Ich versprach dir die Liebe
Mitreißend, gefühlvoll und hochdramatisch. Taschentücher bereithalten!
Nach einem tragischen Unfall liegt Elle im Koma, ohne Hoffnung auf Heilung. Schon immer hat sie sich gegen lebensverlängernde Maßnahmen ausgesprochen....
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Mitreißend, gefühlvoll und hochdramatisch. Taschentücher bereithalten!
Nach einem tragischen Unfall liegt Elle im Koma, ohne Hoffnung auf Heilung. Schon immer hat sie sich gegen lebensverlängernde Maßnahmen ausgesprochen. Doch dann erfährt ihr Ehemann Matt: Seine Frau ist schwanger - und er weigert sich, die Maschinen abstellen zu lassen. Doch nicht alle in seiner Familie sind auf seiner Seite.
Wie weit darf und kann Liebe gehen? Was bedeutet es, über Leben und Tod eines geliebten Menschen, der keine Stimme mehr hat, entscheiden zu müssen? Und wie würden Sie entscheiden?
Diese tiefgreifenden Themen behandelt der Debütroman von Priscille Sibley. Gleichzeitig erzählt er eine unglaublich anrührende Liebensgeschichte.
Was bedeutet es, über Leben und Tod eines geliebten Menschen, der keine Stimme mehr hat, entscheiden zu müssen? Davon handelt dieser weise Roman und erzählt zugleich eine unglaublich anrührende Liebesgeschichte.
"Ab und zu liest man ein Buch, das einen daran erinnert, warum man das Lesen liebt. Dies ist ein solches Buch." The Houston Books Examiner
1
Notaufnahme
An jenem Abend, unserem letzten gemeinsamen Abend, verfolgten wir bis spät in die Nacht gebannt die Sternschnuppen des Perseidenstroms, die lange Lichtspuren aus Sternenstaub in den Himmel zauberten. Elle und ich liebten diese Tage im August, denn für uns war es eine Art Jahrestag. Schließlich schliefen wir auf der Dachterrasse ein. Meine wundervolle Frau kuschelte sich an mich und legte ihren Kopf in meine Armbeuge.
Wäre ich doch nur am nächsten Morgen zu Hause geblieben! Hätte ich sie doch nur angesehen und mich daran erinnert, dass es nichts Wichtigeres im Leben gab, als sie zu schützen! Hätte ich doch nur ...
Schon oft habe ich miterleben müssen, wie die Familien meiner Patienten diesen Seufzer ausstoßen. Seit elf Jahren praktiziere ich als Arzt und bin allen Arten von Verweigerungshaltung und sinnlosem Feilschen häufig begegnet. Aber die Realität ist nun einmal hart und allzu oft nicht mehr rückgängig zu machen. Ich blieb nicht zu Hause, und auch Elle tat es nicht.
Ich saß in meinem Büro, studierte die MRT-Aufnahme von etwas, das ich für ein Glioblastom hielt, und überlegte, wie viel Zeit meinem Patienten noch bleiben würde, wenn ich den bösartigen Tumor entfernte, als die Arzthelferin am Empfang mich anklingelte.
»Das Krankenhaus auf Leitung drei. Es scheint dringend zu sein.«
»Danke, Tanya.« Ich nahm den Anruf entgegen, ohne den Blick von den verdächtigen Stellen am Schläfenlappen zu wenden. »Hier spricht Dr. Beaulieu«, meldete ich mich.
»Hallo Matt. Carl Archer am Apparat.« Der diensthabende Arzt aus der Notaufnahme räusperte sich. »Kannst du bitte schnell kommen?«
»Ruf Phil an. Er ist für das Krankenhaus zuständig.«
»Phil ist schon da. Aber wir brauchen dich. Es geht um deine Frau.« Carls Stimme klang brüchig. »Sie hatte einen Unfall.«
Die Art, wie er es sagte, machte mir deutlicher als alle Worte, wie ernst es um Elle stand. Alle weiteren Fragen blieben mir im Hals stecken. Wenn Phil bereits bei ihr war, waren Elles Verletzungen womöglich neurologischer Art? Oder hatte sich mein Kollege nur zufällig in der Notaufnahme aufgehalten? Vielleicht stand er jetzt gerade neben ihr und erzählte ihr ein paar Witze, um sie von einer kleineren Unannehmlichkeit abzulenken. Bitte, dachte ich nur. Lass sie nicht tot sein!
»Ist Elle okay?«, fragte ich.
Carl räusperte sich erneut. »Es ist ernst. Komm bitte schnell. Wir sehen uns.« Dann hörte ich nur noch das Freizeichen.
