eine große Freude für mich. Sogar über seine Socken gerate ich in Verzückung, denn er wirft sie in hinreißenden Knäueln ab, als hätte ein Welpe sie aus einem anderen Zimmer hereingeschleppt.
Wir feiern unseren ersten Hochzeitstag, und ich bin fett vor Liebe, obwohl die Leute uns ständig eingeredet haben, dass das erste Jahr schwer ist - als wären wir naive Kinder, die in den Krieg ziehen. Es war nicht schwer. Wir sind dazu bestimmt, miteinander verheiratet zu sein. Heute ist unser erster Hochzeitstag, Nick ist um Mittag mit der Arbeit fertig, und meine Schatzsuche wartet schon auf ihn. Lauter persönliche Dinge als Hinweise, über unser gemeinsames erstes Jahr:
Sollte er sich erkälten, mein süßer Mann, dann
hilft nur dieses Gericht, das man kaufen kann.
Antwort: die Tom-Yam-Suppe von Thai Town in der President Street. Heute Nachmittag wird der Manager persönlich dort sein und ein Schüsselchen zum Probieren und den nächsten Hinweis bereithalten.
Außerdem McMann's in Chinatown und die Alice-Statue im Central Park. Am Ende landen wir auf dem Fischmarkt in der Fulton Street, wo wir zwei wunderschöne Hummer kaufen, und im Taxi auf der Heimfahrt werde ich den Container auf dem Schoß halten, während Nick nervös auf dem Sitz herumrutscht. So schnell wie möglich werfe ich die Hummer in den neuen Topf auf unserem alten Herd, mit der Gewandtheit einer jungen Frau, die zahlreiche Sommer auf dem Cape verbracht hat, und Nick kichert und tut so, als wollte er sich vor lauter Angst hinter der Küchentür verstecken.
Ursprünglich hatte ich vorgeschlagen, dass wir uns Burger holen. Nick wollte essen gehen - fünf Sterne, richtig schick -, irgendwo mit einem Uhrwerk von Gängen und wichtigtuerischen Kellnern. Also sind die Hummer ein perfektes Zwischending, und wie alle behaupten, geht es ja in einer Ehe genau darum: um Kompromisse!
Wir werden Hummer mit Butter essen und Sex auf dem Boden haben, während eine Frau von einer alten Jazz-LP mit Tunnel- Stimme für uns singt. Langsam und träge werden wir uns betrinken, mit gutem Scotch, Nicks Lieblingsgetränk. Dann überreiche ich ihm sein Geschenk - das Briefpapier mit dem Monogramm von Crane & Co., das er sich gewünscht hat, mit der klaren Groteskschrift in Jägergrün, auf dem dicken cremigen Papier, für üppige Tinte, für seine Schriftstellersätze. Briefpapier für einen Schriftsteller und seine Frau, die vielleicht auch nach dem einen oder anderen Liebesbrief angelt.
Vielleicht werden wir danach noch einmal miteinander schlafen. Und spätabends vielleicht noch einen Burger essen. Und noch ein bisschen Scotch trinken. Voilà: das glücklichste Paar der ganzen Gegend! Und dann wird immer behauptet, die Ehe wäre harte Arbeit.
Nick Dunne
Die Nacht, als
Boney und Gilpin verlegten unser Gespräch auf die Polizeiwache, die aussieht wie eine heruntergekommene Kommunalbank. Vierzig Minuten saß ich allein in einem kleinen Raum und musste meine ganze Willenskraft aufbringen, um mich nicht zu bewegen. Wenn man so tut, als wäre man ruhig, ist man ruhig - in gewisser Weise. Ich fläzte mich über den Tisch, legte das Kinn auf den Arm. Und wartete.
»Möchten Sie Amys Eltern anrufen?«, hatte Boney gefragt.
»Ich möchte sie nicht in Panik versetzen«, antwortete ich. »Wenn wir in einer Stunde noch nichts von ihr gehört haben, rufe ich an.«
Dieses Gespräch hatten wir inzwischen schon dreimal geführt. Schließlich kamen die beiden Detectives rein und nahmen mir gegenüber Platz. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu lachen, weil das Ganze sich dermaßen nach Fernsehsendung anfühlte. Es war der gleiche Raum, durch den ich mich seit einem Jahrzehnt in allen Spätfilmen auf Kabel surfte, und die beiden Cops - erschöpft, aber robust - benahmen sich wie die dazugehörigen Stars. Total künstlich. Disney World Police Station. Boney hatte sogar einen Pappbecher mit Kaffee und einen braunen Umschlag in der Hand, der aussah wie eine Requisite. Eine Cop-Requisite. Mir wurde ganz schwindlig, und einen Augenblick hatte ich das Gefühl, dass wir alle nicht echt waren. Spielen wir das Verschwundene-Frau- Spiel!
»Alles klar bei Ihnen, Nick?«, fragte Boney.
»Alles klar, ja. Warum?«
»Sie lächeln.«
Die Schwummrigkeit rutschte auf den gefliesten Boden. »Entschuldigung, es ist nur alles so ...«
»Ich weiß«, sagte Boney, und ihr Blick fühlte sich an, als würde sie meine Hand tätscheln. »Es ist sonderbar, ich weiß.« Sie räusperte sich. »Zuerst einmal möchten wir gern dafür sorgen, dass Sie es hier einigermaßen bequem haben. Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie uns bitte Bescheid. Je mehr Informationen Sie uns geben können, desto besser, aber Sie können natürlich auch jederzeit gehen, gar kein Problem.«
»Ich stehe zur Verfügung.«
»Okay, großartig, danke«, sagte sie. »Ähm, okay. Ich möchte gern erst mal die lästigen Dinge aus dem Weg räumen. Den Mist. Wenn Ihre Frau wirklich entführt worden ist - das wissen wir noch nicht, aber falls es sich herausstellen sollte -, wollen wir den Kerl natürlich kriegen, und wenn wir ihn kriegen, dann wollen wir ihn festnageln, und zwar richtig. Keine Hintertürchen. Kein Spielraum.«
»Gut.«
»Deshalb müssen wir Sie erst mal ausschließen, ganz schnell, ganz einfach. Damit der Kerl später nicht behaupten kann, dass wir Sie nicht ausgeschlossen haben, verstehen Sie, was ich meine?«
Ich nickte automatisch. Eigentlich wusste ich überhaupt nicht, was sie meinte, aber ich wollte unbedingt kooperativ erscheinen.
»Ich stehe zur Verfügung.«
»Wir wollen Sie nicht erschrecken«, fügte Gilpin hinzu. »Wir wollen nur alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«
»Von mir aus ist das vollkommen in Ordnung.« Es ist immer der Ehemann, dachte ich. Jeder weiß, dass es immer der Ehemann ist, warum sagen die dann nicht einfach: Wir verdächtigen Sie, weil Sie der Ehemann sind, und es ist immer der Ehemann. Man braucht sich doch nur Dateline anzuschauen.
»Okay, sehr gut, Nick«, sagte Boney. »Dann nehmen wir doch gleich eine DNA-Probe aus Ihrem Mund, damit wir die ganze DNA im Haus ausschließen können, die nicht Ihnen gehört. Ist das in Ordnung für Sie?«
»Klar.«
»Außerdem möchte ich mir gern Ihre Hände anschauen, wegen Schmauchspuren. Wiederum, nur für den Fall ...«
»Moment, Moment, Moment. Haben Sie irgendwas gefunden, was darauf hindeutet, dass meine Frau ...?«
»Neinneinnein, Nick«, fiel Gilpin mir ins Wort. Er zog einen Stuhl an den Tisch und setzte sich verkehrt herum darauf. Ich fragte mich, ob Cops das wirklich taten. Oder hatte es ein schlauer Schauspieler eingeführt, und jetzt fingen auch die Cops damit an, weil sie mitgekriegt hatten, dass Schauspieler, die Cops darstellten, es so machten und dabei cool aussahen?
»Reine Routine«, fuhr Gilpin fort. »Wir versuchen, jede Möglichkeit zu bedenken und auszuschließen. Wir checken Ihre Hände, machen einen Abstrich, und wenn wir auch Ihr Auto in Augenschein nehmen könnten ...«
»Selbstverständlich. Wie gesagt, ich stehe zur Verfügung.«
»Danke, Nick. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar. Manchmal machen Leute uns das Leben schwer, nur weil sie es können.«
Ich war genau das Gegenteil. Mein Vater hatte meine Kindheit mit unausgesprochenen Vorwürfen durchtränkt; er war immer auf der Lauer nach etwas, auf das er wütend sein konnte. Go war dadurch defensiv geworden und ließ sich keinen ungerechtfertigten Scheiß gefallen. Aber aus mir war ein reflexhafter Schleimer geworden, vor allem Autoritäten gegenüber. Mom, Dad, meine Lehrer. Was immer Ihren Job leichter macht, Sir. Oder Madam. Ich gierte nach einem konstanten Strom von Anerkennung. »Du würdest lügen, betrügen, stehlen und sogar morden, um die Leute davon zu überzeugen, dass du ein guter Mensch bist«, hatte Go einmal gesagt, als wir bei Yonah Schimmel's anstanden, um Knishes zu kaufen, nicht weit von Gos alter New Yorker Wohnung entfernt - ich erinnere mich noch genau an diesen Augenblick -, und auf einmal war mein Appetit verschwunden, weil Go genau ins Schwarze getroffen hatte. Es stimmte haargenau, nur war es mir nie klar gewesen, und noch als sie es sagte, dachte ich: Das werde ich nie vergessen, das ist einer dieser Momente, der für alle Ewigkeit in meinem Gehirn gespeichert ist. Während meine Hände auf Schmauchspuren untersucht und ein Abstrich aus meinem Mund genommen wurde, machten die Cops und ich Konversation, über das Feuerwerk am 4. Juli, über das Wetter. Wir taten so, als wäre das alles ganz normal, so normal wie ein Besuch beim Zahnarzt.
Als es überstanden war, stellte Boney eine frische Tasse Kaffee vor mich auf den Tisch und legte mir kurz die Hand auf die Schulter.
»Tut mir echt leid. Das ist der unangenehmste Teil des Jobs. Meinen Sie, dass Sie uns jetzt auch noch ein paar Fragen beantworten können? Das würde uns echt helfen.«
»Aber selbstverständlich, legen Sie los.«
Sie stellte ein schmales digitales Aufnahmegerät vor mich auf den Tisch. »Stört Sie das? So müssen Sie die gleichen Fragen nicht immer wieder beantworten ...« Natürlich wollte sie meine Aussage aufnehmen, damit man mich auf eine Geschichte festnageln konnte. Ich sollte einen Anwalt anrufen, dachte ich, aber nur Leute, die Dreck am Stecken haben, brauchen einen Anwalt, also nickte ich: Kein Problem.
»Also: Amy«, begann Boney. »Wie lange leben Sie beide schon hier?«
»Fast genau zwei Jahre.«
»Und sie ist ursprünglich aus New York City?«
»Ja.«
»Arbeitet sie, hat sie einen Job?«, fragte Gilpin.
»Nein. Sie hat Persönlichkeitstests entworfen.«
Die Detectives wechselten einen kurzen Blick: Tests?
»Für Teeny-Magazine und Frauenzeitschriften«, erklärte ich. »Sie wissen schon: ›Sind Sie ein eifersüchtiger Typ? Machen Sie unseren Test und finden Sie es heraus! Wirken Sie einschüchternd auf Männer? Machen Sie unseren Test, und finden Sie es heraus!‹«
»Cool, so was liebe ich«, sagte Boney, »Ich wusste gar nicht, dass das ein Job ist. So was zu entwerfen. Also, dass man es so richtig als Beruf machen kann.«
»Na ja, das ist es eigentlich auch nicht. Nicht mehr. Das Internet ist voll von Tests, für die man nichts bezahlen muss. Die von Amy waren intelligenter - sie hatte einen Master in Psychologie -, hat einen Master in Psychologie.« Ich lachte blöd über meinen Ausrutscher.
»Aber intelligent kommt nicht an gegen umsonst.«
»Und dann?«
Ich zuckte die Achseln. »Dann sind wir hierher zurückgezogen. Zurzeit ist sie mehr oder weniger nur zu Hause.«
»Oh! Haben Sie denn Kinder, Sie beide?«, zwitscherte Boney, als hätte sie eine gute Nachricht entdeckt.
»Nein.«
»Oh. Was macht Amy dann so den ganzen Tag?«
Das fragte ich mich auch. Früher war Amy eine Frau, die ständig irgendetwas machte, alles Mögliche, die ganze Zeit. Als wir zusammenzogen, beschäftigte sie sich gerade sehr intensiv mit der französischen Küche, wobei sie hyperschnelle Messerkünste an den Tag legte und ein hinreißendes Boeuf Bourguignon produzierte. An ihrem vierunddreißigsten Geburtstag flogen wir nach Barcelona, und sie verblüffte mich mit ihren Spanischkenntnissen, komplett mit Zungenspitzen-R, das hatte sie alles heimlich innerhalb von ein paar Monaten gelernt. Meine Frau hat ein brillantes, lebhaftes Gehirn, sie ist kolossal neugierig und wissensdurstig. Doch meist werden ihre Obsessionen von Rivalitäten angeheizt: Sie muss die Männer blenden und die Frauen eifersüchtig machen: Natürlich kann Amy französisch kochen und fließend Spanisch sprechen und gärtnern und stricken und einen Marathon laufen, und sie beherrscht den Tageshandel des Aktienmarkts aus dem Effeff und kann ein Flugzeug fliegen und dabei noch wie ein Runway-Model aussehen. Sie muss Amazing Amy sein, die ganze Zeit. Hier in Missouri gehen die Frauen bei Target einkaufen, bereiten ordentliche, schmackhafte Gerichte zu und lachen darüber, dass sie sich kaum mehr an das Spanisch erinnern, das sie auf der Highschool gelernt haben. Konkurrenz interessiert sie nicht. Amys gnadenlose Leistungsbesessenheit wird offen, vielleicht ein kleines bisschen mitleidig akzeptiert. Für meine konkurrenzorientierte Frau aber ist sie hier mit dem konfrontiert, was für sie das Allerschlimmste ist: einer Stadt zufriedener Verliererinnen.
»Sie hat eine Menge Hobbys«, sagte ich.
»Macht Ihnen irgendwas Sorgen?«, fragte Boney und sah sofort besorgt aus. »Drogen oder vielleicht Alkohol? Ich möchte Ihre Frau nicht schlechtmachen. Ganz schön viele Hausfrauen, weit mehr, als man denkt, kriegen so den Tag rum. Wenn man alleine ist, wird einem die Zeit lang. Und wenn aus dem Trinken dann ein Drogenproblem wird - und ich meine damit nicht Heroin, sondern beispielsweise verschreibungspflichtige Schmerztabletten -, tja, hier in der Gegend treiben sich ein paar ganz üble Typen rum, die das Zeug verkaufen.«
»Der Drogenhandel ist richtig schlimm geworden«, sagte Gilpin.
»Wir hatten einige Entlassungen bei der Polizei - ein Fünftel der Truppe, und wir waren schon vorher knapp besetzt. Ich meine, es ist echt übel, wir werden praktisch überrannt.«
»Letzten Monat ist einer Hausfrau wegen ein paar OxyContin ein Zahn ausgeschlagen worden«, fügte Boney zur Veranschaulichung hinzu.
»Nein, Amy hat vielleicht hin und wieder ein Glas Wein getrunken, aber keine Drogen.«
Boney beäugte mich - das war eindeutig nicht die Antwort, die sie sich erhofft hatte. »Hat sie hier gute Freundinnen? Wir würden gern ein paar von ihnen anrufen, nur um sicherzugehen. Nichts für ungut. Manchmal ist der Ehepartner der Letzte, der was davon mitkriegt, wenn Drogen im Spiel sind. Die Leute schämen sich - vor allem Frauen.«
Freundinnen. In New York fand Amy wöchentlich neue Freundinnen und legte alte ab, sie ging mit ihnen ähnlich um wie mit ihren sonstigen Projekten. Anfangs war sie begeistert: von Paula, die ihr Gesangsunterricht gab und eine mörderisch gute Stimme hatte (Amy war in Massachusetts auf dem Internat gewesen, und ich liebte es, wenn sie plötzlich Ausdrücke von dort verwendete - wicked good); von Jessie aus dem Fashion-Design-Kurs. Aber wenn ich nach einem Monat oder so nachfragte, was denn aus Jessie oder Paula geworden war, sah Amy mich an, als wüsste sie überhaupt nicht, wovon ich sprach.
Dann waren da noch die Männer, die immer um Amy herumgeisterten, begierig darauf, die Dinge zu erledigen, die ihr Ehemann versäumte. Ein Stuhlbein reparieren, Amys importierten asiatischen Lieblingstee auftreiben. Männer, die schworen, dass sie Amys Freunde waren, einfach nur gute Freunde. Amy hielt sie exakt auf Armlänge von sich weg - weit genug, dass ich mich nicht allzu sehr darüber aufregen konnte, nah genug, dass sie nur mit den Fingern zu schnippen brauchte, und sie erfüllten ihr jede Bitte.
Und in Missouri ... guter Gott, ich wusste es wirklich nicht.
Erst in diesem Augenblick wurde mir das klar. Du bist echt ein Arschloch, dachte ich. Zwei Jahre waren wir jetzt hier, und nach dem Anfangswirbel von Begegnungen, den manischen ersten Monaten, hatte Amy sich mit niemandem mehr regelmäßig getroffen. Sie hatte Kontakt zu meiner Mom gehabt, die inzwischen tot war, und zu mir - und unsere Konversation bestand in den meisten Fällen aus Angriff und Verteidigung. Nach dem ersten Jahr in Missouri fragte ich sie mit geheuchelter Ritterlichkeit: »Und wie gefällt es dir in North Carthage, Mrs.Dunne?«
»In New Carthage, meinst du?«, hatte sie geantwortet. Ich weigerte mich, sie zu fragen, was das heißen sollte, aber mir war klar, dass die Bemerkung eine Beleidigung sein sollte.
»Sie hat ein paar gute Freundinnen, aber die leben größtenteils an der Ostküste.«
»Ihre Familie?«
»Die wohnt in New York. City.«
»Und Sie haben immer noch niemanden von ihnen angerufen?«, fragte Boney mit einem befremdeten Lächeln.
»Ich war damit beschäftigt, das zu erledigen, worum Sie mich gebeten haben, deshalb hatte ich noch keine Gelegenheit dazu.« Ich hatte die Ermächtigung unterschrieben, dass Kreditkarten und Geldautomaten und Amys Handy überprüft werden konnten, hatte Gos Handynummer angegeben und den Namen von Sue, der Witwe aus der Bar, die bezeugen konnten, wann ich heute dort eingetrudelt war.
»Der Jüngste der Familie.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie erinnern mich wirklich an meinen kleinen Bruder.« Kurze Pause. »Das ist übrigens ein Kompliment, das können Sie mir gerne glauben.«
»Sie liebt ihn abgöttisch«, bestätigte Gilpin und kritzelte etwas in sein Notizbuch. »Okay, Sie haben also gegen halb acht Uhr heute früh das Haus verlassen und sind um die Mittagszeit in die Bar gekommen, und dazwischen waren Sie am Strand.«
Etwa zehn Meilen nördlich von unserem Haus gibt es einen Brückenkopf, eine Ansammlung von Sand, Schlick und Bierflaschenscherben, nicht sonderlich hübsch. Die Mülleimer quellen über von Pappbechern und schmutzigen Windeln. Aber wenn man sich gegen den Wind an den Picknicktisch setzt, kriegt man schön die Sonne ab, und wenn man direkt auf den Fluss starrt, kann man den Rest ignorieren.
»Ich nehme mir manchmal einen Kaffee und die Zeitung mit und sitze eine Weile dort. Man muss den Sommer ja genießen.«
Nein, ich hatte am Strand mit niemandem gesprochen. Nein, niemand hatte mich gesehen.
»Mitten in der Woche ist da nicht viel los«, räumte Gilpin ein. Wenn die Polizei mit jemandem sprach, der mich kannte, würde schnell herauskommen, dass ich nur selten an den Strand fuhr und nie einen Kaffee mitbrachte, um einfach den Morgen zu genießen. Ich habe bleiche irische Haut und bin viel zu ungeduldig für Nabelschau. Alles andere als ein Beach-Boy. Ich erzählte das, weil es Amys Idee gewesen war, dass ich mich irgendwo hinsetzte, wo ich allein sein und den Fluss beobachten konnte, den ich so liebte, und dabei über unser gemeinsames Leben nachdenken könnte. Noch heute Morgen hatte sie das gesagt, nachdem wir ihre Crêpes gegessen hatten. Sie hatte sich über den Tisch gebeugt und gemeint: »Ich weiß, dass wir eine schwere Zeit durchmachen. Aber ich liebe dich immer noch so sehr, Nick, und ich möchte eine gute Frau für dich sein. Ich möchte, dass du mein Mann bist und dass wir glücklich sind. Aber du musst dich entscheiden.«
Kein Zweifel, sie hatte den Vortrag einstudiert, und sie lächelte stolz beim Sprechen. Und selbst als meine Frau so freundlich zu mir war, dachte ich, Natürlich muss sie das inszenieren. Sie möchte dieses Bild von mir und dem wild dahinbrausenden Fluss, meine Haare, die im Wind wehen, während ich versonnen zum Horizont blicke und über unser gemeinsames Leben sinniere. Ich kann nicht einfach zu Dunkin' Donuts gehen. Du musst dich entscheiden. Unglücklicherweise hatte ich mich schon entschieden.
