Das Geheimnis des Walfischknochens
Eine alte Schuld. Eine neue Liebe. Ein Schicksal, das sich erfüllt.
Beekensiel an der Nordsee, 1939. Der elfjährige Arjen lernt in den Dünen den Ausreißer Ruben kennen, der abenteuerliche Geschichten von einem Walfischknochen...
Beekensiel an der Nordsee, 1939. Der elfjährige Arjen lernt in den Dünen den Ausreißer Ruben kennen, der abenteuerliche Geschichten von einem Walfischknochen...
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Produktinformationen zu „Das Geheimnis des Walfischknochens “
Eine alte Schuld. Eine neue Liebe. Ein Schicksal, das sich erfüllt.
Beekensiel an der Nordsee, 1939. Der elfjährige Arjen lernt in den Dünen den Ausreißer Ruben kennen, der abenteuerliche Geschichten von einem Walfischknochen erzählt. Dieser soll Schicksale bestimmen können ... Es ist der Beginn einer einzigartigen Freundschaft - bis ein Sommertag alles verändert.
Jahrzehnte später reist Greta Rosenboom mit ihrem Großvater auf die Insel seiner Kindheit. Sie ahnt nicht, dass die windumtosten Strände Beekensiels eine alte Schuld bergen - und ein Geheimnis, das auch ihr Leben verändern wird.
Beekensiel an der Nordsee, 1939. Der elfjährige Arjen lernt in den Dünen den Ausreißer Ruben kennen, der abenteuerliche Geschichten von einem Walfischknochen erzählt. Dieser soll Schicksale bestimmen können ... Es ist der Beginn einer einzigartigen Freundschaft - bis ein Sommertag alles verändert.
Jahrzehnte später reist Greta Rosenboom mit ihrem Großvater auf die Insel seiner Kindheit. Sie ahnt nicht, dass die windumtosten Strände Beekensiels eine alte Schuld bergen - und ein Geheimnis, das auch ihr Leben verändern wird.
Klappentext zu „Das Geheimnis des Walfischknochens “
Eine alte Schuld. Eine neue Liebe. Ein Schicksal, das sich erfüllt... Beekensiel an der Nordsee, 1939. Der elfjährige Arjen lernt in den Dünen den Ausreißer Ruben kennen, der abenteuerliche Geschichten von einem Walfischknochen erzählt. Dieser soll Schicksale bestimmen können. Es ist der Beginn einer einzigartigen Freundschaft - bis ein Sommertag alles verändert. Jahrzehnte später reist Greta Rosenboom mit ihrem Großvater auf die Insel seiner Kindheit. Sie ahnt nicht, dass die windumtosten Strände Beekensiels eine alte Schuld bergen - und ein Geheimnis, das auch ihr Leben verändern wird ...
Lese-Probe zu „Das Geheimnis des Walfischknochens “
Das Geheimnis des Walfischknochens von TANJA HEITMANNProlog
Beekensiel, Sommer 1939
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Es kam fast einer Befreiung gleich, dass endlich passierte, was Arjen schon die ganze Zeit über befürchtete. Auf der Treppe im Hausflur erklangen Schritte. Jemand war auf dem Weg nach oben.
Oben ... Wo sie in einem fremden Zimmer herumschnüffelten.
Arjen stieß einen lautlosen Schrei aus. Mit einem Schlag löste sich die Anspannung, die ihm die Luft abgeschnitten hatte, seit sie heimlich übers Rosengitter durch das offenstehende Fenster geklettert und durch sämtliche Räume des heruntergekommenen Herrenhauses bis ins Obergeschoss geschlichen waren.
Dieser Koloss Denneburg ist aus seinem Nickerchen im Garten aufgewacht! Von wegen der schläft nach einem Saufgelage mit seinen Parteikumpanen seinen Rausch noch dann aus, wenn wir längst über alle Berge sind ... Denneburg war schließlich schon trinkfest gewesen, bevor er Ortsgruppenleiter der NSDAP geworden war.
Warum hatte Arjen sich bloß auf diese Dummheit eingelassen? Sein Herzschlag dröhnte ihm bis in die Ohren, nur übertönt von Rubens Lachen. Ein kehliger und viel zu schallender Laut. Im nächsten Moment versetzte sein Freund ihm auch schon einen Stoß in die Rippen, und Arjen fiel das Keksglas aus den Händen, das er vom Nachttisch genommen hatte. Es zersprang mit einem Knall. Entsetzt starrte er auf die zerbrochenen Gebäckstücke und die vielen Glassplitter.
Die Schritte wurden nicht nur lauter, sondern auch schneller. Gleich würden sie den oberen Flur erreichen, dann waren sie nur noch einige Zimmertüren von ihnen entfernt.
Wir sind entdeckt. Verloren.
Endlich verstummte Rubens Lachen, obwohl er weiterhin belustigt dreinblickte, als er eine Hand auf Arjens Schulter legte. »Halb so wild, die Kekse waren ohnehin staubtrocken, so wie die beim Aufschlag zerbröselt sind. Und genau dasselbe wird Denneburg mit uns anstellen, wenn wir uns nicht sofort aus dem Staub machen. Der Kerl hat keine Hände, sondern Pranken.«
»Weglaufen?«, fragte Arjen benommen, obwohl sein Körper wie unter Strom stand, bereit, jederzeit loszusprinten. »Wohin denn?«
Da war es wieder, dieses kehlige Lachen, als habe Ruben nur darauf gewartet, dass sie erwischt wurden, als ob der Spaß erst jetzt richtig losging, seit ihr kleiner Ausflug auf Messers Schneide stand. Mit einem schmerzhaft festen Griff packte er Arjen und zerrte ihn zum Fenster, das hinter bodenlangen Vorhängen verborgen lag. Ruben riss den Stoff beiseite, und Arjen blinzelte ins Sonnenlicht, regelrecht geblendet, nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit durchs abgedunkelte Haus geschlichen waren. Zwei Jungen auf der Suche nach einem Zeitvertreib an diesem flirrend heißen Sommertag. Zumindest hatte Arjen das geglaubt, bis Ruben den Fotoapparat - eine Leica - vom Sekretär in der Wohnstube genommen hatte. »Du willst den Apparat doch nicht ernsthaft mitnehmen?«, hatte Arjen gefragt. Ruben hatte daraufhin etwas von »ausleihen« erzählt, und Arjen hatte sich nur allzu bereitwillig beschwichtigen lassen. Ein großer Fehler, wie er sich jetzt eingestehen musste.
»Wir laufen nicht weg, wir fliegen«, erklärte Ruben, während er mit seiner unnachahmlichen Leichtigkeit auf die Fensterbank glitt und den Gurt des Fotoapparates quer über seine Brust legte. »Und zwar auf das Schuppendach, das ist höchstens einen Katzensprung weit entfernt.« Sonnenstrahlen umtanzten seine Silhouette, und einige Sekunden lang schien er nicht wie ein für seine zwölf Jahre zu schmächtiger Junge, sondern wie eine überirdische Erscheinung, die Arjen seine Furcht vergessen ließ. So war Ruben, und deshalb war er ihm in dieses Haus gefolgt. Deshalb würde er ihm überallhin folgen.
Als gäbe es die Schwerkraft nicht, stieß Ruben sich vom Fensterbrett ab und landete auf den hölzernen Dachschindeln des Schuppens. »Siehst du? Nichts leichter als das.«
Gerade als Arjen sich aus dem Fenster beugte und feststellte, dass der »Katzensprung« gut und gern zwei Meter betrug, wurde die Zimmertür aufgeschlagen.
»Was zum Henker treibst du Bengel in meinem Haus?« Vor Arjens geistigem Auge erschien ein furchteinflößendes Bild von Denneburg: Unrasiert und von der Mittagshitze verschwitzt stand er in der Tür, lediglich mit Hosen und Unterhemd bekleidet, das Gesicht bereits zunderrot vor Zorn, die Faust zum Schlag erhoben. Ganz anders als der stramme Parteimann, als der er sonst auftrat, stets akkurat gekleidet, das bronzene Dienstabzeichen stolz auf der Brust. Frederick »Fred« Denneburg war der in ganz Beekensiel bekannte Wortführer der Partei, der mit Kirchenverbot belegt worden war, nachdem er die letzte Weihnachtsmesse mit politischen Parolen ruiniert hatte.
Arjen hörte, wie der schwere Mann sich näherte. Er glaubte, den Windzug seiner Bewegungen zu spüren, und trotzdem rührte er sich nicht. Das Dach vom Schuppen war zu weit fort, und er war nicht Ruben, dem unsichtbare Flügel wuchsen, wenn er sie brauchte. Als eine Diele hinter Arjen knarrte, wirbelte er herum und wechselte einen Blick mit Fred Denneburg, der bereits den halben Raum durchschritten hatte.
»Moment mal.« Langsam hob Denneburg den Zeigefinger. »Du bist doch der Sohn von Thaisen Rosenboom, diesem alten Wichtigtuer. Dein Herr Papa hat mich vor ganz Beekensiel zum Affen gemacht, weißt du das? Er hat mich einfach aus seiner Kirche geschmissen, nur weil ich erwähnt habe, dass der angebliche Heiland ein verdammter Jude ist. Und ausgerechnet du, das Pfaffenkind, steigst bei mir ein?«
Ein Grinsen breitete sich auf Denneburgs Gesicht aus. Offenbar gefiel ihm der Gedanke, den Nachwuchs vom widerspenstigen Pastor Rosenboom auf frischer Tat ertappt zu haben. Vor kurzem erst hatte es eine große Diskussion darum gegeben, dass Thaisen sich weigerte, seinen Sohn an den Veranstaltungen der Hitlerjugend teilnehmen zu lassen - offiziell wegen der zarten Gesundheit des Jungen. Nur war allgemein bekannt, dass der einzige Verbund, den der Herr Pastor akzeptierte, der seiner Kirche war. Wenn Denne burg jetzt Arjen zu fassen bekam, würde er ihn zweifelsohne auf den Marktplatz des Dorfes schleppen und lautstark bekannt geben, dass er den jungen Herrn Rosenboom beim Einbruch ertappt hatte. Für eine solche Schandtat würde Arjens angeblich ach so zarte Gesundheit ja gerade noch hinreichen.
»Na, warte«, drohte Denneburg. »Dich werde ich lehren ...« Weiter kam er nicht, denn eine Scherbe bohrte sich in seine nackte Fußsohle.
Das derbe Schimpfwort, das Denneburg ausstieß, ließ Arjen seine Höhenangst vergessen. Ein Sturz aus dem oberen Stockwerk konnte unmöglich furchtbarer sein, als von diesem Ungetüm eingefangen zu werden. Vor allem wenn das Ungetüm seinetwegen Schmerzen litt.
Mit einem Satz sprang Arjen auf die Fensterbank und sogleich weiter ins Freie, warf seinen Körper nach vorn und spürte prompt, wie er wegsackte, wie die haltlose Tiefe an ihm sog. Im letzten Moment packten Finger sein nass geschwitztes Hemd und verliehen ihm den nötigen Schwung, um das Schuppendach zu erreichen. Seine Hüfte schlug hart gegen die Traufe, während seine Beine ins Leere fuhren, doch sein Oberkörper lag sicher auf Rubens Schoß.
»Mist, verdammt«, brachte Arjen atemlos hervor. »Mist, verdammt, verdammt, verdammt. Zur Hölle mit dir und deinen Schnapsideen!« Das sonst immer aufs strengste verbotene Fluchen fühlte sich wunderbar an, genau wie Rubens fester Griff. Sogar der Schmerz in seinem Hüftknochen gab Arjen das Gefühl, lebendig - ja, unbesiegbar zu sein.
»Das war keine Schnapsidee, sondern eine Herausforderung des Schicksals«, erklärte sein Freund würdevoll, doch in seinen Augen blitzte es, als er auf die Kette um seinen Hals deutete.
Ein Bogen, breit wie der Handteller eines Kindes, zeichnete sich unter Rubens fadenscheinigem Hemd ab. Für einen Außenstehenden sah er aus wie ein zu groß geratener Anhänger an einem Lederband. Arjen hingegen wusste nur allzu gut, welcher Schatz dort verborgen lag. Ein wundersames Geheimnis, dessen Macht er am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte. Allein bei seinem Anblick glaubte er, seine Kraft zu spüren, während die Gewissheit zunahm, mehr als nur ein Junge auf einer abseitigen Nordseeinsel zu sein, mehr als Thaisen Rosenbooms stiller Sohn ... Er gehörte zu Ruben, und er war als Einziger in das Geheimnis eingeweiht worden, das diesen charismatischen Jungen in die Einsamkeit von Beekensiel verschlagen hatte.
»Na ja, zumindest so viel Schicksal, wie man aus diesem elenden Kaff herausholen kann«, fügte Ruben grinsend hinzu.
Arjen begann zu lachen, wild und frei, und vergaß den tobenden Denneburg und seine Verwünschungen. Er verschwendete nicht einmal einen Gedanken daran, welche Folgen dieser Zwischenfall und der geliehene Fotoapparat haben würden. Für ihn - und noch mehr für Ruben. Stattdessen stemmte er sich auf die Beine und lief hinter seinem Freund her, eine Hand an den sonnenerhitzten Schindeln, um das Gleichgewicht zu halten, obwohl er wusste, dass er nicht fallen würde.
Nicht, solange Ruben das Schicksal in seinen Händen hielt.
1
September 2012
Seit zehn Minuten hatte sich auf der Autobahn nichts mehr bewegt - einmal abgesehen von dem SUV, der Gretas mit einem Schlag winzig erscheinendem Mietwagen noch einen Zentimeter näher kam. Sollte der Fahrer dieses Monstrums das Gaspedal auch nur mit der Fußspitze berühren, würde es unweigerlich zu einem Zusammenstoß kommen. Greta ertappte sich dabei, wie sie gebannt in den Rückspiegel starrte und fest mit einem heftigen Ruck rechnete, der sie in den Anschnallgurt drücken würde. Ihr Brustkorb verengte sich in vorauseilendem Gehorsam, während gleichzeitig Adrenalin durch ihre Glieder jagte.
Bleib ruhig, noch ist nichts passiert.
Doch das Kopfkino ließ sich nicht so leicht unter Kontrolle bringen und spann das Schrecksszenario weiter: Nach dem Rums würde der Fahrer heftig an ihr Fenster klopfen, um ihr die Schuld für den Auffahrunfall in die Schuhe zu schieben, während sie zu durcheinander wäre, um sich zur Wehr zu setzen. Das wäre dann die Krönung dieses grauenhaften Tages am Ende einer grauenhaften Woche.
Schon am gestrigen Mittag, als Greta vor der Ausgabe des Autoverleihs stand, hätte sie den VW Fox am liebsten stehen lassen und stattdessen den Zug in Richtung Kiel genommen. Nur wäre es dann unmöglich gewesen, all ihre Sachen mitzunehmen. Erik hätte sie ihr hinterherschicken müssen, und genau das hatte sie um jeden Preis vermeiden wollen. Von Erik Brunner wollte sie nichts mehr hören und sehen, nicht einmal seine Handschrift auf einem Paket schein. Als sie die Kartons mit rasch hineingeworfener Kleidung, zwei Bonsais, jeder Menge Bücher und Krimskrams im Wagen verstaut hatte, war sie sich plötzlich armselig vorgekommen. Sie war achtundzwanzig Jahre alt, und alles, was sie besaß, passte in einen VW Fox, der ihr nicht einmal gehörte.
Dann gibt es wenigstens nichts, das deinen Neustart belastet, hatte sie sich selbst aufzumuntern versucht.
Nur hatte sich der Neustart von der ersten Sekunde an als Albtraum erwiesen. Denn Greta besaß zwar einen Führerschein, aber so gut wie keine Fahrpraxis. In Zürich, das in den letzten drei Jahren ihr Zuhause gewesen war, fuhr man mit der Straßenbahn, und in Berlin, wo sie zuvor gelebt hatte, war sie stets mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Durcheinander und überreizt, wie sie nun einmal war, stellte die Fahrt von Zürich in den Norden Deutschlands eine Herausforderung dar, die sie nur gerade so bewältigte. Als die Nacht eingebrochen war, hatte sie sich eingestehen müssen, dass ihre Idee durchzufahren nicht funktionieren würde. Und so hatte sie ein paar Stunden im Autositz geschlafen, nur um mit dröhnenden Kopfschmerzen aufzuwachen. Am schlimmsten war jedoch der Traum gewesen, der ihr realer erschienen war als das im Halbdunkel liegende Waldstück hinter der Windschutzscheibe. Es war auch gar kein richtiger Traum gewesen, dazu ähnelte er viel zu sehr dem Abend, an dem Greta nachgegeben hatte. Mit pochenden Schmerzen hinter ihren Schläfen erinnerte sie sich ...
