Nur der Tod sühnt deine Schuld
Haley kümmert sich nach dem Tod ihrer Schwester um deren Tochter Molly. Das Mädchen musste mitansehen, wie seine Mutter ermordet wurde, und ist seitdem verstummt. Psychologe Banes will sie wieder zum Sprechen bringen - doch das ist höchst riskant...
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Produktinformationen zu „Nur der Tod sühnt deine Schuld “
Haley kümmert sich nach dem Tod ihrer Schwester um deren Tochter Molly. Das Mädchen musste mitansehen, wie seine Mutter ermordet wurde, und ist seitdem verstummt. Psychologe Banes will sie wieder zum Sprechen bringen - doch das ist höchst riskant...
Lese-Probe zu „Nur der Tod sühnt deine Schuld “
Nur der Tod sühnt deine Schuld von Cassidy CarlaAus dem Amerikanischen von Claudia Schlottmann und Stefanie Zeller
Prolog
Eigentlich hätte die achtjährige Molly Ridge in der Schule sein müssen, sie war jedoch am Morgen mit Halsschmerzen aufgewacht, und deshalb hatte ihre Mutter sie zu Hause behalten.
Nach zwei Scheiben French Toast und einem Glas Milch tat Molly der Hals ein bisschen weniger weh, und jetzt rannte sie durch den Flur, während ihre Mutter in der Küche laut zählte.
»... drei ... vier ... Versteck dich gut, Lollipop, denn wenn ich dich finde, fress ich dich! Fünf ...«
Molly musste kichern und legte schnell die Hand auf den Mund, als sie ins Schlafzimmer ihrer Mutter bog. Im Wandschrank? Nein, da würde ihre Mutter sie bestimmt finden. Hinter den Vorhängen? Ihre Füße würden darunter hervorgucken, außerdem waren die Gardinen im Licht der Vormittagssonne fast durchsichtig.
»Sechs ...«
Aufgeregt hörte Molly ihre Mutter weiterzählen. Bei zehn würde sie anfangen zu suchen. Molly sah sich im Zimmer um und schlüpfte schließlich unters Bett, ohne den Staub auf dem Dielenboden oder die Sprungfedern zu beachten, die ihr in den Rücken piksten.
»Sieben ...«
Unter dem leuchtend gelben Bettüberwurf hervor konnte Molly die Schlafzimmertür sehen. Mit angehaltenem Atem wartete sie darauf, dass ihre Mutter sie suchen kam.
»Acht ...«
Ein lautes Klopfen an der Haustür unterbrach das Zählen. Molly seufzte. Wer auch immer vor der Tür stand, ging hoffentlich schnell wieder.
»Hi! Wie geht's?« Die Stimme ihrer Mutter wehte aus dem Wohnzimmer den Flur hinunter zu Molly. »Moment mal! Oh, mein Gott. Was ...«
... mehr
Ein Schrei ertönte.
Molly erstarrte, und ihr Herz pochte wild. Sie hörte ein lautes Krachen, dann splitterte Glas. Ein Knall. Wieder Schreie.
Irgendetwas stimmte nicht.
Irgendetwas Schreckliches passierte gerade.
Voller Entsetzen sah Molly ihre Mutter im Türrahmen auftauchen, die weiße Bluse auf der Brust ganz rot, dann durch den Raum taumeln und neben dem Bett zu Boden sinken.
»Mommy?«, flüsterte Molly.
Monica Ridge drehte den Kopf zur Seite und sah ihre Tochter unter dem Bett liegen. »Psst, Lollipop. Beweg dich nicht. Sei ganz still.« Ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch, die Worte verzerrt. Molly presste ihre Faust vor den Mund, als sie Schritte im Flur hörte und ihre Mutter aufzustehen versuchte.
»Nein. Bitte nicht«, hörte Molly ihre Mutter sagen, während sie selbst die Augen fest zusammenkniff.
Wieder Geräusche.
Unheimliche Geräusche. Für einen kurzen Moment öffnete Molly die Augen. Etwas Blaues blitzte auf. Ein Messer sauste nach unten. Schnell machte sie die Augen wieder zu.
Dann Stille.
Sie wusste nicht, wie lange sie so dalag, mit geschlossenen Augen auf die Stille lauschend. Als Molly die Augen wieder öffnete, sah sie ihre Mutter ganz dicht neben sich auf dem Rücken liegen.
Blut. Überall war Blut. An ihrer Mommy, auf dem Fußboden, an den Wänden.
Mommy? Ihre Mommy bewegte sich nicht, stierte mit weit aufgerissenen Augen an die Decke. Eine Hand war in Mollys Richtung ausgestreckt, und Molly wollte danach greifen und ihrer Mommy sagen, dass sie aufstehen und nicht mehr so gucken sollte.
Molly schrie innerlich, während sie ihre Faust noch fester vor den Mund presste.
Psst. Lollipop. Beweg dich nicht. Sei ganz still. Psst. Lollipop. Beweg dich nicht. Sei ganz still.
1
Zwei uniformierte Polizisten überbrachten Haley Lambert die Todesnachricht an einem Freitagabend um kurz nach acht. Sie war gerade in ihren Schlafanzug geschlüpft und hatte sich an den Computer gesetzt, um Mails zu beantworten, neben sich ein Stück kalte Pizza und ein kühles Bier.
Es war ein ganz gewöhnlicher Freitagabend. Seit Haley ihrem letzten Freund vor drei Monaten den Laufpass gegeben hatte, gehörten Schlafanzug, kalte Pizza und Bier zum üblichen Programm. Tim war ein prima Kerl gewesen, ein super Freund.
Dummerweise hatte Haley feststellen müssen, dass er nicht nur ihr Freund gewesen war, sondern auch der von zwei weiteren Frauen. Zum Glück hatte sie sein Versteckspiel durchschaut, bevor sie mit ihm ins Bett gegangen war. Sie besaß einfach eine miserable Menschenkenntnis, woran ihre Schwester sie immer wieder gern erinnerte.
Es war ein ganz gewöhnlicher Freitagabend, bis es an der Wohnungstür klingelte. Ein Blick in die Gesichter der Cops sagte Haley, dass die beiden nicht gekommen waren, um Spenden zu sammeln oder sie zum Polizeiball einzuladen.
»Haley Lambert?« Der Beamte hatte ein Kindergesicht, rundlich und freundlich, doch der Ausdruck in seinen Augen jagte Haley einen kalten Schauer über den Rücken.
»Ja, das bin ich.«
»Ms. Lambert, ich bin Officer Sinclair, und das ist mein Partner Officer Banks. Dürfen wir reinkommen?« Der Ältere hatte jetzt das Wort ergriffen, und in seinem Blick lag derselbe Ausdruck wie in dem seines Partners: tiefes Mitleid und das Unbehagen desjenigen, der schlechte Nachrichten zu überbringen hat.
Haley hätte den beiden am liebsten die Tür vor der Nase zugeschlagen, ihnen den Zutritt zu ihrer Wohnung verwehrt. Sie hatte den verrückten Gedanken, wenn sie die Cops nicht einließ, war auch nichts Schlimmes passiert.
Aber natürlich schlug sie die Tür nicht zu. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie die Beamten hereinbat. »Bitte, sagen Sie mir, was passiert ist. Warum sind Sie hier?«
Officer Sinclair legte die Stirn in Falten. »Gibt es einen Mr. Lambert? Oder vielleicht eine Nachbarin oder Freundin, die Ihnen beistehen könnte?«
Da begriff Haley, dass etwas Furchtbares passiert sein musste. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt wie in diesem Moment, als ihr klarwurde, dass es keine Nachbarin und keine Freundin gab, die ihr jetzt helfen konnten.
Sie schüttelte den Kopf. »Sagen Sie mir einfach, warum Sie hier sind.« »Sind Sie die nächste Verwandte von Monica Ridge?«, fragte Officer Banks.
O Gott, nicht Monica. Warum sollten zwei Cops sie in ihrer Wohnung in Las Vegas aufsuchen, um mit ihr über eine Frau zu sprechen, die in einem Vorort von Kansas City, Missouri, lebte?
»Monica ist meine Schwester. Ist ihr was passiert? Hatte sie einen Unfall? Geht es ihr gut? Liegt sie im Krankenhaus? « Die Fragen sprudelten nur so aus Haley heraus, während sich ihr Magen vor Angst zusammenzog.
»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Schwester ermordet worden ist«, sagte Officer Sinclair mit sanfter Stimme.
Die Worte trafen Haley wie ein Faustschlag. Sie bekam keine Luft mehr, taumelte rückwärts und sank aufs Sofa.
Tot? Monica? Ermordet? Das konnte nicht sein. Es musste sich um eine Verwechslung handeln. In Haley wehrte sich alles gegen den Gedanken, dass ihre Schwester tot sein könnte.
Sie fühlte sich wie betäubt. Sie hatte sich noch nie so benommen gefühlt, noch nie war ihr so kalt gewesen. Monica war tot? Wie konnte das sein? Von den beiden Schwestern war Monica doch immer diejenige gewesen, die kein Risiko einging, die alles richtig machte.
Officer Banks setzte sich neben Haley. In seinem rundlichen Kindergesicht mit den blauen Augen lag tiefes Mitgefühl. Er ergriff ihre Hand, und sie ließ die Berührung zu, obwohl die Wärme seiner Finger sie nicht zu beruhigen vermochte. »Ihre Schwester ist heute Vormittag in ihrem Haus von einem Einbrecher ermordet worden.«
Haley starrte den Polizeibeamten an. Die Worte hatte sie vernommen, aber sie ergaben keinen Sinn. Das war unmöglich. Ermordet wurden Fremde, über die man in der Zeitung las. Menschen, die sie kannte, wurden nicht ermordet, schon gar nicht Menschen wie Monica.
Haley versuchte, sich einen Reim auf das alles zu machen. Jemand war in Monicas Haus eingedrungen und hatte sie getötet? Herrgott, wie konnte das passieren? Wie zum Teufel konnte so etwas passieren? »Wissen Sie schon, wer es getan hat? Hat man schon jemanden verhaftet?«
»Darüber liegen uns keinerlei Informationen vor«, sagte Officer Sinclair.
»Was ist mit Molly?« Beim Gedanken an ihre Nichte ließ Haley die Hand von Officer Banks los und sprang vom Sofa auf. Das kleine Mädchen war an einem Freitagmorgen Anfang Mai doch sicher in der Schule gewesen.
»Uns liegen nur die Informationen vor, die wir Ihnen bereits mitgeteilt haben«, erwiderte Officer Sinclair. »Sollen wir nicht doch jemanden benachrichtigen, der Ihnen beistehen könnte?«
»Nein.« Haley ließ den Blick durch ihr kleines Apartment schweifen, über die billigen, staubigen Möbel, als könnte sie dort die Antworten auf ihre Fragen finden.
Monica war tot. Wo war Molly? Monica war tot. Monica war tot. Haley konzentrierte sich wieder auf die beiden Polizeibeamten. »Ich muss weg. Ich muss nach Kansas City.« Sie musste in Erfahrung bringen, was genau passiert war.
Die Trauer konnte warten. Dafür war später noch Zeit. Jetzt war da ein achtjähriges Mädchen, das gerade seine Mutter verloren hatte und dessen einzige Verwandte ihre Tante Haley war.
Sie hätte nicht zu Hause sein sollen! Warum war sie da gewesen? Was hatte sie gesehen? Was hatte Molly gesehen? Sie hätte nicht zu Hause sein sollen!
2
Später würde Haley die Tatsache vielleicht zu denken geben, dass sie weniger als zehn Stunden brauchte, um ihren Job zu kündigen, ihre Wohnung aufzulösen und in ein Flugzeug zu steigen, das sie in die Stadt ihrer Kindheit bringen sollte.
Später würde sie es vielleicht deprimierend finden, dass ihre zweiunddreißig Lebensjahre mühelos in zwei Kunstlederkoffer passten, ein Werbegeschenk von Harrah's Casino. Im Moment jedoch ließ sie Gefühle gar nicht erst zu.
Die Benommenheit, die sie erfasst hatte, als sie vom Tod ihrer Schwester erfuhr, hatte während der endlosen Nachtstunden nicht nachgelassen und war auch jetzt noch da. Haley klammerte sich daran, denn sie wusste, wenn die Betäubung weg war, würde der Schmerz unerträglich sein.