Boney blickte energisch von ihren Notizen auf. »Können Sie mir sagen, was für eine Blutgruppe Ihre Frau hat?«, fragte sie.
»Äh, nein, das weiß ich nicht.«
»Sie kennen die Blutgruppe Ihrer Frau nicht?«
»Vielleicht Null?«, riet ich.
Boney runzelte die Stirn und gab dann einen gedehnten yogaartigen Laut von sich. »Okay, Nick, das sind die Maßnahmen, die wir einleiten werden.« Sie listete auf: Amys Handy wird überwacht, ihr Foto in Umlauf gebracht, ihre Kreditkarten rückverfolgt. Bekannte Sexualstraftäter aus der Gegend werden befragt. Unsere wenigen Nachbarn ebenfalls. Unser Festnetzanschluss wurde angezapft, für den Fall, dass Lösegeldforderungen eintrafen.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und durchforschte mein Gedächtnis nach den richtigen Reaktionen: Was sagt der Ehemann an dieser Stelle im Film? Kommt ganz darauf an, ob er schuldig ist oder unschuldig.
»Ich kann nicht behaupten, dass mich das beruhigt. Sind Sie - handelt es sich um eine Entführung oder einen Vermisstenfall? Was genau passiert denn jetzt eigentlich?« Ich kannte die Statistiken, von der gleichen Sendung, in der ich die Hauptrolle spielte: Wenn in den ersten achtundvierzig Stunden nichts auftauchte, war es sehr wahrscheinlich, dass der Fall nie gelöst werden würde. Die ersten achtundvierzig Stunden waren entscheidend. »Immerhin ist meine Frau verschwunden. Meine Frau ist weg!« Auf einmal merkte ich, dass ich es zum ersten Mal so sagte, wie es gesagt werden sollte: panisch und wütend. Mein Dad war ein Mann der unbegrenzten Variationen von Bitterkeit, Wut und Abscheu. In meinem lebenslangen Kampf, nicht so zu werden wie er, hatte ich fast die Fähigkeit verloren, negative Emotionen überhaupt zum Ausdruck zu bringen. Ein weiterer Umstand, der dazu führte, dass ich wie ein Arschloch wirkte - selbst wenn es in meinem Innern drunter und drüber ging, in meinem Gesicht war davon nichts zu erkennen und in meinen Worten noch viel weniger davon zu hören. Ein konstantes Problem: entweder zu viel Kontrolle oder gar keine.
»Nick, wir nehmen die Sache sehr, sehr ernst«, beteuerte Boney.
»Die Jungs vom Labor sind in diesem Augenblick in Ihrem Haus, und da werden wir weitere Informationen bekommen. Und je mehr Sie uns über Ihre Frau erzählen können, desto besser. Wie ist sie denn so?«
Sofort hatte ich die übliche Ehemann-Antwort im Kopf: Sie ist süß, sie ist toll, sie ist nett, sie ist hilfsbereit.
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich.
»Beschreiben Sie uns doch einfach Amys Persönlichkeit ein bisschen «, drängte Boney. »Beispielsweise, was Sie ihr zum Hochzeitstag schenken wollen. Schmuck vielleicht?«
»Ich habe noch nichts gekauft«, sagte ich. »Das wollte ich heute Nachmittag erledigen.«
Ich wartete, dass Boney lachte und wieder sagte: »Der Jüngste der Familie«, aber nichts dergleichen geschah.
»Okay. Na, dann erzählen Sie uns eben sonst etwas. Ist sie extrovertiert? Ist sie - ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll -, ist sie sehr New Yorkerisch? Was manche vielleicht als unhöflich auffassen? Könnte es sein, dass sie Leuten manchmal auf den Schlips tritt?«
»Ich weiß nicht. Sie ist vielleicht keine Durchschnittsperson, aber sie ist bestimmt nicht - nicht aggressiv genug, dass jemand sich provoziert fühlen würde - ihr weh zu tun.«
Das war meine elfte Lüge. Die heutige Amy war manchmal durchaus aggressiv genug, dass man sie verletzen wollte. Ich spreche ausdrücklich von Amy, wie sie jetzt ist, denn sie ist anders als die Frau, in die ich mich verliebt habe. In wenigen Jahren hat die alte Amy, das Mädchen mit dem breiten Lachen und der entspannten Art, buchstäblich ihre Haut abgestreift, hat sie mitsamt ihrer Seele auf den Boden fallen lassen, und heraus kam die neue, spröde, bittere Amy. Meine Frau war nicht mehr meine Frau, sondern ein Wirrwarr aus verknotetem Stacheldraht, der mich herausforderte, ihn zu entwirren, wozu ich mit meinen dicken, tauben, nervösen Fingern jedoch absolut nicht in der Lage war. Meinen Bauernfingern. Meinen Hinterwäldlerpranken, untrainiert in der komplizierten, gefährlichen Aufgabe, das Problem Amy zu lösen. Wenn ich die blutigen Stummel hochhielt, seufzte sie und nahm sich ihr mentales Notizbuch vor, in dem sie alle meine Unzulänglichkeiten ankreuzte, alle Enttäuschungen, Schwächen und Mängel auflistete. Meine alte Amy, verdammt, mit ihr konnte man Spaß haben. Sie war lustig. Sie brachte mich zum Lachen. Das hatte ich ganz vergessen. Und sie lachte auch. Tief in der Kehle, direkt hinter der kleinen fingerförmigen Vertiefung, die der beste Ort ist, von dem man sein Lachen aufsteigen lassen kann. Sie warf ihre Klagen von sich wie Vogelfutter: Da sind sie, und jetzt sind sie weg.
Damals war sie das noch nicht, damals hatte sie sich noch nicht in das verwandelt, was ich am meisten fürchtete: eine wütende Frau. Ich konnte nicht gut mit wütenden Frauen umgehen. Sie brachten etwas höchst Unappetitliches in mir zum Vorschein.
»Ist sie rechthaberisch?«, fragte Gilpin. »Bestimmt sie gern, wo's langgeht?«
Ich dachte an Amys Kalender, an den, der drei Jahre in die Zukunft reichte, und wenn man ein Jahr in die Zukunft blickte, fand man tatsächlich Termine: Hautarzt, Zahnarzt, Tierarzt. »Sie plant gerne - sie überlässt nichts dem Zufall, wissen Sie. Sie macht Listen und hakt sie ab. Sie erledigt Dinge. Deshalb leuchtet es mir auch überhaupt nicht ein ...«
»Das kann einen verrückt machen«, sagte Boney mitfühlend.
»Wenn man nicht so ein Typ ist. Sie scheinen mir eher eine B-Persönlichkeit zu sein.«
»Ja, vermutlich bin ich etwas entspannter«, bestätigte ich. Dann fügte ich noch das hinzu, was ich hinzufügen musste: »Wir ergänzen einander sehr gut.«
Ich schaute auf die Wanduhr, und Boney berührte meine Hand. »Hey, warum rufen Sie jetzt nicht einfach mal Amys Eltern an? Die sind Ihnen bestimmt dankbar.«
Es war schon nach Mitternacht. Gewöhnlich gingen Amys Eltern um neun Uhr schlafen; sie prahlten seltsamerweise immer damit, dass sie so früh ins Bett gingen. Jetzt schliefen sie tief und fest, ich würde sie mit meinem Anruf aus dem Bett scheuchen. Die Handys wurden Viertel vor neun ausgeschaltet, also musste Rand Elliott den ganzen Weg von seinem Bett bis zum Ende des Flurs zurücklegen, um das alte schwere Telefon abzunehmen. Er würde mit seiner Brille herumfummeln und vorsichtig nach der Tischlampe tasten. Und sich dabei alle Gründe dafür aufzählen, weshalb er sich wegen eines nächtlichen Anrufs überhaupt keine Sorgen zu machen brauchte, lauter vollkommen harmlose Gründe, warum das Telefon ausgerechnet jetzt klingelte.
Ich wählte zweimal und legte schnell wieder auf, ehe ich beim dritten Mal wartete, bis jemand dranging. Es meldete sich Marybeth, nicht Rand, und ihre tiefe Stimme brummte in meinen Ohren. Ich kam bis zu: »Marybeth, hier ist Nick«, dann wusste ich nicht mehr weiter.
»Was ist los, Nick?«
Ich holte tief Luft.
»Ist was mit Amy? Sag schon.«
»Ich, äh - tut mir leid, ich hätte schon anrufen sollen ...«
»Raus damit, verdammt!«
»Wir k-können Amy nicht finden«, stotterte ich.
»Ihr könnt Amy nicht finden?«
»Ich weiß nicht ...«
»Amy wird vermisst?«
»Wir sind nicht sicher, wir sind ...«
»Seit wann?«
»Wir sind nicht sicher. Ich bin heute Morgen kurz nach sieben aus dem Haus ...«
»Und du hast bis jetzt gewartet, uns anzurufen?«
»Tut mir leid, ich wollte nicht ...«
»Großer Gott. Wir haben heute Abend Tennis gespielt. Tennis, und wir hätten ... Mein Gott. Weiß die Polizei Bescheid? Hast du sie alarmiert?«
»Ich bin gerade auf dem Revier.«
»Bitte gib mir die Person, die für die Sache verantwortlich ist, Nick. Bitte.«
Wie ein Kind zog ich los und holte Gilpin. Meine Schwiegermami möchte mit Ihnen sprechen.
Das Telefongespräch mit den Elliotts machte die Sache offiziell. Die Situation - Amy ist verschwunden - verbreitete sich nach draußen.
Ich war auf dem Weg zurück in den Verhörraum, als ich die Stimme meines Vaters hörte. In besonders beschämenden Augenblicken hatte ich oft seine Stimme im Kopf. Aber jetzt war es die Stimme meines Vaters, hier, in der Realität. In feuchten Blasen bahnten sich seine Worte ihren Weg, wie etwas aus einem ekligen Sumpf.
Schlampe, Schlampe, Schlampe. Irre, wie er war, hatte er die Angewohnheit angenommen, jeder Frau, die ihn auch nur ansatzweise nervte, dieses Schimpfwort an den Kopf zu werfen: Schlampe, Schlampe, Schlampe. Ich spähte in einen Konferenzraum, und da saß er auf einer Bank an der Wand. Früher war er ein attraktiver Mann gewesen, dynamisch, mit einem Grübchen im Kinn. Schrill verträumt, so hatte meine Tante ihn einmal beschrieben. Jetzt saß er da, knurrte den Boden an, seine blonden Haare waren verfilzt, die Hose verdreckt, seine Arme zerkratzt, als hätte er sich einen Weg durch ein Dornengestrüpp gebahnt. Auf seinem Kinn war ein dünnes Speichelrinnsal, das glänzte wie eine Schneckenspur, und er ließ die Armmuskeln spielen, die noch nicht ganz verlottert waren.
Neben ihm saß eine Polizistin, den Mund ärgerlich verzogen, und versuchte, ihn zu ignorieren: Schlampe, Schlampe, Schlampe, ich hab's dir gesagt, Schlampe.
»Was ist denn hier los?«, fragte ich die Frau. »Das ist mein Vater.«
»Haben Sie unseren Anruf denn nicht bekommen?«
»Was für einen Anruf?«
»Dass Sie Ihren Vater abholen sollen.« Sie sprach überdeutlich, als wäre ich ein geistig zurückgebliebener Zehnjähriger.
»Ich - meine Frau ist verschwunden. Ich war fast den ganzen Abend hier.«
Sie starrte mich an, ohne wirklich eine Verbindung herzustellen.
Ich konnte sehen, wie sie innerlich debattierte, ob sie ihr Druckmittel aufgeben und sich entschuldigen, womöglich nachfragen sollte. Dann fing mein Vater wieder an zu schimpfen, Schlampe, Schlampe, Schlampe, und sie beschloss, ihr Druckmittel doch lieber zu behalten.
»Sir, Comfort Hill hat den ganzen Tag versucht, Sie zu erreichen. Ihr Vater ist heute früh durch einen Notausgang weggelaufen. Er hat ein paar Kratzer, wie Sie ja sehen, aber nichts Schlimmes. Vor ein paar Stunden haben wir ihn aufgegriffen, er ist völlig desorientiert die River Road entlanggeirrt. Wir haben versucht, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen.«
»Ich war hier«, wiederholte ich. »Direkt nebenan, wieso haben Sie es nicht geschafft, zwei und zwei zusammenzuzählen?«
Schlampe, Schlampe, Schlampe, sagte mein Vater.
»Sir, bitte sprechen Sie nicht in diesem Ton mit mir.«
Schlampe, Schlampe, Schlampe.
Boney gab einem Officer den Auftrag, meinen Dad ins Heim zurückzufahren, damit wir unser Gespräch zu Ende bringen konnten.
Wir standen auf der Treppe vor dem Revier und sahen zu, wie er, immer noch vor sich hinschimpfend, ins Auto verfrachtet wurde. Die ganze Zeit nahm er kein einziges Mal meine Anwesenheit zur Kenntnis. Als der Wagen abfuhr, schaute er auch nicht zurück. »Sie stehen sich wohl nicht sehr nahe?«, fragte Boney. »Wir sind der Inbegriff von ›nicht sehr nahe‹.«
Gegen zwei Uhr morgens waren die Detectives mit ihren Fragen durch und komplimentierten mich in einen Streifenwagen, mit dem gutgemeinten Rat, mich ordentlich auszuschlafen und am nächsten Vormittag um elf zu der Mittags-Pressekonferenz zu erscheinen. Ich fragte nicht, ob ich nach Hause durfte, ich ließ mich zu Go fahren, weil ich wusste, dass sie aufbleiben, mit mir ein Bier trinken und mir ein Sandwich machen würde. Erbärmlicherweise war das alles, was ich in diesem Moment wollte: eine Frau, die mir ein Sandwich machte und mir keine weiteren Fragen stellte.
»Du möchtest dich also nicht auf den Weg machen und sie suchen? «, fragte Go, während ich aß. »Wir könnten ein bisschen rumfahren.«
»Das ist doch sinnlos«, erwiderte ich dumpf. »Wo soll ich denn suchen?«
»Nick, das ist eine echt ernste Sache.«
»Ich weiß, Go.«
»Dann benimm dich auch entsprechend, okay, Lance? Begnüg dich nicht mit deinem verfickten mjahmjahmjah.« Sie machte das schwerfällige Lallgeräusch, das sie immer benutzte, um meine Unentschlossenheit zu veranschaulichen, begleitet von einem benommenen Augenrollen. Außerdem benutzte sie meinen offiziellen ersten Vornamen. Wenn jemand mit meinem Gesicht geboren ist, möchte er ganz sicher nicht mit Lance angeredet werden. Go gab mir ein Glas Scotch. »Und trink das hier, aber mehr nicht. Du willst morgen keinen Kater haben. Wo zum Teufel könnte sie denn stecken? Gott, mir ist richtig schlecht.« Sie goss sich auch ein Glas ein, schluckte, versuchte zu nippen, wanderte in der Küche herum. »Machst du dir denn überhaupt keine Sorgen, Nick? Dass irgendein Kerl sie auf der Straße gesehen und beschlossen hat, sie abzugreifen? Ihr eins über den Schädel gegeben hat und ...«
Ich zuckte zusammen. »Warum hast du gesagt ihr eins über den Schädel gegeben hat, was soll die Scheiße?«
»Tut mir leid, ich wollte dir kein Bild in den Kopf setzen, ich hab nur ... Ich weiß auch nicht, ich denke dauernd darüber nach. Über einen Verrückten.« Sie goss sich Scotch nach.
»Apropos Verrückter«, sagte ich. »Dad ist heute mal wieder abgehauen, sie haben ihn auf der River Road aufgegriffen. Inzwischen ist er wieder im Comfort.«
Go zuckte die Achseln: okay. Es war das dritte Mal in sechs Monaten, dass unser Vater entwischt war. In Gedanken immer noch bei Amy, zündete Go sich eine Zigarette an. »Ich meine, gibt es denn nicht vielleicht jemanden, mit dem wir reden können?«, fragte sie.
»Irgendwas tun?«
»Himmel, Go! Musst du denn unbedingt dafür sorgen, dass ich mir noch hilfloser vorkomme als sowieso schon?«, fauchte ich. »Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Es gibt keinen Grundkurs für ›Was ist zu tun, wenn Ihre Frau spurlos verschwindet‹. Die Polizei hat mir gesagt, ich kann gehen. Also bin ich gegangen. Ich tue einfach, was die mir sagen.«
»Na klar«, murmelte Go, die sich schon immer bemüht hatte, einen Rebellen aus mir zu machen. Aber es klappte nicht. In der Highschool war ich der Kerl, der zur vorgeschriebenen Zeit nach Hause kam, ich war der Journalist, der seine Termine einhielt, selbst die unnötigen. Ich respektiere die Regeln, denn wenn man die Regeln einhält, dann läuft alles glatt. Normalerweise.
»Scheiße, Go, ich muss in ein paar Stunden wieder auf dem Revier sein. Kannst du bitte eine Sekunde einfach ein bisschen nett zu mir sein? Ich hab eine Scheißangst.«
Wir hatten einen Fünf-Sekunden-Starrwettbewerb, dann füllte Go mein Glas noch einmal auf, als Entschuldigung sozusagen, setzte sich neben mich und legte mir die Hand auf die Schulter.
»Arme Amy«, sagte sie.
Nick Dunne
Ein Tag danach
Leider hörte ich nicht auf Gos Rat in punkto Alkohol. Ich saß allein auf ihrem Sofa und trank die halbe Flasche leer, und gerade, als ich dachte, ich würde endlich einschlafen, setzte der achtzehnte Adrenalinstoß ein, ich verschob mein Kissen, meine Augen waren geschlossen, und dann sah ich meine Frau, die blonden Haare blutverkrustet, weinend und blind vor Schmerz, wie sie sich über unseren Küchenfußboden schleppte. Sie rief meinen Namen. Nick, Nick, Nick!
Ich setzte die Flasche noch ein paarmal an, stimmte mich aufs Schlafen ein, ein zum Scheitern verurteiltes Programm. Der Schlaf ist wie eine Katze: Er kommt nur, wenn man ihn ignoriert. Ich trank noch ein bisschen und setzte mein Mantra fort. Hör auf zu denken, noch ein Schluck, mach den Kopf leer, Schluck, jetzt aber mal im Ernst, mach den Kopf leer, los, Schluck. Du musst fit sein morgen, du musst schlafen! Schluck. Als der Morgen dämmerte, gelang mir ein kurzes Nickerchen, und eine Stunde später wachte ich mit einem Kater auf. Kein mörderischer Kater, aber schon ganz ordentlich. Ich fühlte mich labil und flau. Irgendwie miefig. Vielleicht noch ein bisschen betrunken. Als ich etwas stockend zu Gos Subaru wanderte, fühlte sich die Bewegung sonderbar an, so, als wären meine Beine falsch eingehängt. Go hatte mir ihr Auto vorübergehend geliehen, da die Polizei meinen gut erhaltenen Jetta zusammen mit meinem Laptop gnädig zur Inspektion angenommen hatte - alles reine Formsache, wie man mir versicherte. Jetzt fuhr ich erst mal nach Hause, um mir etwas einigermaßen Anständiges anzuziehen.
Drei Streifenwagen standen in der Straße, und unsere wenigen Nachbarn wuselten aufgeregt herum. Kein Carl, aber Jan Teverer - die christliche Lady - und Mike, der Vater der dreijährigen In- Vitro-Drillinge - Trinity, Topher und Talullah. (»Ich hasse sie alle, schon ihre Namen!«, sagte Amy, eine strenge Richterin in Bezug auf alles Trendige. Als ich erwähnte, dass auch der Name Amy einmal trendig gewesen war, entgegnete meine Frau: »Nick, du kennst doch die Geschichte mit meinem Namen.« Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte.)