Ich sprang vom Stuhl auf und sprintete durch das Wartezimmer, vorbei an einer Frau, die neben ihrem an den Rollstuhl gefesselten Sohn stand, und rief der Helferin am Empfang nur kurz zu, wo ich hinging. Die vier Blocks zum Krankenhaus rannte ich. Schweißgebadet erreichte ich die Notaufnahme, stieß die doppelten Türen auf und lief direkt ins Traumazentrum. Mein Partner Phil Grey stand neben einem roten Notfallwagen mit geöffneten Schubfächern. Er trug sterile Handschuhe, einen Kittel und eine OP-Maske. Neben der Liege sah ich einen Infusionsständer, an dem mindestens ein Dutzend Beutel und Pumpen für intravenöse Versorgung hingen. In den Armen und Beinen der Patientin steckten allerlei Schläuche. Das konnte doch nicht Elle sein! Bitte nicht Elle! Ein Atemgerät presste in regelmäßigen Abständen zischend Sauerstoff in einen Schlauch, der aus ihrem Körper ragte. Die Krankenschwester trat beiseite. Ich sah Elles Gesicht. Es war so weiß wie das Bettzeug. Blutkrusten verklebten ihr blondes Haar. Ihr Körper wirkte steif, Kopf und Hals waren nach hinten gekrümmt, die Zehen ausgestreckt und ihre Hände seltsam verdreht. Diese verkrampfte Stellung kannte ich nur zu gut - sie weist auf eine schwere Hirnschädigung hin. Ich fiel auf die Knie. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr genau. Möglicherweise half mir jemand auf die Füße. Vielleicht bin ich auch von selbst wieder aufgestanden. Phil sagte etwas über Elle, dass sie von einer Leiter gefallen und sehr schwer verletzt sei. Carl druckste herum und sprach von Herzstillstand und einem einzigen kümmerlichen Punkt auf der Glasgow-Koma-Skala. Er sagte etwas darüber, dass sie nur vier oder fünf Minuten weg gewesen sei, etwas über ihre starren und geweiteten Pupillen, etwas über Hirnmonitoring und etwas über Operation.
Ich berührte Elles kalte, verdrehte Hand. Die Anwesenden sahen mich mitleidig an. Es waren dieselben Leute, mit denen ich auch sonst immer arbeitete. Leute, die mich jetzt einen feuchten Kehricht interessierten. Ich zog meine Diagnostik- leuchte aus der Tasche und untersuchte Elles Pupillen. Komm schon, Elle, dachte ich. Schenk mir eine kleine Reaktion. Zeig mir, dass ich mich geirrt habe. Zeig es denen da!
Ich ließ den Lichtstrahl über die eigentlich grünen Augen meiner Frau streifen, die jetzt nur noch aus unnatürlich erweiterten Pupillen bestanden und fast schwarz wirkten.
Bei der Überprüfung ihrer Reflexe fand ich jedoch nur weitere Beweise, dass Elles Gehirn bei dem Unfall schwer geschädigt worden sein musste.
Phil blickte mich an. In seinen Augen glänzte es verräterisch.
»Hier sind die Aufzeichnungen des Hirndruckmonitorings. Wie du siehst, ist der interkranielle Druck extrem hoch. Wir geben ihr Steroide und Mannitol. Ich möchte so schnell wie möglich operieren. D'Amato macht sich schon fertig. Unten ist alles für sie bereit.«
Einen Sekundenbruchteil dachte ich, dass ich am liebsten selbst operieren würde, doch dann meldete sich meine Vernunft. Unmöglich! Nie im Leben könnte ich Elles Hirn mit einem Skalpell zerlegen oder auch nur jemandem dabei zusehen.
Phil reichte mir den Scan, der zeigte, wie die Blutung ihr Hirngewebe zusammenpresste. Ich musste mich an die Wand lehnen. Das konnte doch alles nicht wahr sein!
Es war noch keine zwölf Stunden her, dass Elle und ich uns auf der Dachterrasse geliebt hatten. Bestimmt schlief ich noch und hatte einen schrecklichen Albtraum, in dem Elle sich über das altersschwache Geländer lehnte. Wach auf, sagte ich mir. Du musst aufwachen! Ich blickte mich um und nahm die Einzelheiten der Notaufnahme, Phils konzentrierten Gesichtsausdruck vor der OP und die geschmierten Achsen der Räder an der fahrbaren Trage wahr. Trotzdem versuchte ich weiter, die Wirklichkeit zu verleugnen. Das hier war nichts als ein lebhafter Albtraum! Doch es nützte nichts. Ich stand im Traumazentrum. Eine Schwester kontrollierte einen von Elles Schläuchen. Sie blickte auf. Erst jetzt erkannte ich sie.
Oh ja, das hier war die schreckliche Wirklichkeit. Und meine Frau, das Mädchen, in das ich seit meinem siebzehnten Lebensjahr verliebt war und das ich schon viel früher als meine treueste Freundin verehrt hatte, war gestürzt und hatte sich den Schädel massiv aufgeschlagen. Auch der beste mir bekannte Neurochirurg, mein Freund und Partner Phil, würde diesen Schaden niemals beheben können.
Plötzlich fiel mir Elles Angst vor einem langen, langsamen Tod ein, wie ihre Mutter ihn hatte erleiden müssen. Phil hielt mir eine Zustimmungserklärung hin. »Du musst das hier unterschreiben, ehe ich sie operiere. Dir brauche ich das ja nicht zu erklären.«
»Wir sollten sie in Frieden gehen lassen«, stieß ich hervor, drehte mich um und schaffte es gerade noch zur Toilette, wo ich mein Mittagessen wieder herauswürgte. Mir war, als gäbe ich alles von mir, was ich je gegessen hatte. Da gibt es kein Vertun: Man kann sein Innerstes nach außen kehren.
Phil kam mir nach und sah, wie ich mich übergab. »Matt, ich muss sie nach unten bringen, und zwar jetzt sofort. Wir haben keine Zeit für Mätzchen. Ich weiß, es ist schrecklich, und dir dürfte ebenso klar sein wie mir, dass sie es vermutlich nicht übersteht. Trotzdem würdest du dich dein Leben lang dafür hassen, wenn du es nicht wenigstens versucht hättest.« Und wieder hielt er mir das Formular unter die Nase.