Erik lachte.
Sein Schauspielerlachen, dachte Greta wie so oft, halb fasziniert, halb abgestoßen. Ein Mann sollte nicht auf diese Weise lachen, ganz auf die Wirkung bedacht und in dem Wissen, dass keine Frau seinem Charme würde widerstehen können. Letztendlich bildete auch sie keine Ausnahme. Die Anziehungskraft dieses klangvollen Gelächters in Verbindung mit Eriks gut geschnittenem Gesicht war stärker als ihr Argwohn, und Greta fiel mit ein, auch wenn ihrem Lachen etwas Aufgesetztes anhaftete.
Und warum hätte sie auch in Grübeleien versinken sollen? Der Sommerabend war lau, Lichter spiegelten sich auf dem Zürichsee, und das Plätschern der Wellen verlor sich fast bis zu der Terrasse, auf der sie saßen.
»Ich bin so froh, dass du dich endlich dazu entschieden hast, bei mir zu leben«, sagte Erik. »Ich stand schon kurz davor, härtere Geschütze aufzufahren und deine gesamte Familie nach Zürich einzuladen, damit sie dir erklärt, dass es einem Nordlicht wie dir auch in der Schweiz durchaus gefallen kann.« Mit diesen Worten wollte er sie in die Arme schließen und küssen, der krönende Abschluss für seine Bemühungen.
Greta wich seinen Lippen jedoch aus, von einer plötzlichen Unruhe erfasst. Der moderne Bau, der Eriks ganzer Stolz war, schien plötzlich näher zu rutschen, als wolle er sie erdrücken. Es ähnelte der Reaktion, die sie bei den Bergketten rings um Zürich überkam, von denen sie sich - aller Vernunft zum Trotz - umzingelt fühlte. Kälte breitete sich zwischen ihren Schulterblättern aus, gegen die weder Eriks Umarmung noch die Sommernacht ankamen.
»Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob dieses Leben das richtige für mich ist«, flüsterte sie so leise, dass Erik sie nicht verstand. Aber vermutlich hätte er sie nicht einmal dann verstanden, wenn sie ihn angeschrien hätte ...
Mit einem Stöhnen schüttelte Greta diese Erinnerung ab. Schließlich kannte sie inzwischen die Antwort auf diese Unsicherheit. Unsere Beziehung war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, gestand sie sich ein, während das anbrechende Tageslicht immer mehr Unrat am Waldsaum zeigte. Der schäbige Parkplatz passte perfekt zu ihrer Stimmung. Mit Not unterdrückte sie die aufsteigenden Tränen und ließ den Motor an.
Ein Gutes musste sie der Autofahrerei ja zugestehen: Man kam kaum zum Nachdenken - zumindest wenn man eine so unerfahrene Fahrerin war wie Greta, der jeder Spurwechsel einen Schweißausbruch verursachte. Dann, kurz vor ihrem Ziel, geriet sie in diesen Endlosstau vorm Hamburger Elbtunnel. Zu Beginn war Greta noch erleichtert. Vielleicht war das ihre Chance, ihre Gedanken in Ruhe zu sortieren und einen Schlachtplan für ihre Ankunft in Meresund aufzustellen. Den würde sie nämlich auf jeden Fall brauchen, wenn sie ihrer Familie gegenübertrat - allein und sichtlich mitgenommen. Nachdem sie den Elbtunnel hinter sich gelassen hatte, konnte von einem Schlachtplan allerdings nicht einmal ansatzweise die Rede sein. Greta musste nämlich feststellen, dass Staus zwar Unmengen an Zeit kosteten, einen geistig aber trotzdem vollauf in Beschlag nahmen. Das galt besonders, wenn der Hintermann einen SUV fuhr und die Tatsache nicht akzeptieren wollte, dass der Stau für alle Teilnehmer galt.
»Selbst wenn ich mich in Luft auflösen würde, wärst du nur ein paar Meter weiter«, brummte Greta gereizt in den Rückspiegel. Die Kühlerhaube des SUV sparte sich eine Antwort und begnügte sich damit, bedrohlich hinter ihrem Kleinwagen aufzuragen.
In Gretas Schläfen begann es erneut zu pochen. Zu gern hätte sie die übertrieben laute Radiomusik für den Druck in ihrem Kopf verantwortlich gemacht. Die sollte sie eigentlich unterhalten, aber ganz gleich, wie weit sie den Lautstärkeregler nach rechts drehte, die Musik erreichte sie nicht. Nichts erreicht mich, ich fühle mich vollkommen festgefahren.
Immer wieder tauchte ganz unvermittelt Eriks Gesicht vor ihren Augen auf: Vor Konzentration ganz eingefroren, wenn er Börsenkurse auf dem Handydisplay verfolgte, anstatt die Möhren fürs gemeinsame Abendessen kleinzuschneiden ... Beim Schlafen entspannt und jung, trotz der vierzig intensiv gelebten Jahre, die sich hineingezeichnet hatten ... Zu einer Maske erstarrt, sobald er sich in der Gegenwart von Gretas Freunden zu langweilen begann ... Außer Kontrolle geraten, als sie ihm sagte, dass es vorbei sei. Es fehlte nicht viel, und Greta würde in Tränen ausbrechen. Nicht auf eine malerische Weise, bei der einem ein stiller Fluss über die Wangen lief, während sich kein einziger Muskel im Gesicht rührte, und auch nicht auf eine Mädchentour, bei der man am Ende nur ein Taschentuch brauchte, um den Schaden zu beseitigen. Wenn sie sich nicht zusammenriss, dann würde sie heulend über dem Lenkrad zusammensacken, am ganzen Körper geschüttelt und außerstande, das Elend mit einem Sack voll Taschentücher aufzufangen. Anschließend wären ihre eh schon überanstrengten Augen so zugeschwollen, dass sie bestenfalls auf den Seitenstreifen ausscheren konnte, von wo aus die vorbeirollende Kolonne sie dann beäugen würde. Sie, die Frau mit dem verquollenen Gesicht, dem wirr abstehenden Blondhaar und der blutverkrusteten Schramme auf der Stirn.
Der Gedanke an die Schramme brachte Greta die dringend benötigte Ablenkung. Während sie die hässlich blau unterlaufene Linie im Rückspiegel betrachtete, überlegte sie ernsthaft, sich mit der Nagelschere einen Pony zu schneiden. Andernfalls würde sie zuhause erklären müssen, woher die Verletzung stammte, und sie verspürte nicht das Bedürfnis, gleich nach ihrer Ankunft mit dieser Geschichte herauszurücken. Die Verletzung stand für den Höhepunkt ihrer Auseinandersetzung mit Erik, den Höhepunkt nach einem extrem steilen Aufstieg. Gerade als sie, trotz des einschneidenden Gurts, nach ihrer Kosmetiktasche auf dem Rücksitz langte, klopfte jemand an ihr Fenster. Gut möglich, dass er schon länger klopfte - bei der Musik war das kaum auszumachen.
Einen Moment lang befürchtete Greta, es sei der SUV- Fahrer, dem es nicht länger reichte, unhöflich dicht aufzufahren, und der seine Frustration jetzt direkt an ihr ablassen wollte. Anstelle eines aufgebrachten Mannes stand dort jedoch eine typische Hanseatin, adrett bis in die Haarspitzen und vielleicht zehn Jahre älter als Greta. Die Frau lächelte sie an, während Greta das Radio ausschaltete und die Fensterscheibe herunterließ.
»Ja?«
»Nun ... Ich wollte bloß nachfragen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist?«
Die Hanseatin lächelte ein wenig mehr, was Greta zu denken gab. Wenn sich eine Fremde dermaßen bemühte, freundlich und beruhigend auf sie zu wirken, dann stimmte definitiv etwas nicht. Greta lächelte entschlossen zurück, obwohl das Pochen in ihren Schläfen dadurch schlimmer wurde. »Vielen Dank. Ich weiß, ich sehe grauenhaft aus, aber Sie brauchen sich meinetwegen keine Sorgen zu machen. Die Schramme auf meiner Stirn ist ein rein oberflächlicher Kratzer. Ein dummes Missgeschick, mehr nicht.«
Offenbar zerstreute ihre Antwort die Bedenken der Frau nicht, denn sie begann nervös an ihrem Halstuch herumzuzupfen. »Diese Verletzung sieht wirklich gefährlich aus«, stimmte sie zu. »Aber ich frage mich eher, warum Sie gerade zum zweiten Mal nicht gefahren sind, als der Verkehr auf unserer Spur weiterging. Jetzt werden wir wohl eine Weile stehen.«
»Bei uns ging es weiter?« Irritiert stellte Greta fest, dass kein einziges von den Autos, auf deren Rückseite sie gefühlte Stunden lang gestarrt hatte, mehr zu sehen war. Nur der monströse SUV in ihrem Rücken war noch da. Es machte ganz den Eindruck, als sei es der Wagen der Hanseatin. Greta schluckte schwer. »Tut mir leid, ich war wohl in Gedanken ...«
Die Hanseatin zog die Brauen hoch. »Sie meinen, Sie haben das Hupkonzert hinter uns gar nicht gehört?«
»Im Stau hupt doch immer irgendwer«, versuchte Greta die Tatsache zu überspielen, dass sie tatsächlich nichts von alldem mitbekommen hatte.
»Nun, ich möchte Ihnen vorschlagen, die Musik auszulassen und die nächste Abfahrt zu nehmen. Wenn Sie Hilfe brauchen, kann ich Ihnen gern folgen und bei Ihnen bleiben, bis jemand Vertrautes Sie abholen kommt. Sie haben doch sicherlich Freunde oder Familie?« In ihrer Stimme schwang Zweifel darüber mit, dass überhaupt jemand auf Gottes schöner Welt zu Greta gehörte - so verlassen, wie sie aussah.
»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, aber meine Familie wohnt nur eine halbe Stunde von hier entfernt, und ich bin unterwegs zu ihr. Hören Sie, ich werde mich jetzt kräftig am Riemen reißen und weiterfahren, wenn die anderen fahren. Versprochen.«
Die Hanseatin blickte skeptisch drein, aber als sich Bewegung auf ihrer Spur abzeichnete, nickte sie und verschwand rasch zu ihrem Wagen, allerdings nicht ohne Greta zum Abschied noch rasch zu versichern, dass bestimmt alles gut werden würde. Das glaube ich nicht, dachte Greta, als sie den Motor anließ und zügig hinter ihrem Vordermann herfuhr. Nichts ist gut, und nichts wird so schnell wieder gut werden.
2
Vor einigen Jahrzehnten war Meresund noch ein Dorf in Schleswig-Holstein gewesen. Nachdem jedoch immer mehr Menschen aus dem Umland hinzugezogen waren, während die Bauernhöfe nach und nach verschwanden, konnte man mittlerweile von einer Kleinstadt sprechen. Die Familien in den Neubaugebieten wussten es zu schätzen, dass sie inmitten von Wiesen und Feldern wohnten, während Hafenstädte wie Kiel und Hamburg und somit das Meer nur eine kurze Autofahrt entfernt lagen. Den meisten Alteingesessenen Meresundern waren die Veränderungen allerdings nicht nur wegen der vielen Fertigbauhäuser ein Dorn im Auge. Für sie verkam ihr einst heimeliges Dorf zu einer Bettenburg, randvoll mit Leuten, die auf der Straße nicht grüßten und keine Zeit für Vereinsarbeit hatten, weil sie zu sehr mit der täglichen Pendelei beschäftigt waren.
Greta war sich nicht sicher, zu welcher Gruppe sie gehörte: zu den neuen oder zu den alteingesessenen Meresundern? Ihre Familie war aus Kiel zugezogen, als sie neun Jahre alt war, und trotzdem kannte sie das Dorf schon ihr Leben lang. Die Eltern ihres Vaters hatten hier ein Backsteinhaus mit Obstgarten und Kaninchenstall, wo sie als Kind fast alle Wochenenden und die Ferien verlebt hatte. Wenn Greta daran zurückdachte, kam es ihr so vor, als habe sie ihre Kindheit unter Apfel- und Birnbäumen verbracht, während ihr Großvater Arjen damit beschäftigt war, Unkraut zu jäten, Zweige zu beschneiden und sonstige Gartenarbeiten zu erledigen. Noch immer klangen ihr die Shantys in den Ohren, die er dabei gesungen hatte - vermutlich nur ihr zuliebe, denn niemand sonst hatte Arjen je singen gehört. Ohnehin war ihre Beziehung schon immer etwas Besonderes gewesen, und wenn sie zurückblickte, gestand Greta ohne Zögern ein, dass ihr Großvater der wichtigste Mensch in ihrem Leben gewesen war.
Ihre Mutter Anette konnte darüber nur den Kopf schütteln. »Da gibt man sich so viel Mühe mit seiner Jüngsten, verhätschelt sie von vorn bis hinten, und was kommt dabei heraus? Ihr Großvater ist die erklärte Nummer eins!«
Damals war Anette eifersüchtig auf ihren Schwiegervater gewesen, dem die Menschen zugetan waren, obwohl er es keineswegs darauf anlegte. Nach über vierzig Jahren als Landarzt hatte er vermutlich so viel gesehen und erlebt, dass er nicht mehr von den Menschen forderte, als sie zu geben imstande waren. Gelassenheit und ein kaum zu trübender Frohsinn zeichneten Arjen Rosenboom aus. Der Tag, an dem er sich zur Ruhe gesetzt hatte, kam einem Volkstrauertag in Meresund gleich. Mittlerweile stand auch Anette anders zu ihrem Schwiegervater, denn nachdem ihr Mann Carsten bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, hatte sie sich kurzerhand bei dem verwitweten Arjen einquartiert. Ihre Wohnung war ihr plötzlich unerträglich verwaist vorgekommen, und die wenigen Stunden, die sie an der Grundschule unterrichtete, hatten einfach nicht genug Ablenkung geboten.
»Auf diese Weise können wir uns gegenseitig in unserer Trauer beistehen«, hatte Anette erklärt, als sie mit gepackten Koffern und rotgeweinten Augen vor Arjens Tür stand.
»Sobald wir zwei Hübschen wieder festen Boden unter den Füßen haben, kehre ich selbstverständlich in meine Wohnung zurück.«
Dieser Fall war bis heute nicht eingetreten.
Nach außen machte es den Eindruck, als sei Anette eine treusorgende Schwiegertochter - was sie auch war. Nur war Arjen trotz seiner fünfundachtzig Jahre kein Mann, der versorgt werden musste. Ganz im Gegenteil, er kannte sich hervorragend in Haushaltsdingen aus, denn seine Frau Elisabeth hatte neben den drei Kindern auch in der Praxis ausgeholfen, die mit im Backsteinhaus untergebracht war. Es war eine kleine Praxis gewesen, wie sie für einen Landarzt im Nachkriegsdeutschland typisch gewesen war: Die Diele diente als Empfangsbereich, und das Behandlungszimmer war dort, wo eigentlich der Wirtschaftsraum vorgesehen war. Mehr brauchte es damals nicht, denn die meiste Zeit brachte Arjen ohnehin damit zu, die weit verstreut lebenden Patienten auf ihren Höfen zu besuchen. Dass nun Anette hinter ihm herputzte und glaubte, ihm seine Tabletten in Bogenform angerichtet auf dem Frühstückstisch bereit legen zu müssen, ertrug er stoisch. Wie Greta ihren Großvater kannte, ging ihm die gluckenhafte Anette bestimmt auf den Geist, auch wenn er sich niemals beschwerte. Vermutlich wusste er besser als jeder andere, dass es die verschiedensten Arten der Trauer um einen geliebten Menschen gab. Anette verarbeitete ihren Verlust, indem sie den Vater ihres verstorbenen Mannes zu ihrem Lebensmittelpunkt machte und sich einredete, zu beschäftigt zum Trauern zu sein. Nachdem Arjen vor drei Jahren an Knochenmarkkrebs erkrankt war, hatte sie ihre Wohnung schließlich gekündigt und war endgültig bei ihm eingezogen, obwohl er die Krankheit rasch überwunden hatte. Es ging bereits auf den späten Nachmittag zu, als Greta ihren Mietwagen in der Asmussengasse vor dem Backstein- haus parkte. Der kräftige Septemberwind brachte Salz vom Meer mit, das sich auf ihre Lippen legte und ihr das Gefühl gab, spätestens jetzt zuhause angekommen zu sein. In den Heckenrosen, die den Vorgarten eingrenzten, steckten Papierblumen, und über der breiten Eingangstür hing eine Girlande aus Tannengrün, die eine goldene »85« zierte. Vorfreude stieg in Greta auf, und sie schüttelte die Erschöpfung nach der langen Fahrt ab. Was ihr jetzt noch fehlte, waren die Geschenke. Das Geschenk, korrigierte sie sich sogleich, denn bereits bei Stuttgart war ihr eingefallen, dass die liebevoll ausgesuchten Kleinigkeiten für ihre Neffen und ihre Nichte auf dem Sideboard in Eriks Haus liegen geblieben waren.