Jan nickte mir aus der Ferne zu, ohne meinem Blick zu begegnen, aber Mike kam sofort auf mich zu, als ich ausstieg. »Es tut mir so leid, Mann, wenn ich was tun kann, lass es mich bitte wissen. Egal was. Ich hab heute Morgen den Rasen gemäht, dann musst du dich darum schon mal nicht mehr kümmern.«
Mike und ich mähten abwechselnd auf allen verlassenen Grundstücken des Wohnkomplexes das Gras - heftige Regenfälle im Frühling hatten die Gärten in einen Dschungel verwandelt, der seinerseits den Zuzug von Waschbären begünstigt hatte. Sie waren überall, fraßen sich mitten in der Nacht durch unseren Müll, schlichen sich in die Keller, fläzten auf der Veranda wie faule Haustiere. Das Mähen schien sie nicht zu vertreiben, aber jetzt konnten wir sie wenigstens sehen.
»Danke, Mann, danke«, sagte ich.
»Mann, meine Frau ist total hysterisch, seit sie davon erfahren hat«, sagte er. »Total hysterisch.«
»Tut mir leid, das zu hören«, sagte ich. »Ich muss ...«, fuhr ich fort und deutete zur Tür.
»Sitzt rum mit Bildern von Amy und heult.«
Ohne Zweifel waren über Nacht tausend Internet-Fotos aufgetaucht, nur um die erbärmlichen Bedürfnisse von Frauen wie der von Mike zu befriedigen. Ich hatte keine Sympathien für Drama- Queens.
»Hey, ich muss dich fragen ...«, begann Mike. Ich tätschelte seinen Arm und deutete wieder zur Tür, als hätte ich dringende Dinge zu erledigen. Ehe er seine Frage stellen konnte, wandte ich mich ab und klopfte an die Tür meines eigenen Hauses. Officer Velásquez begleitete mich nach oben, in mein eigenes Schlafzimmer, in meinen eigenen begehbaren Wandschrank - an dem silbern glänzenden Geburtstagsgeschenkwürfel vorbei - und ließ mich meine Sachen durchsehen. Meine Klamotten vor dieser jungen Frau mit dem langen braunen Zopf zu durchforsten, machte mich irgendwie nervös. Bestimmt begutachtete sie mich und bildete sich eine Meinung über mich. Schließlich griff ich blind etwas heraus: Der endgültige Look war business-casual, Stoffhose und kurzärmeliges Hemd, als ginge ich auf einen Kongress. Könnte ein interessanter Essay werden, dachte ich - wie man sich angemessene Kleidung aussucht, wenn eine geliebte Person verschwunden ist.
Den gierigen, themenhungrigen Autor in mir konnte ich nicht abstellen. Ich stopfte alles in eine Tasche, drehte mich um und sah zu der Geschenkbox auf dem Boden. »Kann ich reinschauen?«, fragte ich die Polizistin.
Sie zögerte, ging dann aber auf Nummer Sicher. »Nein, tut mir leid, Sir. Lieber nicht jetzt.«
Die Kante des Geschenkpapiers war sorgfältig aufgeschlitzt. »Hat jemand reingeschaut?«
Sie nickte.
Ich ging um sie herum zu dem Geschenk. »Wenn schon jemand reingeschaut hat, dann ...«
Sofort vertrat sie mir den Weg. »Sir, ich darf das nicht zulassen.«
»Aber das ist doch lächerlich. Es ist ein Geschenk für mich, von meiner Frau ...«
Ich ging wieder um sie herum, bückte mich und hatte eine Hand schon auf der Kante der Schachtel, als sie mir von hinten den Arm über die Brust schlang. Wut schoss in mir hoch, dass diese Frau die Frechheit hatte, mir in meinem eigenen Haus vorzuschreiben, was ich zu tun und zu lassen hatte. Ganz gleich, wie sehr ich mich anstrenge, der Sohn meiner Mutter zu sein, die Stimme meines Vaters erschallt ungebeten in meinem Kopf und lädt dort schreckliche Gedanken und gemeine Wörter ab.
»Sir, das hier ist ein Tatort, Sie...«
Blöde Schlampe.
Auf einmal war Riordan, ihr Partner, im Raum und stürzte sich ebenfalls auf mich. Ich schüttelte sie ab - schon gut, schon gut, verdammt -, aber sie zwangen mich, die Treppe runterzugehen. Bei der Haustür kauerte eine Frau auf allen vieren, und untersuchte die Dielen, vermutlich auf Blutspuren. Sie blickte gleichgültig zu mir auf und wandte sich dann wieder ihrer Aufgabe zu.
Auf dem Weg zu Go, wo ich mich umziehen wollte, versuchte ich, mich zu entspannen. Was ich gerade erlebt hatte, war nur eins in einer langen Reihe von ärgerlichen und idiotischen Dingen, die die Polizei im Zuge ihrer Ermittlungen tun würde (ich mag sinnvolle Regeln, aber keine unlogischen), also musste ich mich beruhigen: Mach dir die Cops nicht zum Feind, sagte ich mir. Wiederhole bei Bedarf: Mach dir die Cops nicht zum Feind.
Als ich aufs Revier kam, begegnete ich Boney, und sie sagte in aufmunterndem Ton, als würde sie mir ein warmes Muffin anbieten: »Ihre Schwiegereltern sind hier, Nick.«
Marybeth und Rand Elliott hielten sich wie immer im Arm und sahen hier, mitten in der Polizeiwache, aus, als posierten sie für ein Abschlussball-Foto. Genau dieses Bild hatte ich immer von ihnen im Kopf, Hände streichelnd, Kinne reibend, Wangen aneinanderschmiegend. Wenn ich die Elliotts zu Hause besuchte, verwandelte ich mich unweigerlich in einen zwanghaften Räusperer - Hallo, ich komm jetzt rein! -, weil ich an jeder Ecke darauf gefasst sein musste, mit den Elliotts zusammenzustoßen, die sich gerade liebevoll umarmten. Jedes Mal, wenn sie sich voneinander verabschiedeten, küssten sie sich auf den Mund, und wenn Rand an seiner Frau vorbeiging, umfasste er mit der Hand ihren Hintern. Ein solches Verhalten war mir vollkommen fremd. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich zwölf war, und ich glaube, in sehr zartem Alter habe ich zwischen den beiden vielleicht mal ein verschämtes Küsschen auf die Wange miterlebt, wenn es sich nicht vermeiden ließ. An Weihnachten, am Geburtstag. Mit trockenen Lippen. Selbst in den besten Zeiten ihrer Ehe war ihre Kommunikation ausschließlich transaktionsbezogen. Wir haben schon wieder keine Milch mehr. (Ich hole nachher welche.) Das muss ordentlich gebügelt werden. (Ich mach das heute noch.) Warum ist es so schwer, Milch zu kaufen? (Schweigen.) Du hast vergessen, den Klempner anzurufen. (Seufzer.) Verdammt, zieh die Jacke an, sofort, geh raus und hol gefälligst die verfluchte Milch! Auf der Stelle! Solche Botschaften und Befehle wurden von meinem Vater ausgestoßen, der meine Mutter bestenfalls wie eine inkompetente Dienstbotin behandelte. Und schlimmstenfalls? Er hat sie nie geschlagen, aber seine pure, unartikulierte Wut füllte das Haus für Tage und Wochen, machte die Luft feucht, das Atmen schwer, und mein Vater marschierte mit vorgeschobenem Unterkiefer herum wie ein gekränkter, rachsüchtiger Boxer und knirschte so laut mit den Zähnen, dass man es im ganzen Zimmer hörte. Manchmal warf er Gegenstände nach meiner Mutter, oder zumindest in ihre Richtung, nicht direkt auf sie. Ich bin sicher, er hat sich gesagt: Ich hab sie doch nie getroffen. Ich bin sicher, aufgrund dieses Details, dieser Formsache, musste er sich nie als Täter sehen. Aber er verwandelte unser Familienleben in einen endlosen Road- Trip mit schlechten Anweisungen und einem wutverkrampften Fahrer, in einen Urlaub, der nie die Chance bekam, Spaß zu machen. Bring mich bloß nicht dazu zu wenden. Bitte, bitte, dreh endlich um.
Ich glaube nicht, dass meine Mutter als solche das Problem meines Vaters war. Er mochte einfach keine Frauen. Er fand sie dumm, irrelevant, lästig. Diese blöde Schlampe, das war sein Lieblingsausdruck für jede Frau, die ihn nervte: Autofahrerinnen, Kellnerinnen, unsere Grundschullehrerinnen, von denen er keine jemals kennenlernte, denn Elternsprechstunden waren Frauensache. Ich weiß noch genau, wie Geraldine Ferraro 1984 als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft nominiert wurde. Wir schauten es uns alle vor dem Abendessen in den Fernsehnachrichten an, und meine Mutter, meine zierliche, süße Mom legte die Hand auf Gos Kopf und sagte: Also, ich finde das toll. Da stellte Dad den Fernseher aus und knurrte: Das ist ja wohl ein Witz, ein gottverdammter. Als würde man einem Affen beim Radfahren zusehen.
Es dauerte weitere fünf Jahre, bis meine Mutter endlich zu dem Schluss kam, dass sie genug davon hatte. Eines Tages kam ich von der Schule nach Hause, und mein Vater war weg. Morgens war er noch da, nachmittags war er verschwunden. Meine Mom ließ uns am Tisch Platz nehmen und verkündete: »Euer Vater und ich haben beschlossen, dass es für alle das Beste ist, wenn wir getrennt wohnen.« Go brach in Tränen aus und heulte: »Gut, ich hasse euch beide!« Und dann ging sie, statt sich ans Drehbuch zu halten und in ihr Zimmer zu rennen, zu meiner Mutter und nahm sie in den Arm. So verließ uns mein Vater, und meine dünne gequälte Mutter wurde dick und glücklich - ziemlich dick und extrem glücklich -, so, als hätte es schon die ganze Zeit über so sein sollen. Ein schlaffer Ballon, der wieder Luft bekommt. Innerhalb eines Jahres verwandelte sie sich in eine vielbeschäftigte, herzliche, fröhliche Frau, und so blieb sie bis zu ihrem Tod. Ihre Schwester sagte Dinge wie: »Gott sei Dank, dass die alte Maureen wieder da ist«, als wäre die Frau, die uns großgezogen hatte, eine Schwindlerin gewesen.
Mit meinem Vater redete ich jahrelang einmal pro Monat am Telefon, ein höfliches, sachliches Gespräch, eine Auflistung dessen, was in der Zwischenzeit passiert war. Die einzige Frage, die mein Vater mir jemals in Bezug auf Amy stellte, war: »Wie geht es Amy?«, womit er keine längere Antwort provozieren wollte als: »Ihr geht's gut.« Selbst als er mit gut sechzig immer mehr in die Demenz abrutschte, blieb er stur distanziert. Wenn man immer früh dran ist, kommt man nie zu spät. So lautete das Mantra meines Vaters, und es schloss den Ausbruch von Alzheimer mit ein. Ein langsamer Abstieg bis zu einem plötzlichen steilen Absturz, der uns zwang, unseren unabhängigen, menschenverachtenden Vater in ein riesiges Heim zu geben, in dem es nach Hühnerbrühe und Pisse stank, und wo er die ganze Zeit von Frauen umgeben war, die ihm halfen. Ha. Mein Dad hatte Fehler. Das sagte uns unsere gutherzige Mutter immer wieder. Er hatte seine Fehler, aber er hat es nie böse gemeint. Es war nett von ihr, das zu sagen, aber er hat uns trotzdem geschadet.
Ich bezweifle, dass meine Schwester je heiraten wird: Wenn sie traurig ist oder durcheinander oder wütend, dann muss sie alleine sein - sie hat Angst, ein Mann würde ihre Tränen, die Tränen einer Frau, verachten. Ich bin genauso schlimm. Was gut ist in mir, habe ich von meiner Mom. Ich kann Witze machen, ich kann lachen, ich kann andere auf den Arm nehmen, ich kann feiern und unterstützen und loben - man könnte sagen, im Sonnenlicht funktioniere ich -, aber mit wütenden oder weinenden Frauen komme ich überhaupt nicht zurecht. Dann fühle ich die Wut meines Vaters auf hässlichste Weise in mir hochsteigen. Davon kann Amy ein Lied singen. Wenn sie da wäre, würde sie es euch garantiert gern erzählen. Ich beobachtete Rand und Marybeth einen Moment, bevor sie mich entdeckten. Wie wütend würden sie wohl auf mich sein? Für sie war es unverzeihlich, dass ich sie so lange nicht angerufen hatte. Wegen meiner Feigheit würden meine Schwiegereltern nun für immer diesen Tennisabend im Kopf haben: den warmen Abend, die trägen gelben Bälle, die über den Platz hüpften, das Quietschen der Tennisschuhe - sie hatten ihren üblichen Donnerstagabend verbracht und nichts davon gewusst, dass ihre Tochter verschwunden war.
»Nick«, sagte Rand Elliott, als er mich bemerkte. Mit drei langen Schritten war er bei mir, und während ich mich innerlich auf einen Faustschlag gefasst machte, schloss er mich in die Arme und drückte mich heftig an sich.
»Wie geht es dir?«, flüsterte er an meinem Hals und begann, sich hin und her zu wiegen. Schließlich gab er einen seltsam schrillen Laut von sich, ein verschlucktes Schluchzen, und packte mich an den Armen. »Wir werden Amy finden, Nick. Ganz sicher. Glaub daran, ja?« Er fixierte mich ein paar Sekunden mit seinem blauen Blick, dann machte er wieder schlapp - drei mädchenhafte Schluchzer schüttelten ihn, als hätte er Schluckauf -, doch nun drängte sich auch Marybeth in die Umklammerung und vergrub ihr Gesicht in der Achselhöhle ihres Mannes.
Als die beiden mich endlich losließen, blickte Marybeth mit riesigen bestürzten Augen zu mir auf. »Es ist, es ist ein - ein verdammter Albtraum«, sagte sie. »Wie geht es dir, Nick?«
Für Marybeth war Wie geht es dir? keine Höflichkeitsfloskel, sondern eine existentielle Frage. Sie studierte mein Gesicht, und nicht nur das, ich war sicher, dass sie mich studierte und jeden meiner Gedanken und alles, was ich tat, aufmerksam registrierte. Die Elliotts glaubten fest daran, dass jede Eigenschaft eines Menschen wahrgenommen, beurteilt und kategorisiert werden sollte. Alles ist bedeutsam, alles kann verwendet werden. Mom, Dad, Tochter - drei hochbegabte Menschen mit drei Universitätsdiplomen in Psychologie -, schon vor neun Uhr morgens hatten sie mehr gedacht als die meisten Leute in einem ganzen Monat. Ich weiß noch, wie ich einmal beim Abendessen keinen Kirschkuchen zum Dessert wollte. Rand legte den Kopf schief und sagte: »Ahh. Ein Bilderstürmer. Verabscheut den oberflächlichen, symbolischen Patriotismus.« Und als ich versuchte, die Sache mit einem Lachen abzutun, legte Marybeth die Hand auf Rands Arm: »Nein, nein, das hat nichts mit uramerikanischem Cherry Pie an sich zu tun, es ist wegen der Scheidung seiner Eltern. All das Trostessen, die Nachspeisen, die im Familienkreis gemeinsam verzehrt werden, das weckt bei Nick einfach schlechte Erinnerungen.«
Es war albern, aber unglaublich süß, diese Menschen, die so viel Energie darauf verwendeten, mich zu kapieren. Die Antwort war: Ich mag einfach keine Kirschen.
Gegen halb zwölf war die Polizeiwache ein lärmender Höllenpfuhl. Telefone klingelten, Menschen schrien quer durch den Raum. Eine Frau, deren Namen ich nicht mitkriegte und die ich nur als plappernde Wackelkopffigur mit einem riesigen Haarbausch registrierte, machte sich plötzlich neben mir bemerkbar. Keine Ahnung, wie lange sie sich da schon befand. »... die Hauptsache daran ist, dass wir die Menschen dazu bringen, nach Amy Ausschau zu halten, Nick, sie wissen zu lassen, dass Amy eine Familie hat, die sie liebt und wiederhaben will. Alles ganz kontrolliert. Nick, Sie müssen - Nick?«
»Japp.«
»Die Menschen wollen eine kurze Erklärung von Amys Ehemann hören.«
Von der anderen Seite des Raums sah ich Go auf mich zustürzen.
Sie hatte mich am Revier abgesetzt, war dann bei der Bar vorbeigefahren, um dort eine halbe Stunde nach dem Rechten zu sehen, und jetzt war sie zurück und führte sich auf, als hätte sie mich eine Woche nicht gesehen, schlängelte sich hastig zwischen den Schreibtischen durch und ignorierte den jungen Officer, der offensichtlich dazu abgestellt worden war, sie ordentlich, leise und würdevoll hereinzuführen.
»Alles okay bis jetzt?«, fragte Go und drückte mich mit einem Arm an sich. Männerumarmung. Den Dunne-Kids fällt das Umarmen nicht so leicht. Gos Daumen landete auf meiner rechten Brustwarze.
»Ich wollte, Mom wäre hier«, flüsterte sie, und sprach damit genau meinen Gedanken aus. »Nichts Neues?«, fragte sie, als sie ihren Arm wieder wegnahm.
»Nichts, einfach verdammt nichts ...«
»Du siehst aus, als würdest du dich grässlich fühlen.«
»Ich fühle mich beschissen.« Eigentlich wollte ich noch sagen, was für ein Idiot ich war, dass ich wegen des Alkohols nicht auf sie gehört hatte.
»Ich hätte die Flasche auch ausgetrunken«, kam sie mir zuvor und klopfte mir ermutigend auf den Rücken.
»Es ist gleich so weit«, sagte die PR-Frau, die wieder wie durch Zauberhand neben mir aufgetaucht war. »Kein schlechter Zulauf, wenn man bedenkt, dass wir Independence Day-Wochenende haben. « Dann scheuchte sie uns alle in einen trostlosen Konferenzraum - Aluminiumjalousien, Klappstühle, eine Schar gelangweilter Reporter - und auf ein kleines Podium. Als ich in meiner blauen business-lässigen Montur vor das hingerissene, jetlag-leidende Publikum trat, das seinen Tagträumen von einem leckeren Lunch nachhing, fühlte ich mich wie ein drittklassiger Redner bei einer unbedeutenden Konferenz. Aber ich konnte sehen, dass die Journalisten munterer wurden, als sie mich entdeckten - sprechen wir es ruhig aus: einen jungen, einigermaßen gutaussehenden Kerl. Dann stellte die PR-Frau ein Pappposter auf eine Staffelei, ein vergrößertes Foto von Amy, auf dem sie absolut hinreißend aussah, ein Gesicht, bei dem man zweimal hinsieht: Sieht die wirklich so toll aus? Ist das möglich? Ja, es war möglich, so sah sie aus. Ich starrte das Foto meiner Frau an, und die Kameras schossen Fotos von mir, wie ich das Foto anstarrte. Auf einmal musste ich an den Tag in New York denken, als ich sie wiedergefunden hatte: die blonden Haare, ihr Hinterkopf, mehr konnte ich nicht von ihr sehen, aber ich wusste, dass sie es war, und ich nahm es als Zeichen. Wie viele Millionen Köpfe hatte ich in meinem Leben schon gesehen, aber ich wusste, dass es Amys hübscher Schädel war, der da vor mir her die Seventh Avenue hinunterschwebte. Ich wusste, dass sie es war, und ich wusste, dass wir zusammen sein würden.
Blitzlichter zuckten. Ich wandte mich ab und sah dunkle Flecken.
Es war surreal. Das sagen Leute immer, wenn sie einen Augenblick beschreiben wollen, der genaugenommen nur ungewöhnlich ist. Ich dachte: Ihr habt ja keine Ahnung, was surreal ist. Mein Kater kam allmählich richtig in Schwung, und mein linkes Auge pochte wie ein Herz.
Die Kameras klickten, die beiden Familien stellten sich nebeneinander auf, alle schmale Schlitzmünder, Go die Einzige, die wenigstens einigermaßen wie eine reale Person aussah. Der Rest von uns ähnelte Platzhalter-Menschen, Körper, die reingekarrt und hier aufgestellt worden waren. Sogar Amy auf der Staffelei wirkte präsenter.
Natürlich hatten wir alle solche Pressekonferenzen schon gesehen, wenn andere Frauen verschwunden waren. Wir wurden gezwungen, die Szene darzustellen, die das Fernsehpublikum erwartete: die besorgte Familie, die die Hoffnung nicht aufgibt. Koffeinverschleierte Augen und Lumpenpuppenarme.
Ich hörte meinen Namen, im Raum wurde kollektiv und erwartungsvoll geschluckt. Showtime.