An unserem Hochzeitstag hatte ich Elle versprochen, sie zu lieben, zu achten und zu ehren. Jetzt war es so weit: Ich musste ihre Wünsche respektieren. Sie würde sicher keine Operation wollen. Ich kannte die Chancen, und ich wusste um die Konsequenzen.
Trotzdem griff ich nach dem Formular und unterschrieb.
Phil verschwand und überließ mich meinen Ängsten. Verzweifelt bereute ich jeden noch so geringfügigen Verrat, den ich je an Elle begangen hatte. Es war selbstsüchtig, sie am Leben zu erhalten. Ich wusste, dass sie leiden würde, und ich wusste, dass sich ihr Gehirn niemals wirklich von den schweren neurologischen Schäden erholen würde. Als Neurochirurg kannte ich die Prognose. Es war mir unmöglich, mich in blinder Hoffnung zu wiegen. Nichts und niemand konnte Elle retten. Aber ich brauchte sie! Und ich brauchte Phil, um es wenigstens zu versuchen. Auch wenn es unmöglich war.
Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht und kehrte ins Traumazentrum zurück. Die Schwester legte gerade das mobile Beatmungsgerät an, mit dem Elle in den OP transportiert werden konnte. »Dürfte ich eine Minute mit ihr allein sein?«, bat ich sie.
Die Schwester schlängelte sich zwischen den Apparaturen hindurch und berührte mitleidig meinen Ellbogen. »Sie muss jetzt schnell in den OP.«
Ich legte meine Hand auf die von Elle. Die blöde Braunüle war im Weg. Ich beugte mich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Auf den Mund konnte ich sie nicht küssen, weil ein dicker Schlauch wie ein Elefantenrüssel in ihrem Rachen steckte. »Ich liebe dich, Peep. Ich habe dich immer geliebt. Versteh mich doch: Ohne dich kann ich in dieser Welt nicht leben. Komm zurück. Bitte, komm zurück zu mir.«
Krankenpfleger, ein Beatmungsspezialist und zwei Schwestern betraten den Raum, lösten die Bremse der Trage und rollten Elle samt ihren Apparaten aus dem Zimmer.
Am Fahrstuhl musste ich zurückbleiben. Nervös lief ich im Kreis. Immer wieder. Irgendwie musste ich es unserer Familie beibringen, Elles Vater und meiner Mutter, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Ich holte das Handy aus der Tasche und starrte auf das Display. Elle hatte angerufen und mir eine Nachricht hinterlassen. Ich rief die Mailbox ab.
»Hey du, ich bin's.« Sie seufzte leise. »Können wir heute Abend vielleicht etwas unternehmen? Zum Beispiel einen Strandspaziergang? Unser Streit gestern tut mir schrecklich leid, auch wenn wir uns danach wieder vertragen haben. Für heute Abend wünsche ich mir viel Ruhe. Reden, Händchenhalten und ... Ich liebe dich doch so sehr!« Sie unterbrach sich einen Augenblick. Als sie weitersprach, hörte ich ein Lächeln in ihrer Stimme. »Ruf mich doch zurück, wenn du das hier abhörst. Dann können wir zusammen planen, was wir später tun wollen. Okay? Ich freu mich auf dich. Tschüs!«
Mir blieb fast die Luft weg. Elle! Himmel nochmal! Sie musste einfach wieder gesund werden! Phil würde es schaffen, und der Schaden war vielleicht doch nicht so schlimm, wie es der Scan vermuten ließ. Ich begann, vor mich hinzumurmeln. Elle war einsame Spitze. Wenn sich überhaupt jemand von einem Hirnschaden erholen konnte, dann sie. Ich würde mit ihr arbeiten. Sie war sehr belastbar. Vielleicht hatte ich ja alles nur nicht richtig verstanden. Auf dem Rückweg zum Empfang hörte ich erneut ihre Nachricht ab. Carl starrte mich verblüfft an. Ich wollte mir das Hirnmonitoring noch einmal ganz genau ansehen, auch wenn es verrückt war. Bitte, bitte, lass es nicht so schlimm sein, wie ich glaube.
»Ich habe eben nicht so richtig hingehört, weil ich wohl ziemlich unter Schock stand. Was genau ist überhaupt passiert? «, fragte ich ihn.
Carl rieb sich die Stirn. »Der Notarztwagen wurde zu ihrem Bruder gerufen. Der Bruder sitzt übrigens draußen im Wartezimmer. Elle ist offenbar aus drei Meter Höhe von einer Leiter gefallen und hat sich den Kopf an einem Stein angeschlagen. Dein Schwager kann dir sicher mehr dazu sagen. Auf dem Weg in die Klinik setzte ein langer epileptischer Anfall ein, der sicher zehn Minuten dauerte. Kaum war sie hier, hatte sie einen Atemstillstand. Da wir sie nicht intubieren konnten, versuchten wir es mit dem Ambu-Beutel. Es kam zum Herzstillstand, aber wir holten sie ziemlich schnell zurück.«
»Wie lang war sie schon hier, als ihr mich angerufen habt?«
»Zwanzig Minuten. Wir hatten alle Hände voll damit zu tun, sie wieder zu holen«, antwortete er.
Ich schluckte und bemühte mich, meine Gedanken zu ordnen. Nichts von dem, was er sagte, klang ermutigend.
Das Wunder, auf das ich gehofft hatte, zerstob. »Wo ist der
Scan?«
»Phil hat ihn mitgenommen.«
Klar doch! Was hatte ich denn gedacht? »Ich muss unbedingt mit Elles Bruder sprechen«, murmelte ich.