Greta öffnete den Kofferraum und blickte ratlos auf das Durcheinander. Irgendwo zwischen oder auch in einem der Kartons war Arjens Geburtstagsüberraschung untergebracht. Wie sollte sie die bloß in diesem Durcheinander finden? Dann kam ihr die Erkenntnis, dass es nicht ihr Geschenk war, sondern das von Erik und ihr, und sie knallte den Deckel zu. Sie würde dem Geburtstagskind etwas schenken, von dem sie beide zuletzt viel zu wenig gehabt hatten: gemeinsame Zeit. Seit sie zum Studieren fortgezogen war, hatte sie ihren Großvater nur selten gesehen. Sie hatten sich zwar oft Briefe geschrieben und telefoniert, aber Greta war zu eingespannt gewesen, um öfter nach Meresund zu reisen, und Arjen verließ sein Zuhause nur selten. Vermutlich weil es so schwierig war, Anettes Fürsorge zu entkommen.
Es ist ein Fehler gewesen, ich hätte häufiger hier sein sollen. Bei meiner Familie. Bei ihm. Jetzt ist er fünfundachtzig Jahre alt, und niemand weiß, wie viel Zeit ihm noch bleibt, in der er gesund und klar bei Verstand ist.
Entschlossen durchquerte Greta den Vorgarten, in dem Margeriten und Sonnenhut in der zusehends schwächer werdenden Herbstsonne standen. Neben der Türklingelbrachte ihr Schein ein Messingschild zum Glänzen, das schon lange nicht mehr an dieser Stelle gehangen hatte. Es war Arjens Praxisschild, das er nach seinem Eintritt in den Ruhestand abgenommen hatte. »Wer von meinen ehemaligen Patienten meinen Rat gebrauchen kann, wird kaum vergessen haben, wo ich wohne«, hatte er mit seiner verschmitzten Art erklärt. Nun hing das Schild nicht bloß wieder, sondern hinter dem »Arjen Rosenboom, Allgemeinmediziner « war ein »a. D.« eingraviert worden. Ein kleiner Scherz, aber in erster Linie ein Zugeständnis an Arjens Zurückhaltung. Sogleich stand Greta das lebendige Bild vor Augen, wie ihre Mutter das frisch angebrachte Schild polierte und wienerte, während ihr Großvater kopfschüttelnd hinter ihr stand, halb über die Marotten seiner Schwiegertochter schmunzelnd, halb verärgert über die seiner Meinung nach unnötige Aufmerksamkeit.
Anettes Hingabe nimmt langsam, aber sicher wahnhafte Züge an, dachte Greta, bevor sie die Klingel drückte.
Die Eichentür wurde mit Schwung aufgerissen, und Greta zuckte zusammen, als ihr Schwager Till mit wütendem Gesicht auf sie zustürmte. Till Fröben, wie sie ihn im Stillen nannte, als wäre er nur ein Bekannter und nicht der Mann ihrer Schwester Wencke.
»Jetzt reicht es aber, ihr verflixten Nervensägen!«, drohte Till, ehe er erkannte, wer vor ihm stand. »Ach, du bist es bloß, Greta. Die Kinder haben sich zusammengerottet und spielen uns seit einer geschlagenen Stunde Klingelstreiche. Ich hoffe, sie gehen mit diesem Zeitvertreib nicht der gesamten Nachbarschaft auf den Geist.« Er warf einen demonstrativen Blick auf seine Armbanduhr. »Dir ist schon klar, wie spät du dran bist, oder? Die Kuchentafel ist bereits geplündert, und Arjen hält ein Nickerchen im Sessel.«
Greta schüttelte die Hand ihres Schwagers, an dessen steife Art sie sich vermutlich nie gewöhnen würde. Es kam ihr vor, als ginge er mit ihr genauso unverbindlich um wie mit seinen Bankkunden. »Hallo, Till. Ich wäre auch gern schon viel früher da gewesen, aber die Fahrt von Zürich hierher ist nicht gerade ein Klacks. Und zu allem Überfluss habe ich noch eine Ewigkeit im Elbtunnel festgesteckt.«
»Tja, mit dem Umweg über die Landstraße ist man meist besser beraten, gerade am Samstag, wenn halb Hamburg an die Küste will. Den Tipp hätte ich dir jedenfalls gegeben, wenn du gefragt hättest. Wo hast du denn Erik gelassen, ist ihm beruflich was dazwischengekommen?«
Greta lächelte lediglich, was Till sogleich als ein »Ja« nahm.
»Schade. Ich hätte gern mit ihm geplaudert, wo er doch quasi ein Spezialist für grüne Geldanlagen ist. Das Thema kommt auch bei unserer kleinen Filiale immer mehr an, da wäre mir ein Insidertipp gerade recht gekommen, so von Schwager zu Schwager ...«
Gretas Lächeln gefror, ohne dass Till es bemerkte. Immer noch über Eriks bemerkenswertes Fachwissen schwadronierend, begleitete er sie ins Haus. Einen unglücklicheren Empfang hätte Greta sich wirklich nicht ausmalen können. Dabei hatte sie gehofft, dass es Anette sein würde, die ihr die Tür öffnete. Nicht nur weil ihr eine überschwängliche Begrüßung mit Umarmung und Küssen gutgetan hätte, sondern weil sie auf diese Weise auch im Halbdunkel der Diele hätte verraten können, warum Erik nicht mitgekommen war. Aber mit Till Fröben an ihrer Seite verflüchtigte sich sogar das Gefühl von Heimkommen, nach Geständnissen war ihr deshalb schon gar nicht zumute.
Als ihr Schwager auf das Wohnzimmer hinter der Doppeltür mit den verzierten Milchglasscheiben deutete, wehrte Greta ab. Das Stimmengewirr und die zahlreichen umhergehenden Schatten verrieten, dass nicht nur Familie und Freunde eingeladen waren, sondern das halbe Dorf - allen voran vermutlich die alteingesessenen Meresunder. Seit das alte Wirtshaus am Platz einem Supermarkt hatte weichen müssen, fanden sie selten Gelegenheit beizusammenzusitzen.
»Bevor ich die ganze Gästeschar begrüße, mache ich erst einen Abstecher in die Küche. Ich brauche dringend eine Stärkung.« Erfahrungsgemäß würden sich in der Küche die wirklich wichtigen Leute tummeln, solange Arjen eine Auszeit im Sessel nahm.
Irritiert über diese Abweichung im Ablauf blinzelte Till. Dann beschloss er, dass bei seiner Schwägerin eigentlich mit nichts anderem zu rechnen war. Gretas unkonventionelle Art war ihm genauso fremd, wie es ihr sein Rund-um-die- Uhr-Bankfilialleiter-Gehabe war. »Fein, wie du meinst. Dann sage ich den anderen schon einmal Bescheid, dass du nun doch noch eingetroffen bist. Wencke redet schon seit Stunden über nichts anderes als über deine Verspätung. «
Na, und warum hat meine liebe Schwester mich dann nicht persönlich in Empfang genommen, sondern ihren Stellvertreter geschickt? Greta ahnte warum: Wencke würde es deutlich befriedigender finden, sie vor versammelter Gästeschar anzupfeifen. Hastig lief sie zur angelehnten Küchentür, bevor Wencke noch auf die Idee kam, einen Blick um die Ecke zu werfen.
Wie erwartet hielt Anette sich in der Küche auf. Es war ihr Lieblingsplatz, denn während eines Familienfestes lag hier die Kommandozentrale. Zwischen Küchenbuffet und Eichenschränken wurde nicht nur frischer Tee aufgesetzt, Schlagsahnenachschub produziert und Abräumpatrouillen ausgesandt. Hier wurden auch die wirklich interessanten Gespräche geführt, während noch einmal die übriggebliebenen Sektflaschen kreisten. Später würde Anette dann entscheiden, wer ein paar Stücke Kuchen eingepackt bekam und wer am nächsten Vormittag auf eine Tasse Kaffee vorbeischauen durfte, um die Feier in Ruhe noch einmal Revue passieren zu lassen. Im Augenblick war sie jedoch damit beschäftigt, das blutende Knie ihres siebenjährigen Enkels Lars zu verarzten, während der Junge die Tränen auf seinen Wangen verrieb, damit keine verräterischen Spuren zurückblieben.
»Siehst du, Lars: Nichts mehr zu sehen von dem Kratzer. Das Pflaster deckt alles ab. Und wenn man nichts sieht, dann tut auch nichts weh«, erklärte Anette im Brustton der Überzeugung. »Geh jetzt wieder zu den anderen Rackern in den Garten, aber wenn ich noch einmal die verfluchte Klingel läuten höre, setzt es was hinter die Löffel.« Die Drohung nahm Lars allem Anschein nach nicht ganz ernst, denn er zuckte bloß mit den Achseln. Anette entging der Mangel an Zustimmung. »Braver Junge. Und mach einen Bogen um deine Mutter. Wenn Wencke das Pflaster sieht, regt sie sich bloß unnötig auf.« Lars bekam zum Trost noch einen Windbeutel in die Hand gedrückt, dann war er entlassen. Nach einem hastigen Nicken in Richtung seiner Tante machte der Junge sich durch die Seitentür ins Freie davon - so gut, wie man mit einem frisch aufgeschrammten Knie eben laufen kann.
Endlich bekam Greta ihre ersehnte Umarmung. Sie ließ sich tief in die Arme ihrer Mutter sinken, spürte die vertraute Nähe und atmete den Duft von Chanel No. 5, den Anette schon seit Ewigkeiten trug.
»Da bist du ja, mein Schatz.« Anette verlor kein Wortdarüber, dass Greta später als angekündigt eingetroffen war, sondern schob sie in Richtung Anrichte. Fast rechnete Greta damit, hochgehievt zu werden wie der kleine Lars. Stattdessen positionierte Anette ihre Tochter so, dass sie inmitten des Durcheinanders einen Kuchenteller, eine Teetasse und ein randvolles Sektglas vor ihr platzieren konnte. Schlagartig bemerkte Greta, wie ausgehungert sie war. Auf der Fahrt hatte sie lediglich eine Packung Reiswaffeln gegessen, weil ihr nach ihrer Abreise aus Zürich der Magen geschmerzt hatte. In Anettes Gegenwart verflüchtigte sich endlich der unangenehme Druck im Bauch, den sie seit ihrer Abfahrt aus Zürich verspürte. Der Frankfurter Kranz stellte wirklich die reinste Versuchung dar ... Trotzdem stürzte Greta erst einmal den Sekt hinunter, denn sie ahnte, dass es in der Küche nicht lange so friedlich bleiben würde. Schon wanderte Anettes prüfender Blick über ihr Äußeres.
»Warum bist du denn allein in der Küche?« Weit würde Greta mit diesem Ablenkungsmanöver nicht kommen, aber sie war für jede Sekunde Aufschub dankbar.
»Ach, dieses Tamtam ... Dabei sind meine Nerven eh schon zum Zerreißen angespannt.« Anette hielt inne, als würde die Belastung ihr die Worte rauben. Einen verstörenden Moment lang befürchtete Greta, ihre Mutter wisse bereits wegen der Trennung Bescheid, aber dann deutete Anette auf den Kalender. »Vorgestern hatte Arjen seine Nachuntersuchung wegen der Knochenmarkgeschichte. Diese Unwissenheit und die ständige Angst setzen mir zu, obwohl er ja immerzu behauptet, vollständig genesen zu sein. Als wäre Krebs eine Erkältung, die man nur gründlich auskurieren muss.«
Die halbjährliche Nachuntersuchung hatte Greta vor lauter eigenen Sorgen ganz vergessen gehabt. »Und, was sagen die Ergebnisse?«
Anette zuckte mit den Achseln. »Laut Arjen ist alles bestens. Aber ich mache mir trotzdem Sorgen, er sieht so ausgelaugt aus in der letzten Zeit und hält deutlich mehr Nickerchen in seinem Lesesessel als sonst. Nicht einmal die Tageszeitung weckt sein Interesse, die blättert er lediglich durch. Vermutlich werde ich mich daran gewöhnen müssen, dass ihn sein Alter nun doch einholt.« Unvermittelt hoben sich Anettes Mundwinkel zu einem Lächeln. »Außerdem gibt es noch einen triftigen Grund, sich in der Küche zu verstecken: Wilke Anders von nebenan schenkt gerade seinen selbstgemachten Kirschlikör aus. Sieht ganz so aus, als wäre ich die Einzige, die nach dem Desaster im letzten Jahr nicht vergessen hat, dass dieses Zeug das reinste Abführmittel ist.«
Mit einem Grinsen füllte Greta ihr Sektglas nach. »Ich erinnere mich, Wencke hat mir die Folgen des Geburtstagslikörchens am Telefon lebhaft geschildert. Ich würde ohnehin nur unter Zwang etwas zu mir nehmen, das der alte Wilke gebraut hat. Mit seinen dicken Brillengläsern konnte er Wencke und mich schon nicht mehr auseinanderhalten, als sie noch ein pummeliger Teenager war und ich eine Grundschülerin mit raspelkurzen Haaren, die von allen für einen Jungen gehalten wurde.«
»Manche Dinge ändern sich eben nie.« Anette nippte an ihrem Glas. »Scheint ja auch der Fall bei deinen Haaren zu sein ... Hast du wieder angefangen, sie dir selber mit der Papierschere zu schneiden, so wie damals, als du lediglich ein wenig Knete aus deinem Zopf schneiden wolltest und das Rumgeschnippel in einem Igelschnitt endete? Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, reichten deine Haare noch über die Schultern, was schick und ausgesprochen weiblich aussah.«
Schuldbewusst packte Greta in ihren Schopf, der im Nacken in unregelmäßigen Stufen endete. Einen besseren Schnitt hatte sie nach ihrem Wutanfall, bei dem ihr langes Haar hatte dran glauben müssen, nicht hinbekommen.
Anettes Augen verengten sich zu Schlitzen. »Was ist eigentlich mit deiner Stirn passiert?«
Da war sie auch schon, eine der Fragen, mit denen Greta fest gerechnet und für die sie es dennoch verpasst hatte, sich eine Ausrede zurechtzulegen. »Diese Schramme ... Also das war ein Bilderrahmen. So einer von diesen kleinen Dingern, in die wir Zeichnungen aus unserem Toskanaurlaub getan hatten. Ganz schön scharfe Kanten.«
»Ein Bilderrahmen? Was hatte der denn an deiner Stirn zu suchen?« Anette nahm jetzt einen großen Schluck Sekt, sie war offenbar etwas überfordert. »Nun lass dir doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen! Erzähl' endlich, was um Himmels willen passiert ist.«
»Wenn du es genau wissen möchtest: Der Rahmen ist von der Wand abgeprallt und mir ins Gesicht geflogen.«
»Du meinst: Er ist abgefallen.«
»Nein, abgeprallt. Nachdem ich ihn gegen die Wand geworfen hatte.«
»Warum solltest du denn so etwas tun?«
»Ehrlich gesagt, war das nicht meine Absicht. Also, das Werfen schon, aber ich wollte nicht die Wand, sondern Erik treffen. Dabei habe ich offenbar ein Stück zu hoch gezielt. Diese Rahmen machen es einem aber auch nicht leicht, sie sind ziemlich unhandlich beim Werfen.«
Anette starrte sie mit offenem Mund an, und Greta widerstand nur knapp dem Verlangen, ihr kurzerhand eine Gabel voll Kuchen hineinzuschieben. Irrsinnigerweise war ihr zum Lachen zumute, und von der Erschöpfung, die sie während der Fahrt beinahe gelähmt hatte, war nichts mehr vorhanden. Die Ausmaße ihrer Auseinandersetzung mit Erik wurden ihr erst jetzt richtig bewusst: ihr kindisches Wüten und ihre Kurzschlussreaktion, die sie dazu gebracht hatte, einen Mietwagen zu nehmen und als ungeübte Fahrerin geschlagene 1000 Kilometer zurückzulegen, ohne einen Nervenzusammenbruch zu erleiden. Mit einem Anflug von Stolz aß sie das Stück Frankfurter Kranz und begann sich währenddessen bereits nach Nachschub umzusehen. Der Windbeutel, mit dem Lars abgezogen war, hatte äußerst appetitlich gewirkt.