Als ich mir die Sendung später anschaute, erkannte ich meine Stimme und mein Gesicht nur mit Mühe. Der Alkohol, der wie Schlamm direkt unter der Oberfläche meiner Haut waberte, verlieh mir die Aura eines Herumtreibers, gerade sinnlich genug, um verrucht zu wirken. Da ich mir Sorgen gemacht hatte, dass meine Stimme zittern könnte, überkompensierte ich, und die Worte kamen so abgehackt aus meinem Mund, als würde ich den Aktienbericht vorlesen. »Wir wollen nur, dass Amy wohlbehalten nach Hause kommt ...« Absolut nicht überzeugend, völlig unharmonisch.
Ich hätte auch Zahlen herunterleiern können.
Rand Elliott trat vor und versuchte, mich zu retten: »Unsere Tochter, Amy, ist ein wunderbares Mädchen, voller Leben. Sie ist unser einziges Kind, sie ist klug und schön und ein netter Mensch. Sie ist wirklich unsere Amazing Amy. Und wir wollen sie zurück. Nick will sie zurück.« Er legte mir die Hand auf die Schulter, wischte sich die Augen, und ich wurde unwillkürlich zu Stahl. Wieder mein Vater: Männer weinen nicht.
Rand redete weiter: »Wir möchten, dass sie wieder dorthin zurückkehrt, wo sie hingehört, zu ihrer Familie. Wir haben drüben im Days Inn ein Kommandozentrum eingerichtet ...«
In den Nachrichten würde Nick Dunne zu sehen sein, Ehemann der vermissten Frau, wie er metallisch steif neben seinem Schwiegervater stand, mit verschränkten Armen und glasigen Augen, und fast gelangweilt wirkte, während Amys Eltern weinten. Und dann - schlimmer noch - war da wieder meine langjährige Angewohnheit, mein Bedürfnis, die Leute daran zu erinnern, dass ich kein Arschloch war, sondern trotz meines starren Blicks und des hochnäsigen Idiotengesichts ein netter Kerl.
Und während Rand noch um die Rückkehr seiner Tochter flehte, da erschien es, völlig aus dem Nichts: ein Killerlächeln.
Übersetzung: Christine Strüh
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2013
Zuerst wartete ich in der Küche auf die Polizei, aber der beißende Geruch des verkokelten Wasserkochers machte sich in meinem Hals breit und verstärkte meinen Wunsch, mich zu übergeben, also schlenderte ich auf die Veranda hinaus, setzte mich auf die oberste Stufe und versuchte, mich zu beruhigen. Immer wieder wählte ich die Nummer von Amys Handy, aber jedes Mal meldete sich nur die Voice Mail, und Amy beteuerte in Quickclip-Frequenz, sofort zurückzurufen. Das tat sie immer. Aber jetzt waren schon drei Stunden vergangen, ich hatte fünf Nachrichten hinterlassen, und Amy hatte sich nicht gemeldet.
Das erwartete ich eigentlich auch nicht. Das würde ich auch der Polizei sagen: Amy hätte niemals das Haus verlassen, während der Wasserkocher noch an war. Sie hätte niemals die Tür offenstehen oder etwas zum Bügeln liegen lassen. Sie war eine Frau, die Dinge erledigte, sie brach ein Vorhaben nicht mittendrin ab (zum Beispiel die Ehe mit ihrem renovierungsbedürftigen Mann), selbst wenn sie zu dem Schluss gekommen war, dass es ihr nicht gefiel. In unseren Flitterwochen hatte sie grimmig am Strand von Fidschi gesessen, sich durch die eine Million mystischen Seiten von Haruki Murakamis Roman Mister Aufziehvogel gekämpft und mir säuerliche Blicke zugeworfen, weil ich einen Thriller nach dem anderen verschlang. Seit wir zurück nach Missouri gezogen waren und sie ihren Job verloren hatte, waren winzige, unbedeutende Projekte ihr Lebensinhalt. Das Kleid wäre garantiert von ihr fertiggebügelt worden.
Und dann das Wohnzimmer - dort gab es Spuren, die auf einen Kampf hindeuteten. Mir war sonnenklar, dass Amy nicht zurückrufen würde. Ich wollte, dass der nächste Teil in Gang gesetzt wurde.
Es war die schönste Zeit des Tages, ein wolkenloser Julihimmel, die Strahlen der langsam untergehenden Sonne tauchten alles in ein üppiges goldenes Licht - ein flämisches Gemälde. Endlich tauchte die Polizei auf. Ich fühlte mich ganz entspannt, wie ich da auf der Treppe saß, ein Vogel sang im Baum sein Abendlied, die beiden Cops stiegen gemächlich aus ihrem Auto, als hätte ich sie zu einem Nachbarschaftspicknick eingeladen. Jungspunde, Mitte zwanzig vielleicht, selbstbewusst und brav, gewohnt, besorgte Eltern zu beschwichtigen, wenn ihre Teenager lange nach der vereinbarten Zeit immer noch nicht zu Hause waren. Eine junge Latino-Frau und ein schwarzer Typ mit einer Haltung, als wäre er bei den Marines gewesen. In meiner Abwesenheit war Carthage ein bisschen (ein winziges bisschen) weniger weiß geworden, aber immer noch so streng ausgegrenzt, dass die einzigen Farbigen, die ich sah, meistens von Berufs wegen unterwegs waren: Lieferanten, Sanitäter, Postleute, Cops. (»Die Ecke hier ist so weiß, dass es schon beunruhigend ist«, sagte Amy oft, obwohl sie selbst im Schmelztiegel Manhattan nur eine einzige Afro-Amerikanerin zu ihren Freunden gezählt hatte. Ich warf ihr vor, ethnische Augenwischerei zu betreiben, Minderheiten als Lokalkolorit zu missbrauchen. Natürlich kam das nicht gut an.)
»Mr. Dunne? Ich bin Officer Velásquez«, sagte die Frau, »und das hier ist Officer Riordan. Wir haben gehört, Sie machen sich Sorgen um Ihre Frau?«
Riordan blickte die Straße hinunter und lutschte eifrig an einem Bonbon. Ich sah, dass seine Augen einem Vogel folgten, der pfeilschnell über den Fluss schoss. Widerwillig riss er sich schließlich los und musterte mich. An seinen gekräuselten Lippen konnte ich erkennen, dass er sah, was alle sahen. Ich habe ein Gesicht, in das man reinschlagen möchte: Ich bin ein irischer Arbeiterklasse-Typ, gefangen im Körper eines schnöseligen reichen Idioten. Um mein Gesicht wettzumachen, lächle ich viel, aber das führt nur manchmal zum gewünschten Erfolg. Auf dem College habe ich eine Weile eine Brille aufgesetzt, eine mit Fensterglas, weil ich dachte, sie würde mir eine freundliche, nicht bedrohliche Ausstrahlung verleihen. »Dir ist schon klar, dass du damit noch mehr wie ein Arschloch aussiehst?«, meinte Go eines Tages. Daraufhin warf ich die Brille weg und lächelte noch mehr.
Ich winkte die Cops zu mir. »Kommen Sie ins Haus und sehen Sie sich um.«
Die beiden stiegen die Treppe hinauf, begleitet von leisen Quietsch- und Schlurfgeräuschen ihrer Gürtel und Revolver. Unter der Wohnzimmertür blieb ich stehen und deutete auf das Bild der Zerstörung.
»Oh«, sagte Officer Riordan und knackte forsch mit den Fingergelenken. Auf einmal sah er viel weniger gelangweilt aus.
Riordan und Velásquez setzten sich an den Esszimmertisch und stellten mir all die üblichen Einleitungsfragen: wer, wo, wie lange. Und sie spitzten richtig die Ohren. Außerhalb meiner Hörweite hatte Riordan telefoniert, und er informierte mich, dass man Detectives schicken würde. Man nahm mich ernst, ich konnte stolz sein.
Gerade fragte Riordan mich zum zweiten Mal, ob ich in letzter Zeit irgendjemand Fremdes in der Nachbarschaft gesehen hatte, und erinnerte mich zum dritten Mal an die überall in Carthage herumstreunenden Obdachlosen, da klingelte das Telefon. Ich spurtete durchs Zimmer und griff nach dem Hörer.
»Mr. Dunne, hier ist das Comfort Hill Assisted Living«, sagte eine säuerliche Frauenstimme. Das Pflegeheim, in dem Go und ich unseren Vater, der an Alzheimer litt, untergebracht hatten.
»Ich kann jetzt nicht sprechen, aber ich rufe Sie gleich zurück«, sagte ich kurz angebunden und legte auf. Die Frauen, die im Comfort Hill arbeiteten, waren mir verhasst: kein Lächeln, kein Trost. Aber sie waren auch mörderisch unterbezahlt, wahrscheinlich konnten sie deshalb weder lächeln noch trösten. Ich wusste, dass mein Ärger über sie an die falsche Adresse ging - es machte mich so wütend, dass mein Vater weiterhin auf der Welt herumhing, während meine Mutter unter der Erde war.
Go war mit dem Scheck an der Reihe. Zumindest war ich ziemlich sicher, dass der Juli ihr Monat gewesen war. Bestimmt dachte sie umgekehrt, ich wäre dran. Das war uns schon öfter passiert, und Go meinte, wahrscheinlich würden wir so oft die Schecks vergessen, weil wir eigentlich unseren Dad vergessen wollten.
Als ich Riordan gerade die Geschichte von dem Penner erzählte, den ich im leerstehenden Nachbarhaus gesehen hatte, klingelte es an der Tür. Es klingelte. Das klang so normal, als hätte ich Pizza bestellt.
Müde trotteten die beiden Detectives herein, wahrscheinlich waren sie am Ende ihrer Schicht. Der Mann war dünn und schlaksig, mit einem Gesicht, das sich zum Kinn hin drastisch verengte. Die Frau war erstaunlich hässlich - unverfroren hässlich, über das alltägliche Maß hinausgehend: kleine, engstehende Knopfaugen, eine lange schiefe Nase, mit winzigen Höckern übersäte Haut, lange schlaffe Haare von der Farbe einer Wollmaus. Ich habe eine Schwäche für hässliche Frauen. Schließlich bin ich von drei Frauen großgezogen worden, die alle keine Augenweide waren - meine Großmutter, meine Mom, ihre Schwester - und sie waren allesamt kluge, freundliche, lustige, starke - einfach großartige Frauen. Amy war das erste hübsche Mädchen, mit dem ich jemals ausgegangen bin, also richtig ausgegangen.
Die Hässliche sprach zuerst, wie ein Echo von Officer Velásquez. »Mr. Dunne? Ich bin Detective Rhonda Boney. Das hier ist mein Partner, Detective Jim Gilpin. Wir haben gehört, Sie machen sich Sorgen um Ihre Frau?«
Mein Magen knurrte so laut, dass alle Versammelten es hören konnten, aber wir taten so, als wäre nichts.
»Können wir uns mal umschauen, Sir?«, fragte Gilpin. Er hatte dicke Tränensäcke unter den Augen und graue Zotteln im Bart. Sein Hemd war nicht zerknittert, wirkte an ihm aber so; Gilpin sah überhaupt aus, als müsste er nach Zigaretten und abgestandenem Kaffee stinken, obwohl er das nicht tat. Er roch nach Seife.
Ich führte die beiden über die kurze Treppe ins Wohnzimmer, deutete wieder auf den Trümmerhaufen, in dem die beiden jüngeren Cops noch knieten, als warteten sie darauf, endlich mal bei einer sinnvollen Tätigkeit wahrgenommen zu werden. Boney steuerte mich zu einem Stuhl im Esszimmer, ein Stück weg, aber mit Blick auf die Spuren eines Kampfes.
Dann ging sie mit mir dieselben Grundfragen durch, die ich bereits Velásquez und Riordan beantwortet hatte, und ihre aufmerksamen Spatzenaugen ließen mich keine Sekunde unbeobachtet. Gilpin ließ sich auf ein Knie nieder und taxierte das Wohnzimmer.
»Haben Sie schon Freunden oder Familienmitgliedern Bescheid gesagt - Leuten, bei denen Ihre Frau vielleicht sein könnte?«, fragte Rhonda Boney.
»Ich ... Nein. Noch nicht. Ich hab erst mal auf Sie alle gewartet.«
»Ah.« Sie lächelte. »Lassen Sie mich raten: Sie sind das Nesthäkchen. «
»Ich habe eine Zwillingsschwester.« Ich ahnte, dass mein Gegenüber gerade innerlich ein Urteil über mich gefällt hatte. »Warum?« Amys Lieblingsvase lag auf dem Boden, sie war gegen die Wand gerollt, aber noch intakt. Ein Hochzeitsgeschenk, japanische Kunst. Jede Woche, wenn die Putzfrau kam, wurde die Vase weggepackt, denn Amy hatte Angst, dass die Frau sie kaputt machen würde.
»Nur so eine Vermutung, warum Sie auf uns gewartet haben: Sie sind es gewohnt, dass andere Leute die Führung übernehmen«, erklärte Boney. »Mein kleiner Bruder ist genauso. Ein Gesetz der Geschwisterreihe. « Sie kritzelte etwas in ihr Notizbuch.
»Okay.« Ich zuckte wütend die Achseln. »Brauchen Sie auch noch mein Sternzeichen, oder können wir anfangen?«
Boney lächelte freundlich und wartete.
»Ich hab nicht mit Freunden telefoniert, weil ... ich meine, offensichtlich ist sie nicht bei Freunden«, erklärte ich und deutete auf die Unordnung im Wohnzimmer.
»Sie wohnen seit zwei Jahren hier, Mr. Dunne?«, fragte sie.
»Im September werden es zwei Jahre, ja.«
»Von wo sind Sie hergezogen?«
»New York.«
»City?«
»Ja.«
Sie deutete nach oben, fragte stumm um Erlaubnis, und ich nickte und folgte ihr. Gilpin übernahm die Nachhut.
»Ich hab dort als Journalist gearbeitet«, platzte ich heraus, ehe ich mir auf die Zunge beißen konnte. Selbst jetzt, wo ich seit zwei Jahren wieder hier wohnte, konnte ich es nicht ertragen, dass jemand dachte, dies wäre mein einziges Leben.
Boney: »Klingt beeindruckend.«
Gilpin: »Für wen?«
Ich passte meine Antwort dem Treppensteigen an: Ich hab für eine Zeitschrift geschrieben (Schritt), über Pop-Kultur (Schritt), für ein Männer-Magazin (Schritt). Oben an der Treppe drehte ich mich um und sah, dass Gilpin versonnen auf unser Wohnzimmer hinabschaute. Mit einem Ruck wandte er seine Aufmerksamkeit wieder mir zu.
»Pop-Kultur?«, rief er nach oben, während er die ersten Stufen in Angriff nahm. »Was genau umfasst das denn?«
»Populäre Kultur eben«, antwortete ich. Dann waren wir beide oben, wo Boney bereits auf uns wartete. »Film, Fernsehen, Musik, aber, äh, nicht die hohen Künste, nichts Geschwollenes.« Ich zuckte zusammen. Geschwollen? Wie herablassend. Für euch Bauerntrottel übersetze ich mein Englisch, Komma, Ostküste gebildet, lieber in Englisch, Komma, Mittelwesten rustikal. Ich schreib halt so Zeug, was mir in die Birne kommt, wenn ich grad im Kino war!
»Sie liebt Filme«, sagte Gilpin und deutete auf Boney. Boney nickte: Tu ich.
»Jetzt gehört mir The Bar, eine Kneipe in Downtown«, fuhr ich fort. Ich unterrichtete auch einen Kurs am Junior College, aber auf einmal kam es mir zu bedürftig vor, das auch noch anzuführen. Schließlich war ich nicht bei einem Date.
Boney spähte ins Badezimmer, Gilpin und ich blieben auf dem Flur. »The Bar?«, wiederholte sie. »Kenne ich. Wollte da immer mal vorbeischauen. Toller Name. Treffend.«
»Klingt nach einer guten Idee«, sagte Gilpin. Boney machte sich auf den Weg zum Schlafzimmer, wir folgten ihr. »Ein von Bier umgebenes Leben kann nicht so schlecht sein.«
»Manchmal liegt die Antwort tatsächlich auf dem Boden der Flasche «, sagte ich und zuckte innerlich wieder zusammen, weil es so gar nicht passte.
Wir betraten das Schlafzimmer.
»Ja, das Gefühl kenn ich«, lachte Gilpin.
»Sehen Sie das Bügeleisen? Ist immer noch an.«, begann ich.
Boney nickte, öffnete die Tür zu unserem geräumigen Wandschrank, ging hinein, knipste das Licht an, ließ ihre behandschuhte Hand über Hemden und Kleider gleiten und ging ganz nach hinten. Plötzlich stieß sie einen erstaunten Laut aus, bückte sich, drehte sich um - und hielt eine perfekt würfelförmige, kunstvoll in Silberpapier eingewickelte Schachtel in der Hand.
Mein Magen krampfte sich zusammen.
»Hat jemand Geburtstag?«, fragte Boney.
»Hochzeitstag.«
Boney und Gilpin zuckten wie zwei Spinnen, taten aber, als wäre nichts passiert.
Als wir ins Wohnzimmer zurückkehrten, waren die beiden jugendlichen Polizisten verschwunden. Gilpin ging auf die Knie und beäugte die umgefallene Ottomane.
»Eh, ich bin ein bisschen durch den Wind«, begann ich.
»Verständlich, Nick, absolut verständlich«, erwiderte Gilpin ernst. Er hatte blassblaue Augen, die unruhig flatterten, ein entnervender Tick.
»Können wir irgendwas machen? Um meine Frau zu finden. Ich meine, sie ist ja offensichtlich nicht hier.«
Boney deutete auf das Hochzeitsbild an der Wand: Ich im Smoking, die Zähne zu einem starren Grinsen gebleckt, die Arme förmlich um Amys Taille geschlungen; Amy, die blonden Haare zu kleinen Löckchen aufgedreht und festgesprayt, der Schleier vom Seewind auf Cape Cod verweht, die Augen aufgerissen, weil sie immer in letzter Minute blinzelte und sich furchtbar anstrengte, genau das nicht zu tun. Es war der Tag nach Independence Day, der Schwefelgeruch hing noch in der salzigen Meerluft - Sommer.
Cape Cod hatte es gut mit uns gemeint. Ich erinnere mich, wie ich nach ein paar Monaten unserer Bekanntschaft entdeckte, dass meine Freundin Amy ziemlich wohlhabend war, das einzige Kind kreativ-genialer Eltern. Eine Art Kultobjekt, dank einer nach ihr benannten Buchreihe, an die ich mich aus Kindertagen dunkel zu erinnern glaubte. Amazing Amy. Amy erklärte mir das eines Tages in ruhigem, bedächtigem Ton, als redete sie mit einem gerade aus dem Koma erwachten Patienten. Als hätte sie diesen Vortrag schon zu oft halten müssen, und als wäre es oft genug schiefgegangen - das Geständnis, reich zu sein, das mit zu viel Enthusiasmus aufgenommen wird, die Offenbarung einer verborgenen, von anderen erschaffenen Identität.
Amy erzählte mir also, wer und was sie war, dann fuhren wir zu dem unter Denkmalschutz stehenden Haus ihrer Eltern am Nantucket Sound, gingen zusammen segeln, und ich dachte: Ich bin ein Junge aus Missouri und fliege mit Leuten, die sehr viel mehr gesehen haben als ich, über den Ozean. Selbst wenn ich jetzt anfange, mir Dinge anzuschauen, kann ich sie trotzdem niemals einholen. Ich wurde nicht neidisch. Es war nie mein Ehrgeiz gewesen, reich und berühmt zu werden. Meine Eltern waren keine Träumer gewesen, die sich ausmalten, ihr Sohn sollte Präsident werden. Ich war pragmatisch erzogen worden, von Eltern, die sich ihren Sohn als zukünftigen Angestellten vorstellten, der sich in einem Büro seinen Lebensunterhalt verdienen würde. Für mich war es aufregend genug, mich in der Nähe der Elliotts aufzuhalten, über den Atlantik zu schippern, zu ihrem elegant restaurierten Haus zurückzukehren, das 1822 vom Kapitän eines Walfangschiffs erbaut worden war, und dort Mahlzeiten aus biologischen, gesunden Lebensmitteln zuzubereiten und zu essen, deren Namen ich noch nicht mal aussprechen konnte. Quinoa. Ich erinnere mich noch, dass ich dachte, das wäre eine Art Fisch.
So heirateten wir an einem tiefblauen Sommertag am Strand, aßen und tranken unter einem weißen Zelt, das sich bauschte wie ein Segel, und nach ein paar Stunden schlich ich mich mit Amy fort in die Dunkelheit, zum Meer, zu den Wellen, denn ich fühlte mich so unwirklich, als wäre von mir nur noch ein schimmernder Schatten übrig. Der kühle Nebel auf meiner Haut holte mich zurück, Amy holte mich zurück zum goldenen Glanz des Zelts, dorthin, wo die Götter schlemmten. Alles war Ambrosia. In diesem Stil war auch schon die Zeit vor unserer Hochzeit vergangen.