Auf dem Weg zum Wartezimmer kam mir der Verwaltungschef der Klinik mit ausgestreckter Hand entgegen. »Dr. Beaulieu! Ich habe gerade gehört, dass Ihre Frau auf dem Weg in den OP ist. Hoffentlich geht alles gut.« Er zögerte kurz, ehe er fortfuhr: »Ich weiß nicht, ob Sie schon dazu in der Lage sind, aber die Presse erwartet eine Erklärung.«
»Die Presse?«
»Der Unfall war im Polizeifunk«, bestätigte Carl, der mir gefolgt war. »Und wenn Elle McClure ins Krankenhaus gebracht wird, ist das eine Nachricht. Immerhin ist sie hier in der Gegend ziemlich berühmt. Maine ist ein Dorf. Alle erinnern sich an ihre Zeit bei der NASA.«
Einen Moment lang kapierte ich nicht, was er wollte, bis mir klar wurde, dass Carl vom Spaceshuttle sprach. Elle hatte Astrophysik studiert und lehrte jetzt als Professorin an einem College. Vor vier Jahren war sie als Mitglied eines Astronautenteams der NASA in den Weltraum geflogen, und zwar zu einer Mission, die weltweit Aufsehen erregte.
Carl fingerte an seinem Stethoskop herum und nickte dem Verwaltungsdirektor zu. »Hör zu, wir brauchen ihnen nichts zu sagen. Wir berufen uns einfach auf den Datenschutz. Aber wenn du bereit wärst ...«
»Ich kann jetzt beim besten Willen nicht. Entschuldige mich.« Ich musste mit Elles Bruder reden und drängte mich in den Warteraum, einen sechs mal sechs Meter großen Bereich mit Plastikbänken und einem Flachbildschirm an der Wand. Christopher wandte mir den Rücken zu. Er stand vor einem Automaten und betrachtete dessen Inhalt. Als ich ihm auf die Schulter tippte, fuhr er herum.
»Matt, da bist du ja endlich!« Christophers Blick huschte unstet zwischen der Tür zur Notaufnahme und mir hin und her. »Niemand will mir etwas sagen.«
»Was ist passiert?«
»Wie geht es ihr?«
»Gar nicht gut. Was zum Teufel hatte sie auf der Leiter zu suchen?«
Einen Moment lang blieb sein Mund offen. »Eigentlich wollte sie nur auf einen Sprung vorbeikommen«, sagte er schließlich. »Arianne und ich waren gerade dabei, die Fenster zu putzen. Als die Kleine schrie, ging Arianne hinein, um sie zu füttern. Elle schlug vor, mir zu helfen, und nahm Aris Platz auf der Leiter ein. Ich ging wieder hinein. Wir arbeiteten am gleichen Fenster, du weißt schon, damit es keine Streifen gibt. Und plötzlich wurde Elle ohnmächtig. Aber das wird doch wieder, oder?«
Ohnmächtig? Irgendwo in meinem Hinterkopf meldete sich etwas. Ich bemühte mich um eine feste Stimme und konzentrierte mich verzweifelt auf die Hinweisschilder über der Tür. Als ich an Elles Scan dachte, konnte ich Christopher nicht in die Augen schauen. Für Elle war es vorbei. Angesichts ihres Aussehens und der typisch verkrampften Haltung hatte sie ein irreparables Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Weder ihrem Bruder noch mir konnte ich das Unfassbare ersparen. »Nein, Chris. Das wird vermutlich nicht wieder.« Mir war, als würde es plötzlich eiskalt im Raum. »Wo ist euer Vater?«
»Warte mal«, unterbrach Christopher, »was soll das heißen?«
»Sie hat sehr schwere Kopfverletzungen. Wirklich schwere. Wo ist euer Vater? Weiß er, dass Elle einen Unfall hatte?«
Christopher schüttelte den Kopf. »Aber sie ist doch gar nicht mal so tief gefallen. Okay, sie hat sich den Kopf angeschlagen, aber du bist doch Neurochirurg. Du kriegst sie sicher wieder hin. Hast du sie gesehen? Und mit ihr gesprochen?«
»Sie ist nicht bei Bewusstsein«, sagte ich und bemühte mich um Fassung. »Gesehen habe ich sie. Ich ... hör zu, Phil operiert sie gerade. Ruf deinen Vater an und sag ihm, er soll sofort kommen.« Ich musste kurz blinzeln. »Chris, vermutlich schafft sie es nicht.«
»Was?«
»Es steht sehr schlimm um sie.« Ich drehte mich um und ging.
Möglicherweise war es gemein von mir, ihn mit der Diagnose allein zu lassen, aber ich musste noch jemand anderen benachrichtigen. Meine Mutter. Es würde sie umbringen. Mich vielleicht auch.
Meine Mutter war seit fast vierzig Jahren Säuglingsschwester, aber ich wusste nicht genau, ob sie an diesem Tag arbeitete. Ich nahm den Aufzug zur Entbindungsstation, winkte an der Sicherheitskontrolle kurz mit meinem Ausweis und machte mich auf den Weg zum Schwesternzimmer. Ein paar Leute erkannten mich, lächelten mir zu, und einer sagte: »Hey, Matt. Linney hat Pause, aber sicher sitzt sie im Aufenthaltsraum.«
Ich kehrte um und prallte fast mit einer werdenden Mutter zusammen, die mit ihrer Infusionsflasche am Rollgestell durch den Gang wanderte. Als eine Wehe einsetzte, blieb sie stehen.