Als der Flugkapitän den Landeanflug auf den Kansas City International Airport ankündigte, starrte Haley durchs Fenster auf die Patchwork-Felder unter ihr.
Nachdem die Cops am Abend gegangen waren, hatte sie Kontakt mit den Behörden in Kansas City aufgenommen und war schließlich mit Detective Owen Tolliver verbunden worden, dem Leiter der Ermittlungen im Mordfall Monica Ridge.
Er hatte am Telefon nicht mit Haley über die Tat sprechen wollen, ihr aber mitgeteilt, dass das Jugendamt Molly in einer Pflegefamilie untergebracht hatte, bis Verwandte ausfindig gemacht werden konnten.
Haley wickelte sich eine Strähne ihrer langen blonden Haare um den Finger und zog daran, während sie gegen die nackte Angst ankämpfte. Bisher war es ihr gelungen, ihre Trauer in Schach zu halten, aber die Panik erfasste sie immer wieder, versuchte, sich ihrer zu bemächtigen.
Was sollte sie machen? Was sollte sie mit Molly machen? Sie hatte das kleine Mädchen vor zwei Jahren zuletzt gesehen. Im besten Fall war sie eine weit entfernt lebende Tante für die Kleine. Ein Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk per Post. Ein Telefonanruf.
Nach Monicas Überzeugung war Haley nicht einmal in der Lage, auf sich selbst aufzupassen. Wie sollte sie da eine Hilfe für Molly sein? Woher sollte sie wissen, was das Beste war für ein kleines Mädchen, dessen Mutter gerade ermordet worden war?
Das Flugzeug landete, und ein paar Minuten später stand Haley am Gepäckkarussell und wartete darauf, dass ihre wenigen Besitztümer auf das Förderband gespuckt wurden.
Die Erschöpfung drückte sie nieder. Sie war todmüde. An Schlaf war in der vergangenen Nacht nicht zu denken gewesen. Sie hatte ihren Chef in der Lounge angerufen, in der sie als Barkeeperin arbeitete, und gekündigt; sie hatte gepackt und ihrem Vermieter mitgeteilt, dass sie auszog.
Das Apartment zu kündigen war kein Problem gewesen. Haley mietete ihre Wohnungen immer nur monatsweise, da sie nie wusste, wann das Fernweh wieder zuschlug, wann sie das nächste Mal den Drang verspürte, ihre Sachen zu packen.
Letzte Nacht hatte sie sich aus Angst vor den düsteren Pfaden, die ihre Gedanken einschlagen könnten, keine Sekunde des Grübelns erlaubt. Sie hoffte nur, dass Detective Owen Tolliver ihr mehr sagen, ihr die Frage nach dem Warum beantworten könnte.
Um kurz vor elf parkte Haley ihren Mietwagen auf dem Parkplatz des Polizeireviers von Pleasant Hill. Detective Tolliver hatte zugesagt, sofort nach ihrer Ankunft zu einem Gespräch zur Verfügung zu stehen.
Dies war nicht Haleys erster Besuch im Polizeirevier von Pleasant Hill. Als Vierzehnjährige war sie gemeinsam mit einigen Freundinnen zu Gast in dem Backsteingebäude gewesen, nachdem man sie beim Ladendiebstahl erwischt hatte. Es gab Dinge, an die Haley sich lieber erinnerte.
Die Eltern der anderen Mädchen waren innerhalb von dreißig Minuten eingetroffen, um die Freilassung ihrer Töchter zu arrangieren. Haley hatte drei Stunden gewartet, drei qualvolle Stunden, in denen sie alles andere als sicher gewesen war, dass ihre Mutter kommen und sie abholen würde.
Im Gebäude roch es noch genauso wie damals, eine Mischung aus angebranntem Kaffee, säuerlichen Körperausdünstungen und Fast Food. »Ich möchte zu Detective Tolliver«, sagte sie zu dem Polizisten hinter dem Counter, der die Schreibtische der aufnehmenden Beamten vom Wartebereich trennte. »Mein Name ist Haley Lambert. «
»Ich sehe nach, ob er zu sprechen ist«, antwortete der Cop. »Nehmen Sie bitte solange Platz.« Er zeigte auf eine Reihe Plastikstühle an der Wand.
Haley setzte sich und hob wieder die Hand, um an einer Strähne ihres schulterlangen Haars zu ziehen. In ein paar Minuten würde sie alle Einzelheiten über den Mord an Monica erfahren.
Mord. Großer Gott, es fühlte sich immer noch so unwirklich an. Irgendjemand hatte Monica umgebracht. Mord. Allein das Wort ließ Haley vor Entsetzen schaudern.
Sie lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen, als sie ein Zittern in ihrer Magengrube zu verspüren begann. Was bedeutete das, ein Einbrecher? Hatte ein bewaffneter Dieb die Tür aufgebrochen und Monica im Haus angetroffen?
Es konnte nicht anders sein, es musste sich um einen zufälligen Akt von Gewalt handeln. Monica war nicht der Typ Frau, der Feinde hatte. Sie war ein liebenswürdiger, freundlicher Mensch, und jeder, der ihr begegnete, mochte sie.
Haley hoffte allerdings noch, dass es sich um eine fatale Verwechslung handelte, irgendeine grässliche Computerpanne, einen tragischen Irrtum. Es war gar nicht Monicas Haus, in das man eingebrochen hatte, und wenn ihre Schwester von all dem erfuhr, würden sie gemeinsam darüber lachen.
Wie sehr sehnte sie sich danach, den Schalk in Monicas Augen zu sehen und ihr Lachen zu hören, das immer eher ein Kichern als schallendes Gelächter gewesen war.
»Ms. Lambert?«
Haley öffnete die Augen. Vor ihr stand ein hochgewachsener Mann mit einer beginnenden Glatze und den freundlichsten blauen Augen, die sie je gesehen hatte. »Ich bin Detective Owen Tolliver. Lassen Sie uns irgendwo hingehen, wo wir uns in Ruhe unterhalten können.« Er hielt eine Aktenmappe in der Hand.
Haley nickte und erhob sich, leicht wackelig auf den Beinen, denn das innerliche Zittern hatte sich nach außen gewendet und ihre Gliedmaßen erfasst. Reiß dich zusammen, Haley, ermahnte sie sich. Schlappmachen kannst du später immer noch.
Detective Tolliver führte sie durch einen langen, gefliesten Korridor. Er sagte kein Wort, doch sein Gang und seine leicht hängenden Schultern verrieten Müdigkeit.
Sie konnte es ihm nachfühlen. Ihre Augen waren vor Schlafmangel ganz trocken, und wenn Molly nicht gewesen wäre, hätte Haley sich einfach ins Bett verkrochen und sich die Decke über den Kopf gezogen.
Der Detective brachte sie in einen kleinen Raum mit einem Tisch und zwei Stühlen. Er bedeutete ihr, Platz zu nehmen. Sie setzte sich und sah ihn erwartungsvoll an.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken holen, Ms. Lambert? Vielleicht ein Wasser oder einen Kaffee?«
»Nein danke. Aber nennen Sie mich doch bitte Haley.« Glücklicherweise hatte das Zittern aufgehört, und sie verspürte nur noch den Wunsch, diese ganze Sache hinter sich zu bringen.
Tolliver fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, und die tiefen Falten um seine Augen zeugten von dem Druck, der auf ihm lastete. Er setzte sich ihr gegenüber und warf die Mappe auf den Tisch.
»Am liebsten wäre mir, Sie würden sagen, dass es sich um eine Verwechslung handelt und die Ermordete nicht meine Schwester ist.«
»Ich wünschte, das könnte ich«, erwiderte er. »Aber die Nachbarn haben Ihre Schwester eindeutig identifiziert. Es gibt keine Verwechslung.«
Es gibt keine Verwechslung.
Es gibt keine Verwechslung.
Die Worte hallten in Haleys Kopf wider wie der Schlag einer dröhnenden Trommel bei einer Parade. »Ich will alles wissen. Von Anfang an.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein angestrengtes Flüstern.
Der Detective nickte und schlug die Mappe auf. » Gestern Nachmittag rief ein Paketbote an und sagte, im Haus Ihrer Schwester gebe es möglicherweise ein Problem. Als er ein Paket bei ihr abgeben wollte, fand er die Haustür offen, und er sah Blut an den Wänden im Eingang. «
Tolliver unterbrach sich und musterte Haley, als versuche er einzuschätzen, wie viel er ihr zumuten konnte. »Ich will alles hören«, sagte sie mit festerer Stimme. Verdammt noch mal, das schuldete sie Monica. »Ich muss alles wissen.«
Wieder nickte er knapp. »Ich habe den Anruf gemeinsam mit meinem Partner Frank Marcelli entgegengenommen, übrigens ein direkter Nachbar Ihrer Schwester. Wir fuhren zu ihrem Haus und wussten sofort, dass wir es mit einem Verbrechen zu tun hatten.« Seine Stimme klang sachlich, beinahe geschäftsmäßig.
Haley hatte den Eindruck, dass er die Akte gar nicht brauchte, sondern es lediglich vorzog, auf das Papier zu starren, anstatt Haley anzusehen, während er ihr die entsetzlichen Einzelheiten berichtete.
»Wegen der Blutspritzer im Eingang beschlossen wir, uns umzusehen. Wir fanden Ihre Schwester in ihrem Schlafzimmer. Erstochen.«
Wieder verspürte Haley ein Zittern in der Magengrube, gleich einem trudelnden Kreisel am Ende seiner Drehung.
Erstochen. Man hatte ihre Schwester erstochen. »War es ein Raubmord?«
Tolliver hob den Blick. »Davon gehen wir nicht aus. Wir haben keine Einbruchsspuren gefunden, und es scheint auch nichts zu fehlen.«
»Wer hat es dann getan? Gibt es schon einen Verdächtigen? Was tun Sie, um den Mörder meiner Schwester zu fi nden?«
Der Detective runzelte die Stirn. »Sie müssen verstehen, dass wir uns noch ganz am Anfang der Ermittlungen befinden. Der Fall ist noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden alt.«
Der Fall. Das war aus ihrer Schwester geworden, ein Fall. Ein Stapel Papier in einem Aktendeckel mit einer Nummer obendrauf. Da war es wieder, das beklemmende Gefühl, der Schwindel, und das Atmen wurde ihr schwer.
Detective Tolliver klappte die Mappe zu, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah sein Gegenüber mitfühlend an. »Ich weiß, wie schwer das alles für Sie ist, Haley. Und ich weiß, dass Sie gerade erst eingetroffen sind und noch keine Zeit hatten, die Dinge zu verarbeiten. Trotzdem brauchen wir Ihre Hilfe. Wir müssen alles wissen, was es über das Leben Ihrer Schwester zu wissen gibt. Wir brauchen die Namen ihrer Freunde und auch von Leuten, die möglicherweise Probleme mit ihr hatten.«
»Niemand hatte Probleme mit Monica«, protestierte Haley. »Sie ist ...« Haley unterbrach sich und schloss die Augen, als ihr schmerzhaft klarwurde, dass sie von ihrer Schwester nicht mehr in der Gegenwart reden konnte. Sie fing den Satz von vorn an. »Monica war ein wunderbarer Mensch. Sie hatte keine Feinde.«
»Einen Feind hatte sie«, erwiderte Tolliver, und seine blauen Augen nahmen einen harten Ausdruck an. »Irgendjemand hat ganz gewaltig etwas gegen Ihre Schwester gehabt. Im Moment gehen wir davon aus, dass es sich um einen Mord im Affekt handelt.«
»Was meinen Sie damit?«
Tolliver fühlte sich sichtlich unwohl. »Wir haben es mit einem Fall von Overkill zu tun. Auf Ihre Schwester wurde nicht nur einmal, sondern mehrere Male eingestochen, und zwar mit großer Kraft, was auf eine ungeheure Wut hindeutet. Wir glauben, dass Ihre Schwester den Täter kannte. Von Nachbarn haben wir erfahren, dass sie streng darauf achtete, die Haustür immer abzuschließen. Sie hat die Tür geöffnet und ihren Mörder hereingelassen. «
»Hat denn keiner der Nachbarn irgendwas gesehen oder gehört?«
»Im Moment haben wir nur Molly.«
Haley lehnte sich zurück und starrte Tolliver an. »Was meinen Sie damit, Sie haben nur Molly?«
Überrascht blickte er sie an. »Hat Ihnen das niemand gesagt?« Er verzog das Gesicht. »Als die Kollegen von der Spurensicherung im Schlafzimmer mit der Arbeit anfingen, fanden sie Molly unter dem Bett, nur wenige Zentimeter von Ihrer toten Schwester entfernt.«
Der Aufruhr in Haleys Innerem drohte außer Kontrolle zu geraten. Kurzzeitig bekam sie keine Luft mehr. Tränen trübten ihren Blick, und der Schmerz schnürte ihr die Kehle zu. Sie schluckte mehrmals schwer, dann versuchte sie zu sprechen.