Boney beugte sich vor, um Amy näher zu betrachten. »Ihre Frau ist sehr hübsch.«
»Ja, sie ist wunderschön«, sagte ich, und mir war flau im Magen.
»Ihr wievielter Hochzeitstag ist denn heute?«, fragte sie.
»Der fünfte.«
Ich trat von einem Fuß auf den anderen, ungeduldig, endlich etwas zu tun. Ich wollte nicht, dass sie darüber diskutierten, wie hübsch meine Frau war, ich wollte, dass sie sich auf die Socken machten und meine verdammte Frau suchten. Aber natürlich sagte ich das nicht laut; ich sage Dinge oft nicht laut, selbst wenn ich das sollte. Ich fresse viel zu viel in mich hinein, ich halte viel zu viel zurück: In meinem Bauch-Keller sind hundert Flaschen voller Wut, Angst und Verzweiflung, aber das würde man niemals erraten, wenn man mich sieht.
»Der fünfte, große Sache. Lassen Sie mich raten - Reservierung im Houston's?«, fragte Gilpin. Das war das einzig gehobene Restaurant der Stadt. Ihr müsst echt alle mal das Houston's ausprobieren, hatte meine Mom gesagt, als wir nach Carthage zurückgekommen waren. Sie dachte, das wäre ein einmaliger Geheimtipp, und hoffte, es würde meiner Frau gefallen.
»Ja, klar. Houston's.«
Damit hatte ich die Polizei zum fünften Mal belogen. Und ich fing gerade erst an.
Amy Elliott Dunne
5. Juli 2008 Tagebucheintrag
Ich bin fett vor Liebe! Heiser vor Überschwang! Ich platze vor Hingabe! Eine glückliche fleißige Biene ehelicher Schwärmerei. Ich summe buchstäblich um ihn herum, kümmere mich, umsorge ihn. Ich habe mich in etwas sehr Seltsames verwandelt, nämlich in eine Ehefrau. Ich ertappe mich dabei, wie ich Gespräche - umständlich, unnatürlich - so steure, dass ich seinen Namen laut aussprechen kann. Ich bin eine Ehefrau geworden, eine Langweilerin, ich laufe Gefahr, aus dem Club der Unabhängigen Jung-Feministinnen ausgestoßen zu werden. Aber das ist mir egal. Ich zahle seine Rechnungen, ich schneide ihm die Haare. Ich bin so retro geworden, dass ich eines Tages wahrscheinlich das Wort Geldbeutel benutzen werde und in meinem schwingenden Tweedmantel, mit rotgeschminkten Lippen, zur Tür rausgehe und mich auf den Weg zum Schönheitssalon mache. Nichts beunruhigt mich. Alles sieht aus, als wollte es gut werden, jedes Ärgernis verwandelt sich in eine amüsante Anekdote, die beim Abendessen zum Besten gegeben werden kann. Ich hab heute einen Landstreicher umgebracht, Schatz ... hahahahaha! Ah, ist das nicht lustig?!
Nick ist wie ein guter starker Drink: Er verleiht allem die richtige Perspektive. Keine andere Perspektive, sondern die richtige Perspektive. Bei Nick ist es echt kein Ding, wenn die Stromrechnung ein paar Tage zu spät bezahlt wird oder wenn mein neuester Test ein bisschen lahm ausfällt. (Der letzte war, ohne Witz: »Was für ein Baum wärst du?« Ich bin ein Apfelbaum! Das hat nichts zu bedeuten!) Es spielt keine Rolle, wenn die neue Amazing Amy von der Kritik verrissen wird und der Verkauf nach einem trägen Anfang nun total stagniert. Es macht nichts, in welcher Farbe ich unser Zimmer streiche, wie lange ich im Verkehr feststecke, ob das, was wir recyceln, wirklich und wahrhaftig recycelt wird. (Mal ganz ehrlich, New York - klappt das?) Es spielt keine Rolle, weil ich endlich den Richtigen gefunden habe. Es ist Nick, entspannt und gelassen, schlau und witzig und unkompliziert. Nicht gequält, sondern glücklich. Nett. Und einen großen Penis hat er auch.
Alles, was ich an mir nicht mag, ist in meinem Kopf ganz nach hinten gerückt. Vielleicht ist es das, was ich an Nick am meisten mag - wie er mich verändert. Nicht, wie er meine Gefühle zu mir selbst verändert, nein, einfach, wie er mich verändert. Ich bin lustig, ich bin verspielt, ich bin mutig. Ich fühle mich auf natürliche Weise glücklich und zufrieden. Ich bin eine Ehefrau! Komisch, dieses Wort zu gebrauchen. (Ernsthaft, noch mal zurück zum Recycling, New York - komm schon, nur ein kleines Zwinkern.)
Wir machen alberne Sachen, zum Beispiel sind wir letztes Wochenende nach Delaware gefahren, weil wir beide noch nie Sex in Delaware hatten. Ich beschreibe die Szene, denn jetzt ist sie echt was für die Nachwelt. Wir fahren über die Staatsgrenze - Willkommen in Delaware! steht auf dem Schild, außerdem: Kleines Wunder und: Erster Bundesstaat und: Die Heimat des Tax-Free-Shopping.
Delaware, ein Staat mit vielen tollen Identitäten.
Ich lotse Nick auf den ersten Feldweg, den ich entdecke, und wir holpern fünf Minuten durch die Schlaglöcher, bis wir schließlich auf allen Seiten von Kiefern umgeben sind. Wir sagen beide kein Wort. Er schiebt seinen Sitz zurück, ich ziehe meinen Rock hoch. Ich trage keine Unterwäsche, und ich sehe, wie sein Mund, sein ganzes Gesicht schlaff wird und einen benommenen, aber entschlossenen Ausdruck annimmt, wie immer, wenn er geil wird. Ich steige auf ihn, wende ihm den Rücken zu, das Gesicht zur Windschutzscheibe, ans Lenkrad gedrückt, und als wir uns zusammen bewegen, gibt die Hupe ein heiseres Jammern von sich, als wollte sie mein Stöhnen imitieren, und meine Hand macht leise Quietschgeräusche auf der Windschutzscheibe. Nick und ich können überall kommen, wir kriegen beide kein Lampenfieber, und darauf sind wir ziemlich stolz. Danach fahren wir direkt wieder nach Hause. Ich esse Beef Jerky und lege meine nackten Füße aufs Armaturenbrett.
Wir lieben unser Haus. Das Haus, das Amazing Amy gebaut hat. Ein Brooklyner Sandsteinhaus, direkt an der Promenade, mit dem Breitwandausblick auf Manhattan. Es ist extravagant, und ich habe ein schlechtes Gewissen, aber es ist einfach perfekt. Wo ich nur kann, kämpfe ich gegen die Aura des reichen, verwöhnten Mädchens. Wir machen viel in Eigenarbeit. Über zwei Wochenenden haben wir die Wände gestrichen: frühlingsgrün und samtblau. Zumindest theoretisch. Keine der Farben kam so raus, wie wir es uns vorgestellt hatten, aber wir tun so, als würden sie uns trotzdem gefallen. Außerdem füllen wir unser Heim mit Krimskrams vom Flohmarkt. Wir kaufen LPs für Nicks Plattenspieler. Gestern Abend haben wir uns auf den alten Perserteppich gesetzt, Wein getrunken und dem Vinyl-Knistern gelauscht, während der Himmel langsam dunkel wurde. Als in Manhattan die Lichter angingen, sagte Nick: »So habe ich es mir immer vorgestellt. Genau so.«
Am Wochenende liegen wir unter vier Schichten Bettzeug, unsere Gesichter warm unter einem sonnenbeschienenen gelben Federbett. Sogar die Dielen sind fröhlich: Zwei alte knarzige Latten rufen uns freundlich zu, wenn wir zur Tür gehen. Ich liebe es, ich liebe es, dass es uns gehört, dass zu der alten Bodenlampe und dem unförmigen Tonbecher neben dem Kaffeebereiter, in dem sich lediglich eine einzelne Büroklammer befindet, großartige Geschichten gehören. Ich verbringe die Tage damit, mir Gedanken darüber zu machen, was ich Nettes tun kann - eine Pfefferminzseife für ihn kaufen, die sich in seiner Hand anfühlt wie ein warmer Stein, oder vielleicht eine schmale Scheibe Forelle, die ich braten und ihm servieren könnte, eine Ode an seine Flussdampferzeit. Ich weiß, ich bin albern. Aber es gefällt mir so - ich habe nicht gewusst, dass ich in der Lage bin, für einen Mann so alberne Dinge zu tun. Es ist eine große Freude für mich. Sogar über seine Socken gerate ich in Verzückung, denn er wirft sie in hinreißenden Knäueln ab, als hätte ein Welpe sie aus einem anderen Zimmer hereingeschleppt.
Wir feiern unseren ersten Hochzeitstag, und ich bin fett vor Liebe, obwohl die Leute uns ständig eingeredet haben, dass das erste Jahr schwer ist - als wären wir naive Kinder, die in den Krieg ziehen. Es war nicht schwer. Wir sind dazu bestimmt, miteinander verheiratet zu sein. Heute ist unser erster Hochzeitstag, Nick ist um Mittag mit der Arbeit fertig, und meine Schatzsuche wartet schon auf ihn. Lauter persönliche Dinge als Hinweise, über unser gemeinsames erstes Jahr:
Sollte er sich erkälten, mein süßer Mann, dann
hilft nur dieses Gericht, das man kaufen kann.
Antwort: die Tom-Yam-Suppe von Thai Town in der President Street. Heute Nachmittag wird der Manager persönlich dort sein und ein Schüsselchen zum Probieren und den nächsten Hinweis bereithalten.
Außerdem McMann's in Chinatown und die Alice-Statue im Central Park. Am Ende landen wir auf dem Fischmarkt in der Fulton Street, wo wir zwei wunderschöne Hummer kaufen, und im Taxi auf der Heimfahrt werde ich den Container auf dem Schoß halten, während Nick nervös auf dem Sitz herumrutscht. So schnell wie möglich werfe ich die Hummer in den neuen Topf auf unserem alten Herd, mit der Gewandtheit einer jungen Frau, die zahlreiche Sommer auf dem Cape verbracht hat, und Nick kichert und tut so, als wollte er sich vor lauter Angst hinter der Küchentür verstecken.
Ursprünglich hatte ich vorgeschlagen, dass wir uns Burger holen. Nick wollte essen gehen - fünf Sterne, richtig schick -, irgendwo mit einem Uhrwerk von Gängen und wichtigtuerischen Kellnern. Also sind die Hummer ein perfektes Zwischending, und wie alle behaupten, geht es ja in einer Ehe genau darum: um Kompromisse!
Wir werden Hummer mit Butter essen und Sex auf dem Boden haben, während eine Frau von einer alten Jazz-LP mit Tunnel- Stimme für uns singt. Langsam und träge werden wir uns betrinken, mit gutem Scotch, Nicks Lieblingsgetränk. Dann überreiche ich ihm sein Geschenk - das Briefpapier mit dem Monogramm von Crane & Co., das er sich gewünscht hat, mit der klaren Groteskschrift in Jägergrün, auf dem dicken cremigen Papier, für üppige Tinte, für seine Schriftstellersätze. Briefpapier für einen Schriftsteller und seine Frau, die vielleicht auch nach dem einen oder anderen Liebesbrief angelt.
Vielleicht werden wir danach noch einmal miteinander schlafen. Und spätabends vielleicht noch einen Burger essen. Und noch ein bisschen Scotch trinken. Voilà: das glücklichste Paar der ganzen Gegend! Und dann wird immer behauptet, die Ehe wäre harte Arbeit.
Nick Dunne
Die Nacht, als
Boney und Gilpin verlegten unser Gespräch auf die Polizeiwache, die aussieht wie eine heruntergekommene Kommunalbank. Vierzig Minuten saß ich allein in einem kleinen Raum und musste meine ganze Willenskraft aufbringen, um mich nicht zu bewegen. Wenn man so tut, als wäre man ruhig, ist man ruhig - in gewisser Weise. Ich fläzte mich über den Tisch, legte das Kinn auf den Arm. Und wartete.
»Möchten Sie Amys Eltern anrufen?«, hatte Boney gefragt.
»Ich möchte sie nicht in Panik versetzen«, antwortete ich. »Wenn wir in einer Stunde noch nichts von ihr gehört haben, rufe ich an.«
Dieses Gespräch hatten wir inzwischen schon dreimal geführt. Schließlich kamen die beiden Detectives rein und nahmen mir gegenüber Platz. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu lachen, weil das Ganze sich dermaßen nach Fernsehsendung anfühlte. Es war der gleiche Raum, durch den ich mich seit einem Jahrzehnt in allen Spätfilmen auf Kabel surfte, und die beiden Cops - erschöpft, aber robust - benahmen sich wie die dazugehörigen Stars. Total künstlich. Disney World Police Station. Boney hatte sogar einen Pappbecher mit Kaffee und einen braunen Umschlag in der Hand, der aussah wie eine Requisite. Eine Cop-Requisite. Mir wurde ganz schwindlig, und einen Augenblick hatte ich das Gefühl, dass wir alle nicht echt waren. Spielen wir das Verschwundene-Frau- Spiel!
»Alles klar bei Ihnen, Nick?«, fragte Boney.
»Alles klar, ja. Warum?«
»Sie lächeln.«
Die Schwummrigkeit rutschte auf den gefliesten Boden. »Entschuldigung, es ist nur alles so ...«
»Ich weiß«, sagte Boney, und ihr Blick fühlte sich an, als würde sie meine Hand tätscheln. »Es ist sonderbar, ich weiß.« Sie räusperte sich. »Zuerst einmal möchten wir gern dafür sorgen, dass Sie es hier einigermaßen bequem haben. Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie uns bitte Bescheid. Je mehr Informationen Sie uns geben können, desto besser, aber Sie können natürlich auch jederzeit gehen, gar kein Problem.«
»Ich stehe zur Verfügung.«
»Okay, großartig, danke«, sagte sie. »Ähm, okay. Ich möchte gern erst mal die lästigen Dinge aus dem Weg räumen. Den Mist. Wenn Ihre Frau wirklich entführt worden ist - das wissen wir noch nicht, aber falls es sich herausstellen sollte -, wollen wir den Kerl natürlich kriegen, und wenn wir ihn kriegen, dann wollen wir ihn festnageln, und zwar richtig. Keine Hintertürchen. Kein Spielraum.«
»Gut.«
»Deshalb müssen wir Sie erst mal ausschließen, ganz schnell, ganz einfach. Damit der Kerl später nicht behaupten kann, dass wir Sie nicht ausgeschlossen haben, verstehen Sie, was ich meine?«
Ich nickte automatisch. Eigentlich wusste ich überhaupt nicht, was sie meinte, aber ich wollte unbedingt kooperativ erscheinen.
»Ich stehe zur Verfügung.«
»Wir wollen Sie nicht erschrecken«, fügte Gilpin hinzu. »Wir wollen nur alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«
»Von mir aus ist das vollkommen in Ordnung.« Es ist immer der Ehemann, dachte ich. Jeder weiß, dass es immer der Ehemann ist, warum sagen die dann nicht einfach: Wir verdächtigen Sie, weil Sie der Ehemann sind, und es ist immer der Ehemann. Man braucht sich doch nur Dateline anzuschauen.
»Okay, sehr gut, Nick«, sagte Boney. »Dann nehmen wir doch gleich eine DNA-Probe aus Ihrem Mund, damit wir die ganze DNA im Haus ausschließen können, die nicht Ihnen gehört. Ist das in Ordnung für Sie?«
»Klar.«
»Außerdem möchte ich mir gern Ihre Hände anschauen, wegen Schmauchspuren. Wiederum, nur für den Fall ...«
»Moment, Moment, Moment. Haben Sie irgendwas gefunden, was darauf hindeutet, dass meine Frau ...?«
»Neinneinnein, Nick«, fiel Gilpin mir ins Wort. Er zog einen Stuhl an den Tisch und setzte sich verkehrt herum darauf. Ich fragte mich, ob Cops das wirklich taten. Oder hatte es ein schlauer Schauspieler eingeführt, und jetzt fingen auch die Cops damit an, weil sie mitgekriegt hatten, dass Schauspieler, die Cops darstellten, es so machten und dabei cool aussahen?
»Reine Routine«, fuhr Gilpin fort. »Wir versuchen, jede Möglichkeit zu bedenken und auszuschließen. Wir checken Ihre Hände, machen einen Abstrich, und wenn wir auch Ihr Auto in Augenschein nehmen könnten ...«
»Selbstverständlich. Wie gesagt, ich stehe zur Verfügung.«
»Danke, Nick. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar. Manchmal machen Leute uns das Leben schwer, nur weil sie es können.«
Ich war genau das Gegenteil. Mein Vater hatte meine Kindheit mit unausgesprochenen Vorwürfen durchtränkt; er war immer auf der Lauer nach etwas, auf das er wütend sein konnte. Go war dadurch defensiv geworden und ließ sich keinen ungerechtfertigten Scheiß gefallen. Aber aus mir war ein reflexhafter Schleimer geworden, vor allem Autoritäten gegenüber. Mom, Dad, meine Lehrer. Was immer Ihren Job leichter macht, Sir. Oder Madam. Ich gierte nach einem konstanten Strom von Anerkennung. »Du würdest lügen, betrügen, stehlen und sogar morden, um die Leute davon zu überzeugen, dass du ein guter Mensch bist«, hatte Go einmal gesagt, als wir bei Yonah Schimmel's anstanden, um Knishes zu kaufen, nicht weit von Gos alter New Yorker Wohnung entfernt - ich erinnere mich noch genau an diesen Augenblick -, und auf einmal war mein Appetit verschwunden, weil Go genau ins Schwarze getroffen hatte. Es stimmte haargenau, nur war es mir nie klar gewesen, und noch als sie es sagte, dachte ich: Das werde ich nie vergessen, das ist einer dieser Momente, der für alle Ewigkeit in meinem Gehirn gespeichert ist. Während meine Hände auf Schmauchspuren untersucht und ein Abstrich aus meinem Mund genommen wurde, machten die Cops und ich Konversation, über das Feuerwerk am 4. Juli, über das Wetter. Wir taten so, als wäre das alles ganz normal, so normal wie ein Besuch beim Zahnarzt.
Als es überstanden war, stellte Boney eine frische Tasse Kaffee vor mich auf den Tisch und legte mir kurz die Hand auf die Schulter.
»Tut mir echt leid. Das ist der unangenehmste Teil des Jobs. Meinen Sie, dass Sie uns jetzt auch noch ein paar Fragen beantworten können? Das würde uns echt helfen.«
»Aber selbstverständlich, legen Sie los.«
Sie stellte ein schmales digitales Aufnahmegerät vor mich auf den Tisch. »Stört Sie das? So müssen Sie die gleichen Fragen nicht immer wieder beantworten ...« Natürlich wollte sie meine Aussage aufnehmen, damit man mich auf eine Geschichte festnageln konnte. Ich sollte einen Anwalt anrufen, dachte ich, aber nur Leute, die Dreck am Stecken haben, brauchen einen Anwalt, also nickte ich: Kein Problem.
»Also: Amy«, begann Boney. »Wie lange leben Sie beide schon hier?«
»Fast genau zwei Jahre.«
»Und sie ist ursprünglich aus New York City?«
»Ja.«
»Arbeitet sie, hat sie einen Job?«, fragte Gilpin.
»Nein. Sie hat Persönlichkeitstests entworfen.«
Die Detectives wechselten einen kurzen Blick: Tests?
»Für Teeny-Magazine und Frauenzeitschriften«, erklärte ich. »Sie wissen schon: ›Sind Sie ein eifersüchtiger Typ? Machen Sie unseren Test und finden Sie es heraus! Wirken Sie einschüchternd auf Männer? Machen Sie unseren Test, und finden Sie es heraus!‹«
»Cool, so was liebe ich«, sagte Boney, »Ich wusste gar nicht, dass das ein Job ist. So was zu entwerfen. Also, dass man es so richtig als Beruf machen kann.«
»Na ja, das ist es eigentlich auch nicht. Nicht mehr. Das Internet ist voll von Tests, für die man nichts bezahlen muss. Die von Amy waren intelligenter - sie hatte einen Master in Psychologie -, hat einen Master in Psychologie.« Ich lachte blöd über meinen Ausrutscher.
»Aber intelligent kommt nicht an gegen umsonst.«
»Und dann?«
Ich zuckte die Achseln. »Dann sind wir hierher zurückgezogen. Zurzeit ist sie mehr oder weniger nur zu Hause.«
»Oh! Haben Sie denn Kinder, Sie beide?«, zwitscherte Boney, als hätte sie eine gute Nachricht entdeckt.