Von der Tür zum Aufenthaltsraum der Schwestern schallte mir fröhliches Lachen entgegen. Mom saß mit einer Tasse dieses Zeugs am Tisch, das sie im Krankenhaus Kaffee nennen. Sie sah mich an und wurde sofort ernst. »Wer?«, fragte sie nur.
»Elle. Sie ist gestürzt.« Und ehe ich mich versah, lag ich schluchzend in den starken Armen meiner Mutter. Ich war siebenunddreißig, aber ich benahm mich wie eines der Neugeborenen, die ihre ersten Lebensäußerungen herausjammern. Nur dass es sich hier nicht um den Schrei des Lebens, sondern den des Todes handelte.
2
Operation
Ziellos lief ich in den Fluren des Krankenhauses auf und ab. Ich zählte die Fliesen, bis ich an der Wand ankam und wieder umkehrte.
Meine Mutter versuchte, mit mir Schritt zu halten, und stellte alberne Fragen wie: »Warum ist Elle in Ohnmacht gefallen? War ihr schlecht?«
Mir war völlig egal, warum es passiert war - für mich zählten nur die Folgen dieses Sturzes. »Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sie ohnmächtig wurde. Vermutlich sollte Christopher die Leiter unten festhalten, ist aber zwischendurch schiffen gegangen. «
»Matt, also wirklich!«
»Du weißt doch, wie er ist. Mit seinen achtundzwanzig Jahren bringt er Elle nach wie vor dazu, ihm die Fenster zu putzen. Bloß weil ihm der Arsch auf Grundeis geht, wenn er eine blöde Leiter hinaufklettern soll. Traust du ihm nicht zu, dass er einfach weggeht, obwohl man ihn braucht?«
Mom griff nach meinem Ärmel. »Du bist ziemlich durch den Wind und willst irgendwem die Schuld geben.«
Ich machte mich los und bog in den nächsten Korridor ab. »Das einzige Mal, dass Elle je ohnmächtig wurde, war bei der schweren Blutung, als wir Dylan verloren haben.« Selbst für mich als Arzt war es unfassbar, wie viel Blut eine Frau bei einer Geburt verlieren konnte, wenn etwas schiefging. Und damals ging so gut wie alles schief. »Sie wird nicht ohnmächtig.«
Mom blieb stehen. »Bei ihrem Vater hat sie auch schon einmal das Bewusstsein verloren. Auf der Auffahrt zum Haus.«
Ich wandte mich zu ihr um. »Wann war das?«
»Sie war schwanger. Irgendwann vor den ganzen Fehlgeburten. Ich musste ihr schwören, es dir nicht zu erzählen, damit du dir keine Sorgen machst. Sie ist doch nicht etwa wieder schwanger?«
Ich zögerte einen Augenblick, ehe ich antwortete. »Nein, ist sie nicht.« Als ich meine ziellose Wanderung wieder aufnahm, merkte ich, wie schwer es mir fiel, mich der Situation zu stellen. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich wieder dieses glückliche Herzklopfen gespürt, das mich immer überkam, wenn ich an eine eigene Familie dachte. Aber Elle war nicht schwanger. Nie hätte ich zugelassen, dass sie nach der letzten Erfahrung ihre Gesundheit erneut aufs Spiel setzte. Elle hingegen wollte es gern noch einmal versuchen. Genau darüber hatten wir uns gestritten. Gestern. Gestern erst.
Ich hatte ihren Vorschlag mit einem simplen »Nein« abgetan. Im Neinsagen war ich Meister. Aber immer noch sah ich Elle oben auf der Dachterrasse vor mir. Die Sonne schien und verlieh ihr eine Art Heiligenschein. Ihr Haar wirkte im Gegenlicht so weißblond wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen war. Im Lauf der Zeit waren ihre Haare zu einem warmen Honigton nachgedunkelt, doch ihre Augen zeigten noch das gleiche Grün wie früher, das je nach Laune warm und liebevoll schimmerte oder eiskalt funkelte. Gestern war sie wütend gewesen.
Ich lehnte am Pfosten der Speichertür und beobachtete sie - die Wölbung ihres Spanns, die Linie ihres nackten Oberschenkels, ihre mir zugekehrte Hüfte und ihre schmale Taille. Selbst wenn sie sich ärgerte, war sie schön. Vielleicht sogar noch schöner als sonst. Seit ihrer Jugend hatte sie sich kaum verändert. Immer schon war sie entschlossen und bereit, ihre Überzeugungen zu verteidigen.
»Im Leben geht es darum, Chancen wahrzunehmen. Sonst kannst du dich auch gleich in irgendeinem Keller verkriechen.« Sie seufzte, kam zu mir und berührte mein Gesicht mit den Fingerspitzen. »Tut mir leid. Ich weiß, dass der Verlust unseres Babys dich sehr mitgenommen hat. Mich doch auch. Aber wir sollten es wieder versuchen. Ich bin fünfunddreißig, Matt. Ich habe nicht mehr ewig Zeit. Lass es uns noch ein einziges Mal versuchen.«
Vor weniger als vierundzwanzig Stunden wollte sie mich überreden, eine Chance wahrzunehmen. Jetzt war diese Zeit für immer verloren. Elle war verloren. Und ich war verloren.