Owen Tolliver stand auf und ging zum Wasserspender, um Haley etwas zu trinken zu holen. Mit seinen sechsundfünfzig Jahren hatte er genug erlebt, um zu wissen, wann jemand kurz davor war, die Kontrolle zu verlieren.
Er stellte den Pappbecher vor Haley hin und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Ms. Lambert war eine hübsche Frau, die große Ähnlichkeit mit ihrer Schwester hatte. Die gleichen langen blonden Haare, die das ovale Gesicht umrahmten, die gleichen ausdrucksstarken grünen Augen, in denen im Moment ein Anflug von Panik stand.
Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Schwestern fi el Owen nur auf, weil er ein Foto der Ermordeten auf ihrem Kaminsims gesehen hatte. Im Tod war Monica nahezu unkenntlich gewesen.
Nichts in seinen dreißig Dienstjahren hatte Owen allerdings auf das kleine Mädchen unter dem Bett vorbereitet. Als sie sie schließlich darunter hervorgezogen hatten, hatte sie wie ein wild gewordenes Kätzchen um sich getreten und gebissen, die Augen in panischer Angst geweitet. Am schlimmsten war jedoch, dass Molly keinen Laut von sich gegeben hatte, als sie sich zur Wehr setzte. Diese unnatürliche Stille war markdurchdringend gewesen.
Haley griff mit leicht zitternden Händen nach dem Pappbecher und trank einen großen Schluck Wasser. Als sie den Becher auf den Tisch zurückstellte, schien sie sich wieder etwas beruhigt zu haben.
»Warum war sie zu Hause? Warum war sie nicht in der Schule?« Haleys grüne Augen musterten sein Gesicht erwartungsvoll, so, als könne er die Dinge wieder in Ordnung bringen. Dabei konnte niemand irgendetwas an der Tragödie ändern, die gerade über Haley hereingebrochen war.
»Wir haben mit der Schule gesprochen. Offensichtlich hat Ihre Schwester Molly gestern Morgen krankgemeldet. « Owen lehnte sich erschöpft zurück. »Ich will Ihnen nichts vormachen. Seit wir Ihre Schwester gefunden haben, ermitteln wir pausenlos. Trotzdem haben wir noch nichts Konkretes. Wir haben nur ein kleines Mädchen, das womöglich Zeuge des Mordes war. Bisher ist es uns aber noch nicht gelungen, Molly zum Reden zu bringen. Genau genommen hat sie bis jetzt überhaupt noch nicht gesprochen.«
»Oh, mein Gott.« Haley nahm den Pappbecher wieder auf.
»Sie ist ganz offensichtlich traumatisiert und zutiefst verängstigt. Ich hoffe, dass Sie sie dazu bewegen können, Ihnen zu erzählen, was gestern Morgen passiert ist.«
»Natürlich, ich werde tun, was ich kann.« Haley trank einen Schluck Wasser, dann sah sie Owen mit gequältem Blick an. »Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Ins Haus meiner Schwester kann ich wahrscheinlich noch nicht, oder?«
»Es wird wohl erst in ein, zwei Tagen freigegeben«, antwortete er. »Am besten stellen Sie sich darauf ein, vorübergehend bei Freunden oder in einem Motel zu übernachten. Wofür auch immer Sie sich entscheiden, ich muss wissen, wo Sie sich aufhalten.«
Er zögerte kurz, unsicher, wie viel Offenheit Haley bei diesem ersten Gespräch verkraften konnte. »Wenn wir das Haus freigegeben haben, möchten Sie vielleicht jemanden damit beauftragen, sich um alles zu kümmern.«
»Um was denn zu kümmern?«
»Da war eine Menge Blut. Ich kann Ihnen eine Firma nennen, die diese Art Aufträge übernimmt.«
Haley nickte kurz. »Wann kann ich Molly sehen?«
»Jetzt gleich.« Er rutschte mit dem Stuhl zurück und stand auf. »Ich habe mit den Pflegeeltern vereinbart, dass wir zu ihnen kommen, sobald Sie in Pleasant Hill sind. Ich fahre Sie hin.«
Als sie die Dienststelle verließen und in die Nachmittagssonne hinaustraten, dachte Owen daran, dass er Haley Lambert zwei Informationen vorenthalten hatte.
Erstens handelte es sich bei dem Mord an ihrer Schwester um einen der schlimmsten, in denen er je ermittelt hatte. Zweitens war nicht nur »mehrere« Male, sondern siebenundzwanzigmal auf Monica Ridge eingestochen worden.
Irgendjemand hatte ganz sichergehen wollen.
3
Pleasant Hill, Missouri, war einst eine kleine bäuerliche Gemeinde dreißig Meilen nördlich von Kansas City gewesen. In den letzten zwanzig Jahren hatte Kansas City jedoch seine Grenzen ausgeweitet und klopfte nun an die Tür von Pleasant Hill. Mit dem Ergebnis, dass das Städtchen sich inzwischen als Vorort von Kansas City fühlte und nicht mehr als eigenständiges Gebilde.
Ackerland war verkauft und zu Bauland für luxuriöse Wohnungen und Eigentumsblocks gemacht worden. In dem Maße wie die kleine Stadt wuchs, etablierten sich Banken, Drive-in-Lokale und Restaurants.
Haley starrte aus dem Seitenfenster, während Detective Tolliver sie zu der Pflegefamilie fuhr, bei der man Molly untergebracht hatte.
Mit fünfzehn Jahren hatte Haley den unbändigen Drang verspürt, dieser Kleinstadt zu entfl iehen, diesen engstirnigen Provinzbewohnern, und das wirkliche Leben kennenzulernen.
Sie hatte sich die Haare pink färben und Gitarre spielen wollen. Sie hatte sich von niemandem mehr etwas vorschreiben lassen wollen, und ihr war egal gewesen, was andere von ihr dachten. Wie jung sie damals gewesen war. Im Grunde hätte sie diejenige sein müssen, die umgebracht wurde. Sie hatte sich einer Menge Gefahren aus gesetzt und war ohne Netz und doppelten Boden durchs Leben geschwebt.
Monica hingegen hatte immer alles richtig gemacht. Sie hatte studiert, ihren Abschluss gemacht, einen wunderbaren Mann kennengelernt und geheiratet. Monica hatte sich an die Regeln gehalten.
Haley spürte, dass der Detective sie ansah. Sie drehte den Kopf zur Seite und begegnete Tollivers Blick. »Sie hat immer die Haustür abgeschlossen. Sie ist bei Dunkelheit nie allein unterwegs gewesen. Sie hat nie fremde Männer mit nach Hause genommen. Sie hatte nicht einmal Dates.«
Plötzlich schien es von großer Wichtigkeit zu sein, dass er all diese Dinge erfuhr, dass er verstand, welche Art Frau ihre Schwester gewesen war. »Sie war eine hingebungsvolle Mutter. Mit ihrem Abschluss in Wirtschaft hätte sie jeden Job haben können. Stattdessen arbeitete sie halbtags im Verkauf, damit sie sich nachmittags um Molly kümmern konnte.«
»Was ist mit Mollys Vater?«, erkundigte sich Tolliver, während er in eine von Bäumen gesäumte Straße einbog.
»Er ist tot. Auf dem Weg vom Büro nach Hause mit dem Auto verunglückt. Da war Molly gerade ein Jahr alt.« Haley seufzte. »Ich würde sagen, als Verdächtiger scheidet er damit wohl aus.«
»Wie sicher sind Sie, dass Ihre Schwester keine Dates hatte?«
Haley runzelte nachdenklich die Stirn. »Ziemlich sicher. Monica hat immer gesagt, dafür ist noch genügend Zeit, wenn Molly größer ist. Sie wollte die Kleine nicht verwirren, indem sie sie mit Männern bekannt machte, die vielleicht nie eine besondere Rolle in ihrem Leben spielen würden.«
»Ganz sicher sind Sie aber nicht?« Der Detective fuhr an den Straßenrand und parkte vor einem gepfl egten beige farbenen Bungalow mit tannengrünen Fensterläden. Er machte den Motor aus und blickte Haley an.
»Ich weiß nur, dass sie es mir gegenüber nie erwähnt hat.« Sie starrte auf das Haus, und die Angst, die sie eine Weile erfolgreich unterdrückt hatte, brach sich wieder Bahn. Haley drehte sich zu Tolliver um. »Wir haben mindestens zwei-, dreimal die Woche telefoniert. Wir haben uns gegenseitig über alles Wichtige auf dem Laufenden gehalten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mir einen Mann in ihrem Leben verheimlicht hätte.«
Haley wandte sich wieder dem Haus zu. Da drin war Molly, bei völlig fremden Menschen. Molly, die unter dem Bett gelegen hatte, als man Monica fand. O Gott, was hatte sie gesehen? Was hatte sie gehört? Ob sie überhaupt begriffen hatte, dass ihre Mommy tot war? Oder erwartete sie womöglich, dass Monica hier auftauchte und sie nach Hause holte? Erwartete sie, dass in ihrem Leben alles wieder so wurde wie vorher?
»Das Ehepaar Roberts ist sehr erfahren. Sie haben im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von Kindern in Pfl ege genommen.«
Haley sah ihm in die Augen. »Haben Sie Kinder, Detective? «
»Zwei Jungs, beide schon erwachsen.« In seinem Blick lag eine Wärme, die Haley beinahe aus der Fassung brachte. »Ich weiß, wie schwer das für Sie ist, Haley, aber wir müssen herausfinden, was Molly gesehen hat. Jede noch so kleine Kleinigkeit, die sie uns erzählt, kann die Ermittlungen voranbringen. Den Roberts zufolge hat sie kein Wort gesprochen, seit die Sozialarbeiterin sie hier abgeliefert hat. Molly ist furchtbar verängstigt und braucht Sie. Genau wie wir Sie brauchen. Sie müssen das kleine Mädchen zum Sprechen bringen.«
Haley wollte nicht, dass Tolliver auf sie angewiesen war. Niemand sollte auf sie angewiesen sein. Sie kniff die Augen fest zusammen und versuchte, die Tränen zurückzuhalten.
»Brechen Sie mir jetzt nicht zusammen, Haley«, sagte Tolliver sanft. »Das kleine Mädchen da drinnen ist auf Sie angewiesen.«
Er hatte recht. Die Trauer musste warten. Haley musste stark sein. Für Monica. Und für Molly. »Okay, gehen wir«, sagte sie und stieg aus dem Wagen.
Selma Roberts, eine Frau, die Haley auf Ende fünfzig, Anfang sechzig schätzte, öffnete ihnen. Sie hatte kurzes graues Haar, freundliche braune Augen und ein Lächeln, bei dem es Haley sofort ein wenig leichter ums Herz wurde.
Im Haus roch es angenehm nach Zimt und Möbelpolitur mit Zitronenduft. Selma führte den Detective und Haley ins Wohnzimmer. Sofa und Sessel sahen abgenutzt, aber bequem aus, und in den Regalen stapelten sich Kinderbücher, Puzzles und Spiele.
An den Wänden hingen Fotos von Jungen und Mädchen jeden Alters. »Das sind unsere Kinder«, sagte Selma zu Haley. »Insgesamt vierunddreißig in den letzten zwanzig Jahren. Wenn sie zu uns kamen, waren sie allesamt verängstigt und einsam, doch die meisten haben sich schon nach wenigen Stunden so wohl gefühlt, dass sie wieder lachen konnten. Ihre kleine Molly gehört leider nicht dazu.«
»Hat sie immer noch nicht gesprochen?«, fragte Tolliver.
Selma schüttelte den Kopf. »Nicht ein Wort. Aber ihr Schweigen hat keine körperlichen Ursachen. Ich weiß, dass sie sprechen könnte, wenn sie wollte.«
»Wie kommen Sie darauf?«, erkundigte sich Haley neugierig.