»Nein.«
»Oh. Was macht Amy dann so den ganzen Tag?«
Das fragte ich mich auch. Früher war Amy eine Frau, die ständig irgendetwas machte, alles Mögliche, die ganze Zeit. Als wir zusammenzogen, beschäftigte sie sich gerade sehr intensiv mit der französischen Küche, wobei sie hyperschnelle Messerkünste an den Tag legte und ein hinreißendes Boeuf Bourguignon produzierte. An ihrem vierunddreißigsten Geburtstag flogen wir nach Barcelona, und sie verblüffte mich mit ihren Spanischkenntnissen, komplett mit Zungenspitzen-R, das hatte sie alles heimlich innerhalb von ein paar Monaten gelernt. Meine Frau hat ein brillantes, lebhaftes Gehirn, sie ist kolossal neugierig und wissensdurstig. Doch meist werden ihre Obsessionen von Rivalitäten angeheizt: Sie muss die Männer blenden und die Frauen eifersüchtig machen: Natürlich kann Amy französisch kochen und fließend Spanisch sprechen und gärtnern und stricken und einen Marathon laufen, und sie beherrscht den Tageshandel des Aktienmarkts aus dem Effeff und kann ein Flugzeug fliegen und dabei noch wie ein Runway-Model aussehen. Sie muss Amazing Amy sein, die ganze Zeit. Hier in Missouri gehen die Frauen bei Target einkaufen, bereiten ordentliche, schmackhafte Gerichte zu und lachen darüber, dass sie sich kaum mehr an das Spanisch erinnern, das sie auf der Highschool gelernt haben. Konkurrenz interessiert sie nicht. Amys gnadenlose Leistungsbesessenheit wird offen, vielleicht ein kleines bisschen mitleidig akzeptiert. Für meine konkurrenzorientierte Frau aber ist sie hier mit dem konfrontiert, was für sie das Allerschlimmste ist: einer Stadt zufriedener Verliererinnen.
»Sie hat eine Menge Hobbys«, sagte ich.
»Macht Ihnen irgendwas Sorgen?«, fragte Boney und sah sofort besorgt aus. »Drogen oder vielleicht Alkohol? Ich möchte Ihre Frau nicht schlechtmachen. Ganz schön viele Hausfrauen, weit mehr, als man denkt, kriegen so den Tag rum. Wenn man alleine ist, wird einem die Zeit lang. Und wenn aus dem Trinken dann ein Drogenproblem wird - und ich meine damit nicht Heroin, sondern beispielsweise verschreibungspflichtige Schmerztabletten -, tja, hier in der Gegend treiben sich ein paar ganz üble Typen rum, die das Zeug verkaufen.«
»Der Drogenhandel ist richtig schlimm geworden«, sagte Gilpin.
»Wir hatten einige Entlassungen bei der Polizei - ein Fünftel der Truppe, und wir waren schon vorher knapp besetzt. Ich meine, es ist echt übel, wir werden praktisch überrannt.«
»Letzten Monat ist einer Hausfrau wegen ein paar OxyContin ein Zahn ausgeschlagen worden«, fügte Boney zur Veranschaulichung hinzu.
»Nein, Amy hat vielleicht hin und wieder ein Glas Wein getrunken, aber keine Drogen.«
Boney beäugte mich - das war eindeutig nicht die Antwort, die sie sich erhofft hatte. »Hat sie hier gute Freundinnen? Wir würden gern ein paar von ihnen anrufen, nur um sicherzugehen. Nichts für ungut. Manchmal ist der Ehepartner der Letzte, der was davon mitkriegt, wenn Drogen im Spiel sind. Die Leute schämen sich - vor allem Frauen.«
Freundinnen. In New York fand Amy wöchentlich neue Freundinnen und legte alte ab, sie ging mit ihnen ähnlich um wie mit ihren sonstigen Projekten. Anfangs war sie begeistert: von Paula, die ihr Gesangsunterricht gab und eine mörderisch gute Stimme hatte (Amy war in Massachusetts auf dem Internat gewesen, und ich liebte es, wenn sie plötzlich Ausdrücke von dort verwendete - wicked good); von Jessie aus dem Fashion-Design-Kurs. Aber wenn ich nach einem Monat oder so nachfragte, was denn aus Jessie oder Paula geworden war, sah Amy mich an, als wüsste sie überhaupt nicht, wovon ich sprach.
Dann waren da noch die Männer, die immer um Amy herumgeisterten, begierig darauf, die Dinge zu erledigen, die ihr Ehemann versäumte. Ein Stuhlbein reparieren, Amys importierten asiatischen Lieblingstee auftreiben. Männer, die schworen, dass sie Amys Freunde waren, einfach nur gute Freunde. Amy hielt sie exakt auf Armlänge von sich weg - weit genug, dass ich mich nicht allzu sehr darüber aufregen konnte, nah genug, dass sie nur mit den Fingern zu schnippen brauchte, und sie erfüllten ihr jede Bitte.
Und in Missouri ... guter Gott, ich wusste es wirklich nicht.
Erst in diesem Augenblick wurde mir das klar. Du bist echt ein Arschloch, dachte ich. Zwei Jahre waren wir jetzt hier, und nach dem Anfangswirbel von Begegnungen, den manischen ersten Monaten, hatte Amy sich mit niemandem mehr regelmäßig getroffen. Sie hatte Kontakt zu meiner Mom gehabt, die inzwischen tot war, und zu mir - und unsere Konversation bestand in den meisten Fällen aus Angriff und Verteidigung. Nach dem ersten Jahr in Missouri fragte ich sie mit geheuchelter Ritterlichkeit: »Und wie gefällt es dir in North Carthage, Mrs.Dunne?«
»In New Carthage, meinst du?«, hatte sie geantwortet. Ich weigerte mich, sie zu fragen, was das heißen sollte, aber mir war klar, dass die Bemerkung eine Beleidigung sein sollte.
»Sie hat ein paar gute Freundinnen, aber die leben größtenteils an der Ostküste.«
»Ihre Familie?«
»Die wohnt in New York. City.«
»Und Sie haben immer noch niemanden von ihnen angerufen?«, fragte Boney mit einem befremdeten Lächeln.
»Ich war damit beschäftigt, das zu erledigen, worum Sie mich gebeten haben, deshalb hatte ich noch keine Gelegenheit dazu.« Ich hatte die Ermächtigung unterschrieben, dass Kreditkarten und Geldautomaten und Amys Handy überprüft werden konnten, hatte Gos Handynummer angegeben und den Namen von Sue, der Witwe aus der Bar, die bezeugen konnten, wann ich heute dort eingetrudelt war.
»Der Jüngste der Familie.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie erinnern mich wirklich an meinen kleinen Bruder.« Kurze Pause. »Das ist übrigens ein Kompliment, das können Sie mir gerne glauben.«
»Sie liebt ihn abgöttisch«, bestätigte Gilpin und kritzelte etwas in sein Notizbuch. »Okay, Sie haben also gegen halb acht Uhr heute früh das Haus verlassen und sind um die Mittagszeit in die Bar gekommen, und dazwischen waren Sie am Strand.«
Etwa zehn Meilen nördlich von unserem Haus gibt es einen Brückenkopf, eine Ansammlung von Sand, Schlick und Bierflaschenscherben, nicht sonderlich hübsch. Die Mülleimer quellen über von Pappbechern und schmutzigen Windeln. Aber wenn man sich gegen den Wind an den Picknicktisch setzt, kriegt man schön die Sonne ab, und wenn man direkt auf den Fluss starrt, kann man den Rest ignorieren.
»Ich nehme mir manchmal einen Kaffee und die Zeitung mit und sitze eine Weile dort. Man muss den Sommer ja genießen.«
Nein, ich hatte am Strand mit niemandem gesprochen. Nein, niemand hatte mich gesehen.
»Mitten in der Woche ist da nicht viel los«, räumte Gilpin ein. Wenn die Polizei mit jemandem sprach, der mich kannte, würde schnell herauskommen, dass ich nur selten an den Strand fuhr und nie einen Kaffee mitbrachte, um einfach den Morgen zu genießen. Ich habe bleiche irische Haut und bin viel zu ungeduldig für Nabelschau. Alles andere als ein Beach-Boy. Ich erzählte das, weil es Amys Idee gewesen war, dass ich mich irgendwo hinsetzte, wo ich allein sein und den Fluss beobachten konnte, den ich so liebte, und dabei über unser gemeinsames Leben nachdenken könnte. Noch heute Morgen hatte sie das gesagt, nachdem wir ihre Crêpes gegessen hatten. Sie hatte sich über den Tisch gebeugt und gemeint: »Ich weiß, dass wir eine schwere Zeit durchmachen. Aber ich liebe dich immer noch so sehr, Nick, und ich möchte eine gute Frau für dich sein. Ich möchte, dass du mein Mann bist und dass wir glücklich sind. Aber du musst dich entscheiden.«
Kein Zweifel, sie hatte den Vortrag einstudiert, und sie lächelte stolz beim Sprechen. Und selbst als meine Frau so freundlich zu mir war, dachte ich, Natürlich muss sie das inszenieren. Sie möchte dieses Bild von mir und dem wild dahinbrausenden Fluss, meine Haare, die im Wind wehen, während ich versonnen zum Horizont blicke und über unser gemeinsames Leben sinniere. Ich kann nicht einfach zu Dunkin' Donuts gehen. Du musst dich entscheiden. Unglücklicherweise hatte ich mich schon entschieden.
Boney blickte energisch von ihren Notizen auf. »Können Sie mir sagen, was für eine Blutgruppe Ihre Frau hat?«, fragte sie.
»Äh, nein, das weiß ich nicht.«
»Sie kennen die Blutgruppe Ihrer Frau nicht?«
»Vielleicht Null?«, riet ich.
Boney runzelte die Stirn und gab dann einen gedehnten yogaartigen Laut von sich. »Okay, Nick, das sind die Maßnahmen, die wir einleiten werden.« Sie listete auf: Amys Handy wird überwacht, ihr Foto in Umlauf gebracht, ihre Kreditkarten rückverfolgt. Bekannte Sexualstraftäter aus der Gegend werden befragt. Unsere wenigen Nachbarn ebenfalls. Unser Festnetzanschluss wurde angezapft, für den Fall, dass Lösegeldforderungen eintrafen.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und durchforschte mein Gedächtnis nach den richtigen Reaktionen: Was sagt der Ehemann an dieser Stelle im Film? Kommt ganz darauf an, ob er schuldig ist oder unschuldig.
»Ich kann nicht behaupten, dass mich das beruhigt. Sind Sie - handelt es sich um eine Entführung oder einen Vermisstenfall? Was genau passiert denn jetzt eigentlich?« Ich kannte die Statistiken, von der gleichen Sendung, in der ich die Hauptrolle spielte: Wenn in den ersten achtundvierzig Stunden nichts auftauchte, war es sehr wahrscheinlich, dass der Fall nie gelöst werden würde. Die ersten achtundvierzig Stunden waren entscheidend. »Immerhin ist meine Frau verschwunden. Meine Frau ist weg!« Auf einmal merkte ich, dass ich es zum ersten Mal so sagte, wie es gesagt werden sollte: panisch und wütend. Mein Dad war ein Mann der unbegrenzten Variationen von Bitterkeit, Wut und Abscheu. In meinem lebenslangen Kampf, nicht so zu werden wie er, hatte ich fast die Fähigkeit verloren, negative Emotionen überhaupt zum Ausdruck zu bringen. Ein weiterer Umstand, der dazu führte, dass ich wie ein Arschloch wirkte - selbst wenn es in meinem Innern drunter und drüber ging, in meinem Gesicht war davon nichts zu erkennen und in meinen Worten noch viel weniger davon zu hören. Ein konstantes Problem: entweder zu viel Kontrolle oder gar keine.
»Nick, wir nehmen die Sache sehr, sehr ernst«, beteuerte Boney.
»Die Jungs vom Labor sind in diesem Augenblick in Ihrem Haus, und da werden wir weitere Informationen bekommen. Und je mehr Sie uns über Ihre Frau erzählen können, desto besser. Wie ist sie denn so?«
Sofort hatte ich die übliche Ehemann-Antwort im Kopf: Sie ist süß, sie ist toll, sie ist nett, sie ist hilfsbereit.
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich.
»Beschreiben Sie uns doch einfach Amys Persönlichkeit ein bisschen «, drängte Boney. »Beispielsweise, was Sie ihr zum Hochzeitstag schenken wollen. Schmuck vielleicht?«
»Ich habe noch nichts gekauft«, sagte ich. »Das wollte ich heute Nachmittag erledigen.«
Ich wartete, dass Boney lachte und wieder sagte: »Der Jüngste der Familie«, aber nichts dergleichen geschah.
»Okay. Na, dann erzählen Sie uns eben sonst etwas. Ist sie extrovertiert? Ist sie - ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll -, ist sie sehr New Yorkerisch? Was manche vielleicht als unhöflich auffassen? Könnte es sein, dass sie Leuten manchmal auf den Schlips tritt?«
»Ich weiß nicht. Sie ist vielleicht keine Durchschnittsperson, aber sie ist bestimmt nicht - nicht aggressiv genug, dass jemand sich provoziert fühlen würde - ihr weh zu tun.«
Das war meine elfte Lüge. Die heutige Amy war manchmal durchaus aggressiv genug, dass man sie verletzen wollte. Ich spreche ausdrücklich von Amy, wie sie jetzt ist, denn sie ist anders als die Frau, in die ich mich verliebt habe. In wenigen Jahren hat die alte Amy, das Mädchen mit dem breiten Lachen und der entspannten Art, buchstäblich ihre Haut abgestreift, hat sie mitsamt ihrer Seele auf den Boden fallen lassen, und heraus kam die neue, spröde, bittere Amy. Meine Frau war nicht mehr meine Frau, sondern ein Wirrwarr aus verknotetem Stacheldraht, der mich herausforderte, ihn zu entwirren, wozu ich mit meinen dicken, tauben, nervösen Fingern jedoch absolut nicht in der Lage war. Meinen Bauernfingern. Meinen Hinterwäldlerpranken, untrainiert in der komplizierten, gefährlichen Aufgabe, das Problem Amy zu lösen. Wenn ich die blutigen Stummel hochhielt, seufzte sie und nahm sich ihr mentales Notizbuch vor, in dem sie alle meine Unzulänglichkeiten ankreuzte, alle Enttäuschungen, Schwächen und Mängel auflistete. Meine alte Amy, verdammt, mit ihr konnte man Spaß haben. Sie war lustig. Sie brachte mich zum Lachen. Das hatte ich ganz vergessen. Und sie lachte auch. Tief in der Kehle, direkt hinter der kleinen fingerförmigen Vertiefung, die der beste Ort ist, von dem man sein Lachen aufsteigen lassen kann. Sie warf ihre Klagen von sich wie Vogelfutter: Da sind sie, und jetzt sind sie weg.
Damals war sie das noch nicht, damals hatte sie sich noch nicht in das verwandelt, was ich am meisten fürchtete: eine wütende Frau. Ich konnte nicht gut mit wütenden Frauen umgehen. Sie brachten etwas höchst Unappetitliches in mir zum Vorschein.
»Ist sie rechthaberisch?«, fragte Gilpin. »Bestimmt sie gern, wo's langgeht?«
Ich dachte an Amys Kalender, an den, der drei Jahre in die Zukunft reichte, und wenn man ein Jahr in die Zukunft blickte, fand man tatsächlich Termine: Hautarzt, Zahnarzt, Tierarzt. »Sie plant gerne - sie überlässt nichts dem Zufall, wissen Sie. Sie macht Listen und hakt sie ab. Sie erledigt Dinge. Deshalb leuchtet es mir auch überhaupt nicht ein ...«
»Das kann einen verrückt machen«, sagte Boney mitfühlend.
»Wenn man nicht so ein Typ ist. Sie scheinen mir eher eine B-Persönlichkeit zu sein.«
»Ja, vermutlich bin ich etwas entspannter«, bestätigte ich. Dann fügte ich noch das hinzu, was ich hinzufügen musste: »Wir ergänzen einander sehr gut.«
Ich schaute auf die Wanduhr, und Boney berührte meine Hand. »Hey, warum rufen Sie jetzt nicht einfach mal Amys Eltern an? Die sind Ihnen bestimmt dankbar.«
Es war schon nach Mitternacht. Gewöhnlich gingen Amys Eltern um neun Uhr schlafen; sie prahlten seltsamerweise immer damit, dass sie so früh ins Bett gingen. Jetzt schliefen sie tief und fest, ich würde sie mit meinem Anruf aus dem Bett scheuchen. Die Handys wurden Viertel vor neun ausgeschaltet, also musste Rand Elliott den ganzen Weg von seinem Bett bis zum Ende des Flurs zurücklegen, um das alte schwere Telefon abzunehmen. Er würde mit seiner Brille herumfummeln und vorsichtig nach der Tischlampe tasten. Und sich dabei alle Gründe dafür aufzählen, weshalb er sich wegen eines nächtlichen Anrufs überhaupt keine Sorgen zu machen brauchte, lauter vollkommen harmlose Gründe, warum das Telefon ausgerechnet jetzt klingelte.
Ich wählte zweimal und legte schnell wieder auf, ehe ich beim dritten Mal wartete, bis jemand dranging. Es meldete sich Marybeth, nicht Rand, und ihre tiefe Stimme brummte in meinen Ohren. Ich kam bis zu: »Marybeth, hier ist Nick«, dann wusste ich nicht mehr weiter.
»Was ist los, Nick?«
Ich holte tief Luft.
»Ist was mit Amy? Sag schon.«
»Ich, äh - tut mir leid, ich hätte schon anrufen sollen ...«
»Raus damit, verdammt!«
»Wir k-können Amy nicht finden«, stotterte ich.
»Ihr könnt Amy nicht finden?«
»Ich weiß nicht ...«
»Amy wird vermisst?«
»Wir sind nicht sicher, wir sind ...«
»Seit wann?«
»Wir sind nicht sicher. Ich bin heute Morgen kurz nach sieben aus dem Haus ...«
»Und du hast bis jetzt gewartet, uns anzurufen?«
»Tut mir leid, ich wollte nicht ...«
»Großer Gott. Wir haben heute Abend Tennis gespielt. Tennis, und wir hätten ... Mein Gott. Weiß die Polizei Bescheid? Hast du sie alarmiert?«
»Ich bin gerade auf dem Revier.«
»Bitte gib mir die Person, die für die Sache verantwortlich ist, Nick. Bitte.«
Wie ein Kind zog ich los und holte Gilpin. Meine Schwiegermami möchte mit Ihnen sprechen.
Das Telefongespräch mit den Elliotts machte die Sache offiziell. Die Situation - Amy ist verschwunden - verbreitete sich nach draußen.
Ich war auf dem Weg zurück in den Verhörraum, als ich die Stimme meines Vaters hörte. In besonders beschämenden Augenblicken hatte ich oft seine Stimme im Kopf. Aber jetzt war es die Stimme meines Vaters, hier, in der Realität. In feuchten Blasen bahnten sich seine Worte ihren Weg, wie etwas aus einem ekligen Sumpf.
Schlampe, Schlampe, Schlampe. Irre, wie er war, hatte er die Angewohnheit angenommen, jeder Frau, die ihn auch nur ansatzweise nervte, dieses Schimpfwort an den Kopf zu werfen: Schlampe, Schlampe, Schlampe. Ich spähte in einen Konferenzraum, und da saß er auf einer Bank an der Wand. Früher war er ein attraktiver Mann gewesen, dynamisch, mit einem Grübchen im Kinn. Schrill verträumt, so hatte meine Tante ihn einmal beschrieben. Jetzt saß er da, knurrte den Boden an, seine blonden Haare waren verfilzt, die Hose verdreckt, seine Arme zerkratzt, als hätte er sich einen Weg durch ein Dornengestrüpp gebahnt. Auf seinem Kinn war ein dünnes Speichelrinnsal, das glänzte wie eine Schneckenspur, und er ließ die Armmuskeln spielen, die noch nicht ganz verlottert waren.
Neben ihm saß eine Polizistin, den Mund ärgerlich verzogen, und versuchte, ihn zu ignorieren: Schlampe, Schlampe, Schlampe, ich hab's dir gesagt, Schlampe.
»Was ist denn hier los?«, fragte ich die Frau. »Das ist mein Vater.«
»Haben Sie unseren Anruf denn nicht bekommen?«
»Was für einen Anruf?«
»Dass Sie Ihren Vater abholen sollen.« Sie sprach überdeutlich, als wäre ich ein geistig zurückgebliebener Zehnjähriger.
»Ich - meine Frau ist verschwunden. Ich war fast den ganzen Abend hier.«
Sie starrte mich an, ohne wirklich eine Verbindung herzustellen.