Nachdem Elle vom OP auf die Intensivstation verlegt worden war, wusste ich nach einem Blick in Phils Gesicht, was er mir mitzuteilen hatte. »Matt«, sagte er und legte die Fingerspitzen aneinander, als wollte er um Vergebung bitten, »ich konnte nicht mehr viel tun. Sie hatte eine Subarachnoidalblutung und axonale Scherverletzungen.« Er hielt einen Moment inne und holte tief Luft. »Das meiste ist nur noch Matsch. Die Ödeme hätten fast ihren Hirnstamm zum Platzen gebracht. Ich habe einen Teil der Schädeldecke entfernt, die Blutung zum Stillstand gebracht, die Hämatome entfernt, soweit ich an sie herankam, aber alles vom Stirnhirnlappen bis zum Scheitellappen ist hin ...« Er erging sich weiter in Einzelheiten.
Ich gab keine Antwort. Es ging einfach nicht.
»Sobald die Wirkung der Narkose nachlässt, sollten wir die Untersuchungen zur Hirntodfeststellung einleiten«, sagte er schließlich. Er brach kurz ab, ehe er zögernd hinzufügte: »Es ist mir wirklich unangenehm, dich das jetzt zu fragen, aber würdest du ... also, wäre sie bereit, Organe zu spenden?«
Ich nickte. Sie hatte das Formular unterschrieben. Andererseits befürchtete ich, dass Elles Autoimmunprobleme möglicherweise dagegenstehen könnten.
»Darum kümmere ich mich«, entgegnete Phil.
Ich riss mich zusammen und öffnete die Tür des Bereitschaftszimmers. Ich musste Elle noch einmal sehen. Natürlich kannte ich mich mit schweren Hirnschäden aus, trotzdem war meine Frau nicht einfach nur eine Patientin für mich. Ich konnte das alles nicht als klinische Situation abtun. Und auch wenn Phil das desolateste Szenario dargestellt hatte: Es waren nur Worte gewesen. Zum Teufel - wie oft schon hatte ich Familien genau diese Diagnose mitgeteilt? Jedenfalls öfter, als ich mich erinnern konnte.
Innerlich kollabierte ich wie eines der Schwarzen Löcher, die Elle so intensiv studierte. Studiert hatte. Genaugenommen existierte sie bereits nicht mehr, wie Phils OP-Bericht, die Ergebnisse des Hirnmonitorings und die schlaffe Gestalt meiner Frau auf dem Krankenhausbett bewiesen. Von der Tür aus sah ich zu, wie Schwestern Monitore verkabelten, Infusionspumpen programmierten und das Antiseptikum von ihrem rasierten Kopf entfernten.
Ich atmete tief durch und versuchte, mich gegen das Unvermeidliche zu wappnen. Es gibt keinen feststehenden Test, um Hirntod nachzuweisen. Außer dem EEG zählen unter anderem ein mit Dopplersonografie festgestellter Durchblutungsstopp in allen hirnversorgenden Gefäßen, die Lichtstarre beider Pupillen, das Fehlen von Reaktionen auf Schmerzreize und der Ausfall der Spontanatmung. Ich blieb aufrecht stehen. Ein bisschen wacklig auf den Beinen vielleicht, aber ich stand. Und ich brauchte Zeit, ehe ich diesen Vorgang akzeptieren konnte. Elle hatte keine anderen Verletzungen. Warum konnte sie sich nicht einfach einen Arm oder ein Bein brechen? Selbst mit einem Bruch der Hals- oder Lendenwirbelsäule hätte ich mich abfinden können. Warum musste es ausgerechnet ihr Kopf sein, der auf den Stein aufschlug?
Phil legte seine Hand auf meine Schulter. Ich schrak zusammen. »Soll ich es deiner Familie beibringen?«
»Nein, ich gehe gleich zu ihnen.« Gleich. In einer Minute? Einem Jahr? Zumindest jetzt im Moment blieb ihnen noch die Hoffnung. Sobald sie Phils Bericht hörten, wäre alles zu Ende. Ich schlüpfte ins Zimmer und nahm Elles Hand. Sie war kalt. Vor der OP hatte sich niemand die Mühe gemacht, ihren Ehering abzunehmen. Zumindest war dieses Geschenk von mir bei ihr gewesen, als Phil sie operierte.
»Entschuldigen Sie«, sagte eine der Schwestern, »ich muss die Infusion überprüfen.«
Ich zog mich in eine Ecke des Zimmers zurück. Neben dem Waschbecken blieb ich stehen, zog meinen eigenen Ehering vom Finger und las die Gravur. Meine Liebe, mein Leben, Peep. Ich steckte den Ring zurück an seinen Platz und wankte den Flur entlang zum Warteraum der Intensivstation.
Vor dem Eintreten zögerte ich. Da drinnen warteten unsere Familien. Ich korrigiere: unsere Familie. Die Mehrzahl war zur Einzahl geworden, als Elle und ich heirateten. Obwohl es ohnehin nie viel Abgrenzung zwischen den Beaulieus und den McClures gegeben hatte. Elle und ich waren in Nachbarhäusern aufgewachsen, und beide Familien wechselten fröhlich von einer Küche in die andere. Wir fühlten uns in beiden Häusern daheim.
Im Warteraum saßen Elles Vater Hank, ihr Bruder Christopher und dessen Frau Arianne. Außerdem meine Mutter. Und ich musste ihnen jetzt sagen, dass wir Elle verloren hatten. Einer nach dem anderen entdeckte mich, wie ich dort an der Tür stand. Elles Vater hob die Hand vor den Mund. Christopher sprang auf. Meine Mutter ließ den Kopf nach vorn sinken und begann leise zu weinen. Meine Mutter liebte Elle; sie hatte sie immer geliebt.