»Wahrscheinlich hatte sie einen Alptraum, jedenfalls hat sie mitten in der Nacht geschrien.« Selma bemühte sich um ein Lächeln. »Die arme Kleine. Bestimmt fühlt sie sich gleich viel besser, wenn sie Sie sieht. Am besten hole ich sie jetzt mal. In der Küche gibt's übrigens Kaffee und frisch gebackenen Zimtkuchen, Detective.«
»Klingt gut.« Und an Haley gewandt sagte Tolliver: »Wenn Sie mich brauchen, ich bin in der Küche.« Damit verließ er den Raum.
Selma verschwand in den Flur, und Haley blieb allein im Wohnzimmer zurück. Sie trat näher an die Fotos heran. So viele Kinder, manche schwarz, andere kaffeebraun, wieder andere hellhäutig und blond, aber eines hatten sie alle gemeinsam: Sie hatten ein strahlendes Lächeln im Gesicht.
Haley zog nervös an einer Haarsträhne. Molly würde nicht lächeln. Ob sie sich überhaupt an ihre Tante erinnerte? Es war mehr als zwei Jahre her, dass Haley zu einem kurzen Weihnachtsbesuch in Pleasant Hill gewesen war.
Monica und sie hatten damals fast die ganze Zeit gestritten. Monica wollte, dass Haley ihren Job in Las Vegas aufgab und wieder nach Pleasant Hill zog. »Außer dir habe ich doch keine Verwandten«, hatte sie gesagt. »Ich möchte so gerne, dass du in unserer Nähe wohnst.«
Wenn Haley dem Wunsch ihrer Schwester damals doch nur nachgekommen wäre. Dann hätten sie die letzten zwei Jahre damit zugebracht, miteinander zu streiten und sich wieder zu versöhnen, ihre Kleider zu tauschen und am Leben der anderen teilzuhaben.
»Hier ist Ihre Kleine«, sagte Selma.
Haley drehte sich um und sah ihre Nichte stocksteif in der Tür stehen. Tausend Eindrücke stürmten auf Haley ein. Vor zwei Jahren war Molly ein pummeliger, pausbäckiger kleiner Fratz gewesen, der ununterbrochen kicherte.
Nun stand da ein viel erwachsener wirkendes, schlankes Mädchen und starrte auf den Boden. Das lange hellblonde Haar war zu einem ordentlichen Zopf gefl ochten, an dem sie spielte. Sie trug Jeans und ein pinkfarbenes T-Shirt mit der Aufschrift »Princess Lollipop«. Haley hatte es ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt.
»Ich lasse euch zwei jetzt mal allein, damit ihr euch ein bisschen unterhalten könnt«, sagte Selma. Als die mollige Frau in die Küche ging, hätte Haley sie am liebsten zurückgehalten.
Es war lächerlich, Angst zu haben. Verdammt, bei der Arbeit in der Bar hatte sie öfters mit Betrunkenen zu tun gehabt, die zudringlich wurden. Einmal hatte sie sich einem Freund entgegengestellt, der vor Eifersucht total ausgeflippt war und dachte, sie würde sich das einfach so bieten lassen. Da konnte sie es doch wohl noch mit einer verängstigten Achtjährigen aufnehmen.
»Molly?« Sie ging zu dem kleinen Mädchen hinüber und hockte sich vor sie. »Molly, meine Süße. Erinnerst du dich noch an mich, Tante Haley? Alles wird gut. Bald wird alles wieder gut.«
Molly ließ den Zopf los, hob langsam den Blick und schaute Haley an. In den Tiefen ihrer dunkelgrünen, langwimprigen Augen sah Haley Seelenqualen, die etwas in ihr zerbrechen ließen.
Sie schloss Molly in die Arme und gab endlich ihrer Trauer nach. Mit einem tiefen, verzweifelten Schluchzer drückte sie das Kind an sich. Was sollten sie ohne Monica tun? O Gott, was sollten sie nur tun?
Haley erlaubte sich nur diesen einen Schluchzer. Den Rest schluckte sie hinunter, weil sie stark sein wollte für Molly, die wie ein verängstigtes Vögelchen in ihren Armen zitterte und still weinte.
Haley hielt das kleine Mädchen eine ganze Weile umfangen, dann löste sie die Umarmung und stand auf. Sie nahm Molly bei der Hand, ging zum Sofa hinüber und setzte sich neben das Kind.
Molly umklammerte Haleys Hand, als könnte sie sich daran wie an einer Rettungsleine aus dem Alptraum befreien, in dem sie gefangen war. Haley hätte ihr am liebsten gesagt, dass sie sich nicht zu fest halten sollte, nicht zu abhängig von ihr werden.
Ein paar Minuten lang sagte Haley nichts. Sie saß einfach nur neben ihrer Nichte, die nach Zahnpasta mit Kaugummigeschmack duftete und sie erwartungsvoll anblickte.
»Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte Haley. »Erinnerst du dich noch an mich?« Molly nickte. »Glaub mir, alles wird gut.« Haley zwang sich, optimistisch zu klingen. »Bald wird alles wieder gut.«
Molly starrte Haley an wie ein Wesen von einem fremden Stern. Haley beschloss, nicht lange um den heißen Brei herumzureden. Sie wollte das Hässliche so schnell wie möglich hinter sich bringen, zumal Detective Tolliver in der Küche wartete.
»Molly, Schätzchen, kannst du mir erzählen, was passiert ist? Kannst du mir sagen, wer deiner Mommy weh getan hat?«
Molly drückte Haleys Hand und schüttelte lebhaft den Kopf, die Augen schreckgeweitet. »Okay, okay, du musst jetzt nicht drüber reden«, sagte Haley schnell. Auch wenn Detective Tolliver dringend wissen musste, welch grauenhafte Bilder womöglich in Mollys Kopf eingeschlossen waren, würde sie das kleine Mädchen nicht unter Druck setzen. Vielleicht konnte sie Molly ja dazu bringen, dass sie über etwas anderes sprach.
»Ich weiß, das ist alles sehr beunruhigend. Behandeln sie dich hier gut?« Molly zögerte einen Moment und nickte dann. Haley fuhr fort. »Du musst noch ein paar Tage hierbleiben, bis ich mich um alles gekümmert habe, okay?«
Molly blickte Haley mit gerunzelter Stirn forschend an. Offenbar versuchte sie einzuschätzen, ob sie Haley vertrauen konnte. Dann nickte sie widerstrebend.
»Brauchst du irgendwas?« Haley wünschte, Molly würde wenigstens ein einziges Wort sagen. Nicht zu reden war unnatürlich für ein Kind. Insgeheim hoffte sie, Molly damit einen Schrei nach ihrer Mutter entlocken zu können, aber das kleine Mädchen schüttelte nur mit Tränen in den Augen den Kopf.
Haley schloss ihre Nichte erneut in die Arme und drückte sie an sich. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nichts richtig gemacht, doch als sie das Kind ihrer Schwester im Arm hielt, schwor sie sich, alles zu versuchen, um das Richtige für Molly zu tun.
Es war nach fünf, als Haley und Tolliver das Haus der Roberts' verließen und zur Dienststelle zurückfuhren. »Egal, was ich gesagt habe, sie hat keinen Ton von sich gegeben.« Haley runzelte erschöpft die Stirn.
»Bitte anschnallen«, sagte Tolliver und fuhr langsamer, bis Haley den Gurt angelegt hatte. »Wir müssen ihr vielleicht nur ein bisschen Zeit lassen«, sagte er, obwohl ihm die Idee augenscheinlich nicht behagte. Haley wusste, wenn Molly über Informationen verfügte, die den Detective auf die Spur des Mörders führen konnten, wollte er sie so schnell wie möglich haben.
Und sie selbst wollte auch, dass es mit den Ermittlungen voranging. Sie wollte die Bestie, die Monica getötet hatte, hinter Gittern sehen.
»Was werden Sie als Nächstes tun?«
»Wir machen mit der Befragung von Nachbarn und Freunden weiter und versuchen, so viel wie möglich über Ihre Schwester und deren Gewohnheiten in Erfahrung zu bringen. Wir haben ein Adressbuch im Haus gefunden und überprüfen die Namen und Telefonnummern. Wir hoffen, dass irgendjemand etwas weiß, irgendjemand etwas gehört oder gesehen hat, das uns weiterhelfen könnte.«
Er presste die Lippen zusammen, als fürchte er, zu viel gesagt zu haben. Dabei hatte er lediglich zugegeben, dass sie im Dunkeln tappten.
»Was ist mit Spuren vom Tatort? Haare, Fasern, das ganze Zeug, das man immer im Fernsehen sieht?«
Er verzog das Gesicht. »Im echten Leben funktioniert das meistens nicht so reibungslos wie im Fernsehen.« Er seufzte. »Wer auch immer Ihre Schwester getötet hat, war weitsichtig genug, alle Spuren zu beseitigen. Wir haben keinerlei Fingerabdrücke oder Fußspuren gefunden, keine Haare, die nicht Ihrer Schwester oder Ihrer Nichte zuzuordnen sind. Natürlich sind die Laboruntersuchungen noch nicht abgeschlossen. Es dauert eine Weile, bis die Ergebnisse da sind.«
Er bog auf den Parkplatz des Polizeireviers, schaltete den Motor aus und blickte Haley an. »Was haben Sie jetzt vor? Ich brauche Ihnen sicher nicht zu sagen, dass wir es vorziehen würden, wenn Sie und Ihre Nichte in der Stadt bleiben, bis die Kleine mit uns gesprochen hat.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Gestern habe ich noch in einem möblierten Dreckloch in Las Vegas gewohnt und als Barkeeperin in einer Lounge gearbeitet. Heute bin ich arbeits- und heimatlos und der gesetzliche Vormund eines achtjährigen Mädchens, das kein Wort spricht und vielleicht gesehen hat, wie seine Mutter ermordet wurde. «
Haley hörte die wachsende Hysterie in ihrer Stimme, war aber unfähig, sie zu kontrollieren. »Ich hatte noch nie eine langjährige Beziehung. Verdammt, noch nicht mal ein Haustier. Und jetzt soll ich mich um ein zerbrechliches kleines Mädchen kümmern, das von mir erwartet, dass ich ihr Leben wieder in Ordnung bringe.«
Sie öffnete die Autotür, versuchte auszusteigen und strangulierte sich dabei fast mit dem Sicherheitsgurt. Sie fingerte an dem Verschluss herum und sah Tolliver beinahe vorwurfsvoll an. »Ich vergesse sogar, mich abzuschnallen. Wie soll ich das alles nur schaffen?«
Als es ihr endlich gelungen war, aus dem Auto auszusteigen, stand Tolliver vor ihr. Sie blickte zu ihm auf, und ein irrationaler Zorn stieg in ihr hoch. »Finden Sie den, der das getan hat! Finden Sie den, der meine Schwester umgebracht hat!« Sie stach ihm mit dem Finger in die Brust.
Tollivers Gesichtszüge wurden weich, als die Trauer, die Haley mühsam zurückgehalten hatte, sie plötzlich voll ergriff. Hätte er sie nicht an den Schultern gepackt, sie wäre gestürzt. Sie sank nach vorn, lehnte sich an seine breite Brust und schluchzte haltlos.
Er sagte kein Wort, versuchte nicht, sich zu befreien oder sie zu beruhigen, sondern strich ihr mit der Hand über den Rücken, so wie Eltern ihr weinendes Kind trösten.
Haley konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal geweint hatte. Vielleicht damals, als sie mit vierzehn Jahren einen streunenden Hund gefunden hatte, einen kleinen Pudelmischling, dessen Fell ganz verfilzt und voller Dornen gewesen war. Er war ihr so freudig auf den Arm gesprungen, als wäre sie seine Rettung.
Haley hatte den Hund mit nach Hause genommen und ihre Mutter angefleht, ihn behalten zu dürfen. »Kommt gar nicht in Frage«, hatte Ann Lambert gesagt. »Ich kriege dich ja noch nicht mal dazu, dein Zimmer aufzuräumen. Du bist nicht verantwortungsbewusst genug, um für ein Tier zu sorgen.« Dann hatte ihre Mutter das Tierheim angerufen.
Als der Mann vom Tierheim Haley den Hund aus den Armen genommen hatte, hatte das kleine Wesen sie zärtlich angeschaut und sie am Kinn geleckt.
Damals hatte Haley zwei Tage lang geweint.
Diesmal weinte sie nicht so lange. Nach ein paar Minuten hatte sie sich einigermaßen gefasst und trat einen Schritt zurück.