»Bedeutet das, dass Erik dich nicht begleitet, weil ihr einen heftigen Streit hattet?«, begann Anette die Rahmengeschichte weiterzuspinnen.
»Erik Brunner ist heute nicht mit von der Partie, weil er nicht länger Teil meines Lebens ist. Und soweit es möglich ist, werde ich verschweigen, je etwas mit ihm zu tun gehabt zu haben.«
»A-ha.« Anette wirkte restlos überrumpelt. »Das ist nun wirklich eine Überraschung, schließlich wart ihr doch so ein schönes Paar ...Vor ein paar Wochen erst hast du mir diese hübschen Fotos von eurem Wanderurlaub geschickt. Du und Erik ... Ihr habt doch auf vielen Ebenen harmoniert.«
»Das dachte ich auch«, unterbrach Greta ihre Mutter, bevor sie noch anfing, von Eriks gutem Aussehen oder anderen Schwiegersohn-Qualitäten zu schwärmen. »Nur leider hat sich herausgestellt, dass der Mann, mit dem ich fast vier Jahre zusammen war, gar nicht existiert. Der Erik, den wir kannten, war sozusagen ein ausgesprochen raffinierter Marketing-Gag.«
»Ein Gag?«
Anette verstummte, aber sie wäre ohnehin nicht weiter zum Reden gekommen, denn in diesem Augenblick stürmte Wencke in die Küche. Gretas ältere Schwester war eine von Natur aus üppige Frau, der es nur mit eiserner Disziplin und häufigen Besuchen im Fitnessstudio gelang, ihre Figur auf eine durchschnittliche Kleidergröße zu trimmen. Im Gegensatz zu Greta trug sie stets Make-up und versuchte die aktuellen Modecodes mit Hilfe der »Bunten« und »Gala« nachzuahmen. Anklagend deutete sie mit dem Zeigefinger auf ihre jüngere Schwester.
»Das ist wieder einmal typisch, dass du dich in die Küche verkrümelst, anstatt uns ›Guten Tag‹ zu sagen. Wir warten alle auf dich, aber dir ist das ja egal.«
Greta seufzte, obwohl sie mit dieser Art Begrüßungs- ritual durchaus vertraut war. Wencke verdächtigte sie permanent, mit allen Mitteln die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sogar wenn sie gar nichts tat. »Hallo, Schwesterherz. Soviel ich mitbekommen habe, warst du zu sehr mit Wilkes Kirschlikör beschäftigt, um mir die Tür aufzumachen. Oder fandest du eher, dass ich eine solche Freundlichkeit nicht verdiene?«
Ein Muskel in Wenckes Kinn zuckte und verriet, dass Greta mit ihrer Vermutung richtiglag. »Ich bin nicht zur Tür gegangen, weil es gerade so lustig war, außerdem nerven die Kinder schon den ganzen Nachmittag mit der Klingelei. Ich wette, da steckt Finn dahinter, der ärgert sich nämlich darüber, dass er auf die Kleinen aufpassen muss. Der ist in der letzten Zeit ständig launisch, vermutlich fängt das schwierige Alter heutzutage schon mit neun Jahren an.« Finn war Wenckes ältestes von drei Kindern. Irgendwo musste noch die kleine Agnes sein, vermutlich hielt sie sich dort auf, wo auch Arjen war. Die Dreijährige hegte eine Schwäche für ihren Uropa und ließ sich bestimmt auch nicht davon abschrecken, dass er inmitten seiner Geburtstagsgäste döste.
»Was ist eigentlich mit deinem Handy los?«, hakte Wencke nach. »Ich habe mindestens hundert Mal versucht, dich zu erreichen.«
Greta brauchte einige Sekunden, um zu reagieren. »Es ist ausgeschaltet.«
»Ja, das habe ich mitbekommen. Ich frage mich bloß: warum? Wozu hat man so ein Teil, wenn man es nie benutzt? Nicht einmal wenn man sich zu einem Fest wie irre verspätet und bloß mal durchrufen müsste, um zu sagen, wann man denn nun bitte schön eintrifft - und vor allem allein, also ohne die erwartete Begleitung. Erik hätte dir das Handy nicht zu schenken brauchen, das war die reinste Geldverschwendung.«
Ja, das hätte Erik mal besser gelassen, dann müsste er jetzt auch nicht versuchen, das teure Gerät aus seinem Toilettenabfluss zu befreien. Dort hatte es jedenfalls festgehangen, nachdem Greta es gemeinsam mit ein paar anderen Geschenken von Erik runtergespült hatte. Der Wasserrückstau hatte zu einer Überschwemmung des Badezimmers geführt, mit der sie sich, Gott sei Dank, nicht mehr hatte befassen müssen. »Da lebst du jahrelang im mondänen Zürich aber benimmst dich schlimmer als jede Dorfpomeranze. Allein dein Haarschnitt! Mensch, Greta, du siehst aus wie ein gerupftes Huhn. Nur mal so nebenbei erwähnt, dieser Selbstfindungstrip und das ganze aufgesetzte Autonomiebewusstsein liegen schon Jahrzehnte zurück. Heute gehen sogar Leute von deinem Schlag zum Friseur, egal für was für Mordsindividualisten sie sich halten«, schimpfte Wencke weiter, unbeeindruckt von der Tatsache, dass ihre Schwester sich einem weiteren Stück Kuchen widmete, anstatt auf ihre Anschuldigungen einzugehen. So leicht würde sie nicht aufgeben, auf dem Gebiet legte Wencke eine erstaunliche Ausdauer an den Tag. »Kein Wunder, dass Erik wenig Lust hatte, mit dir zusammen aufzuschlagen«, setzte sie kühl nach.
»Jetzt mach aber mal einen Punkt«, unterbrach Anette die Anklagerede. Sie war dazu übergegangen, die Folie von den belegten Broten zu ziehen, denn nach dem Kuchen und Likör würde die Gesellschaft unbedingt etwas Anständiges im Magen brauchen. »Deine Schwester hat sich schrecklich mit Erik gestritten und braucht Trost. Heb dir deine Vorhaltungen also für später auf, ja?«
Wencke spitzte die Lippen. »Ach, so ist das also: Unser Vorzeigepaar hat sich in die Haare bekommen. Allem Anschein nach wortwörtlich, wenn ich mir deinen Restschopf so anschaue. Und warum hast du Till überhaupt erzählt, dass Erik aus beruflichen Gründen nicht mitgekommen ist?«
»Das habe ich nicht erzählt, das muss Till vermutet haben «, erklärte Greta wahrheitsgemäß. »Genau wie du zieht er lieber seine eigenen Schlüsse, anstatt einfach mal zuzuhören.«
»Ach, jetzt ist das also meine Schuld! Wenn das so ist, dann gehe ich jetzt mal zurück zu den Gästen und ziehe dort meine eigenen Schlüsse über dieses unerwartete Liebesende. « Wencke schnappte sich eine Schale mit eingelegten Gurken und verließ die Küche.
Mit einem Schlag schien es wieder sehr viel mehr Raum zu geben. Dafür, dass Gretas Schwester ihr oft und gern vorhielt, sie würde nach Aufmerksamkeit lechzen, verwandelte sie jede Begrüßung in einen Auftritt samt dramatischem Auf- und Abgang.
Entgegen Anettes sonstiger Art, alles schönzureden, kräuselte sie jetzt die Stirn. »Du weißt schon, dass Wencke eigentlich nicht so ist, oder? Normalerweise ist sie ganz verträglich, aber irgendwas an dir treibt sie zur Weißglut. Als müsse sie dann um jeden Preis beweisen, dass sich ihr Leben locker mit deinem messen kann, auch wenn es ganz anders ist.«
Greta nickte nachdenklich. Dass Wencke sich an ihren Gegensätzen rieb, war ihr auch schon aufgefallen, obwohl sie die Wurzel des Problems nicht begriff. Ihre Schwester hatte sich schließlich bewusst für Meresund entschieden, als sie nach ihrer Bankausbildung Till Fröben geheiratet hatte und schon kurze Zeit später schwanger geworden war. Dieser Lebensweg mit Familie, Haus und Garten in einer Kleinstadt war zwar nicht außergewöhnlich, aber deshalb noch lange kein Grund, sich angreifbar zu fühlen. Und schon gar nicht gegenüber ihrer jüngeren Schwester, die mehr denn je das Gefühl hatte, weder angekommen zu sein, noch zu wissen, wohin sie eigentlich gehörte.
3
Die Begrüßung der Gästeschar im Wohnzimmer überstand Greta ohne weitere Fragen oder Anspielungen auf den abwesenden Erik. Das lag gewiss an dem Tablett, das sie vor sich hertrug und dessen belegte Brote jeden milde stimmten, der auf sie zutrat. Die Nachbarn und Freunde der Familie, die sie von klein auf kannten, freuten sich, sie endlich wieder einmal zu sehen. Bei ihrem Rundgang durch Wohn- und Esszimmer wurde Greta bewusst, wie sehr sie Meresund vermisst hatte. All die vertrauten Gesichter, die während ihrer Abwesenheit reifer, kantiger, fülliger und faltiger geworden waren, ohne dass sie diesen Prozess begleitet hatte ... Und was war ihr von diesen Jahren geblieben? Ein Abschluss in Umweltwissenschaften und ein Mietwagen voller Habseligkeiten. Und darauf sollte Wencke ernsthaft neidisch sein? Wohl kaum.
»So, Mädchen, du trinkst jetzt erst mal einen ordentlichen Kirschlikör, damit du einen Tupfer Farbe auf die Wangen bekommst.« Über den Rand des Glases, das ihr der alte Wilke reichte, rannen rote Tropfen.
Greta zögerte, denn seit dem zweiten Glas Sekt rumorte es in ihrem Bauch. Dann warf sie ihre Bedenken über Bord. Zu einer ordentlichen Feier gehörte es schließlich, angeheitert zu sein - selbst auf die Gefahr hin, die Fassung zu verlieren und einem von Arjens ehemaligen Patienten ihr Elend zu klagen. Im Zweifelsfall dankten einem die Leute solche Ausrutscher, weil man damit ordentlich für Gesprächsstoff sorgte. Der Geschmack von Cocktailkirschen setzte ihren Plänen, sich anständig zu betrinken, allerdings sogleich ein Ende. Die zähe Flüssigkeit klebte ihr regelrecht am Gaumen fest. Um dieses Teufelszeug anständig runterzubekommen, muss man ja seit Ewigkeiten im Training sein, dachte Greta, bevor sie beherzt schluckte.
»Ein ordentliches Tröpfchen, was? Und gleich noch einen hinterher.« Während Greta den Tränenschleier aus den Augen blinzelte, schenkte Wilke ihr bereits nach. »Immer schön den Kopf in den Nacken und dann fix ein Leberwurstbrot hinterher. Wir heben das Glas hoch auf den mürben Knochen Rosenboom, auf dass der Teufel ihn vergisst!«
»Nur zu, mein Liebes. Einen besseren Trinkspruch wird es heute nicht mehr geben«, sagte eine vom Alter tief gewordene Stimme neben ihr.
Greta blickte in Arjens ungebrochen strahlend blaue Augen. Mit seiner immer noch aufrechten Haltung überragte er sie ein ganzes Stück, und obwohl er deutlich hagerer geworden war, fühlte sie sich in seinem Schatten geborgen. Mit einem Lächeln prostete Greta ihm erst zu, dann umarmte sie ihren Großvater. »Alles Liebe und Wundervolle zum Geburtstag. Es tut mir leid, dass ich erst jetzt da bin. Wirklich sehr leid.«
»Nicht doch«, erwiderte Arjen. Sein Gesicht war braungebrannt vom gerade ausklingenden Sommer, und die Furchen um Augen und Mund waren noch ein Stück tiefer geworden seit ihrem letzten Besuch. »Mir tut es leid, dass du so eine weite Reise wegen dieses lästigen Ehrentags auf dich genommen hast, obwohl ich mich natürlich außerordentlich darüber freue. Hübsch übrigens, wie du dein Haar trägst.«
»Frisur kann man das, glaube ich, nur nennen, wenn man eine halbe Flasche von ›Wilkes Spezial‹ intus hat.« Es fiel Greta so leicht wie immer, mit Arjen zu plaudern. Ein Wortergab das andere, sodass sie die Gesellschaft des anderen nie leid wurden.
»Dann bin ich der richtige Mann. Wirklich, Wilke, ich bin froh, dass kein einziger Zahn in meinem Mund mehr echt ist, ansonsten würde ich mir nach diesem Zuckerkonzentrat ordentlich Sorgen um meine Beißer machen. Hat dieser Sirup überhaupt jemals eine echte Kirsche gesehen?«
Während Wilke bloß abwinkte und sich Menschen zuwandte, die mehr von seinen Destillierkünsten verstanden, deutete Arjen auf die offenstehende Terrassentür, die in den Garten führte.
»Nach meinem Nickerchen brauche ich dringend ein wenig Bewegung. Möchtest du mich begleiten?«
»Nichts lieber als das.« Glücklich hakte sich Greta bei ihrem Großvater unter.
Der Garten lag still im Nachmittagslicht. Die Kinder, die vor kurzem noch zwischen den Obstbäumen Fangen gespielt oder verbotenerweise Astern gepflückt hatten, waren hungrig ins Haus zurückgekehrt. Auch die Gruppe von Rauchern, die es sich in der Laube gemütlich gemacht hatten , war verschwunden. Arjen und Greta steuerten in Eintracht die Bank unter dem Apfelbaum an, jenen Ort, den sie schon in Kindheitstagen geliebt hatte. Von hier aus konnte man den weitläufigen Garten mit seinen Rabatten und Obstbäumen am besten überschauen und fühlte sich zugleich geborgen. Ein paar späte Äpfel hingen noch im Baum, als hätten sie auf Gretas Rückkehr gewartet.
»Lass uns die ruhigen Minuten genießen, bevor die Meute wie auf ein geheimes Signal hin aufbricht und Anette uns scheucht, damit wir uns rechtzeitig zum Abendessen zurechtmachen. Der heutige Tag ist nämlich fest durchgetaktet wie ein offizieller Anlass. Heute Vormittag ging es los, da wurde denjenigen eine Audienz gewährt, die nicht zur großen Kuchenschlacht geladen worden waren. Ich bin ehrlich erstaunt, dass die Gratulanten unter Anettes Aufsicht weder Zehn-Minuten-Termine zugewiesen bekamen noch Nummern ziehen mussten, um mir die Hand zu schütteln.«
Obwohl Arjen amüsiert klang, glaubte Greta eine gewisse Erschöpfung herauszuhören. Auch seine Hand, die sie hielt, fühlte sich ungewohnt knochig und kühl an. Die ganze Aufmerksamkeit überstieg seine Kräfte, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte. »Anette will dir halt um jeden Preis zeigen, wie wichtig du für Meresund und unsere Familie bist«, tastete sie sich vorsichtig an das Thema heran. »Die vielen Gratulanten und Gäste ... Mir schwirrt ebenfalls der Kopf, und dabei bin ich erst seit einer Stunde hier. Es wird sicherlich jeder verstehen, wenn du den Restaurantbesuch ausfallen lässt und dich statt dessen zurückziehst. «
Arjen winkte ab. »Um Himmels willen, das Essen im Kreis der Familie ist doch der Höhepunkt! Endlich sind wir wieder einmal alle vereint - abgesehen von der kleinen Agnes , die jetzt schon bettreif ist. Nach so einem langen Tag ist eine Abendgesellschaft zwar anstrengend, aber ich möchte meinen Geburtstag auskosten, als wäre er mein letzter. Da bin ich mit deiner Mutter ausnahmsweise einer Meinung.«
Greta konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Wenn du Anette weiterhin die Regie überlässt, dann wird es bestimmt dein letzter Geburtstag sein. Mama muss es immer übertreiben, bestimmt endet die Feier mit einem Überraschungsfeuerwerk direkt unter deiner Nase, und du erleidest vor Schreck einen Herzinfarkt. Wenigstens kannst du dich in dem Fall darauf verlassen, dass sie dir eine großartige Beerdigung mit allen Schikanen organisieren wird.«
Einen Moment lang blickte Arjen sie streng an, obwohl seine Mundwinkel bereits verdächtig zuckten, dann brachen sie in schallendes Gelächter aus. So wunderbar das gemeinsame Lachen sich auch anfühlte, es täuschte nicht darüber hinweg, dass viel Ungesagtes zwischen ihnen stand und die Vertrautheit auf längst vergangenen Tagen beruhte. Regelmäßige Telefonate und Briefe vermochten den Anschein zu erwecken, am Alltag des anderen teilzuhaben, aber die entscheidenden Zwischentöne gingen auf diesem Weg verloren.