Ich setzte mich neben Mom und streichelte ihren Rücken. Innerlich lief ich auf Autopilot wie durch einen lichtlosen Tunnel. Ich konnte mir nicht vorstellen, je wieder Licht zu sehen.
Nach und nach tropften die Worte aus mir heraus. Zunächst sehr langsam. Es waren mechanische, oft wiederholte Worte, die ich schon viele Male zu anderen Leuten gesagt hatte. »Sie hat ein irreversibles Schädel-Hirn-Trauma erlitten und wird nie wieder aufwachen. Und sie wollte ihre Organe spenden.« Ich beobachtete ihre Gesichter. »Sobald die Narkose nicht mehr wirkt, werden zwei Ärzte entscheiden, ob die Kriterien für Hirntod gegeben sind. So, wie es jetzt aussieht, ist das der Fall. Wenn ihre Probleme mit dem Autoimmunsystem nicht dagegensprechen, ist sie als Organspenderin vorgesehen. Die Anfrage kommt voraussichtlich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden.«
Christopher schüttelte den Kopf und stöhnte. »Nein. Nein. Das kann einfach nicht sein.«
Mein Schwiegervater starrte mich ungläubig an. »Tust du denn gar nichts dagegen? Willst du sie nicht retten?«
»Hank, ich kann es nicht. Niemand kann es.«
»Aber manchmal wachen Menschen doch aus dem Koma auf«, erklärte Hank so sicher, dass es fast unwiderlegbar klang.
»Bei ihr wird das nicht geschehen. Sie liegt nicht eigentlich im Koma. Ein Koma ist die Folge von eher lokal begrenzten Verletzungen. Die können natürlich auch gefährlich sein, aber Elle hat eine viel schwerwiegendere Kopfverletzung davongetragen. « Meine Stimme stockte. Meine Mutter nahm meine Hand und hielt sie fest. »So würde Elle ohnehin nicht mehr leben wollen«, fuhr ich fort. »Fast alle Hirnregionen sind in Mitleidenschaft gezogen.«
»Du willst aufgeben?« Hank schlug mit der Faust auf die Armlehne seines Stuhls. »Das lasse ich nicht zu!«
Ich starrte an die Decke. »Mit Aufgeben hat das nichts zu tun. Und es ist nichts, was wir erlauben oder nicht erlauben können. Ich wollte, es wäre so. Ich werde jetzt zu ihr gehen. Falls einer von euch sich noch von ihr verabschieden möchte, bitte ich um eine halbe Stunde Geduld, bis die Schwestern mit der Versorgung fertig sind.«
»Mein Gott!« Christopher zitterte, als würde er jeden Augenblick zusammenbrechen. Seine Frau legte den Arm um ihn.
Als ich mich zum Gehen wandte, sprang Hank auf und versperrte mir den Weg. »Auf keinen Fall lässt du meine Tochter sterben. Und wenn ich vor Gericht gehen muss!«
Ich versuchte, mich an ihm vorbeizuschlängeln, doch er stieß mich gegen die Wand. Sein Atem roch nach Whisky. Wie zum Teufel hatte er sich in der Klinik Sprit besorgen können? Und was noch viel wichtiger war - seit wann trank er wieder? Soviel ich wusste, war er mindestens zwanzig Jahre lang trocken geblieben. Doch das spielte jetzt keine Rolle. Ich wusste nicht, wann er wieder mit der Sauferei angefangen hatte, und es war mir auch herzlich egal.
Ich ergriff seine Handgelenke und riss sie von meinen Schultern. »Ich lasse sie gar nichts. Wenn ich irgendetwas tun könnte, würde ich es tun. Ich liebe Elle, aber in der Sekunde, als sie stürzte, war schon alles zu spät. Und dass sie nicht sterben wollte wie ihre Mutter, das weißt du ganz genau.«
Meine Mutter stellte sich zwischen uns wie ein Schiedsrichter beim Preisboxen. »Schluss jetzt, Hank. Setz dich. Matt hat recht. Elle hat schon vor vielen Jahren eine Patientenverfügung gemacht. Nachdem Alice gestorben und Elle achtzehn geworden war.«
Mom hatte immer schon eine rasche Auffassungsgabe, und was sie sagte, klang wie die reine Wahrheit. Tatsächlich aber war es ihrer Fantasie entsprungen. Zwar war Elle immer der Ansicht gewesen, dass ihr Vater nicht die richtigen Konsequenzen aus der Krankheit ihrer Mutter gezogen hatte, aber von einer rechtsgültigen Patientenverfügung hätte ich auf jeden Fall gewusst. Trotzdem war ich Mom für ihren Einwurf dankbar.
Meine Mutter schnüffelte. »Himmel, Hank, hast du wieder getrunken?«, fragte sie erschrocken.
Er schüttelte den Kopf. »Nur einen.«
In Moms Augen zeigte sich etwas wie Mitleid oder Ärger - genau konnte ich es nicht sagen. Sie wandte sich ab.
»Dad!« Christopher war entsetzt. »Was soll denn das? Ruf deinen Sponsor bei den Anonymen Alkoholikern an. Du musst wieder zum Meeting.«
Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte ich Elle in Christophers Augen. So hatte auch sie immer versucht, ihren Vater unter Kontrolle zu halten. Aber der Eindruck verschwand so schnell, wie er gekommen war. Hank griff nach seinem Jackett und rannte an seinem Sohn vorbei. Christopher zog sich zurück und wurde wieder zu dem kindlichen Mann, der sich an seine Frau klammerte. Ich fragte mich, ob er ohne Elles tatkräftige Unterstützung überleben konnte.