»Tut mir leid.« Sie wischte sich die Tränen weg, beschämt, weil sie die Kontrolle verloren hatte.
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, entgegnete Tolliver. »Das ist doch nur natürlich.«
Einen Augenblick lang standen sie sich gegenüber und schwiegen betreten. »Ich werde alles tun, um den Täter zu finden«, sagte er schließlich. »Der Fall hat im Moment bei uns oberste Priorität.«
Im Moment.
Haley nickte, auch wenn ihr klar war, dass es nur einen weiteren Mord, ein weiteres Opfer brauchte, um Monica auf der Prioritätenliste nach unten rutschen zu lassen.
Aus dem Fernsehen und aus Kriminalromanen wusste sie, dass die ersten achtundvierzig Stunden entscheidend für die Aufklärung eines Verbrechens waren. Mehr als die Hälfte dieser Zeit war schon vorbei, und sie hatten nichts.
»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte Detective Tolliver. »Wo kann ich Sie erreichen?«
»Gibt's noch das Lazy Ray's am Highway 169?«, fragte Haley. Er nickte. »Dann finden Sie mich dort. Und im Moment habe ich nichts anderes vor, als die nächste Bar aufzusuchen und mich sinnlos zu betrinken.«
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Ein Schrei ertönte.
Molly erstarrte, und ihr Herz pochte wild. Sie hörte ein lautes Krachen, dann splitterte Glas. Ein Knall. Wieder Schreie.
Irgendetwas stimmte nicht.
Irgendetwas Schreckliches passierte gerade.
Voller Entsetzen sah Molly ihre Mutter im Türrahmen auftauchen, die weiße Bluse auf der Brust ganz rot, dann durch den Raum taumeln und neben dem Bett zu Boden sinken.
»Mommy?«, flüsterte Molly.
Monica Ridge drehte den Kopf zur Seite und sah ihre Tochter unter dem Bett liegen. »Psst, Lollipop. Beweg dich nicht. Sei ganz still.« Ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch, die Worte verzerrt. Molly presste ihre Faust vor den Mund, als sie Schritte im Flur hörte und ihre Mutter aufzustehen versuchte.
»Nein. Bitte nicht«, hörte Molly ihre Mutter sagen, während sie selbst die Augen fest zusammenkniff.
Wieder Geräusche.
Unheimliche Geräusche. Für einen kurzen Moment öffnete Molly die Augen. Etwas Blaues blitzte auf. Ein Messer sauste nach unten. Schnell machte sie die Augen wieder zu.
Dann Stille.
Sie wusste nicht, wie lange sie so dalag, mit geschlossenen Augen auf die Stille lauschend. Als Molly die Augen wieder öffnete, sah sie ihre Mutter ganz dicht neben sich auf dem Rücken liegen.
Blut. Überall war Blut. An ihrer Mommy, auf dem Fußboden, an den Wänden.
Mommy? Ihre Mommy bewegte sich nicht, stierte mit weit aufgerissenen Augen an die Decke. Eine Hand war in Mollys Richtung ausgestreckt, und Molly wollte danach greifen und ihrer Mommy sagen, dass sie aufstehen und nicht mehr so gucken sollte.
Molly schrie innerlich, während sie ihre Faust noch fester vor den Mund presste.
Psst. Lollipop. Beweg dich nicht. Sei ganz still. Psst. Lollipop. Beweg dich nicht. Sei ganz still.
1
Zwei uniformierte Polizisten überbrachten Haley Lambert die Todesnachricht an einem Freitagabend um kurz nach acht. Sie war gerade in ihren Schlafanzug geschlüpft und hatte sich an den Computer gesetzt, um Mails zu beantworten, neben sich ein Stück kalte Pizza und ein kühles Bier.
Es war ein ganz gewöhnlicher Freitagabend. Seit Haley ihrem letzten Freund vor drei Monaten den Laufpass gegeben hatte, gehörten Schlafanzug, kalte Pizza und Bier zum üblichen Programm. Tim war ein prima Kerl gewesen, ein super Freund.
Dummerweise hatte Haley feststellen müssen, dass er nicht nur ihr Freund gewesen war, sondern auch der von zwei weiteren Frauen. Zum Glück hatte sie sein Versteckspiel durchschaut, bevor sie mit ihm ins Bett gegangen war. Sie besaß einfach eine miserable Menschenkenntnis, woran ihre Schwester sie immer wieder gern erinnerte.
Es war ein ganz gewöhnlicher Freitagabend, bis es an der Wohnungstür klingelte. Ein Blick in die Gesichter der Cops sagte Haley, dass die beiden nicht gekommen waren, um Spenden zu sammeln oder sie zum Polizeiball einzuladen.
»Haley Lambert?« Der Beamte hatte ein Kindergesicht, rundlich und freundlich, doch der Ausdruck in seinen Augen jagte Haley einen kalten Schauer über den Rücken.
»Ja, das bin ich.«
»Ms. Lambert, ich bin Officer Sinclair, und das ist mein Partner Officer Banks. Dürfen wir reinkommen?« Der Ältere hatte jetzt das Wort ergriffen, und in seinem Blick lag derselbe Ausdruck wie in dem seines Partners: tiefes Mitleid und das Unbehagen desjenigen, der schlechte Nachrichten zu überbringen hat.
Haley hätte den beiden am liebsten die Tür vor der Nase zugeschlagen, ihnen den Zutritt zu ihrer Wohnung verwehrt. Sie hatte den verrückten Gedanken, wenn sie die Cops nicht einließ, war auch nichts Schlimmes passiert.
Aber natürlich schlug sie die Tür nicht zu. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie die Beamten hereinbat. »Bitte, sagen Sie mir, was passiert ist. Warum sind Sie hier?«
Officer Sinclair legte die Stirn in Falten. »Gibt es einen Mr. Lambert? Oder vielleicht eine Nachbarin oder Freundin, die Ihnen beistehen könnte?«
Da begriff Haley, dass etwas Furchtbares passiert sein musste. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt wie in diesem Moment, als ihr klarwurde, dass es keine Nachbarin und keine Freundin gab, die ihr jetzt helfen konnten.
Sie schüttelte den Kopf. »Sagen Sie mir einfach, warum Sie hier sind.« »Sind Sie die nächste Verwandte von Monica Ridge?«, fragte Officer Banks.
O Gott, nicht Monica. Warum sollten zwei Cops sie in ihrer Wohnung in Las Vegas aufsuchen, um mit ihr über eine Frau zu sprechen, die in einem Vorort von Kansas City, Missouri, lebte?
»Monica ist meine Schwester. Ist ihr was passiert? Hatte sie einen Unfall? Geht es ihr gut? Liegt sie im Krankenhaus? « Die Fragen sprudelten nur so aus Haley heraus, während sich ihr Magen vor Angst zusammenzog.
»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Schwester ermordet worden ist«, sagte Officer Sinclair mit sanfter Stimme.
Die Worte trafen Haley wie ein Faustschlag. Sie bekam keine Luft mehr, taumelte rückwärts und sank aufs Sofa.
Tot? Monica? Ermordet? Das konnte nicht sein. Es musste sich um eine Verwechslung handeln. In Haley wehrte sich alles gegen den Gedanken, dass ihre Schwester tot sein könnte.
Sie fühlte sich wie betäubt. Sie hatte sich noch nie so benommen gefühlt, noch nie war ihr so kalt gewesen. Monica war tot? Wie konnte das sein? Von den beiden Schwestern war Monica doch immer diejenige gewesen, die kein Risiko einging, die alles richtig machte.
Officer Banks setzte sich neben Haley. In seinem rundlichen Kindergesicht mit den blauen Augen lag tiefes Mitgefühl. Er ergriff ihre Hand, und sie ließ die Berührung zu, obwohl die Wärme seiner Finger sie nicht zu beruhigen vermochte. »Ihre Schwester ist heute Vormittag in ihrem Haus von einem Einbrecher ermordet worden.«
Haley starrte den Polizeibeamten an. Die Worte hatte sie vernommen, aber sie ergaben keinen Sinn. Das war unmöglich. Ermordet wurden Fremde, über die man in der Zeitung las. Menschen, die sie kannte, wurden nicht ermordet, schon gar nicht Menschen wie Monica.
Haley versuchte, sich einen Reim auf das alles zu machen. Jemand war in Monicas Haus eingedrungen und hatte sie getötet? Herrgott, wie konnte das passieren? Wie zum Teufel konnte so etwas passieren? »Wissen Sie schon, wer es getan hat? Hat man schon jemanden verhaftet?«
»Darüber liegen uns keinerlei Informationen vor«, sagte Officer Sinclair.
»Was ist mit Molly?« Beim Gedanken an ihre Nichte ließ Haley die Hand von Officer Banks los und sprang vom Sofa auf. Das kleine Mädchen war an einem Freitagmorgen Anfang Mai doch sicher in der Schule gewesen.
»Uns liegen nur die Informationen vor, die wir Ihnen bereits mitgeteilt haben«, erwiderte Officer Sinclair. »Sollen wir nicht doch jemanden benachrichtigen, der Ihnen beistehen könnte?«
»Nein.« Haley ließ den Blick durch ihr kleines Apartment schweifen, über die billigen, staubigen Möbel, als könnte sie dort die Antworten auf ihre Fragen finden.
Monica war tot. Wo war Molly? Monica war tot. Monica war tot. Haley konzentrierte sich wieder auf die beiden Polizeibeamten. »Ich muss weg. Ich muss nach Kansas City.« Sie musste in Erfahrung bringen, was genau passiert war.
Die Trauer konnte warten. Dafür war später noch Zeit. Jetzt war da ein achtjähriges Mädchen, das gerade seine Mutter verloren hatte und dessen einzige Verwandte ihre Tante Haley war.
Sie hätte nicht zu Hause sein sollen! Warum war sie da gewesen? Was hatte sie gesehen? Was hatte Molly gesehen? Sie hätte nicht zu Hause sein sollen!
2
Später würde Haley die Tatsache vielleicht zu denken geben, dass sie weniger als zehn Stunden brauchte, um ihren Job zu kündigen, ihre Wohnung aufzulösen und in ein Flugzeug zu steigen, das sie in die Stadt ihrer Kindheit bringen sollte.
Später würde sie es vielleicht deprimierend finden, dass ihre zweiunddreißig Lebensjahre mühelos in zwei Kunstlederkoffer passten, ein Werbegeschenk von Harrah's Casino. Im Moment jedoch ließ sie Gefühle gar nicht erst zu.
Die Benommenheit, die sie erfasst hatte, als sie vom Tod ihrer Schwester erfuhr, hatte während der endlosen Nachtstunden nicht nachgelassen und war auch jetzt noch da. Haley klammerte sich daran, denn sie wusste, wenn die Betäubung weg war, würde der Schmerz unerträglich sein.
Als der Flugkapitän den Landeanflug auf den Kansas City International Airport ankündigte, starrte Haley durchs Fenster auf die Patchwork-Felder unter ihr.
Nachdem die Cops am Abend gegangen waren, hatte sie Kontakt mit den Behörden in Kansas City aufgenommen und war schließlich mit Detective Owen Tolliver verbunden worden, dem Leiter der Ermittlungen im Mordfall Monica Ridge.
Er hatte am Telefon nicht mit Haley über die Tat sprechen wollen, ihr aber mitgeteilt, dass das Jugendamt Molly in einer Pflegefamilie untergebracht hatte, bis Verwandte ausfindig gemacht werden konnten.
Haley wickelte sich eine Strähne ihrer langen blonden Haare um den Finger und zog daran, während sie gegen die nackte Angst ankämpfte. Bisher war es ihr gelungen, ihre Trauer in Schach zu halten, aber die Panik erfasste sie immer wieder, versuchte, sich ihrer zu bemächtigen.
Was sollte sie machen? Was sollte sie mit Molly machen? Sie hatte das kleine Mädchen vor zwei Jahren zuletzt gesehen. Im besten Fall war sie eine weit entfernt lebende Tante für die Kleine. Ein Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk per Post. Ein Telefonanruf.
Nach Monicas Überzeugung war Haley nicht einmal in der Lage, auf sich selbst aufzupassen. Wie sollte sie da eine Hilfe für Molly sein? Woher sollte sie wissen, was das Beste war für ein kleines Mädchen, dessen Mutter gerade ermordet worden war?