Warum bist du überrascht?, ging es Greta durch den Kopf. Genauso wenig wie Arjen weiß, wie dein Leben in Zürich unter der Oberfläche ausgesehen hat, so wenig weißt du über seins. Das Leben von Großvätern findet nicht bloß dann statt, wenn ein Enkelkind neben ihm sitzt. Aber genau so hast du ihn gesehen, als wärst du immer noch ein Kind, in dessen Wahrnehmung die Familienmitglieder ihre verschiedenen Rollen erfüllen - und nicht mehr.
Während ihr Großvater sich vorbeugte, um einen abgebrochenen Zweig vom Boden aufzuheben, fragte Greta sich plötzlich, was sie wirklich über Arjen Rosenboom wusste. Natürlich wusste sie, dass er in einem Fischerdorf an der ostfriesischen Küste geboren worden war und dass er nach seinem Medizinstudium in Heidelberg letztendlich nach Meresund in Schleswig-Holstein gezogen war. Greta kannte die Geschichte, wie Arjen seine Frau Elisabeth während einer Zugfahrt nach Süddeutschland kennen
© der Originalausgabe 2013 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Es kam fast einer Befreiung gleich, dass endlich passierte, was Arjen schon die ganze Zeit über befürchtete. Auf der Treppe im Hausflur erklangen Schritte. Jemand war auf dem Weg nach oben.
Oben ... Wo sie in einem fremden Zimmer herumschnüffelten.
Arjen stieß einen lautlosen Schrei aus. Mit einem Schlag löste sich die Anspannung, die ihm die Luft abgeschnitten hatte, seit sie heimlich übers Rosengitter durch das offenstehende Fenster geklettert und durch sämtliche Räume des heruntergekommenen Herrenhauses bis ins Obergeschoss geschlichen waren.
Dieser Koloss Denneburg ist aus seinem Nickerchen im Garten aufgewacht! Von wegen der schläft nach einem Saufgelage mit seinen Parteikumpanen seinen Rausch noch dann aus, wenn wir längst über alle Berge sind ... Denneburg war schließlich schon trinkfest gewesen, bevor er Ortsgruppenleiter der NSDAP geworden war.
Warum hatte Arjen sich bloß auf diese Dummheit eingelassen? Sein Herzschlag dröhnte ihm bis in die Ohren, nur übertönt von Rubens Lachen. Ein kehliger und viel zu schallender Laut. Im nächsten Moment versetzte sein Freund ihm auch schon einen Stoß in die Rippen, und Arjen fiel das Keksglas aus den Händen, das er vom Nachttisch genommen hatte. Es zersprang mit einem Knall. Entsetzt starrte er auf die zerbrochenen Gebäckstücke und die vielen Glassplitter.
Die Schritte wurden nicht nur lauter, sondern auch schneller. Gleich würden sie den oberen Flur erreichen, dann waren sie nur noch einige Zimmertüren von ihnen entfernt.
Wir sind entdeckt. Verloren.
Endlich verstummte Rubens Lachen, obwohl er weiterhin belustigt dreinblickte, als er eine Hand auf Arjens Schulter legte. »Halb so wild, die Kekse waren ohnehin staubtrocken, so wie die beim Aufschlag zerbröselt sind. Und genau dasselbe wird Denneburg mit uns anstellen, wenn wir uns nicht sofort aus dem Staub machen. Der Kerl hat keine Hände, sondern Pranken.«
»Weglaufen?«, fragte Arjen benommen, obwohl sein Körper wie unter Strom stand, bereit, jederzeit loszusprinten. »Wohin denn?«
Da war es wieder, dieses kehlige Lachen, als habe Ruben nur darauf gewartet, dass sie erwischt wurden, als ob der Spaß erst jetzt richtig losging, seit ihr kleiner Ausflug auf Messers Schneide stand. Mit einem schmerzhaft festen Griff packte er Arjen und zerrte ihn zum Fenster, das hinter bodenlangen Vorhängen verborgen lag. Ruben riss den Stoff beiseite, und Arjen blinzelte ins Sonnenlicht, regelrecht geblendet, nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit durchs abgedunkelte Haus geschlichen waren. Zwei Jungen auf der Suche nach einem Zeitvertreib an diesem flirrend heißen Sommertag. Zumindest hatte Arjen das geglaubt, bis Ruben den Fotoapparat - eine Leica - vom Sekretär in der Wohnstube genommen hatte. »Du willst den Apparat doch nicht ernsthaft mitnehmen?«, hatte Arjen gefragt. Ruben hatte daraufhin etwas von »ausleihen« erzählt, und Arjen hatte sich nur allzu bereitwillig beschwichtigen lassen. Ein großer Fehler, wie er sich jetzt eingestehen musste.
»Wir laufen nicht weg, wir fliegen«, erklärte Ruben, während er mit seiner unnachahmlichen Leichtigkeit auf die Fensterbank glitt und den Gurt des Fotoapparates quer über seine Brust legte. »Und zwar auf das Schuppendach, das ist höchstens einen Katzensprung weit entfernt.« Sonnenstrahlen umtanzten seine Silhouette, und einige Sekunden lang schien er nicht wie ein für seine zwölf Jahre zu schmächtiger Junge, sondern wie eine überirdische Erscheinung, die Arjen seine Furcht vergessen ließ. So war Ruben, und deshalb war er ihm in dieses Haus gefolgt. Deshalb würde er ihm überallhin folgen.
Als gäbe es die Schwerkraft nicht, stieß Ruben sich vom Fensterbrett ab und landete auf den hölzernen Dachschindeln des Schuppens. »Siehst du? Nichts leichter als das.«
Gerade als Arjen sich aus dem Fenster beugte und feststellte, dass der »Katzensprung« gut und gern zwei Meter betrug, wurde die Zimmertür aufgeschlagen.
»Was zum Henker treibst du Bengel in meinem Haus?« Vor Arjens geistigem Auge erschien ein furchteinflößendes Bild von Denneburg: Unrasiert und von der Mittagshitze verschwitzt stand er in der Tür, lediglich mit Hosen und Unterhemd bekleidet, das Gesicht bereits zunderrot vor Zorn, die Faust zum Schlag erhoben. Ganz anders als der stramme Parteimann, als der er sonst auftrat, stets akkurat gekleidet, das bronzene Dienstabzeichen stolz auf der Brust. Frederick »Fred« Denneburg war der in ganz Beekensiel bekannte Wortführer der Partei, der mit Kirchenverbot belegt worden war, nachdem er die letzte Weihnachtsmesse mit politischen Parolen ruiniert hatte.
Arjen hörte, wie der schwere Mann sich näherte. Er glaubte, den Windzug seiner Bewegungen zu spüren, und trotzdem rührte er sich nicht. Das Dach vom Schuppen war zu weit fort, und er war nicht Ruben, dem unsichtbare Flügel wuchsen, wenn er sie brauchte. Als eine Diele hinter Arjen knarrte, wirbelte er herum und wechselte einen Blick mit Fred Denneburg, der bereits den halben Raum durchschritten hatte.
»Moment mal.« Langsam hob Denneburg den Zeigefinger. »Du bist doch der Sohn von Thaisen Rosenboom, diesem alten Wichtigtuer. Dein Herr Papa hat mich vor ganz Beekensiel zum Affen gemacht, weißt du das? Er hat mich einfach aus seiner Kirche geschmissen, nur weil ich erwähnt habe, dass der angebliche Heiland ein verdammter Jude ist. Und ausgerechnet du, das Pfaffenkind, steigst bei mir ein?«
Ein Grinsen breitete sich auf Denneburgs Gesicht aus. Offenbar gefiel ihm der Gedanke, den Nachwuchs vom widerspenstigen Pastor Rosenboom auf frischer Tat ertappt zu haben. Vor kurzem erst hatte es eine große Diskussion darum gegeben, dass Thaisen sich weigerte, seinen Sohn an den Veranstaltungen der Hitlerjugend teilnehmen zu lassen - offiziell wegen der zarten Gesundheit des Jungen. Nur war allgemein bekannt, dass der einzige Verbund, den der Herr Pastor akzeptierte, der seiner Kirche war. Wenn Denne burg jetzt Arjen zu fassen bekam, würde er ihn zweifelsohne auf den Marktplatz des Dorfes schleppen und lautstark bekannt geben, dass er den jungen Herrn Rosenboom beim Einbruch ertappt hatte. Für eine solche Schandtat würde Arjens angeblich ach so zarte Gesundheit ja gerade noch hinreichen.
»Na, warte«, drohte Denneburg. »Dich werde ich lehren ...« Weiter kam er nicht, denn eine Scherbe bohrte sich in seine nackte Fußsohle.
Das derbe Schimpfwort, das Denneburg ausstieß, ließ Arjen seine Höhenangst vergessen. Ein Sturz aus dem oberen Stockwerk konnte unmöglich furchtbarer sein, als von diesem Ungetüm eingefangen zu werden. Vor allem wenn das Ungetüm seinetwegen Schmerzen litt.
Mit einem Satz sprang Arjen auf die Fensterbank und sogleich weiter ins Freie, warf seinen Körper nach vorn und spürte prompt, wie er wegsackte, wie die haltlose Tiefe an ihm sog. Im letzten Moment packten Finger sein nass geschwitztes Hemd und verliehen ihm den nötigen Schwung, um das Schuppendach zu erreichen. Seine Hüfte schlug hart gegen die Traufe, während seine Beine ins Leere fuhren, doch sein Oberkörper lag sicher auf Rubens Schoß.
»Mist, verdammt«, brachte Arjen atemlos hervor. »Mist, verdammt, verdammt, verdammt. Zur Hölle mit dir und deinen Schnapsideen!« Das sonst immer aufs strengste verbotene Fluchen fühlte sich wunderbar an, genau wie Rubens fester Griff. Sogar der Schmerz in seinem Hüftknochen gab Arjen das Gefühl, lebendig - ja, unbesiegbar zu sein.
»Das war keine Schnapsidee, sondern eine Herausforderung des Schicksals«, erklärte sein Freund würdevoll, doch in seinen Augen blitzte es, als er auf die Kette um seinen Hals deutete.
Ein Bogen, breit wie der Handteller eines Kindes, zeichnete sich unter Rubens fadenscheinigem Hemd ab. Für einen Außenstehenden sah er aus wie ein zu groß geratener Anhänger an einem Lederband. Arjen hingegen wusste nur allzu gut, welcher Schatz dort verborgen lag. Ein wundersames Geheimnis, dessen Macht er am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte. Allein bei seinem Anblick glaubte er, seine Kraft zu spüren, während die Gewissheit zunahm, mehr als nur ein Junge auf einer abseitigen Nordseeinsel zu sein, mehr als Thaisen Rosenbooms stiller Sohn ... Er gehörte zu Ruben, und er war als Einziger in das Geheimnis eingeweiht worden, das diesen charismatischen Jungen in die Einsamkeit von Beekensiel verschlagen hatte.
»Na ja, zumindest so viel Schicksal, wie man aus diesem elenden Kaff herausholen kann«, fügte Ruben grinsend hinzu.
Arjen begann zu lachen, wild und frei, und vergaß den tobenden Denneburg und seine Verwünschungen. Er verschwendete nicht einmal einen Gedanken daran, welche Folgen dieser Zwischenfall und der geliehene Fotoapparat haben würden. Für ihn - und noch mehr für Ruben. Stattdessen stemmte er sich auf die Beine und lief hinter seinem Freund her, eine Hand an den sonnenerhitzten Schindeln, um das Gleichgewicht zu halten, obwohl er wusste, dass er nicht fallen würde.
Nicht, solange Ruben das Schicksal in seinen Händen hielt.
1
September 2012
Seit zehn Minuten hatte sich auf der Autobahn nichts mehr bewegt - einmal abgesehen von dem SUV, der Gretas mit einem Schlag winzig erscheinendem Mietwagen noch einen Zentimeter näher kam. Sollte der Fahrer dieses Monstrums das Gaspedal auch nur mit der Fußspitze berühren, würde es unweigerlich zu einem Zusammenstoß kommen. Greta ertappte sich dabei, wie sie gebannt in den Rückspiegel starrte und fest mit einem heftigen Ruck rechnete, der sie in den Anschnallgurt drücken würde. Ihr Brustkorb verengte sich in vorauseilendem Gehorsam, während gleichzeitig Adrenalin durch ihre Glieder jagte.
Bleib ruhig, noch ist nichts passiert.
Doch das Kopfkino ließ sich nicht so leicht unter Kontrolle bringen und spann das Schrecksszenario weiter: Nach dem Rums würde der Fahrer heftig an ihr Fenster klopfen, um ihr die Schuld für den Auffahrunfall in die Schuhe zu schieben, während sie zu durcheinander wäre, um sich zur Wehr zu setzen. Das wäre dann die Krönung dieses grauenhaften Tages am Ende einer grauenhaften Woche.
Schon am gestrigen Mittag, als Greta vor der Ausgabe des Autoverleihs stand, hätte sie den VW Fox am liebsten stehen lassen und stattdessen den Zug in Richtung Kiel genommen. Nur wäre es dann unmöglich gewesen, all ihre Sachen mitzunehmen. Erik hätte sie ihr hinterherschicken müssen, und genau das hatte sie um jeden Preis vermeiden wollen. Von Erik Brunner wollte sie nichts mehr hören und sehen, nicht einmal seine Handschrift auf einem Paket schein. Als sie die Kartons mit rasch hineingeworfener Kleidung, zwei Bonsais, jeder Menge Bücher und Krimskrams im Wagen verstaut hatte, war sie sich plötzlich armselig vorgekommen. Sie war achtundzwanzig Jahre alt, und alles, was sie besaß, passte in einen VW Fox, der ihr nicht einmal gehörte.
Dann gibt es wenigstens nichts, das deinen Neustart belastet, hatte sie sich selbst aufzumuntern versucht.
Nur hatte sich der Neustart von der ersten Sekunde an als Albtraum erwiesen. Denn Greta besaß zwar einen Führerschein, aber so gut wie keine Fahrpraxis. In Zürich, das in den letzten drei Jahren ihr Zuhause gewesen war, fuhr man mit der Straßenbahn, und in Berlin, wo sie zuvor gelebt hatte, war sie stets mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Durcheinander und überreizt, wie sie nun einmal war, stellte die Fahrt von Zürich in den Norden Deutschlands eine Herausforderung dar, die sie nur gerade so bewältigte. Als die Nacht eingebrochen war, hatte sie sich eingestehen müssen, dass ihre Idee durchzufahren nicht funktionieren würde. Und so hatte sie ein paar Stunden im Autositz geschlafen, nur um mit dröhnenden Kopfschmerzen aufzuwachen. Am schlimmsten war jedoch der Traum gewesen, der ihr realer erschienen war als das im Halbdunkel liegende Waldstück hinter der Windschutzscheibe. Es war auch gar kein richtiger Traum gewesen, dazu ähnelte er viel zu sehr dem Abend, an dem Greta nachgegeben hatte. Mit pochenden Schmerzen hinter ihren Schläfen erinnerte sie sich ...
Erik lachte.
Sein Schauspielerlachen, dachte Greta wie so oft, halb fasziniert, halb abgestoßen. Ein Mann sollte nicht auf diese Weise lachen, ganz auf die Wirkung bedacht und in dem Wissen, dass keine Frau seinem Charme würde widerstehen können. Letztendlich bildete auch sie keine Ausnahme. Die Anziehungskraft dieses klangvollen Gelächters in Verbindung mit Eriks gut geschnittenem Gesicht war stärker als ihr Argwohn, und Greta fiel mit ein, auch wenn ihrem Lachen etwas Aufgesetztes anhaftete.
Und warum hätte sie auch in Grübeleien versinken sollen? Der Sommerabend war lau, Lichter spiegelten sich auf dem Zürichsee, und das Plätschern der Wellen verlor sich fast bis zu der Terrasse, auf der sie saßen.
»Ich bin so froh, dass du dich endlich dazu entschieden hast, bei mir zu leben«, sagte Erik. »Ich stand schon kurz davor, härtere Geschütze aufzufahren und deine gesamte Familie nach Zürich einzuladen, damit sie dir erklärt, dass es einem Nordlicht wie dir auch in der Schweiz durchaus gefallen kann.« Mit diesen Worten wollte er sie in die Arme schließen und küssen, der krönende Abschluss für seine Bemühungen.