Ich konnte sehen, wie sie innerlich debattierte, ob sie ihr Druckmittel aufgeben und sich entschuldigen, womöglich nachfragen sollte. Dann fing mein Vater wieder an zu schimpfen, Schlampe, Schlampe, Schlampe, und sie beschloss, ihr Druckmittel doch lieber zu behalten.
»Sir, Comfort Hill hat den ganzen Tag versucht, Sie zu erreichen. Ihr Vater ist heute früh durch einen Notausgang weggelaufen. Er hat ein paar Kratzer, wie Sie ja sehen, aber nichts Schlimmes. Vor ein paar Stunden haben wir ihn aufgegriffen, er ist völlig desorientiert die River Road entlanggeirrt. Wir haben versucht, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen.«
»Ich war hier«, wiederholte ich. »Direkt nebenan, wieso haben Sie es nicht geschafft, zwei und zwei zusammenzuzählen?«
Schlampe, Schlampe, Schlampe, sagte mein Vater.
»Sir, bitte sprechen Sie nicht in diesem Ton mit mir.«
Schlampe, Schlampe, Schlampe.
Boney gab einem Officer den Auftrag, meinen Dad ins Heim zurückzufahren, damit wir unser Gespräch zu Ende bringen konnten.
Wir standen auf der Treppe vor dem Revier und sahen zu, wie er, immer noch vor sich hinschimpfend, ins Auto verfrachtet wurde. Die ganze Zeit nahm er kein einziges Mal meine Anwesenheit zur Kenntnis. Als der Wagen abfuhr, schaute er auch nicht zurück. »Sie stehen sich wohl nicht sehr nahe?«, fragte Boney. »Wir sind der Inbegriff von ›nicht sehr nahe‹.«
Gegen zwei Uhr morgens waren die Detectives mit ihren Fragen durch und komplimentierten mich in einen Streifenwagen, mit dem gutgemeinten Rat, mich ordentlich auszuschlafen und am nächsten Vormittag um elf zu der Mittags-Pressekonferenz zu erscheinen. Ich fragte nicht, ob ich nach Hause durfte, ich ließ mich zu Go fahren, weil ich wusste, dass sie aufbleiben, mit mir ein Bier trinken und mir ein Sandwich machen würde. Erbärmlicherweise war das alles, was ich in diesem Moment wollte: eine Frau, die mir ein Sandwich machte und mir keine weiteren Fragen stellte.
»Du möchtest dich also nicht auf den Weg machen und sie suchen? «, fragte Go, während ich aß. »Wir könnten ein bisschen rumfahren.«
»Das ist doch sinnlos«, erwiderte ich dumpf. »Wo soll ich denn suchen?«
»Nick, das ist eine echt ernste Sache.«
»Ich weiß, Go.«
»Dann benimm dich auch entsprechend, okay, Lance? Begnüg dich nicht mit deinem verfickten mjahmjahmjah.« Sie machte das schwerfällige Lallgeräusch, das sie immer benutzte, um meine Unentschlossenheit zu veranschaulichen, begleitet von einem benommenen Augenrollen. Außerdem benutzte sie meinen offiziellen ersten Vornamen. Wenn jemand mit meinem Gesicht geboren ist, möchte er ganz sicher nicht mit Lance angeredet werden. Go gab mir ein Glas Scotch. »Und trink das hier, aber mehr nicht. Du willst morgen keinen Kater haben. Wo zum Teufel könnte sie denn stecken? Gott, mir ist richtig schlecht.« Sie goss sich auch ein Glas ein, schluckte, versuchte zu nippen, wanderte in der Küche herum. »Machst du dir denn überhaupt keine Sorgen, Nick? Dass irgendein Kerl sie auf der Straße gesehen und beschlossen hat, sie abzugreifen? Ihr eins über den Schädel gegeben hat und ...«
Ich zuckte zusammen. »Warum hast du gesagt ihr eins über den Schädel gegeben hat, was soll die Scheiße?«
»Tut mir leid, ich wollte dir kein Bild in den Kopf setzen, ich hab nur ... Ich weiß auch nicht, ich denke dauernd darüber nach. Über einen Verrückten.« Sie goss sich Scotch nach.
»Apropos Verrückter«, sagte ich. »Dad ist heute mal wieder abgehauen, sie haben ihn auf der River Road aufgegriffen. Inzwischen ist er wieder im Comfort.«
Go zuckte die Achseln: okay. Es war das dritte Mal in sechs Monaten, dass unser Vater entwischt war. In Gedanken immer noch bei Amy, zündete Go sich eine Zigarette an. »Ich meine, gibt es denn nicht vielleicht jemanden, mit dem wir reden können?«, fragte sie.
»Irgendwas tun?«
»Himmel, Go! Musst du denn unbedingt dafür sorgen, dass ich mir noch hilfloser vorkomme als sowieso schon?«, fauchte ich. »Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Es gibt keinen Grundkurs für ›Was ist zu tun, wenn Ihre Frau spurlos verschwindet‹. Die Polizei hat mir gesagt, ich kann gehen. Also bin ich gegangen. Ich tue einfach, was die mir sagen.«
»Na klar«, murmelte Go, die sich schon immer bemüht hatte, einen Rebellen aus mir zu machen. Aber es klappte nicht. In der Highschool war ich der Kerl, der zur vorgeschriebenen Zeit nach Hause kam, ich war der Journalist, der seine Termine einhielt, selbst die unnötigen. Ich respektiere die Regeln, denn wenn man die Regeln einhält, dann läuft alles glatt. Normalerweise.
»Scheiße, Go, ich muss in ein paar Stunden wieder auf dem Revier sein. Kannst du bitte eine Sekunde einfach ein bisschen nett zu mir sein? Ich hab eine Scheißangst.«
Wir hatten einen Fünf-Sekunden-Starrwettbewerb, dann füllte Go mein Glas noch einmal auf, als Entschuldigung sozusagen, setzte sich neben mich und legte mir die Hand auf die Schulter.
»Arme Amy«, sagte sie.
Nick Dunne
Ein Tag danach
Leider hörte ich nicht auf Gos Rat in punkto Alkohol. Ich saß allein auf ihrem Sofa und trank die halbe Flasche leer, und gerade, als ich dachte, ich würde endlich einschlafen, setzte der achtzehnte Adrenalinstoß ein, ich verschob mein Kissen, meine Augen waren geschlossen, und dann sah ich meine Frau, die blonden Haare blutverkrustet, weinend und blind vor Schmerz, wie sie sich über unseren Küchenfußboden schleppte. Sie rief meinen Namen. Nick, Nick, Nick!
Ich setzte die Flasche noch ein paarmal an, stimmte mich aufs Schlafen ein, ein zum Scheitern verurteiltes Programm. Der Schlaf ist wie eine Katze: Er kommt nur, wenn man ihn ignoriert. Ich trank noch ein bisschen und setzte mein Mantra fort. Hör auf zu denken, noch ein Schluck, mach den Kopf leer, Schluck, jetzt aber mal im Ernst, mach den Kopf leer, los, Schluck. Du musst fit sein morgen, du musst schlafen! Schluck. Als der Morgen dämmerte, gelang mir ein kurzes Nickerchen, und eine Stunde später wachte ich mit einem Kater auf. Kein mörderischer Kater, aber schon ganz ordentlich. Ich fühlte mich labil und flau. Irgendwie miefig. Vielleicht noch ein bisschen betrunken. Als ich etwas stockend zu Gos Subaru wanderte, fühlte sich die Bewegung sonderbar an, so, als wären meine Beine falsch eingehängt. Go hatte mir ihr Auto vorübergehend geliehen, da die Polizei meinen gut erhaltenen Jetta zusammen mit meinem Laptop gnädig zur Inspektion angenommen hatte - alles reine Formsache, wie man mir versicherte. Jetzt fuhr ich erst mal nach Hause, um mir etwas einigermaßen Anständiges anzuziehen.
Drei Streifenwagen standen in der Straße, und unsere wenigen Nachbarn wuselten aufgeregt herum. Kein Carl, aber Jan Teverer - die christliche Lady - und Mike, der Vater der dreijährigen In- Vitro-Drillinge - Trinity, Topher und Talullah. (»Ich hasse sie alle, schon ihre Namen!«, sagte Amy, eine strenge Richterin in Bezug auf alles Trendige. Als ich erwähnte, dass auch der Name Amy einmal trendig gewesen war, entgegnete meine Frau: »Nick, du kennst doch die Geschichte mit meinem Namen.« Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte.)
Jan nickte mir aus der Ferne zu, ohne meinem Blick zu begegnen, aber Mike kam sofort auf mich zu, als ich ausstieg. »Es tut mir so leid, Mann, wenn ich was tun kann, lass es mich bitte wissen. Egal was. Ich hab heute Morgen den Rasen gemäht, dann musst du dich darum schon mal nicht mehr kümmern.«
Mike und ich mähten abwechselnd auf allen verlassenen Grundstücken des Wohnkomplexes das Gras - heftige Regenfälle im Frühling hatten die Gärten in einen Dschungel verwandelt, der seinerseits den Zuzug von Waschbären begünstigt hatte. Sie waren überall, fraßen sich mitten in der Nacht durch unseren Müll, schlichen sich in die Keller, fläzten auf der Veranda wie faule Haustiere. Das Mähen schien sie nicht zu vertreiben, aber jetzt konnten wir sie wenigstens sehen.
»Danke, Mann, danke«, sagte ich.
»Mann, meine Frau ist total hysterisch, seit sie davon erfahren hat«, sagte er. »Total hysterisch.«
»Tut mir leid, das zu hören«, sagte ich. »Ich muss ...«, fuhr ich fort und deutete zur Tür.
»Sitzt rum mit Bildern von Amy und heult.«
Ohne Zweifel waren über Nacht tausend Internet-Fotos aufgetaucht, nur um die erbärmlichen Bedürfnisse von Frauen wie der von Mike zu befriedigen. Ich hatte keine Sympathien für Drama- Queens.
»Hey, ich muss dich fragen ...«, begann Mike. Ich tätschelte seinen Arm und deutete wieder zur Tür, als hätte ich dringende Dinge zu erledigen. Ehe er seine Frage stellen konnte, wandte ich mich ab und klopfte an die Tür meines eigenen Hauses. Officer Velásquez begleitete mich nach oben, in mein eigenes Schlafzimmer, in meinen eigenen begehbaren Wandschrank - an dem silbern glänzenden Geburtstagsgeschenkwürfel vorbei - und ließ mich meine Sachen durchsehen. Meine Klamotten vor dieser jungen Frau mit dem langen braunen Zopf zu durchforsten, machte mich irgendwie nervös. Bestimmt begutachtete sie mich und bildete sich eine Meinung über mich. Schließlich griff ich blind etwas heraus: Der endgültige Look war business-casual, Stoffhose und kurzärmeliges Hemd, als ginge ich auf einen Kongress. Könnte ein interessanter Essay werden, dachte ich - wie man sich angemessene Kleidung aussucht, wenn eine geliebte Person verschwunden ist.
Den gierigen, themenhungrigen Autor in mir konnte ich nicht abstellen. Ich stopfte alles in eine Tasche, drehte mich um und sah zu der Geschenkbox auf dem Boden. »Kann ich reinschauen?«, fragte ich die Polizistin.
Sie zögerte, ging dann aber auf Nummer Sicher. »Nein, tut mir leid, Sir. Lieber nicht jetzt.«
Die Kante des Geschenkpapiers war sorgfältig aufgeschlitzt. »Hat jemand reingeschaut?«
Sie nickte.
Ich ging um sie herum zu dem Geschenk. »Wenn schon jemand reingeschaut hat, dann ...«
Sofort vertrat sie mir den Weg. »Sir, ich darf das nicht zulassen.«
»Aber das ist doch lächerlich. Es ist ein Geschenk für mich, von meiner Frau ...«
Ich ging wieder um sie herum, bückte mich und hatte eine Hand schon auf der Kante der Schachtel, als sie mir von hinten den Arm über die Brust schlang. Wut schoss in mir hoch, dass diese Frau die Frechheit hatte, mir in meinem eigenen Haus vorzuschreiben, was ich zu tun und zu lassen hatte. Ganz gleich, wie sehr ich mich anstrenge, der Sohn meiner Mutter zu sein, die Stimme meines Vaters erschallt ungebeten in meinem Kopf und lädt dort schreckliche Gedanken und gemeine Wörter ab.
»Sir, das hier ist ein Tatort, Sie...«
Blöde Schlampe.
Auf einmal war Riordan, ihr Partner, im Raum und stürzte sich ebenfalls auf mich. Ich schüttelte sie ab - schon gut, schon gut, verdammt -, aber sie zwangen mich, die Treppe runterzugehen. Bei der Haustür kauerte eine Frau auf allen vieren, und untersuchte die Dielen, vermutlich auf Blutspuren. Sie blickte gleichgültig zu mir auf und wandte sich dann wieder ihrer Aufgabe zu.
Auf dem Weg zu Go, wo ich mich umziehen wollte, versuchte ich, mich zu entspannen. Was ich gerade erlebt hatte, war nur eins in einer langen Reihe von ärgerlichen und idiotischen Dingen, die die Polizei im Zuge ihrer Ermittlungen tun würde (ich mag sinnvolle Regeln, aber keine unlogischen), also musste ich mich beruhigen: Mach dir die Cops nicht zum Feind, sagte ich mir. Wiederhole bei Bedarf: Mach dir die Cops nicht zum Feind.
Als ich aufs Revier kam, begegnete ich Boney, und sie sagte in aufmunterndem Ton, als würde sie mir ein warmes Muffin anbieten: »Ihre Schwiegereltern sind hier, Nick.«
Marybeth und Rand Elliott hielten sich wie immer im Arm und sahen hier, mitten in der Polizeiwache, aus, als posierten sie für ein Abschlussball-Foto. Genau dieses Bild hatte ich immer von ihnen im Kopf, Hände streichelnd, Kinne reibend, Wangen aneinanderschmiegend. Wenn ich die Elliotts zu Hause besuchte, verwandelte ich mich unweigerlich in einen zwanghaften Räusperer - Hallo, ich komm jetzt rein! -, weil ich an jeder Ecke darauf gefasst sein musste, mit den Elliotts zusammenzustoßen, die sich gerade liebevoll umarmten. Jedes Mal, wenn sie sich voneinander verabschiedeten, küssten sie sich auf den Mund, und wenn Rand an seiner Frau vorbeiging, umfasste er mit der Hand ihren Hintern. Ein solches Verhalten war mir vollkommen fremd. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich zwölf war, und ich glaube, in sehr zartem Alter habe ich zwischen den beiden vielleicht mal ein verschämtes Küsschen auf die Wange miterlebt, wenn es sich nicht vermeiden ließ. An Weihnachten, am Geburtstag. Mit trockenen Lippen. Selbst in den besten Zeiten ihrer Ehe war ihre Kommunikation ausschließlich transaktionsbezogen. Wir haben schon wieder keine Milch mehr. (Ich hole nachher welche.) Das muss ordentlich gebügelt werden. (Ich mach das heute noch.) Warum ist es so schwer, Milch zu kaufen? (Schweigen.) Du hast vergessen, den Klempner anzurufen. (Seufzer.) Verdammt, zieh die Jacke an, sofort, geh raus und hol gefälligst die verfluchte Milch! Auf der Stelle! Solche Botschaften und Befehle wurden von meinem Vater ausgestoßen, der meine Mutter bestenfalls wie eine inkompetente Dienstbotin behandelte. Und schlimmstenfalls? Er hat sie nie geschlagen, aber seine pure, unartikulierte Wut füllte das Haus für Tage und Wochen, machte die Luft feucht, das Atmen schwer, und mein Vater marschierte mit vorgeschobenem Unterkiefer herum wie ein gekränkter, rachsüchtiger Boxer und knirschte so laut mit den Zähnen, dass man es im ganzen Zimmer hörte. Manchmal warf er Gegenstände nach meiner Mutter, oder zumindest in ihre Richtung, nicht direkt auf sie. Ich bin sicher, er hat sich gesagt: Ich hab sie doch nie getroffen. Ich bin sicher, aufgrund dieses Details, dieser Formsache, musste er sich nie als Täter sehen. Aber er verwandelte unser Familienleben in einen endlosen Road- Trip mit schlechten Anweisungen und einem wutverkrampften Fahrer, in einen Urlaub, der nie die Chance bekam, Spaß zu machen. Bring mich bloß nicht dazu zu wenden. Bitte, bitte, dreh endlich um.
Ich glaube nicht, dass meine Mutter als solche das Problem meines Vaters war. Er mochte einfach keine Frauen. Er fand sie dumm, irrelevant, lästig. Diese blöde Schlampe, das war sein Lieblingsausdruck für jede Frau, die ihn nervte: Autofahrerinnen, Kellnerinnen, unsere Grundschullehrerinnen, von denen er keine jemals kennenlernte, denn Elternsprechstunden waren Frauensache. Ich weiß noch genau, wie Geraldine Ferraro 1984 als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft nominiert wurde. Wir schauten es uns alle vor dem Abendessen in den Fernsehnachrichten an, und meine Mutter, meine zierliche, süße Mom legte die Hand auf Gos Kopf und sagte: Also, ich finde das toll. Da stellte Dad den Fernseher aus und knurrte: Das ist ja wohl ein Witz, ein gottverdammter. Als würde man einem Affen beim Radfahren zusehen.
Es dauerte weitere fünf Jahre, bis meine Mutter endlich zu dem Schluss kam, dass sie genug davon hatte. Eines Tages kam ich von der Schule nach Hause, und mein Vater war weg. Morgens war er noch da, nachmittags war er verschwunden. Meine Mom ließ uns am Tisch Platz nehmen und verkündete: »Euer Vater und ich haben beschlossen, dass es für alle das Beste ist, wenn wir getrennt wohnen.« Go brach in Tränen aus und heulte: »Gut, ich hasse euch beide!« Und dann ging sie, statt sich ans Drehbuch zu halten und in ihr Zimmer zu rennen, zu meiner Mutter und nahm sie in den Arm. So verließ uns mein Vater, und meine dünne gequälte Mutter wurde dick und glücklich - ziemlich dick und extrem glücklich -, so, als hätte es schon die ganze Zeit über so sein sollen. Ein schlaffer Ballon, der wieder Luft bekommt. Innerhalb eines Jahres verwandelte sie sich in eine vielbeschäftigte, herzliche, fröhliche Frau, und so blieb sie bis zu ihrem Tod. Ihre Schwester sagte Dinge wie: »Gott sei Dank, dass die alte Maureen wieder da ist«, als wäre die Frau, die uns großgezogen hatte, eine Schwindlerin gewesen.
Mit meinem Vater redete ich jahrelang einmal pro Monat am Telefon, ein höfliches, sachliches Gespräch, eine Auflistung dessen, was in der Zwischenzeit passiert war. Die einzige Frage, die mein Vater mir jemals in Bezug auf Amy stellte, war: »Wie geht es Amy?«, womit er keine längere Antwort provozieren wollte als: »Ihr geht's gut.« Selbst als er mit gut sechzig immer mehr in die Demenz abrutschte, blieb er stur distanziert. Wenn man immer früh dran ist, kommt man nie zu spät. So lautete das Mantra meines Vaters, und es schloss den Ausbruch von Alzheimer mit ein. Ein langsamer Abstieg bis zu einem plötzlichen steilen Absturz, der uns zwang, unseren unabhängigen, menschenverachtenden Vater in ein riesiges Heim zu geben, in dem es nach Hühnerbrühe und Pisse stank, und wo er die ganze Zeit von Frauen umgeben war, die ihm halfen. Ha. Mein Dad hatte Fehler. Das sagte uns unsere gutherzige Mutter immer wieder. Er hatte seine Fehler, aber er hat es nie böse gemeint. Es war nett von ihr, das zu sagen, aber er hat uns trotzdem geschadet.
Ich bezweifle, dass meine Schwester je heiraten wird: Wenn sie traurig ist oder durcheinander oder wütend, dann muss sie alleine sein - sie hat Angst, ein Mann würde ihre Tränen, die Tränen einer Frau, verachten. Ich bin genauso schlimm. Was gut ist in mir, habe ich von meiner Mom. Ich kann Witze machen, ich kann lachen, ich kann andere auf den Arm nehmen, ich kann feiern und unterstützen und loben - man könnte sagen, im Sonnenlicht funktioniere ich -, aber mit wütenden oder weinenden Frauen komme ich überhaupt nicht zurecht. Dann fühle ich die Wut meines Vaters auf hässlichste Weise in mir hochsteigen. Davon kann Amy ein Lied singen. Wenn sie da wäre, würde sie es euch garantiert gern erzählen. Ich beobachtete Rand und Marybeth einen Moment, bevor sie mich entdeckten. Wie wütend würden sie wohl auf mich sein? Für sie war es unverzeihlich, dass ich sie so lange nicht angerufen hatte. Wegen meiner Feigheit würden meine Schwiegereltern nun für immer diesen Tennisabend im Kopf haben: den warmen Abend, die trägen gelben Bälle, die über den Platz hüpften, das Quietschen der Tennisschuhe - sie hatten ihren üblichen Donnerstagabend verbracht und nichts davon gewusst, dass ihre Tochter verschwunden war.