Das Flugzeug landete, und ein paar Minuten später stand Haley am Gepäckkarussell und wartete darauf, dass ihre wenigen Besitztümer auf das Förderband gespuckt wurden.
Die Erschöpfung drückte sie nieder. Sie war todmüde. An Schlaf war in der vergangenen Nacht nicht zu denken gewesen. Sie hatte ihren Chef in der Lounge angerufen, in der sie als Barkeeperin arbeitete, und gekündigt; sie hatte gepackt und ihrem Vermieter mitgeteilt, dass sie auszog.
Das Apartment zu kündigen war kein Problem gewesen. Haley mietete ihre Wohnungen immer nur monatsweise, da sie nie wusste, wann das Fernweh wieder zuschlug, wann sie das nächste Mal den Drang verspürte, ihre Sachen zu packen.
Letzte Nacht hatte sie sich aus Angst vor den düsteren Pfaden, die ihre Gedanken einschlagen könnten, keine Sekunde des Grübelns erlaubt. Sie hoffte nur, dass Detective Owen Tolliver ihr mehr sagen, ihr die Frage nach dem Warum beantworten könnte.
Um kurz vor elf parkte Haley ihren Mietwagen auf dem Parkplatz des Polizeireviers von Pleasant Hill. Detective Tolliver hatte zugesagt, sofort nach ihrer Ankunft zu einem Gespräch zur Verfügung zu stehen.
Dies war nicht Haleys erster Besuch im Polizeirevier von Pleasant Hill. Als Vierzehnjährige war sie gemeinsam mit einigen Freundinnen zu Gast in dem Backsteingebäude gewesen, nachdem man sie beim Ladendiebstahl erwischt hatte. Es gab Dinge, an die Haley sich lieber erinnerte.
Die Eltern der anderen Mädchen waren innerhalb von dreißig Minuten eingetroffen, um die Freilassung ihrer Töchter zu arrangieren. Haley hatte drei Stunden gewartet, drei qualvolle Stunden, in denen sie alles andere als sicher gewesen war, dass ihre Mutter kommen und sie abholen würde.
Im Gebäude roch es noch genauso wie damals, eine Mischung aus angebranntem Kaffee, säuerlichen Körperausdünstungen und Fast Food. »Ich möchte zu Detective Tolliver«, sagte sie zu dem Polizisten hinter dem Counter, der die Schreibtische der aufnehmenden Beamten vom Wartebereich trennte. »Mein Name ist Haley Lambert. «
»Ich sehe nach, ob er zu sprechen ist«, antwortete der Cop. »Nehmen Sie bitte solange Platz.« Er zeigte auf eine Reihe Plastikstühle an der Wand.
Haley setzte sich und hob wieder die Hand, um an einer Strähne ihres schulterlangen Haars zu ziehen. In ein paar Minuten würde sie alle Einzelheiten über den Mord an Monica erfahren.
Mord. Großer Gott, es fühlte sich immer noch so unwirklich an. Irgendjemand hatte Monica umgebracht. Mord. Allein das Wort ließ Haley vor Entsetzen schaudern.
Sie lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen, als sie ein Zittern in ihrer Magengrube zu verspüren begann. Was bedeutete das, ein Einbrecher? Hatte ein bewaffneter Dieb die Tür aufgebrochen und Monica im Haus angetroffen?
Es konnte nicht anders sein, es musste sich um einen zufälligen Akt von Gewalt handeln. Monica war nicht der Typ Frau, der Feinde hatte. Sie war ein liebenswürdiger, freundlicher Mensch, und jeder, der ihr begegnete, mochte sie.
Haley hoffte allerdings noch, dass es sich um eine fatale Verwechslung handelte, irgendeine grässliche Computerpanne, einen tragischen Irrtum. Es war gar nicht Monicas Haus, in das man eingebrochen hatte, und wenn ihre Schwester von all dem erfuhr, würden sie gemeinsam darüber lachen.
Wie sehr sehnte sie sich danach, den Schalk in Monicas Augen zu sehen und ihr Lachen zu hören, das immer eher ein Kichern als schallendes Gelächter gewesen war.
»Ms. Lambert?«
Haley öffnete die Augen. Vor ihr stand ein hochgewachsener Mann mit einer beginnenden Glatze und den freundlichsten blauen Augen, die sie je gesehen hatte. »Ich bin Detective Owen Tolliver. Lassen Sie uns irgendwo hingehen, wo wir uns in Ruhe unterhalten können.« Er hielt eine Aktenmappe in der Hand.
Haley nickte und erhob sich, leicht wackelig auf den Beinen, denn das innerliche Zittern hatte sich nach außen gewendet und ihre Gliedmaßen erfasst. Reiß dich zusammen, Haley, ermahnte sie sich. Schlappmachen kannst du später immer noch.
Detective Tolliver führte sie durch einen langen, gefliesten Korridor. Er sagte kein Wort, doch sein Gang und seine leicht hängenden Schultern verrieten Müdigkeit.
Sie konnte es ihm nachfühlen. Ihre Augen waren vor Schlafmangel ganz trocken, und wenn Molly nicht gewesen wäre, hätte Haley sich einfach ins Bett verkrochen und sich die Decke über den Kopf gezogen.
Der Detective brachte sie in einen kleinen Raum mit einem Tisch und zwei Stühlen. Er bedeutete ihr, Platz zu nehmen. Sie setzte sich und sah ihn erwartungsvoll an.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken holen, Ms. Lambert? Vielleicht ein Wasser oder einen Kaffee?«
»Nein danke. Aber nennen Sie mich doch bitte Haley.« Glücklicherweise hatte das Zittern aufgehört, und sie verspürte nur noch den Wunsch, diese ganze Sache hinter sich zu bringen.
Tolliver fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, und die tiefen Falten um seine Augen zeugten von dem Druck, der auf ihm lastete. Er setzte sich ihr gegenüber und warf die Mappe auf den Tisch.
»Am liebsten wäre mir, Sie würden sagen, dass es sich um eine Verwechslung handelt und die Ermordete nicht meine Schwester ist.«
»Ich wünschte, das könnte ich«, erwiderte er. »Aber die Nachbarn haben Ihre Schwester eindeutig identifiziert. Es gibt keine Verwechslung.«
Es gibt keine Verwechslung.
Es gibt keine Verwechslung.
Die Worte hallten in Haleys Kopf wider wie der Schlag einer dröhnenden Trommel bei einer Parade. »Ich will alles wissen. Von Anfang an.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein angestrengtes Flüstern.
Der Detective nickte und schlug die Mappe auf. » Gestern Nachmittag rief ein Paketbote an und sagte, im Haus Ihrer Schwester gebe es möglicherweise ein Problem. Als er ein Paket bei ihr abgeben wollte, fand er die Haustür offen, und er sah Blut an den Wänden im Eingang. «
Tolliver unterbrach sich und musterte Haley, als versuche er einzuschätzen, wie viel er ihr zumuten konnte. »Ich will alles hören«, sagte sie mit festerer Stimme. Verdammt noch mal, das schuldete sie Monica. »Ich muss alles wissen.«
Wieder nickte er knapp. »Ich habe den Anruf gemeinsam mit meinem Partner Frank Marcelli entgegengenommen, übrigens ein direkter Nachbar Ihrer Schwester. Wir fuhren zu ihrem Haus und wussten sofort, dass wir es mit einem Verbrechen zu tun hatten.« Seine Stimme klang sachlich, beinahe geschäftsmäßig.
Haley hatte den Eindruck, dass er die Akte gar nicht brauchte, sondern es lediglich vorzog, auf das Papier zu starren, anstatt Haley anzusehen, während er ihr die entsetzlichen Einzelheiten berichtete.
»Wegen der Blutspritzer im Eingang beschlossen wir, uns umzusehen. Wir fanden Ihre Schwester in ihrem Schlafzimmer. Erstochen.«
Wieder verspürte Haley ein Zittern in der Magengrube, gleich einem trudelnden Kreisel am Ende seiner Drehung.
Erstochen. Man hatte ihre Schwester erstochen. »War es ein Raubmord?«
Tolliver hob den Blick. »Davon gehen wir nicht aus. Wir haben keine Einbruchsspuren gefunden, und es scheint auch nichts zu fehlen.«
»Wer hat es dann getan? Gibt es schon einen Verdächtigen? Was tun Sie, um den Mörder meiner Schwester zu fi nden?«
Der Detective runzelte die Stirn. »Sie müssen verstehen, dass wir uns noch ganz am Anfang der Ermittlungen befinden. Der Fall ist noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden alt.«
Der Fall. Das war aus ihrer Schwester geworden, ein Fall. Ein Stapel Papier in einem Aktendeckel mit einer Nummer obendrauf. Da war es wieder, das beklemmende Gefühl, der Schwindel, und das Atmen wurde ihr schwer.
Detective Tolliver klappte die Mappe zu, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah sein Gegenüber mitfühlend an. »Ich weiß, wie schwer das alles für Sie ist, Haley. Und ich weiß, dass Sie gerade erst eingetroffen sind und noch keine Zeit hatten, die Dinge zu verarbeiten. Trotzdem brauchen wir Ihre Hilfe. Wir müssen alles wissen, was es über das Leben Ihrer Schwester zu wissen gibt. Wir brauchen die Namen ihrer Freunde und auch von Leuten, die möglicherweise Probleme mit ihr hatten.«
»Niemand hatte Probleme mit Monica«, protestierte Haley. »Sie ist ...« Haley unterbrach sich und schloss die Augen, als ihr schmerzhaft klarwurde, dass sie von ihrer Schwester nicht mehr in der Gegenwart reden konnte. Sie fing den Satz von vorn an. »Monica war ein wunderbarer Mensch. Sie hatte keine Feinde.«
»Einen Feind hatte sie«, erwiderte Tolliver, und seine blauen Augen nahmen einen harten Ausdruck an. »Irgendjemand hat ganz gewaltig etwas gegen Ihre Schwester gehabt. Im Moment gehen wir davon aus, dass es sich um einen Mord im Affekt handelt.«
»Was meinen Sie damit?«
Tolliver fühlte sich sichtlich unwohl. »Wir haben es mit einem Fall von Overkill zu tun. Auf Ihre Schwester wurde nicht nur einmal, sondern mehrere Male eingestochen, und zwar mit großer Kraft, was auf eine ungeheure Wut hindeutet. Wir glauben, dass Ihre Schwester den Täter kannte. Von Nachbarn haben wir erfahren, dass sie streng darauf achtete, die Haustür immer abzuschließen. Sie hat die Tür geöffnet und ihren Mörder hereingelassen. «
»Hat denn keiner der Nachbarn irgendwas gesehen oder gehört?«
»Im Moment haben wir nur Molly.«
Haley lehnte sich zurück und starrte Tolliver an. »Was meinen Sie damit, Sie haben nur Molly?«
Überrascht blickte er sie an. »Hat Ihnen das niemand gesagt?« Er verzog das Gesicht. »Als die Kollegen von der Spurensicherung im Schlafzimmer mit der Arbeit anfingen, fanden sie Molly unter dem Bett, nur wenige Zentimeter von Ihrer toten Schwester entfernt.«
Der Aufruhr in Haleys Innerem drohte außer Kontrolle zu geraten. Kurzzeitig bekam sie keine Luft mehr. Tränen trübten ihren Blick, und der Schmerz schnürte ihr die Kehle zu. Sie schluckte mehrmals schwer, dann versuchte sie zu sprechen.
Owen Tolliver stand auf und ging zum Wasserspender, um Haley etwas zu trinken zu holen. Mit seinen sechsundfünfzig Jahren hatte er genug erlebt, um zu wissen, wann jemand kurz davor war, die Kontrolle zu verlieren.
Er stellte den Pappbecher vor Haley hin und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Ms. Lambert war eine hübsche Frau, die große Ähnlichkeit mit ihrer Schwester hatte. Die gleichen langen blonden Haare, die das ovale Gesicht umrahmten, die gleichen ausdrucksstarken grünen Augen, in denen im Moment ein Anflug von Panik stand.
Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Schwestern fi el Owen nur auf, weil er ein Foto der Ermordeten auf ihrem Kaminsims gesehen hatte. Im Tod war Monica nahezu unkenntlich gewesen.
Nichts in seinen dreißig Dienstjahren hatte Owen allerdings auf das kleine Mädchen unter dem Bett vorbereitet. Als sie sie schließlich darunter hervorgezogen hatten, hatte sie wie ein wild gewordenes Kätzchen um sich getreten und gebissen, die Augen in panischer Angst geweitet. Am schlimmsten war jedoch, dass Molly keinen Laut von sich gegeben hatte, als sie sich zur Wehr setzte. Diese unnatürliche Stille war markdurchdringend gewesen.