Greta wich seinen Lippen jedoch aus, von einer plötzlichen Unruhe erfasst. Der moderne Bau, der Eriks ganzer Stolz war, schien plötzlich näher zu rutschen, als wolle er sie erdrücken. Es ähnelte der Reaktion, die sie bei den Bergketten rings um Zürich überkam, von denen sie sich - aller Vernunft zum Trotz - umzingelt fühlte. Kälte breitete sich zwischen ihren Schulterblättern aus, gegen die weder Eriks Umarmung noch die Sommernacht ankamen.
»Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob dieses Leben das richtige für mich ist«, flüsterte sie so leise, dass Erik sie nicht verstand. Aber vermutlich hätte er sie nicht einmal dann verstanden, wenn sie ihn angeschrien hätte ...
Mit einem Stöhnen schüttelte Greta diese Erinnerung ab. Schließlich kannte sie inzwischen die Antwort auf diese Unsicherheit. Unsere Beziehung war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, gestand sie sich ein, während das anbrechende Tageslicht immer mehr Unrat am Waldsaum zeigte. Der schäbige Parkplatz passte perfekt zu ihrer Stimmung. Mit Not unterdrückte sie die aufsteigenden Tränen und ließ den Motor an.
Ein Gutes musste sie der Autofahrerei ja zugestehen: Man kam kaum zum Nachdenken - zumindest wenn man eine so unerfahrene Fahrerin war wie Greta, der jeder Spurwechsel einen Schweißausbruch verursachte. Dann, kurz vor ihrem Ziel, geriet sie in diesen Endlosstau vorm Hamburger Elbtunnel. Zu Beginn war Greta noch erleichtert. Vielleicht war das ihre Chance, ihre Gedanken in Ruhe zu sortieren und einen Schlachtplan für ihre Ankunft in Meresund aufzustellen. Den würde sie nämlich auf jeden Fall brauchen, wenn sie ihrer Familie gegenübertrat - allein und sichtlich mitgenommen. Nachdem sie den Elbtunnel hinter sich gelassen hatte, konnte von einem Schlachtplan allerdings nicht einmal ansatzweise die Rede sein. Greta musste nämlich feststellen, dass Staus zwar Unmengen an Zeit kosteten, einen geistig aber trotzdem vollauf in Beschlag nahmen. Das galt besonders, wenn der Hintermann einen SUV fuhr und die Tatsache nicht akzeptieren wollte, dass der Stau für alle Teilnehmer galt.
»Selbst wenn ich mich in Luft auflösen würde, wärst du nur ein paar Meter weiter«, brummte Greta gereizt in den Rückspiegel. Die Kühlerhaube des SUV sparte sich eine Antwort und begnügte sich damit, bedrohlich hinter ihrem Kleinwagen aufzuragen.
In Gretas Schläfen begann es erneut zu pochen. Zu gern hätte sie die übertrieben laute Radiomusik für den Druck in ihrem Kopf verantwortlich gemacht. Die sollte sie eigentlich unterhalten, aber ganz gleich, wie weit sie den Lautstärkeregler nach rechts drehte, die Musik erreichte sie nicht. Nichts erreicht mich, ich fühle mich vollkommen festgefahren.
Immer wieder tauchte ganz unvermittelt Eriks Gesicht vor ihren Augen auf: Vor Konzentration ganz eingefroren, wenn er Börsenkurse auf dem Handydisplay verfolgte, anstatt die Möhren fürs gemeinsame Abendessen kleinzuschneiden ... Beim Schlafen entspannt und jung, trotz der vierzig intensiv gelebten Jahre, die sich hineingezeichnet hatten ... Zu einer Maske erstarrt, sobald er sich in der Gegenwart von Gretas Freunden zu langweilen begann ... Außer Kontrolle geraten, als sie ihm sagte, dass es vorbei sei. Es fehlte nicht viel, und Greta würde in Tränen ausbrechen. Nicht auf eine malerische Weise, bei der einem ein stiller Fluss über die Wangen lief, während sich kein einziger Muskel im Gesicht rührte, und auch nicht auf eine Mädchentour, bei der man am Ende nur ein Taschentuch brauchte, um den Schaden zu beseitigen. Wenn sie sich nicht zusammenriss, dann würde sie heulend über dem Lenkrad zusammensacken, am ganzen Körper geschüttelt und außerstande, das Elend mit einem Sack voll Taschentücher aufzufangen. Anschließend wären ihre eh schon überanstrengten Augen so zugeschwollen, dass sie bestenfalls auf den Seitenstreifen ausscheren konnte, von wo aus die vorbeirollende Kolonne sie dann beäugen würde. Sie, die Frau mit dem verquollenen Gesicht, dem wirr abstehenden Blondhaar und der blutverkrusteten Schramme auf der Stirn.
Der Gedanke an die Schramme brachte Greta die dringend benötigte Ablenkung. Während sie die hässlich blau unterlaufene Linie im Rückspiegel betrachtete, überlegte sie ernsthaft, sich mit der Nagelschere einen Pony zu schneiden. Andernfalls würde sie zuhause erklären müssen, woher die Verletzung stammte, und sie verspürte nicht das Bedürfnis, gleich nach ihrer Ankunft mit dieser Geschichte herauszurücken. Die Verletzung stand für den Höhepunkt ihrer Auseinandersetzung mit Erik, den Höhepunkt nach einem extrem steilen Aufstieg. Gerade als sie, trotz des einschneidenden Gurts, nach ihrer Kosmetiktasche auf dem Rücksitz langte, klopfte jemand an ihr Fenster. Gut möglich, dass er schon länger klopfte - bei der Musik war das kaum auszumachen.
Einen Moment lang befürchtete Greta, es sei der SUV- Fahrer, dem es nicht länger reichte, unhöflich dicht aufzufahren, und der seine Frustration jetzt direkt an ihr ablassen wollte. Anstelle eines aufgebrachten Mannes stand dort jedoch eine typische Hanseatin, adrett bis in die Haarspitzen und vielleicht zehn Jahre älter als Greta. Die Frau lächelte sie an, während Greta das Radio ausschaltete und die Fensterscheibe herunterließ.
»Ja?«
»Nun ... Ich wollte bloß nachfragen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist?«
Die Hanseatin lächelte ein wenig mehr, was Greta zu denken gab. Wenn sich eine Fremde dermaßen bemühte, freundlich und beruhigend auf sie zu wirken, dann stimmte definitiv etwas nicht. Greta lächelte entschlossen zurück, obwohl das Pochen in ihren Schläfen dadurch schlimmer wurde. »Vielen Dank. Ich weiß, ich sehe grauenhaft aus, aber Sie brauchen sich meinetwegen keine Sorgen zu machen. Die Schramme auf meiner Stirn ist ein rein oberflächlicher Kratzer. Ein dummes Missgeschick, mehr nicht.«
Offenbar zerstreute ihre Antwort die Bedenken der Frau nicht, denn sie begann nervös an ihrem Halstuch herumzuzupfen. »Diese Verletzung sieht wirklich gefährlich aus«, stimmte sie zu. »Aber ich frage mich eher, warum Sie gerade zum zweiten Mal nicht gefahren sind, als der Verkehr auf unserer Spur weiterging. Jetzt werden wir wohl eine Weile stehen.«
»Bei uns ging es weiter?« Irritiert stellte Greta fest, dass kein einziges von den Autos, auf deren Rückseite sie gefühlte Stunden lang gestarrt hatte, mehr zu sehen war. Nur der monströse SUV in ihrem Rücken war noch da. Es machte ganz den Eindruck, als sei es der Wagen der Hanseatin. Greta schluckte schwer. »Tut mir leid, ich war wohl in Gedanken ...«
Die Hanseatin zog die Brauen hoch. »Sie meinen, Sie haben das Hupkonzert hinter uns gar nicht gehört?«
»Im Stau hupt doch immer irgendwer«, versuchte Greta die Tatsache zu überspielen, dass sie tatsächlich nichts von alldem mitbekommen hatte.
»Nun, ich möchte Ihnen vorschlagen, die Musik auszulassen und die nächste Abfahrt zu nehmen. Wenn Sie Hilfe brauchen, kann ich Ihnen gern folgen und bei Ihnen bleiben, bis jemand Vertrautes Sie abholen kommt. Sie haben doch sicherlich Freunde oder Familie?« In ihrer Stimme schwang Zweifel darüber mit, dass überhaupt jemand auf Gottes schöner Welt zu Greta gehörte - so verlassen, wie sie aussah.
»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, aber meine Familie wohnt nur eine halbe Stunde von hier entfernt, und ich bin unterwegs zu ihr. Hören Sie, ich werde mich jetzt kräftig am Riemen reißen und weiterfahren, wenn die anderen fahren. Versprochen.«
Die Hanseatin blickte skeptisch drein, aber als sich Bewegung auf ihrer Spur abzeichnete, nickte sie und verschwand rasch zu ihrem Wagen, allerdings nicht ohne Greta zum Abschied noch rasch zu versichern, dass bestimmt alles gut werden würde. Das glaube ich nicht, dachte Greta, als sie den Motor anließ und zügig hinter ihrem Vordermann herfuhr. Nichts ist gut, und nichts wird so schnell wieder gut werden.
2
Vor einigen Jahrzehnten war Meresund noch ein Dorf in Schleswig-Holstein gewesen. Nachdem jedoch immer mehr Menschen aus dem Umland hinzugezogen waren, während die Bauernhöfe nach und nach verschwanden, konnte man mittlerweile von einer Kleinstadt sprechen. Die Familien in den Neubaugebieten wussten es zu schätzen, dass sie inmitten von Wiesen und Feldern wohnten, während Hafenstädte wie Kiel und Hamburg und somit das Meer nur eine kurze Autofahrt entfernt lagen. Den meisten Alteingesessenen Meresundern waren die Veränderungen allerdings nicht nur wegen der vielen Fertigbauhäuser ein Dorn im Auge. Für sie verkam ihr einst heimeliges Dorf zu einer Bettenburg, randvoll mit Leuten, die auf der Straße nicht grüßten und keine Zeit für Vereinsarbeit hatten, weil sie zu sehr mit der täglichen Pendelei beschäftigt waren.
Greta war sich nicht sicher, zu welcher Gruppe sie gehörte: zu den neuen oder zu den alteingesessenen Meresundern? Ihre Familie war aus Kiel zugezogen, als sie neun Jahre alt war, und trotzdem kannte sie das Dorf schon ihr Leben lang. Die Eltern ihres Vaters hatten hier ein Backsteinhaus mit Obstgarten und Kaninchenstall, wo sie als Kind fast alle Wochenenden und die Ferien verlebt hatte. Wenn Greta daran zurückdachte, kam es ihr so vor, als habe sie ihre Kindheit unter Apfel- und Birnbäumen verbracht, während ihr Großvater Arjen damit beschäftigt war, Unkraut zu jäten, Zweige zu beschneiden und sonstige Gartenarbeiten zu erledigen. Noch immer klangen ihr die Shantys in den Ohren, die er dabei gesungen hatte - vermutlich nur ihr zuliebe, denn niemand sonst hatte Arjen je singen gehört. Ohnehin war ihre Beziehung schon immer etwas Besonderes gewesen, und wenn sie zurückblickte, gestand Greta ohne Zögern ein, dass ihr Großvater der wichtigste Mensch in ihrem Leben gewesen war.
Ihre Mutter Anette konnte darüber nur den Kopf schütteln. »Da gibt man sich so viel Mühe mit seiner Jüngsten, verhätschelt sie von vorn bis hinten, und was kommt dabei heraus? Ihr Großvater ist die erklärte Nummer eins!«
Damals war Anette eifersüchtig auf ihren Schwiegervater gewesen, dem die Menschen zugetan waren, obwohl er es keineswegs darauf anlegte. Nach über vierzig Jahren als Landarzt hatte er vermutlich so viel gesehen und erlebt, dass er nicht mehr von den Menschen forderte, als sie zu geben imstande waren. Gelassenheit und ein kaum zu trübender Frohsinn zeichneten Arjen Rosenboom aus. Der Tag, an dem er sich zur Ruhe gesetzt hatte, kam einem Volkstrauertag in Meresund gleich. Mittlerweile stand auch Anette anders zu ihrem Schwiegervater, denn nachdem ihr Mann Carsten bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, hatte sie sich kurzerhand bei dem verwitweten Arjen einquartiert. Ihre Wohnung war ihr plötzlich unerträglich verwaist vorgekommen, und die wenigen Stunden, die sie an der Grundschule unterrichtete, hatten einfach nicht genug Ablenkung geboten.
»Auf diese Weise können wir uns gegenseitig in unserer Trauer beistehen«, hatte Anette erklärt, als sie mit gepackten Koffern und rotgeweinten Augen vor Arjens Tür stand.
»Sobald wir zwei Hübschen wieder festen Boden unter den Füßen haben, kehre ich selbstverständlich in meine Wohnung zurück.«
Dieser Fall war bis heute nicht eingetreten.
Nach außen machte es den Eindruck, als sei Anette eine treusorgende Schwiegertochter - was sie auch war. Nur war Arjen trotz seiner fünfundachtzig Jahre kein Mann, der versorgt werden musste. Ganz im Gegenteil, er kannte sich hervorragend in Haushaltsdingen aus, denn seine Frau Elisabeth hatte neben den drei Kindern auch in der Praxis ausgeholfen, die mit im Backsteinhaus untergebracht war. Es war eine kleine Praxis gewesen, wie sie für einen Landarzt im Nachkriegsdeutschland typisch gewesen war: Die Diele diente als Empfangsbereich, und das Behandlungszimmer war dort, wo eigentlich der Wirtschaftsraum vorgesehen war. Mehr brauchte es damals nicht, denn die meiste Zeit brachte Arjen ohnehin damit zu, die weit verstreut lebenden Patienten auf ihren Höfen zu besuchen. Dass nun Anette hinter ihm herputzte und glaubte, ihm seine Tabletten in Bogenform angerichtet auf dem Frühstückstisch bereit legen zu müssen, ertrug er stoisch. Wie Greta ihren Großvater kannte, ging ihm die gluckenhafte Anette bestimmt auf den Geist, auch wenn er sich niemals beschwerte. Vermutlich wusste er besser als jeder andere, dass es die verschiedensten Arten der Trauer um einen geliebten Menschen gab. Anette verarbeitete ihren Verlust, indem sie den Vater ihres verstorbenen Mannes zu ihrem Lebensmittelpunkt machte und sich einredete, zu beschäftigt zum Trauern zu sein. Nachdem Arjen vor drei Jahren an Knochenmarkkrebs erkrankt war, hatte sie ihre Wohnung schließlich gekündigt und war endgültig bei ihm eingezogen, obwohl er die Krankheit rasch überwunden hatte. Es ging bereits auf den späten Nachmittag zu, als Greta ihren Mietwagen in der Asmussengasse vor dem Backstein- haus parkte. Der kräftige Septemberwind brachte Salz vom Meer mit, das sich auf ihre Lippen legte und ihr das Gefühl gab, spätestens jetzt zuhause angekommen zu sein. In den Heckenrosen, die den Vorgarten eingrenzten, steckten Papierblumen, und über der breiten Eingangstür hing eine Girlande aus Tannengrün, die eine goldene »85« zierte. Vorfreude stieg in Greta auf, und sie schüttelte die Erschöpfung nach der langen Fahrt ab. Was ihr jetzt noch fehlte, waren die Geschenke. Das Geschenk, korrigierte sie sich sogleich, denn bereits bei Stuttgart war ihr eingefallen, dass die liebevoll ausgesuchten Kleinigkeiten für ihre Neffen und ihre Nichte auf dem Sideboard in Eriks Haus liegen geblieben waren.
Greta öffnete den Kofferraum und blickte ratlos auf das Durcheinander. Irgendwo zwischen oder auch in einem der Kartons war Arjens Geburtstagsüberraschung untergebracht. Wie sollte sie die bloß in diesem Durcheinander finden? Dann kam ihr die Erkenntnis, dass es nicht ihr Geschenk war, sondern das von Erik und ihr, und sie knallte den Deckel zu. Sie würde dem Geburtstagskind etwas schenken, von dem sie beide zuletzt viel zu wenig gehabt hatten: gemeinsame Zeit. Seit sie zum Studieren fortgezogen war, hatte sie ihren Großvater nur selten gesehen. Sie hatten sich zwar oft Briefe geschrieben und telefoniert, aber Greta war zu eingespannt gewesen, um öfter nach Meresund zu reisen, und Arjen verließ sein Zuhause nur selten. Vermutlich weil es so schwierig war, Anettes Fürsorge zu entkommen.
Es ist ein Fehler gewesen, ich hätte häufiger hier sein sollen. Bei meiner Familie. Bei ihm. Jetzt ist er fünfundachtzig Jahre alt, und niemand weiß, wie viel Zeit ihm noch bleibt, in der er gesund und klar bei Verstand ist.