»Nick«, sagte Rand Elliott, als er mich bemerkte. Mit drei langen Schritten war er bei mir, und während ich mich innerlich auf einen Faustschlag gefasst machte, schloss er mich in die Arme und drückte mich heftig an sich.
»Wie geht es dir?«, flüsterte er an meinem Hals und begann, sich hin und her zu wiegen. Schließlich gab er einen seltsam schrillen Laut von sich, ein verschlucktes Schluchzen, und packte mich an den Armen. »Wir werden Amy finden, Nick. Ganz sicher. Glaub daran, ja?« Er fixierte mich ein paar Sekunden mit seinem blauen Blick, dann machte er wieder schlapp - drei mädchenhafte Schluchzer schüttelten ihn, als hätte er Schluckauf -, doch nun drängte sich auch Marybeth in die Umklammerung und vergrub ihr Gesicht in der Achselhöhle ihres Mannes.
Als die beiden mich endlich losließen, blickte Marybeth mit riesigen bestürzten Augen zu mir auf. »Es ist, es ist ein - ein verdammter Albtraum«, sagte sie. »Wie geht es dir, Nick?«
Für Marybeth war Wie geht es dir? keine Höflichkeitsfloskel, sondern eine existentielle Frage. Sie studierte mein Gesicht, und nicht nur das, ich war sicher, dass sie mich studierte und jeden meiner Gedanken und alles, was ich tat, aufmerksam registrierte. Die Elliotts glaubten fest daran, dass jede Eigenschaft eines Menschen wahrgenommen, beurteilt und kategorisiert werden sollte. Alles ist bedeutsam, alles kann verwendet werden. Mom, Dad, Tochter - drei hochbegabte Menschen mit drei Universitätsdiplomen in Psychologie -, schon vor neun Uhr morgens hatten sie mehr gedacht als die meisten Leute in einem ganzen Monat. Ich weiß noch, wie ich einmal beim Abendessen keinen Kirschkuchen zum Dessert wollte. Rand legte den Kopf schief und sagte: »Ahh. Ein Bilderstürmer. Verabscheut den oberflächlichen, symbolischen Patriotismus.« Und als ich versuchte, die Sache mit einem Lachen abzutun, legte Marybeth die Hand auf Rands Arm: »Nein, nein, das hat nichts mit uramerikanischem Cherry Pie an sich zu tun, es ist wegen der Scheidung seiner Eltern. All das Trostessen, die Nachspeisen, die im Familienkreis gemeinsam verzehrt werden, das weckt bei Nick einfach schlechte Erinnerungen.«
Es war albern, aber unglaublich süß, diese Menschen, die so viel Energie darauf verwendeten, mich zu kapieren. Die Antwort war: Ich mag einfach keine Kirschen.
Gegen halb zwölf war die Polizeiwache ein lärmender Höllenpfuhl. Telefone klingelten, Menschen schrien quer durch den Raum. Eine Frau, deren Namen ich nicht mitkriegte und die ich nur als plappernde Wackelkopffigur mit einem riesigen Haarbausch registrierte, machte sich plötzlich neben mir bemerkbar. Keine Ahnung, wie lange sie sich da schon befand. »... die Hauptsache daran ist, dass wir die Menschen dazu bringen, nach Amy Ausschau zu halten, Nick, sie wissen zu lassen, dass Amy eine Familie hat, die sie liebt und wiederhaben will. Alles ganz kontrolliert. Nick, Sie müssen - Nick?«
»Japp.«
»Die Menschen wollen eine kurze Erklärung von Amys Ehemann hören.«
Von der anderen Seite des Raums sah ich Go auf mich zustürzen.
Sie hatte mich am Revier abgesetzt, war dann bei der Bar vorbeigefahren, um dort eine halbe Stunde nach dem Rechten zu sehen, und jetzt war sie zurück und führte sich auf, als hätte sie mich eine Woche nicht gesehen, schlängelte sich hastig zwischen den Schreibtischen durch und ignorierte den jungen Officer, der offensichtlich dazu abgestellt worden war, sie ordentlich, leise und würdevoll hereinzuführen.
»Alles okay bis jetzt?«, fragte Go und drückte mich mit einem Arm an sich. Männerumarmung. Den Dunne-Kids fällt das Umarmen nicht so leicht. Gos Daumen landete auf meiner rechten Brustwarze.
»Ich wollte, Mom wäre hier«, flüsterte sie, und sprach damit genau meinen Gedanken aus. »Nichts Neues?«, fragte sie, als sie ihren Arm wieder wegnahm.
»Nichts, einfach verdammt nichts ...«
»Du siehst aus, als würdest du dich grässlich fühlen.«
»Ich fühle mich beschissen.« Eigentlich wollte ich noch sagen, was für ein Idiot ich war, dass ich wegen des Alkohols nicht auf sie gehört hatte.
»Ich hätte die Flasche auch ausgetrunken«, kam sie mir zuvor und klopfte mir ermutigend auf den Rücken.
»Es ist gleich so weit«, sagte die PR-Frau, die wieder wie durch Zauberhand neben mir aufgetaucht war. »Kein schlechter Zulauf, wenn man bedenkt, dass wir Independence Day-Wochenende haben. « Dann scheuchte sie uns alle in einen trostlosen Konferenzraum - Aluminiumjalousien, Klappstühle, eine Schar gelangweilter Reporter - und auf ein kleines Podium. Als ich in meiner blauen business-lässigen Montur vor das hingerissene, jetlag-leidende Publikum trat, das seinen Tagträumen von einem leckeren Lunch nachhing, fühlte ich mich wie ein drittklassiger Redner bei einer unbedeutenden Konferenz. Aber ich konnte sehen, dass die Journalisten munterer wurden, als sie mich entdeckten - sprechen wir es ruhig aus: einen jungen, einigermaßen gutaussehenden Kerl. Dann stellte die PR-Frau ein Pappposter auf eine Staffelei, ein vergrößertes Foto von Amy, auf dem sie absolut hinreißend aussah, ein Gesicht, bei dem man zweimal hinsieht: Sieht die wirklich so toll aus? Ist das möglich? Ja, es war möglich, so sah sie aus. Ich starrte das Foto meiner Frau an, und die Kameras schossen Fotos von mir, wie ich das Foto anstarrte. Auf einmal musste ich an den Tag in New York denken, als ich sie wiedergefunden hatte: die blonden Haare, ihr Hinterkopf, mehr konnte ich nicht von ihr sehen, aber ich wusste, dass sie es war, und ich nahm es als Zeichen. Wie viele Millionen Köpfe hatte ich in meinem Leben schon gesehen, aber ich wusste, dass es Amys hübscher Schädel war, der da vor mir her die Seventh Avenue hinunterschwebte. Ich wusste, dass sie es war, und ich wusste, dass wir zusammen sein würden.
Blitzlichter zuckten. Ich wandte mich ab und sah dunkle Flecken.
Es war surreal. Das sagen Leute immer, wenn sie einen Augenblick beschreiben wollen, der genaugenommen nur ungewöhnlich ist. Ich dachte: Ihr habt ja keine Ahnung, was surreal ist. Mein Kater kam allmählich richtig in Schwung, und mein linkes Auge pochte wie ein Herz.
Die Kameras klickten, die beiden Familien stellten sich nebeneinander auf, alle schmale Schlitzmünder, Go die Einzige, die wenigstens einigermaßen wie eine reale Person aussah. Der Rest von uns ähnelte Platzhalter-Menschen, Körper, die reingekarrt und hier aufgestellt worden waren. Sogar Amy auf der Staffelei wirkte präsenter.
Natürlich hatten wir alle solche Pressekonferenzen schon gesehen, wenn andere Frauen verschwunden waren. Wir wurden gezwungen, die Szene darzustellen, die das Fernsehpublikum erwartete: die besorgte Familie, die die Hoffnung nicht aufgibt. Koffeinverschleierte Augen und Lumpenpuppenarme.
Ich hörte meinen Namen, im Raum wurde kollektiv und erwartungsvoll geschluckt. Showtime.
Als ich mir die Sendung später anschaute, erkannte ich meine Stimme und mein Gesicht nur mit Mühe. Der Alkohol, der wie Schlamm direkt unter der Oberfläche meiner Haut waberte, verlieh mir die Aura eines Herumtreibers, gerade sinnlich genug, um verrucht zu wirken. Da ich mir Sorgen gemacht hatte, dass meine Stimme zittern könnte, überkompensierte ich, und die Worte kamen so abgehackt aus meinem Mund, als würde ich den Aktienbericht vorlesen. »Wir wollen nur, dass Amy wohlbehalten nach Hause kommt ...« Absolut nicht überzeugend, völlig unharmonisch.
Ich hätte auch Zahlen herunterleiern können.
Rand Elliott trat vor und versuchte, mich zu retten: »Unsere Tochter, Amy, ist ein wunderbares Mädchen, voller Leben. Sie ist unser einziges Kind, sie ist klug und schön und ein netter Mensch. Sie ist wirklich unsere Amazing Amy. Und wir wollen sie zurück. Nick will sie zurück.« Er legte mir die Hand auf die Schulter, wischte sich die Augen, und ich wurde unwillkürlich zu Stahl. Wieder mein Vater: Männer weinen nicht.
Rand redete weiter: »Wir möchten, dass sie wieder dorthin zurückkehrt, wo sie hingehört, zu ihrer Familie. Wir haben drüben im Days Inn ein Kommandozentrum eingerichtet ...«
In den Nachrichten würde Nick Dunne zu sehen sein, Ehemann der vermissten Frau, wie er metallisch steif neben seinem Schwiegervater stand, mit verschränkten Armen und glasigen Augen, und fast gelangweilt wirkte, während Amys Eltern weinten. Und dann - schlimmer noch - war da wieder meine langjährige Angewohnheit, mein Bedürfnis, die Leute daran zu erinnern, dass ich kein Arschloch war, sondern trotz meines starren Blicks und des hochnäsigen Idiotengesichts ein netter Kerl.
Und während Rand noch um die Rückkehr seiner Tochter flehte, da erschien es, völlig aus dem Nichts: ein Killerlächeln.
Übersetzung: Christine Strüh
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2013
... weniger
Autoren-Porträt von Gillian Flynn
Gillian Flynn hat einen der größten Romane im psychologischen Spannungsbereich unserer Zeit geschrieben. Sie wuchs in Kansas City auf und arbeitete als Journalistin für den San Francisco Examiner und U.S. News & World Report. Sie war die leitende TV-Kritikerin von Entertainment Weekly. Die Autorin lebt nach Stationen in Los Angeles und New York in Chicago.
Autoren-Interview mit Gillian Flynn
Ich war kein nettes kleines Mädchen. Im Sommer bestand mein Lieblingszeitvertreib darin, Ameisen zu fangen und an Spinnen zu verfüttern. Im Haus war meine liebste Beschäftigung ein Spiel namens „Fiese Tante Rosie", in dem ich die hunds-gemeine Gouvernante war und meine Cousinen mir zu entkommen versuchten. Unser Grundrequisit war eins dieser knallpinken Plastiktelefone, die in den 80ern der Traum aller Mädchen waren. (Hübsche Mädchen lieben es, zu telefonieren!) Leider Gottes wurde das Telefon den Verfolgten stets entrissen, ehe sie Hilfe herbeirufen konnten. (Muahaha) In meiner freien Zeit sah ich mir auch gern mal einen der Softpornos auf den verschlüsselten Kabelkanälen an. (Titten, Po, Rauschen, Flimmern, Titten!) Und wenn eine meiner Puppen aufmuckte, säbelte ich ihr die Haare ab.Ich will nicht darauf hinaus, dass ich ein seltsames Kind war (obwohl ich mir jetzt, wo ich die Tatsachen schwarz auf weiß vor mir sehe, schon so meine Gedanken mache). Auch nicht, dass
ich ein böses Kind war (hier möchte ich - meinen liebevollen Eltern zuliebe - anmerken, dass ich wundervolle glückliche Kinderjahre im guten alten Kansas City erleben durfte). Aber über diese kindlichen Initiationsriten - die spielerischen Kämpfchen, die frühreife Sexualität, das erste Aufflammen von Machtspielen - erzählen Frauen so gut wie nie, während Männer gerne und liebevoll über diese seltsamen Ausbrüche kindlicher Aggression und ihre katastrophal unreife Sexualität plaudern. Männer besitzen ein Vokabular für Sex und Gewalt, über das die Frauen
einfach nicht verfügen. Nicht einmal als Erwachsene. Ich kann mich an keine einzige Frau erinnern, die sich mit ehrlichem Vergnügen über Masturbation oder Orgasmen unterhalten hätte, bevor Sex and the City den bienchensüßen Dreh für uns entdeckte und die
... mehr
entsprechenden Sätze in einem Päckchen mit Tupfenschleife präsentierte. Und noch immer diskutieren wir nicht über unsere eigene Gewalt. Wir verschlingen die Nachrichten über Susan Smith oder Andrea Yates - Frauen, die ihre Kinder ertränkt haben -, aber wir wollen, dass uns diese Geschichten schmackhaft gemacht werden. Wir legen Wert auf düstere Zusatzinformationen über Wochenbettdepressionen oder Männer, die sie zu diesen Verbrechen getrieben haben.
Aber es gibt da eine Resonanz, die schlicht ignoriert wird. Ich glaube nämlich, dass wir Frauen gerne Geschichten über mörderische Mütter und verlorene kleine Mädchen lesen, weil das unser einziges reguläres Ventil ist, um wenigstens auf persönlicher Ebene einen Ansatz zu haben, über weibliche Gewalt zu sprechen. Weibliche Gewalt ist eine sehr spezifische Art von Grausamkeit. Sie ist invasiv. Bei einer Schlägerei unter Frauen geht es mit Haaren und Zähnen, mit Spucke und Fingernägeln zur Sache - eine wesentlich grausigere Angelegenheit als eine Prügelei unter Kerlen. Ganz zu schweigen von der psychischen Komponente. Frauen verbeißen sich regelrecht ineinander. Einige der schrecklichsten, kranksten Beziehungen, die ich kenne, bestehen zwischen langjährigen Freundinnen und vor allem zwischen Müttern und Töchtern. Anspielungen, tendenziöse Halbwahrheiten, verlogene Unterstützung, Liebesentzug, sexuelle und alle anderen Arten von Eifersucht - Frauen zu beobachten, wie sie einander aufs Korn nehmen, ist ein wahrhaft grusliges Schauspiel, das sich über viele Jahre hinziehen kann.
Geschichten über Generationen von brutalen, in einem Teufelskreis der Aggression gefangener Männer, füllen unsere Bibliotheken und Bücherregale. Aber ich wollte über weibliche Gewalt schreiben.
Genau das habe ich getan. Ich habe mittlerweile drei Bücher geschrieben, in denen es weibliche Gewalt gibt. Denn es gibt einen Mangel an weiblichen Bösewichten - guten, starken weiblichen Bösewichten. Ich wünsche mir keine übellaunigen Frauen, denen es nur darum geht, Pläne auszuhecken, wie sie gute Männer und noch bessere Schuhe an Land ziehen können (als hätten wir nichts Interessanteres, um das es sich zu kämpfen lohnt), keine unterkühlten WASP-Mütter (obwohl emotionale Distanz nicht per se schlecht ist), nein, ich wünsche mir gewalttätige, böse Frauen. Frauen, die einem Angst machen. Sagt mir jetzt nicht, dass ihr keine solchen Frauen kennt. Der Punkt ist, wir Frauen haben so viele Jahre damit verbracht, uns mit Girlpower aufzupeppen - bis hart an die Grenze der Parodie -, dass wir keinen Raum mehr haben, auch unsere dunklen Seiten zur Kenntnis zu nehmen. Aber dunkle Seiten sind wichtig. Sie wollten genährt werden wie garstige schwarze Orchideen.
Aber es gibt da eine Resonanz, die schlicht ignoriert wird. Ich glaube nämlich, dass wir Frauen gerne Geschichten über mörderische Mütter und verlorene kleine Mädchen lesen, weil das unser einziges reguläres Ventil ist, um wenigstens auf persönlicher Ebene einen Ansatz zu haben, über weibliche Gewalt zu sprechen. Weibliche Gewalt ist eine sehr spezifische Art von Grausamkeit. Sie ist invasiv. Bei einer Schlägerei unter Frauen geht es mit Haaren und Zähnen, mit Spucke und Fingernägeln zur Sache - eine wesentlich grausigere Angelegenheit als eine Prügelei unter Kerlen. Ganz zu schweigen von der psychischen Komponente. Frauen verbeißen sich regelrecht ineinander. Einige der schrecklichsten, kranksten Beziehungen, die ich kenne, bestehen zwischen langjährigen Freundinnen und vor allem zwischen Müttern und Töchtern. Anspielungen, tendenziöse Halbwahrheiten, verlogene Unterstützung, Liebesentzug, sexuelle und alle anderen Arten von Eifersucht - Frauen zu beobachten, wie sie einander aufs Korn nehmen, ist ein wahrhaft grusliges Schauspiel, das sich über viele Jahre hinziehen kann.
Geschichten über Generationen von brutalen, in einem Teufelskreis der Aggression gefangener Männer, füllen unsere Bibliotheken und Bücherregale. Aber ich wollte über weibliche Gewalt schreiben.
Genau das habe ich getan. Ich habe mittlerweile drei Bücher geschrieben, in denen es weibliche Gewalt gibt. Denn es gibt einen Mangel an weiblichen Bösewichten - guten, starken weiblichen Bösewichten. Ich wünsche mir keine übellaunigen Frauen, denen es nur darum geht, Pläne auszuhecken, wie sie gute Männer und noch bessere Schuhe an Land ziehen können (als hätten wir nichts Interessanteres, um das es sich zu kämpfen lohnt), keine unterkühlten WASP-Mütter (obwohl emotionale Distanz nicht per se schlecht ist), nein, ich wünsche mir gewalttätige, böse Frauen. Frauen, die einem Angst machen. Sagt mir jetzt nicht, dass ihr keine solchen Frauen kennt. Der Punkt ist, wir Frauen haben so viele Jahre damit verbracht, uns mit Girlpower aufzupeppen - bis hart an die Grenze der Parodie -, dass wir keinen Raum mehr haben, auch unsere dunklen Seiten zur Kenntnis zu nehmen. Aber dunkle Seiten sind wichtig. Sie wollten genährt werden wie garstige schwarze Orchideen.
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Gillian Flynn
- 2013, 7. Aufl., 592 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Strüh, Christine
- Übersetzer: Christine Strüh
- Verlag: FISCHER Scherz
- ISBN-10: 3502102228
- ISBN-13: 9783502102229
- Erscheinungsdatum: 22.08.2013
Rezension zu „Gone Girl - Das perfekte Opfer “
" Gone Girl ist das spannendste (und fieseste) Beziehungsdrama des Sommers. [ ] Sie werden Ihren Partner nach der Lektüre mit anderen Augen sehen." Brigitte, 28.8.2013
"Brillant und teuflisch gut inszeniert Gillian Flynn dieses Ehe-Psychospiel, diesen Blick in die Abgründe der Zweisamkeit."
Monika Schärer, Schweizer Rundfunk und Fernsehen, SRF 2, 27.9.2013
"Das Psychogramm einer Ehe in Gestalt des besten Psychothrillers 2013."
Bunte, 10.10.2013
"Achtung, dieser genial gemachte Thriller nimmt so viele unvorhergesehene Wendungen, dass einem schwindlig werden kann!"
Maxi, 1.10.2013
"Gillian Flynn spielt gekonnt mit ihrem Leser. [ ] Dieses Buch ist abgründig, raffiniert und absolut lesenswert."
Gesa Müller, Westdeutscher Rundfunk,1 LIVE, 22.8.2013
"sehr fein, sehr klug, sehr weiblich"
Stern, 5.9.2013
"Die ehemalige TV-Kritikerin Gillian Flynn ist die neue Königin des perversen Psychothrillers aus der amerikanischen Provinz, eine geniale Architektin des Grusels. Derzeit schlicht die Beste."
Simone Meier, Tages-Anzeiger, 6.7.2013
"Wer das Buch einmal zur Hand nimmt, kann es nicht mehr weglegen."
John Lanchester, Deutschlandradio Kultur, 3.10.2013
Kommentare zu "Gone Girl - Das perfekte Opfer"
0 Gebrauchte Artikel zu „Gone Girl - Das perfekte Opfer“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 88Schreiben Sie einen Kommentar zu "Gone Girl - Das perfekte Opfer".
Kommentar verfassen