Und ich fragte mich, ob ich es konnte.
Auch wenn keine Schwestern in Elles Zimmer waren, konnten sie dank einer Glaswand zum Schwesternzimmer den Raum überwachen. In der Vergangenheit hatte ich von meiner Warte als Arzt aus die Räume der Intensivstation immer mit Aquarien verglichen. Jetzt bekam der Vergleich eine ungeahnte Aktualität. Irgendwie stellte ich mir Elle vor, wie sie mit dem Bauch nach oben verloren an der Oberfläche trieb. Vielleicht war ich es auch selbst. Körperlos und in gewisser Weise deplatziert. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren und nicht mehr vernünftig denken. Ständig redete ich mit Elle und bettelte darum, sie möge endlich wieder aufwachen. Ich wusste natürlich genau, was in ihrem Körper vor sich ging, aber ich war nicht bereit, es zu akzeptieren. Ich konnte Elles Hirndruckmonitor ablesen und die Ergebnisse verstehen, aber nur Sekunden später verlor ich mich in Fantasien - wie zum Beispiel diesen Gedanken über Aquarien.
Angeblich erlebt man kurz vor seinem Tod sein ganzes Leben noch einmal im Zeitraffer. Ich fragte mich, woran Elle gedacht haben mochte. Wie man am besten Streifen auf den Scheiben vermeidet? Ob sie das Fensterputzmittel lieber auf das Glas oder besser auf den Wischlappen sprühen sollte? Ein streifenfreies Fenster als Vermächtnis.
Oder hatte sie vielleicht über uns nachgedacht?
Laut Kübler-Ross läuft Trauerarbeit in vier Phasen ab: dem Nicht-wahrhaben-Wollen, dem Aufbrechen chaotischer Emotionen, dem Suchen, Sichfinden und Sichtrennen und schließlich dem Finden eines neuen Welt- und Selbstbezuges und damit der Akzeptanz. Für mich bedingten die ersten Phasen einander, aber akzeptieren - nein, das konnte ich noch lange nicht. Ich befand mich offenbar gerade im Stadium der chaotischen Emotionen, denn ich ärgerte mich. Ich ärgerte mich über sie und über ihren Bruder. Und über Hank. Genaugenommen war ich stinkwütend. Am liebsten hätte ich die blöde Glasscheibe mit meinen Fäusten bearbeitet, aber ein Funke Vernunft blieb mir glücklicherweise erhalten. Man hätte mich nämlich mit ziemlicher Sicherheit hinausgeworfen. Das aber hätte den Abschied von Elle bedeutet. Das wollte ich auf keinen Fall riskieren! Nur über meine Leiche! Allerdings entbehrte Letzteres nicht eines gewissen Reizes: Dann wäre ich wenigstens ebenfalls tot.
Die Fenster der Zimmer auf der Intensivstation ließen sich nicht öffnen. Das war sinnvoll, denn schon dachte ich über die beste Möglichkeit nach, mich umzubringen. Schluss damit, Matt. Das Fenster liegt sowieso nicht hoch genug für einen Sprung.
Die Sonne ging unter, und ein runder Vollmond zeigte sich am Horizont. Finde einen Ausweg, Matt. Irgendein Wunder - eine Operation oder eine Medikation, die noch niemandem eingefallen ist. Entdecke etwas absolut Neues, und rette Elle. Etliche Jahre Ausbildung und sieben Jahre Praxis mussten doch irgendetwas bewirkt haben. Verzweifelt suchte ich nach dem Geniestreich, der mir Elle zurückbringen würde.
Schließlich machte sich eine entsetzliche Leere in mir breit. Mein Ärger verflog. Langsam ging ich in Elles Aquarium auf und ab und warf dann und wann einen Blick ins Schwesternzimmer. Keine Ahnung, was ich dort zu sehen erwartete. Vielleicht Elle? Denn dieser Körper, der hier auf dem Bett lag - das war nicht wirklich meine geistvolle Frau mit dem intelligenten Kopf und dem mitfühlenden Herzen. Ich nahm ihre Hand und setzte mich auf den orangefarbenen Stuhl neben dem Bett. Bitte, wach auf.
Einige Zeit später schaltete ich den Fernseher ein. CNN sendete wieder einmal einen Bericht zum Irak-Debakel, danach folgte etwas über ein Erdbeben in Peru. Als ich gerade wieder ausschalten wollte, erschien Elles Foto auf dem Bildschirm. Es stammte von einer Feier bei der NASA, zu der sie sich mit einem wie für sie gemachten pfirsichfarbenen Spaghettiträgerkleid so richtig in Schale geworfen hatte. Damals war ihr Haar noch länger gewesen; es reichte bis zur Mitte des Rückens. Eigentlich sah sie eher wie eine Hollywood-Schauspielerin in der Rolle der Naiven aus als nach der hochqualifizierten Wissenschaftlerin, die sie in Wirklichkeit war. War? Dachte ich tatsächlich schon in der Vergangenheit?
Ich drehte den Ton lauter.
© 2014 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
- Autor: Priscille Sibley
- 2014, 7. Aufl., 448 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Werner-Richter, Ulrike
- Übersetzer: Ulrike Werner-Richter
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404169425
- ISBN-13: 9783404169429
- Erscheinungsdatum: 14.02.2014
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