Entschlossen durchquerte Greta den Vorgarten, in dem Margeriten und Sonnenhut in der zusehends schwächer werdenden Herbstsonne standen. Neben der Türklingelbrachte ihr Schein ein Messingschild zum Glänzen, das schon lange nicht mehr an dieser Stelle gehangen hatte. Es war Arjens Praxisschild, das er nach seinem Eintritt in den Ruhestand abgenommen hatte. »Wer von meinen ehemaligen Patienten meinen Rat gebrauchen kann, wird kaum vergessen haben, wo ich wohne«, hatte er mit seiner verschmitzten Art erklärt. Nun hing das Schild nicht bloß wieder, sondern hinter dem »Arjen Rosenboom, Allgemeinmediziner « war ein »a. D.« eingraviert worden. Ein kleiner Scherz, aber in erster Linie ein Zugeständnis an Arjens Zurückhaltung. Sogleich stand Greta das lebendige Bild vor Augen, wie ihre Mutter das frisch angebrachte Schild polierte und wienerte, während ihr Großvater kopfschüttelnd hinter ihr stand, halb über die Marotten seiner Schwiegertochter schmunzelnd, halb verärgert über die seiner Meinung nach unnötige Aufmerksamkeit.
Anettes Hingabe nimmt langsam, aber sicher wahnhafte Züge an, dachte Greta, bevor sie die Klingel drückte.
Die Eichentür wurde mit Schwung aufgerissen, und Greta zuckte zusammen, als ihr Schwager Till mit wütendem Gesicht auf sie zustürmte. Till Fröben, wie sie ihn im Stillen nannte, als wäre er nur ein Bekannter und nicht der Mann ihrer Schwester Wencke.
»Jetzt reicht es aber, ihr verflixten Nervensägen!«, drohte Till, ehe er erkannte, wer vor ihm stand. »Ach, du bist es bloß, Greta. Die Kinder haben sich zusammengerottet und spielen uns seit einer geschlagenen Stunde Klingelstreiche. Ich hoffe, sie gehen mit diesem Zeitvertreib nicht der gesamten Nachbarschaft auf den Geist.« Er warf einen demonstrativen Blick auf seine Armbanduhr. »Dir ist schon klar, wie spät du dran bist, oder? Die Kuchentafel ist bereits geplündert, und Arjen hält ein Nickerchen im Sessel.«
Greta schüttelte die Hand ihres Schwagers, an dessen steife Art sie sich vermutlich nie gewöhnen würde. Es kam ihr vor, als ginge er mit ihr genauso unverbindlich um wie mit seinen Bankkunden. »Hallo, Till. Ich wäre auch gern schon viel früher da gewesen, aber die Fahrt von Zürich hierher ist nicht gerade ein Klacks. Und zu allem Überfluss habe ich noch eine Ewigkeit im Elbtunnel festgesteckt.«
»Tja, mit dem Umweg über die Landstraße ist man meist besser beraten, gerade am Samstag, wenn halb Hamburg an die Küste will. Den Tipp hätte ich dir jedenfalls gegeben, wenn du gefragt hättest. Wo hast du denn Erik gelassen, ist ihm beruflich was dazwischengekommen?«
Greta lächelte lediglich, was Till sogleich als ein »Ja« nahm.
»Schade. Ich hätte gern mit ihm geplaudert, wo er doch quasi ein Spezialist für grüne Geldanlagen ist. Das Thema kommt auch bei unserer kleinen Filiale immer mehr an, da wäre mir ein Insidertipp gerade recht gekommen, so von Schwager zu Schwager ...«
Gretas Lächeln gefror, ohne dass Till es bemerkte. Immer noch über Eriks bemerkenswertes Fachwissen schwadronierend, begleitete er sie ins Haus. Einen unglücklicheren Empfang hätte Greta sich wirklich nicht ausmalen können. Dabei hatte sie gehofft, dass es Anette sein würde, die ihr die Tür öffnete. Nicht nur weil ihr eine überschwängliche Begrüßung mit Umarmung und Küssen gutgetan hätte, sondern weil sie auf diese Weise auch im Halbdunkel der Diele hätte verraten können, warum Erik nicht mitgekommen war. Aber mit Till Fröben an ihrer Seite verflüchtigte sich sogar das Gefühl von Heimkommen, nach Geständnissen war ihr deshalb schon gar nicht zumute.
Als ihr Schwager auf das Wohnzimmer hinter der Doppeltür mit den verzierten Milchglasscheiben deutete, wehrte Greta ab. Das Stimmengewirr und die zahlreichen umhergehenden Schatten verrieten, dass nicht nur Familie und Freunde eingeladen waren, sondern das halbe Dorf - allen voran vermutlich die alteingesessenen Meresunder. Seit das alte Wirtshaus am Platz einem Supermarkt hatte weichen müssen, fanden sie selten Gelegenheit beizusammenzusitzen.
»Bevor ich die ganze Gästeschar begrüße, mache ich erst einen Abstecher in die Küche. Ich brauche dringend eine Stärkung.« Erfahrungsgemäß würden sich in der Küche die wirklich wichtigen Leute tummeln, solange Arjen eine Auszeit im Sessel nahm.
Irritiert über diese Abweichung im Ablauf blinzelte Till. Dann beschloss er, dass bei seiner Schwägerin eigentlich mit nichts anderem zu rechnen war. Gretas unkonventionelle Art war ihm genauso fremd, wie es ihr sein Rund-um-die- Uhr-Bankfilialleiter-Gehabe war. »Fein, wie du meinst. Dann sage ich den anderen schon einmal Bescheid, dass du nun doch noch eingetroffen bist. Wencke redet schon seit Stunden über nichts anderes als über deine Verspätung. «
Na, und warum hat meine liebe Schwester mich dann nicht persönlich in Empfang genommen, sondern ihren Stellvertreter geschickt? Greta ahnte warum: Wencke würde es deutlich befriedigender finden, sie vor versammelter Gästeschar anzupfeifen. Hastig lief sie zur angelehnten Küchentür, bevor Wencke noch auf die Idee kam, einen Blick um die Ecke zu werfen.
Wie erwartet hielt Anette sich in der Küche auf. Es war ihr Lieblingsplatz, denn während eines Familienfestes lag hier die Kommandozentrale. Zwischen Küchenbuffet und Eichenschränken wurde nicht nur frischer Tee aufgesetzt, Schlagsahnenachschub produziert und Abräumpatrouillen ausgesandt. Hier wurden auch die wirklich interessanten Gespräche geführt, während noch einmal die übriggebliebenen Sektflaschen kreisten. Später würde Anette dann entscheiden, wer ein paar Stücke Kuchen eingepackt bekam und wer am nächsten Vormittag auf eine Tasse Kaffee vorbeischauen durfte, um die Feier in Ruhe noch einmal Revue passieren zu lassen. Im Augenblick war sie jedoch damit beschäftigt, das blutende Knie ihres siebenjährigen Enkels Lars zu verarzten, während der Junge die Tränen auf seinen Wangen verrieb, damit keine verräterischen Spuren zurückblieben.
»Siehst du, Lars: Nichts mehr zu sehen von dem Kratzer. Das Pflaster deckt alles ab. Und wenn man nichts sieht, dann tut auch nichts weh«, erklärte Anette im Brustton der Überzeugung. »Geh jetzt wieder zu den anderen Rackern in den Garten, aber wenn ich noch einmal die verfluchte Klingel läuten höre, setzt es was hinter die Löffel.« Die Drohung nahm Lars allem Anschein nach nicht ganz ernst, denn er zuckte bloß mit den Achseln. Anette entging der Mangel an Zustimmung. »Braver Junge. Und mach einen Bogen um deine Mutter. Wenn Wencke das Pflaster sieht, regt sie sich bloß unnötig auf.« Lars bekam zum Trost noch einen Windbeutel in die Hand gedrückt, dann war er entlassen. Nach einem hastigen Nicken in Richtung seiner Tante machte der Junge sich durch die Seitentür ins Freie davon - so gut, wie man mit einem frisch aufgeschrammten Knie eben laufen kann.
Endlich bekam Greta ihre ersehnte Umarmung. Sie ließ sich tief in die Arme ihrer Mutter sinken, spürte die vertraute Nähe und atmete den Duft von Chanel No. 5, den Anette schon seit Ewigkeiten trug.
»Da bist du ja, mein Schatz.« Anette verlor kein Wortdarüber, dass Greta später als angekündigt eingetroffen war, sondern schob sie in Richtung Anrichte. Fast rechnete Greta damit, hochgehievt zu werden wie der kleine Lars. Stattdessen positionierte Anette ihre Tochter so, dass sie inmitten des Durcheinanders einen Kuchenteller, eine Teetasse und ein randvolles Sektglas vor ihr platzieren konnte. Schlagartig bemerkte Greta, wie ausgehungert sie war. Auf der Fahrt hatte sie lediglich eine Packung Reiswaffeln gegessen, weil ihr nach ihrer Abreise aus Zürich der Magen geschmerzt hatte. In Anettes Gegenwart verflüchtigte sich endlich der unangenehme Druck im Bauch, den sie seit ihrer Abfahrt aus Zürich verspürte. Der Frankfurter Kranz stellte wirklich die reinste Versuchung dar ... Trotzdem stürzte Greta erst einmal den Sekt hinunter, denn sie ahnte, dass es in der Küche nicht lange so friedlich bleiben würde. Schon wanderte Anettes prüfender Blick über ihr Äußeres.
»Warum bist du denn allein in der Küche?« Weit würde Greta mit diesem Ablenkungsmanöver nicht kommen, aber sie war für jede Sekunde Aufschub dankbar.
»Ach, dieses Tamtam ... Dabei sind meine Nerven eh schon zum Zerreißen angespannt.« Anette hielt inne, als würde die Belastung ihr die Worte rauben. Einen verstörenden Moment lang befürchtete Greta, ihre Mutter wisse bereits wegen der Trennung Bescheid, aber dann deutete Anette auf den Kalender. »Vorgestern hatte Arjen seine Nachuntersuchung wegen der Knochenmarkgeschichte. Diese Unwissenheit und die ständige Angst setzen mir zu, obwohl er ja immerzu behauptet, vollständig genesen zu sein. Als wäre Krebs eine Erkältung, die man nur gründlich auskurieren muss.«
Die halbjährliche Nachuntersuchung hatte Greta vor lauter eigenen Sorgen ganz vergessen gehabt. »Und, was sagen die Ergebnisse?«
Anette zuckte mit den Achseln. »Laut Arjen ist alles bestens. Aber ich mache mir trotzdem Sorgen, er sieht so ausgelaugt aus in der letzten Zeit und hält deutlich mehr Nickerchen in seinem Lesesessel als sonst. Nicht einmal die Tageszeitung weckt sein Interesse, die blättert er lediglich durch. Vermutlich werde ich mich daran gewöhnen müssen, dass ihn sein Alter nun doch einholt.« Unvermittelt hoben sich Anettes Mundwinkel zu einem Lächeln. »Außerdem gibt es noch einen triftigen Grund, sich in der Küche zu verstecken: Wilke Anders von nebenan schenkt gerade seinen selbstgemachten Kirschlikör aus. Sieht ganz so aus, als wäre ich die Einzige, die nach dem Desaster im letzten Jahr nicht vergessen hat, dass dieses Zeug das reinste Abführmittel ist.«
Mit einem Grinsen füllte Greta ihr Sektglas nach. »Ich erinnere mich, Wencke hat mir die Folgen des Geburtstagslikörchens am Telefon lebhaft geschildert. Ich würde ohnehin nur unter Zwang etwas zu mir nehmen, das der alte Wilke gebraut hat. Mit seinen dicken Brillengläsern konnte er Wencke und mich schon nicht mehr auseinanderhalten, als sie noch ein pummeliger Teenager war und ich eine Grundschülerin mit raspelkurzen Haaren, die von allen für einen Jungen gehalten wurde.«
»Manche Dinge ändern sich eben nie.« Anette nippte an ihrem Glas. »Scheint ja auch der Fall bei deinen Haaren zu sein ... Hast du wieder angefangen, sie dir selber mit der Papierschere zu schneiden, so wie damals, als du lediglich ein wenig Knete aus deinem Zopf schneiden wolltest und das Rumgeschnippel in einem Igelschnitt endete? Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, reichten deine Haare noch über die Schultern, was schick und ausgesprochen weiblich aussah.«
Schuldbewusst packte Greta in ihren Schopf, der im Nacken in unregelmäßigen Stufen endete. Einen besseren Schnitt hatte sie nach ihrem Wutanfall, bei dem ihr langes Haar hatte dran glauben müssen, nicht hinbekommen.
Anettes Augen verengten sich zu Schlitzen. »Was ist eigentlich mit deiner Stirn passiert?«
Da war sie auch schon, eine der Fragen, mit denen Greta fest gerechnet und für die sie es dennoch verpasst hatte, sich eine Ausrede zurechtzulegen. »Diese Schramme ... Also das war ein Bilderrahmen. So einer von diesen kleinen Dingern, in die wir Zeichnungen aus unserem Toskanaurlaub getan hatten. Ganz schön scharfe Kanten.«
»Ein Bilderrahmen? Was hatte der denn an deiner Stirn zu suchen?« Anette nahm jetzt einen großen Schluck Sekt, sie war offenbar etwas überfordert. »Nun lass dir doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen! Erzähl' endlich, was um Himmels willen passiert ist.«
»Wenn du es genau wissen möchtest: Der Rahmen ist von der Wand abgeprallt und mir ins Gesicht geflogen.«
»Du meinst: Er ist abgefallen.«
»Nein, abgeprallt. Nachdem ich ihn gegen die Wand geworfen hatte.«
»Warum solltest du denn so etwas tun?«
»Ehrlich gesagt, war das nicht meine Absicht. Also, das Werfen schon, aber ich wollte nicht die Wand, sondern Erik treffen. Dabei habe ich offenbar ein Stück zu hoch gezielt. Diese Rahmen machen es einem aber auch nicht leicht, sie sind ziemlich unhandlich beim Werfen.«
Anette starrte sie mit offenem Mund an, und Greta widerstand nur knapp dem Verlangen, ihr kurzerhand eine Gabel voll Kuchen hineinzuschieben. Irrsinnigerweise war ihr zum Lachen zumute, und von der Erschöpfung, die sie während der Fahrt beinahe gelähmt hatte, war nichts mehr vorhanden. Die Ausmaße ihrer Auseinandersetzung mit Erik wurden ihr erst jetzt richtig bewusst: ihr kindisches Wüten und ihre Kurzschlussreaktion, die sie dazu gebracht hatte, einen Mietwagen zu nehmen und als ungeübte Fahrerin geschlagene 1000 Kilometer zurückzulegen, ohne einen Nervenzusammenbruch zu erleiden. Mit einem Anflug von Stolz aß sie das Stück Frankfurter Kranz und begann sich währenddessen bereits nach Nachschub umzusehen. Der Windbeutel, mit dem Lars abgezogen war, hatte äußerst appetitlich gewirkt.
»Bedeutet das, dass Erik dich nicht begleitet, weil ihr einen heftigen Streit hattet?«, begann Anette die Rahmengeschichte weiterzuspinnen.
»Erik Brunner ist heute nicht mit von der Partie, weil er nicht länger Teil meines Lebens ist. Und soweit es möglich ist, werde ich verschweigen, je etwas mit ihm zu tun gehabt zu haben.«
»A-ha.« Anette wirkte restlos überrumpelt. »Das ist nun wirklich eine Überraschung, schließlich wart ihr doch so ein schönes Paar ...Vor ein paar Wochen erst hast du mir diese hübschen Fotos von eurem Wanderurlaub geschickt. Du und Erik ... Ihr habt doch auf vielen Ebenen harmoniert.«
»Das dachte ich auch«, unterbrach Greta ihre Mutter, bevor sie noch anfing, von Eriks gutem Aussehen oder anderen Schwiegersohn-Qualitäten zu schwärmen. »Nur leider hat sich herausgestellt, dass der Mann, mit dem ich fast vier Jahre zusammen war, gar nicht existiert. Der Erik, den wir kannten, war sozusagen ein ausgesprochen raffinierter Marketing-Gag.«
»Ein Gag?«
Anette verstummte, aber sie wäre ohnehin nicht weiter zum Reden gekommen, denn in diesem Augenblick stürmte Wencke in die Küche. Gretas ältere Schwester war eine von Natur aus üppige Frau, der es nur mit eiserner Disziplin und häufigen Besuchen im Fitnessstudio gelang, ihre Figur auf eine durchschnittliche Kleidergröße zu trimmen. Im Gegensatz zu Greta trug sie stets Make-up und versuchte die aktuellen Modecodes mit Hilfe der »Bunten« und »Gala« nachzuahmen. Anklagend deutete sie mit dem Zeigefinger auf ihre jüngere Schwester.