Haley griff mit leicht zitternden Händen nach dem Pappbecher und trank einen großen Schluck Wasser. Als sie den Becher auf den Tisch zurückstellte, schien sie sich wieder etwas beruhigt zu haben.
»Warum war sie zu Hause? Warum war sie nicht in der Schule?« Haleys grüne Augen musterten sein Gesicht erwartungsvoll, so, als könne er die Dinge wieder in Ordnung bringen. Dabei konnte niemand irgendetwas an der Tragödie ändern, die gerade über Haley hereingebrochen war.
»Wir haben mit der Schule gesprochen. Offensichtlich hat Ihre Schwester Molly gestern Morgen krankgemeldet. « Owen lehnte sich erschöpft zurück. »Ich will Ihnen nichts vormachen. Seit wir Ihre Schwester gefunden haben, ermitteln wir pausenlos. Trotzdem haben wir noch nichts Konkretes. Wir haben nur ein kleines Mädchen, das womöglich Zeuge des Mordes war. Bisher ist es uns aber noch nicht gelungen, Molly zum Reden zu bringen. Genau genommen hat sie bis jetzt überhaupt noch nicht gesprochen.«
»Oh, mein Gott.« Haley nahm den Pappbecher wieder auf.
»Sie ist ganz offensichtlich traumatisiert und zutiefst verängstigt. Ich hoffe, dass Sie sie dazu bewegen können, Ihnen zu erzählen, was gestern Morgen passiert ist.«
»Natürlich, ich werde tun, was ich kann.« Haley trank einen Schluck Wasser, dann sah sie Owen mit gequältem Blick an. »Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Ins Haus meiner Schwester kann ich wahrscheinlich noch nicht, oder?«
»Es wird wohl erst in ein, zwei Tagen freigegeben«, antwortete er. »Am besten stellen Sie sich darauf ein, vorübergehend bei Freunden oder in einem Motel zu übernachten. Wofür auch immer Sie sich entscheiden, ich muss wissen, wo Sie sich aufhalten.«
Er zögerte kurz, unsicher, wie viel Offenheit Haley bei diesem ersten Gespräch verkraften konnte. »Wenn wir das Haus freigegeben haben, möchten Sie vielleicht jemanden damit beauftragen, sich um alles zu kümmern.«
»Um was denn zu kümmern?«
»Da war eine Menge Blut. Ich kann Ihnen eine Firma nennen, die diese Art Aufträge übernimmt.«
Haley nickte kurz. »Wann kann ich Molly sehen?«
»Jetzt gleich.« Er rutschte mit dem Stuhl zurück und stand auf. »Ich habe mit den Pflegeeltern vereinbart, dass wir zu ihnen kommen, sobald Sie in Pleasant Hill sind. Ich fahre Sie hin.«
Als sie die Dienststelle verließen und in die Nachmittagssonne hinaustraten, dachte Owen daran, dass er Haley Lambert zwei Informationen vorenthalten hatte.
Erstens handelte es sich bei dem Mord an ihrer Schwester um einen der schlimmsten, in denen er je ermittelt hatte. Zweitens war nicht nur »mehrere« Male, sondern siebenundzwanzigmal auf Monica Ridge eingestochen worden.
Irgendjemand hatte ganz sichergehen wollen.
3
Pleasant Hill, Missouri, war einst eine kleine bäuerliche Gemeinde dreißig Meilen nördlich von Kansas City gewesen. In den letzten zwanzig Jahren hatte Kansas City jedoch seine Grenzen ausgeweitet und klopfte nun an die Tür von Pleasant Hill. Mit dem Ergebnis, dass das Städtchen sich inzwischen als Vorort von Kansas City fühlte und nicht mehr als eigenständiges Gebilde.
Ackerland war verkauft und zu Bauland für luxuriöse Wohnungen und Eigentumsblocks gemacht worden. In dem Maße wie die kleine Stadt wuchs, etablierten sich Banken, Drive-in-Lokale und Restaurants.
Haley starrte aus dem Seitenfenster, während Detective Tolliver sie zu der Pflegefamilie fuhr, bei der man Molly untergebracht hatte.
Mit fünfzehn Jahren hatte Haley den unbändigen Drang verspürt, dieser Kleinstadt zu entfl iehen, diesen engstirnigen Provinzbewohnern, und das wirkliche Leben kennenzulernen.
Sie hatte sich die Haare pink färben und Gitarre spielen wollen. Sie hatte sich von niemandem mehr etwas vorschreiben lassen wollen, und ihr war egal gewesen, was andere von ihr dachten. Wie jung sie damals gewesen war. Im Grunde hätte sie diejenige sein müssen, die umgebracht wurde. Sie hatte sich einer Menge Gefahren aus gesetzt und war ohne Netz und doppelten Boden durchs Leben geschwebt.
Monica hingegen hatte immer alles richtig gemacht. Sie hatte studiert, ihren Abschluss gemacht, einen wunderbaren Mann kennengelernt und geheiratet. Monica hatte sich an die Regeln gehalten.
Haley spürte, dass der Detective sie ansah. Sie drehte den Kopf zur Seite und begegnete Tollivers Blick. »Sie hat immer die Haustür abgeschlossen. Sie ist bei Dunkelheit nie allein unterwegs gewesen. Sie hat nie fremde Männer mit nach Hause genommen. Sie hatte nicht einmal Dates.«
Plötzlich schien es von großer Wichtigkeit zu sein, dass er all diese Dinge erfuhr, dass er verstand, welche Art Frau ihre Schwester gewesen war. »Sie war eine hingebungsvolle Mutter. Mit ihrem Abschluss in Wirtschaft hätte sie jeden Job haben können. Stattdessen arbeitete sie halbtags im Verkauf, damit sie sich nachmittags um Molly kümmern konnte.«
»Was ist mit Mollys Vater?«, erkundigte sich Tolliver, während er in eine von Bäumen gesäumte Straße einbog.
»Er ist tot. Auf dem Weg vom Büro nach Hause mit dem Auto verunglückt. Da war Molly gerade ein Jahr alt.« Haley seufzte. »Ich würde sagen, als Verdächtiger scheidet er damit wohl aus.«
»Wie sicher sind Sie, dass Ihre Schwester keine Dates hatte?«
Haley runzelte nachdenklich die Stirn. »Ziemlich sicher. Monica hat immer gesagt, dafür ist noch genügend Zeit, wenn Molly größer ist. Sie wollte die Kleine nicht verwirren, indem sie sie mit Männern bekannt machte, die vielleicht nie eine besondere Rolle in ihrem Leben spielen würden.«
»Ganz sicher sind Sie aber nicht?« Der Detective fuhr an den Straßenrand und parkte vor einem gepfl egten beige farbenen Bungalow mit tannengrünen Fensterläden. Er machte den Motor aus und blickte Haley an.
»Ich weiß nur, dass sie es mir gegenüber nie erwähnt hat.« Sie starrte auf das Haus, und die Angst, die sie eine Weile erfolgreich unterdrückt hatte, brach sich wieder Bahn. Haley drehte sich zu Tolliver um. »Wir haben mindestens zwei-, dreimal die Woche telefoniert. Wir haben uns gegenseitig über alles Wichtige auf dem Laufenden gehalten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mir einen Mann in ihrem Leben verheimlicht hätte.«
Haley wandte sich wieder dem Haus zu. Da drin war Molly, bei völlig fremden Menschen. Molly, die unter dem Bett gelegen hatte, als man Monica fand. O Gott, was hatte sie gesehen? Was hatte sie gehört? Ob sie überhaupt begriffen hatte, dass ihre Mommy tot war? Oder erwartete sie womöglich, dass Monica hier auftauchte und sie nach Hause holte? Erwartete sie, dass in ihrem Leben alles wieder so wurde wie vorher?
»Das Ehepaar Roberts ist sehr erfahren. Sie haben im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von Kindern in Pfl ege genommen.«
Haley sah ihm in die Augen. »Haben Sie Kinder, Detective? «
»Zwei Jungs, beide schon erwachsen.« In seinem Blick lag eine Wärme, die Haley beinahe aus der Fassung brachte. »Ich weiß, wie schwer das für Sie ist, Haley, aber wir müssen herausfinden, was Molly gesehen hat. Jede noch so kleine Kleinigkeit, die sie uns erzählt, kann die Ermittlungen voranbringen. Den Roberts zufolge hat sie kein Wort gesprochen, seit die Sozialarbeiterin sie hier abgeliefert hat. Molly ist furchtbar verängstigt und braucht Sie. Genau wie wir Sie brauchen. Sie müssen das kleine Mädchen zum Sprechen bringen.«
Haley wollte nicht, dass Tolliver auf sie angewiesen war. Niemand sollte auf sie angewiesen sein. Sie kniff die Augen fest zusammen und versuchte, die Tränen zurückzuhalten.
»Brechen Sie mir jetzt nicht zusammen, Haley«, sagte Tolliver sanft. »Das kleine Mädchen da drinnen ist auf Sie angewiesen.«
Er hatte recht. Die Trauer musste warten. Haley musste stark sein. Für Monica. Und für Molly. »Okay, gehen wir«, sagte sie und stieg aus dem Wagen.
Selma Roberts, eine Frau, die Haley auf Ende fünfzig, Anfang sechzig schätzte, öffnete ihnen. Sie hatte kurzes graues Haar, freundliche braune Augen und ein Lächeln, bei dem es Haley sofort ein wenig leichter ums Herz wurde.
Im Haus roch es angenehm nach Zimt und Möbelpolitur mit Zitronenduft. Selma führte den Detective und Haley ins Wohnzimmer. Sofa und Sessel sahen abgenutzt, aber bequem aus, und in den Regalen stapelten sich Kinderbücher, Puzzles und Spiele.
An den Wänden hingen Fotos von Jungen und Mädchen jeden Alters. »Das sind unsere Kinder«, sagte Selma zu Haley. »Insgesamt vierunddreißig in den letzten zwanzig Jahren. Wenn sie zu uns kamen, waren sie allesamt verängstigt und einsam, doch die meisten haben sich schon nach wenigen Stunden so wohl gefühlt, dass sie wieder lachen konnten. Ihre kleine Molly gehört leider nicht dazu.«
»Hat sie immer noch nicht gesprochen?«, fragte Tolliver.
Selma schüttelte den Kopf. »Nicht ein Wort. Aber ihr Schweigen hat keine körperlichen Ursachen. Ich weiß, dass sie sprechen könnte, wenn sie wollte.«
»Wie kommen Sie darauf?«, erkundigte sich Haley neugierig.
»Wahrscheinlich hatte sie einen Alptraum, jedenfalls hat sie mitten in der Nacht geschrien.« Selma bemühte sich um ein Lächeln. »Die arme Kleine. Bestimmt fühlt sie sich gleich viel besser, wenn sie Sie sieht. Am besten hole ich sie jetzt mal. In der Küche gibt's übrigens Kaffee und frisch gebackenen Zimtkuchen, Detective.«
»Klingt gut.« Und an Haley gewandt sagte Tolliver: »Wenn Sie mich brauchen, ich bin in der Küche.« Damit verließ er den Raum.
Selma verschwand in den Flur, und Haley blieb allein im Wohnzimmer zurück. Sie trat näher an die Fotos heran. So viele Kinder, manche schwarz, andere kaffeebraun, wieder andere hellhäutig und blond, aber eines hatten sie alle gemeinsam: Sie hatten ein strahlendes Lächeln im Gesicht.
Haley zog nervös an einer Haarsträhne. Molly würde nicht lächeln. Ob sie sich überhaupt an ihre Tante erinnerte? Es war mehr als zwei Jahre her, dass Haley zu einem kurzen Weihnachtsbesuch in Pleasant Hill gewesen war.
Monica und sie hatten damals fast die ganze Zeit gestritten. Monica wollte, dass Haley ihren Job in Las Vegas aufgab und wieder nach Pleasant Hill zog. »Außer dir habe ich doch keine Verwandten«, hatte sie gesagt. »Ich möchte so gerne, dass du in unserer Nähe wohnst.«
Wenn Haley dem Wunsch ihrer Schwester damals doch nur nachgekommen wäre. Dann hätten sie die letzten zwei Jahre damit zugebracht, miteinander zu streiten und sich wieder zu versöhnen, ihre Kleider zu tauschen und am Leben der anderen teilzuhaben.