»Das ist wieder einmal typisch, dass du dich in die Küche verkrümelst, anstatt uns ›Guten Tag‹ zu sagen. Wir warten alle auf dich, aber dir ist das ja egal.«
Greta seufzte, obwohl sie mit dieser Art Begrüßungs- ritual durchaus vertraut war. Wencke verdächtigte sie permanent, mit allen Mitteln die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sogar wenn sie gar nichts tat. »Hallo, Schwesterherz. Soviel ich mitbekommen habe, warst du zu sehr mit Wilkes Kirschlikör beschäftigt, um mir die Tür aufzumachen. Oder fandest du eher, dass ich eine solche Freundlichkeit nicht verdiene?«
Ein Muskel in Wenckes Kinn zuckte und verriet, dass Greta mit ihrer Vermutung richtiglag. »Ich bin nicht zur Tür gegangen, weil es gerade so lustig war, außerdem nerven die Kinder schon den ganzen Nachmittag mit der Klingelei. Ich wette, da steckt Finn dahinter, der ärgert sich nämlich darüber, dass er auf die Kleinen aufpassen muss. Der ist in der letzten Zeit ständig launisch, vermutlich fängt das schwierige Alter heutzutage schon mit neun Jahren an.« Finn war Wenckes ältestes von drei Kindern. Irgendwo musste noch die kleine Agnes sein, vermutlich hielt sie sich dort auf, wo auch Arjen war. Die Dreijährige hegte eine Schwäche für ihren Uropa und ließ sich bestimmt auch nicht davon abschrecken, dass er inmitten seiner Geburtstagsgäste döste.
»Was ist eigentlich mit deinem Handy los?«, hakte Wencke nach. »Ich habe mindestens hundert Mal versucht, dich zu erreichen.«
Greta brauchte einige Sekunden, um zu reagieren. »Es ist ausgeschaltet.«
»Ja, das habe ich mitbekommen. Ich frage mich bloß: warum? Wozu hat man so ein Teil, wenn man es nie benutzt? Nicht einmal wenn man sich zu einem Fest wie irre verspätet und bloß mal durchrufen müsste, um zu sagen, wann man denn nun bitte schön eintrifft - und vor allem allein, also ohne die erwartete Begleitung. Erik hätte dir das Handy nicht zu schenken brauchen, das war die reinste Geldverschwendung.«
Ja, das hätte Erik mal besser gelassen, dann müsste er jetzt auch nicht versuchen, das teure Gerät aus seinem Toilettenabfluss zu befreien. Dort hatte es jedenfalls festgehangen, nachdem Greta es gemeinsam mit ein paar anderen Geschenken von Erik runtergespült hatte. Der Wasserrückstau hatte zu einer Überschwemmung des Badezimmers geführt, mit der sie sich, Gott sei Dank, nicht mehr hatte befassen müssen. »Da lebst du jahrelang im mondänen Zürich aber benimmst dich schlimmer als jede Dorfpomeranze. Allein dein Haarschnitt! Mensch, Greta, du siehst aus wie ein gerupftes Huhn. Nur mal so nebenbei erwähnt, dieser Selbstfindungstrip und das ganze aufgesetzte Autonomiebewusstsein liegen schon Jahrzehnte zurück. Heute gehen sogar Leute von deinem Schlag zum Friseur, egal für was für Mordsindividualisten sie sich halten«, schimpfte Wencke weiter, unbeeindruckt von der Tatsache, dass ihre Schwester sich einem weiteren Stück Kuchen widmete, anstatt auf ihre Anschuldigungen einzugehen. So leicht würde sie nicht aufgeben, auf dem Gebiet legte Wencke eine erstaunliche Ausdauer an den Tag. »Kein Wunder, dass Erik wenig Lust hatte, mit dir zusammen aufzuschlagen«, setzte sie kühl nach.
»Jetzt mach aber mal einen Punkt«, unterbrach Anette die Anklagerede. Sie war dazu übergegangen, die Folie von den belegten Broten zu ziehen, denn nach dem Kuchen und Likör würde die Gesellschaft unbedingt etwas Anständiges im Magen brauchen. »Deine Schwester hat sich schrecklich mit Erik gestritten und braucht Trost. Heb dir deine Vorhaltungen also für später auf, ja?«
Wencke spitzte die Lippen. »Ach, so ist das also: Unser Vorzeigepaar hat sich in die Haare bekommen. Allem Anschein nach wortwörtlich, wenn ich mir deinen Restschopf so anschaue. Und warum hast du Till überhaupt erzählt, dass Erik aus beruflichen Gründen nicht mitgekommen ist?«
»Das habe ich nicht erzählt, das muss Till vermutet haben «, erklärte Greta wahrheitsgemäß. »Genau wie du zieht er lieber seine eigenen Schlüsse, anstatt einfach mal zuzuhören.«
»Ach, jetzt ist das also meine Schuld! Wenn das so ist, dann gehe ich jetzt mal zurück zu den Gästen und ziehe dort meine eigenen Schlüsse über dieses unerwartete Liebesende. « Wencke schnappte sich eine Schale mit eingelegten Gurken und verließ die Küche.
Mit einem Schlag schien es wieder sehr viel mehr Raum zu geben. Dafür, dass Gretas Schwester ihr oft und gern vorhielt, sie würde nach Aufmerksamkeit lechzen, verwandelte sie jede Begrüßung in einen Auftritt samt dramatischem Auf- und Abgang.
Entgegen Anettes sonstiger Art, alles schönzureden, kräuselte sie jetzt die Stirn. »Du weißt schon, dass Wencke eigentlich nicht so ist, oder? Normalerweise ist sie ganz verträglich, aber irgendwas an dir treibt sie zur Weißglut. Als müsse sie dann um jeden Preis beweisen, dass sich ihr Leben locker mit deinem messen kann, auch wenn es ganz anders ist.«
Greta nickte nachdenklich. Dass Wencke sich an ihren Gegensätzen rieb, war ihr auch schon aufgefallen, obwohl sie die Wurzel des Problems nicht begriff. Ihre Schwester hatte sich schließlich bewusst für Meresund entschieden, als sie nach ihrer Bankausbildung Till Fröben geheiratet hatte und schon kurze Zeit später schwanger geworden war. Dieser Lebensweg mit Familie, Haus und Garten in einer Kleinstadt war zwar nicht außergewöhnlich, aber deshalb noch lange kein Grund, sich angreifbar zu fühlen. Und schon gar nicht gegenüber ihrer jüngeren Schwester, die mehr denn je das Gefühl hatte, weder angekommen zu sein, noch zu wissen, wohin sie eigentlich gehörte.
3
Die Begrüßung der Gästeschar im Wohnzimmer überstand Greta ohne weitere Fragen oder Anspielungen auf den abwesenden Erik. Das lag gewiss an dem Tablett, das sie vor sich hertrug und dessen belegte Brote jeden milde stimmten, der auf sie zutrat. Die Nachbarn und Freunde der Familie, die sie von klein auf kannten, freuten sich, sie endlich wieder einmal zu sehen. Bei ihrem Rundgang durch Wohn- und Esszimmer wurde Greta bewusst, wie sehr sie Meresund vermisst hatte. All die vertrauten Gesichter, die während ihrer Abwesenheit reifer, kantiger, fülliger und faltiger geworden waren, ohne dass sie diesen Prozess begleitet hatte ... Und was war ihr von diesen Jahren geblieben? Ein Abschluss in Umweltwissenschaften und ein Mietwagen voller Habseligkeiten. Und darauf sollte Wencke ernsthaft neidisch sein? Wohl kaum.
»So, Mädchen, du trinkst jetzt erst mal einen ordentlichen Kirschlikör, damit du einen Tupfer Farbe auf die Wangen bekommst.« Über den Rand des Glases, das ihr der alte Wilke reichte, rannen rote Tropfen.
Greta zögerte, denn seit dem zweiten Glas Sekt rumorte es in ihrem Bauch. Dann warf sie ihre Bedenken über Bord. Zu einer ordentlichen Feier gehörte es schließlich, angeheitert zu sein - selbst auf die Gefahr hin, die Fassung zu verlieren und einem von Arjens ehemaligen Patienten ihr Elend zu klagen. Im Zweifelsfall dankten einem die Leute solche Ausrutscher, weil man damit ordentlich für Gesprächsstoff sorgte. Der Geschmack von Cocktailkirschen setzte ihren Plänen, sich anständig zu betrinken, allerdings sogleich ein Ende. Die zähe Flüssigkeit klebte ihr regelrecht am Gaumen fest. Um dieses Teufelszeug anständig runterzubekommen, muss man ja seit Ewigkeiten im Training sein, dachte Greta, bevor sie beherzt schluckte.
»Ein ordentliches Tröpfchen, was? Und gleich noch einen hinterher.« Während Greta den Tränenschleier aus den Augen blinzelte, schenkte Wilke ihr bereits nach. »Immer schön den Kopf in den Nacken und dann fix ein Leberwurstbrot hinterher. Wir heben das Glas hoch auf den mürben Knochen Rosenboom, auf dass der Teufel ihn vergisst!«
»Nur zu, mein Liebes. Einen besseren Trinkspruch wird es heute nicht mehr geben«, sagte eine vom Alter tief gewordene Stimme neben ihr.
Greta blickte in Arjens ungebrochen strahlend blaue Augen. Mit seiner immer noch aufrechten Haltung überragte er sie ein ganzes Stück, und obwohl er deutlich hagerer geworden war, fühlte sie sich in seinem Schatten geborgen. Mit einem Lächeln prostete Greta ihm erst zu, dann umarmte sie ihren Großvater. »Alles Liebe und Wundervolle zum Geburtstag. Es tut mir leid, dass ich erst jetzt da bin. Wirklich sehr leid.«
»Nicht doch«, erwiderte Arjen. Sein Gesicht war braungebrannt vom gerade ausklingenden Sommer, und die Furchen um Augen und Mund waren noch ein Stück tiefer geworden seit ihrem letzten Besuch. »Mir tut es leid, dass du so eine weite Reise wegen dieses lästigen Ehrentags auf dich genommen hast, obwohl ich mich natürlich außerordentlich darüber freue. Hübsch übrigens, wie du dein Haar trägst.«
»Frisur kann man das, glaube ich, nur nennen, wenn man eine halbe Flasche von ›Wilkes Spezial‹ intus hat.« Es fiel Greta so leicht wie immer, mit Arjen zu plaudern. Ein Wortergab das andere, sodass sie die Gesellschaft des anderen nie leid wurden.
»Dann bin ich der richtige Mann. Wirklich, Wilke, ich bin froh, dass kein einziger Zahn in meinem Mund mehr echt ist, ansonsten würde ich mir nach diesem Zuckerkonzentrat ordentlich Sorgen um meine Beißer machen. Hat dieser Sirup überhaupt jemals eine echte Kirsche gesehen?«
Während Wilke bloß abwinkte und sich Menschen zuwandte, die mehr von seinen Destillierkünsten verstanden, deutete Arjen auf die offenstehende Terrassentür, die in den Garten führte.
»Nach meinem Nickerchen brauche ich dringend ein wenig Bewegung. Möchtest du mich begleiten?«
»Nichts lieber als das.« Glücklich hakte sich Greta bei ihrem Großvater unter.
Der Garten lag still im Nachmittagslicht. Die Kinder, die vor kurzem noch zwischen den Obstbäumen Fangen gespielt oder verbotenerweise Astern gepflückt hatten, waren hungrig ins Haus zurückgekehrt. Auch die Gruppe von Rauchern, die es sich in der Laube gemütlich gemacht hatten , war verschwunden. Arjen und Greta steuerten in Eintracht die Bank unter dem Apfelbaum an, jenen Ort, den sie schon in Kindheitstagen geliebt hatte. Von hier aus konnte man den weitläufigen Garten mit seinen Rabatten und Obstbäumen am besten überschauen und fühlte sich zugleich geborgen. Ein paar späte Äpfel hingen noch im Baum, als hätten sie auf Gretas Rückkehr gewartet.
»Lass uns die ruhigen Minuten genießen, bevor die Meute wie auf ein geheimes Signal hin aufbricht und Anette uns scheucht, damit wir uns rechtzeitig zum Abendessen zurechtmachen. Der heutige Tag ist nämlich fest durchgetaktet wie ein offizieller Anlass. Heute Vormittag ging es los, da wurde denjenigen eine Audienz gewährt, die nicht zur großen Kuchenschlacht geladen worden waren. Ich bin ehrlich erstaunt, dass die Gratulanten unter Anettes Aufsicht weder Zehn-Minuten-Termine zugewiesen bekamen noch Nummern ziehen mussten, um mir die Hand zu schütteln.«
Obwohl Arjen amüsiert klang, glaubte Greta eine gewisse Erschöpfung herauszuhören. Auch seine Hand, die sie hielt, fühlte sich ungewohnt knochig und kühl an. Die ganze Aufmerksamkeit überstieg seine Kräfte, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte. »Anette will dir halt um jeden Preis zeigen, wie wichtig du für Meresund und unsere Familie bist«, tastete sie sich vorsichtig an das Thema heran. »Die vielen Gratulanten und Gäste ... Mir schwirrt ebenfalls der Kopf, und dabei bin ich erst seit einer Stunde hier. Es wird sicherlich jeder verstehen, wenn du den Restaurantbesuch ausfallen lässt und dich statt dessen zurückziehst. «
Arjen winkte ab. »Um Himmels willen, das Essen im Kreis der Familie ist doch der Höhepunkt! Endlich sind wir wieder einmal alle vereint - abgesehen von der kleinen Agnes , die jetzt schon bettreif ist. Nach so einem langen Tag ist eine Abendgesellschaft zwar anstrengend, aber ich möchte meinen Geburtstag auskosten, als wäre er mein letzter. Da bin ich mit deiner Mutter ausnahmsweise einer Meinung.«
Greta konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Wenn du Anette weiterhin die Regie überlässt, dann wird es bestimmt dein letzter Geburtstag sein. Mama muss es immer übertreiben, bestimmt endet die Feier mit einem Überraschungsfeuerwerk direkt unter deiner Nase, und du erleidest vor Schreck einen Herzinfarkt. Wenigstens kannst du dich in dem Fall darauf verlassen, dass sie dir eine großartige Beerdigung mit allen Schikanen organisieren wird.«
Einen Moment lang blickte Arjen sie streng an, obwohl seine Mundwinkel bereits verdächtig zuckten, dann brachen sie in schallendes Gelächter aus. So wunderbar das gemeinsame Lachen sich auch anfühlte, es täuschte nicht darüber hinweg, dass viel Ungesagtes zwischen ihnen stand und die Vertrautheit auf längst vergangenen Tagen beruhte. Regelmäßige Telefonate und Briefe vermochten den Anschein zu erwecken, am Alltag des anderen teilzuhaben, aber die entscheidenden Zwischentöne gingen auf diesem Weg verloren.
Warum bist du überrascht?, ging es Greta durch den Kopf. Genauso wenig wie Arjen weiß, wie dein Leben in Zürich unter der Oberfläche ausgesehen hat, so wenig weißt du über seins. Das Leben von Großvätern findet nicht bloß dann statt, wenn ein Enkelkind neben ihm sitzt. Aber genau so hast du ihn gesehen, als wärst du immer noch ein Kind, in dessen Wahrnehmung die Familienmitglieder ihre verschiedenen Rollen erfüllen - und nicht mehr.
Während ihr Großvater sich vorbeugte, um einen abgebrochenen Zweig vom Boden aufzuheben, fragte Greta sich plötzlich, was sie wirklich über Arjen Rosenboom wusste. Natürlich wusste sie, dass er in einem Fischerdorf an der ostfriesischen Küste geboren worden war und dass er nach seinem Medizinstudium in Heidelberg letztendlich nach Meresund in Schleswig-Holstein gezogen war. Greta kannte die Geschichte, wie Arjen seine Frau Elisabeth während einer Zugfahrt nach Süddeutschland kennen
© der Originalausgabe 2013 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Tanja Heitmann
Tanja Heitmann, geb. 1975 in Hannover, studierte Politikwissenschaften und Germanistik und arbeitet in einer Literaturagentur. Sie lebt mit ihrer Familie auf dem Land.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tanja Heitmann
- 2013, 1, 477 Seiten, Geb. mit Su., Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3764504625
- ISBN-13: 9783764504625
- Erscheinungsdatum: 26.08.2013
Rezension zu „Das Geheimnis des Walfischknochens “
"Liebevolle Geschichte mit Esprit."
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