»Hier ist Ihre Kleine«, sagte Selma.
Haley drehte sich um und sah ihre Nichte stocksteif in der Tür stehen. Tausend Eindrücke stürmten auf Haley ein. Vor zwei Jahren war Molly ein pummeliger, pausbäckiger kleiner Fratz gewesen, der ununterbrochen kicherte.
Nun stand da ein viel erwachsener wirkendes, schlankes Mädchen und starrte auf den Boden. Das lange hellblonde Haar war zu einem ordentlichen Zopf gefl ochten, an dem sie spielte. Sie trug Jeans und ein pinkfarbenes T-Shirt mit der Aufschrift »Princess Lollipop«. Haley hatte es ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt.
»Ich lasse euch zwei jetzt mal allein, damit ihr euch ein bisschen unterhalten könnt«, sagte Selma. Als die mollige Frau in die Küche ging, hätte Haley sie am liebsten zurückgehalten.
Es war lächerlich, Angst zu haben. Verdammt, bei der Arbeit in der Bar hatte sie öfters mit Betrunkenen zu tun gehabt, die zudringlich wurden. Einmal hatte sie sich einem Freund entgegengestellt, der vor Eifersucht total ausgeflippt war und dachte, sie würde sich das einfach so bieten lassen. Da konnte sie es doch wohl noch mit einer verängstigten Achtjährigen aufnehmen.
»Molly?« Sie ging zu dem kleinen Mädchen hinüber und hockte sich vor sie. »Molly, meine Süße. Erinnerst du dich noch an mich, Tante Haley? Alles wird gut. Bald wird alles wieder gut.«
Molly ließ den Zopf los, hob langsam den Blick und schaute Haley an. In den Tiefen ihrer dunkelgrünen, langwimprigen Augen sah Haley Seelenqualen, die etwas in ihr zerbrechen ließen.
Sie schloss Molly in die Arme und gab endlich ihrer Trauer nach. Mit einem tiefen, verzweifelten Schluchzer drückte sie das Kind an sich. Was sollten sie ohne Monica tun? O Gott, was sollten sie nur tun?
Haley erlaubte sich nur diesen einen Schluchzer. Den Rest schluckte sie hinunter, weil sie stark sein wollte für Molly, die wie ein verängstigtes Vögelchen in ihren Armen zitterte und still weinte.
Haley hielt das kleine Mädchen eine ganze Weile umfangen, dann löste sie die Umarmung und stand auf. Sie nahm Molly bei der Hand, ging zum Sofa hinüber und setzte sich neben das Kind.
Molly umklammerte Haleys Hand, als könnte sie sich daran wie an einer Rettungsleine aus dem Alptraum befreien, in dem sie gefangen war. Haley hätte ihr am liebsten gesagt, dass sie sich nicht zu fest halten sollte, nicht zu abhängig von ihr werden.
Ein paar Minuten lang sagte Haley nichts. Sie saß einfach nur neben ihrer Nichte, die nach Zahnpasta mit Kaugummigeschmack duftete und sie erwartungsvoll anblickte.
»Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte Haley. »Erinnerst du dich noch an mich?« Molly nickte. »Glaub mir, alles wird gut.« Haley zwang sich, optimistisch zu klingen. »Bald wird alles wieder gut.«
Molly starrte Haley an wie ein Wesen von einem fremden Stern. Haley beschloss, nicht lange um den heißen Brei herumzureden. Sie wollte das Hässliche so schnell wie möglich hinter sich bringen, zumal Detective Tolliver in der Küche wartete.
»Molly, Schätzchen, kannst du mir erzählen, was passiert ist? Kannst du mir sagen, wer deiner Mommy weh getan hat?«
Molly drückte Haleys Hand und schüttelte lebhaft den Kopf, die Augen schreckgeweitet. »Okay, okay, du musst jetzt nicht drüber reden«, sagte Haley schnell. Auch wenn Detective Tolliver dringend wissen musste, welch grauenhafte Bilder womöglich in Mollys Kopf eingeschlossen waren, würde sie das kleine Mädchen nicht unter Druck setzen. Vielleicht konnte sie Molly ja dazu bringen, dass sie über etwas anderes sprach.
»Ich weiß, das ist alles sehr beunruhigend. Behandeln sie dich hier gut?« Molly zögerte einen Moment und nickte dann. Haley fuhr fort. »Du musst noch ein paar Tage hierbleiben, bis ich mich um alles gekümmert habe, okay?«
Molly blickte Haley mit gerunzelter Stirn forschend an. Offenbar versuchte sie einzuschätzen, ob sie Haley vertrauen konnte. Dann nickte sie widerstrebend.
»Brauchst du irgendwas?« Haley wünschte, Molly würde wenigstens ein einziges Wort sagen. Nicht zu reden war unnatürlich für ein Kind. Insgeheim hoffte sie, Molly damit einen Schrei nach ihrer Mutter entlocken zu können, aber das kleine Mädchen schüttelte nur mit Tränen in den Augen den Kopf.
Haley schloss ihre Nichte erneut in die Arme und drückte sie an sich. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nichts richtig gemacht, doch als sie das Kind ihrer Schwester im Arm hielt, schwor sie sich, alles zu versuchen, um das Richtige für Molly zu tun.
Es war nach fünf, als Haley und Tolliver das Haus der Roberts' verließen und zur Dienststelle zurückfuhren. »Egal, was ich gesagt habe, sie hat keinen Ton von sich gegeben.« Haley runzelte erschöpft die Stirn.
»Bitte anschnallen«, sagte Tolliver und fuhr langsamer, bis Haley den Gurt angelegt hatte. »Wir müssen ihr vielleicht nur ein bisschen Zeit lassen«, sagte er, obwohl ihm die Idee augenscheinlich nicht behagte. Haley wusste, wenn Molly über Informationen verfügte, die den Detective auf die Spur des Mörders führen konnten, wollte er sie so schnell wie möglich haben.
Und sie selbst wollte auch, dass es mit den Ermittlungen voranging. Sie wollte die Bestie, die Monica getötet hatte, hinter Gittern sehen.
»Was werden Sie als Nächstes tun?«
»Wir machen mit der Befragung von Nachbarn und Freunden weiter und versuchen, so viel wie möglich über Ihre Schwester und deren Gewohnheiten in Erfahrung zu bringen. Wir haben ein Adressbuch im Haus gefunden und überprüfen die Namen und Telefonnummern. Wir hoffen, dass irgendjemand etwas weiß, irgendjemand etwas gehört oder gesehen hat, das uns weiterhelfen könnte.«
Er presste die Lippen zusammen, als fürchte er, zu viel gesagt zu haben. Dabei hatte er lediglich zugegeben, dass sie im Dunkeln tappten.
»Was ist mit Spuren vom Tatort? Haare, Fasern, das ganze Zeug, das man immer im Fernsehen sieht?«
Er verzog das Gesicht. »Im echten Leben funktioniert das meistens nicht so reibungslos wie im Fernsehen.« Er seufzte. »Wer auch immer Ihre Schwester getötet hat, war weitsichtig genug, alle Spuren zu beseitigen. Wir haben keinerlei Fingerabdrücke oder Fußspuren gefunden, keine Haare, die nicht Ihrer Schwester oder Ihrer Nichte zuzuordnen sind. Natürlich sind die Laboruntersuchungen noch nicht abgeschlossen. Es dauert eine Weile, bis die Ergebnisse da sind.«
Er bog auf den Parkplatz des Polizeireviers, schaltete den Motor aus und blickte Haley an. »Was haben Sie jetzt vor? Ich brauche Ihnen sicher nicht zu sagen, dass wir es vorziehen würden, wenn Sie und Ihre Nichte in der Stadt bleiben, bis die Kleine mit uns gesprochen hat.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Gestern habe ich noch in einem möblierten Dreckloch in Las Vegas gewohnt und als Barkeeperin in einer Lounge gearbeitet. Heute bin ich arbeits- und heimatlos und der gesetzliche Vormund eines achtjährigen Mädchens, das kein Wort spricht und vielleicht gesehen hat, wie seine Mutter ermordet wurde. «
Haley hörte die wachsende Hysterie in ihrer Stimme, war aber unfähig, sie zu kontrollieren. »Ich hatte noch nie eine langjährige Beziehung. Verdammt, noch nicht mal ein Haustier. Und jetzt soll ich mich um ein zerbrechliches kleines Mädchen kümmern, das von mir erwartet, dass ich ihr Leben wieder in Ordnung bringe.«
Sie öffnete die Autotür, versuchte auszusteigen und strangulierte sich dabei fast mit dem Sicherheitsgurt. Sie fingerte an dem Verschluss herum und sah Tolliver beinahe vorwurfsvoll an. »Ich vergesse sogar, mich abzuschnallen. Wie soll ich das alles nur schaffen?«
Als es ihr endlich gelungen war, aus dem Auto auszusteigen, stand Tolliver vor ihr. Sie blickte zu ihm auf, und ein irrationaler Zorn stieg in ihr hoch. »Finden Sie den, der das getan hat! Finden Sie den, der meine Schwester umgebracht hat!« Sie stach ihm mit dem Finger in die Brust.
Tollivers Gesichtszüge wurden weich, als die Trauer, die Haley mühsam zurückgehalten hatte, sie plötzlich voll ergriff. Hätte er sie nicht an den Schultern gepackt, sie wäre gestürzt. Sie sank nach vorn, lehnte sich an seine breite Brust und schluchzte haltlos.
Er sagte kein Wort, versuchte nicht, sich zu befreien oder sie zu beruhigen, sondern strich ihr mit der Hand über den Rücken, so wie Eltern ihr weinendes Kind trösten.
Haley konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal geweint hatte. Vielleicht damals, als sie mit vierzehn Jahren einen streunenden Hund gefunden hatte, einen kleinen Pudelmischling, dessen Fell ganz verfilzt und voller Dornen gewesen war. Er war ihr so freudig auf den Arm gesprungen, als wäre sie seine Rettung.
Haley hatte den Hund mit nach Hause genommen und ihre Mutter angefleht, ihn behalten zu dürfen. »Kommt gar nicht in Frage«, hatte Ann Lambert gesagt. »Ich kriege dich ja noch nicht mal dazu, dein Zimmer aufzuräumen. Du bist nicht verantwortungsbewusst genug, um für ein Tier zu sorgen.« Dann hatte ihre Mutter das Tierheim angerufen.
Als der Mann vom Tierheim Haley den Hund aus den Armen genommen hatte, hatte das kleine Wesen sie zärtlich angeschaut und sie am Kinn geleckt.
Damals hatte Haley zwei Tage lang geweint.
Diesmal weinte sie nicht so lange. Nach ein paar Minuten hatte sie sich einigermaßen gefasst und trat einen Schritt zurück.
»Tut mir leid.« Sie wischte sich die Tränen weg, beschämt, weil sie die Kontrolle verloren hatte.
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, entgegnete Tolliver. »Das ist doch nur natürlich.«
Einen Augenblick lang standen sie sich gegenüber und schwiegen betreten. »Ich werde alles tun, um den Täter zu finden«, sagte er schließlich. »Der Fall hat im Moment bei uns oberste Priorität.«
Im Moment.
Haley nickte, auch wenn ihr klar war, dass es nur einen weiteren Mord, ein weiteres Opfer brauchte, um Monica auf der Prioritätenliste nach unten rutschen zu lassen.
Aus dem Fernsehen und aus Kriminalromanen wusste sie, dass die ersten achtundvierzig Stunden entscheidend für die Aufklärung eines Verbrechens waren. Mehr als die Hälfte dieser Zeit war schon vorbei, und sie hatten nichts.
»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte Detective Tolliver. »Wo kann ich Sie erreichen?«
»Gibt's noch das Lazy Ray's am Highway 169?«, fragte Haley. Er nickte. »Dann finden Sie mich dort. Und im Moment habe ich nichts anderes vor, als die nächste Bar aufzusuchen und mich sinnlos zu betrinken.«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Carla Cassidy
Carla Cassidy hat mehr als 70 Bestsellerromane veröffentlicht, viele davon preisgekrönt. Sie lebt mit ihrem Mann in Kansas City, Missouri.
Bibliographische Angaben
- Autor: Carla Cassidy
- 2014, 1, 352 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863653947
- ISBN-13: 9783863653941
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