Tempe Brennan Band 16: Totengeld
Thriller
Ein totes Mädchen und ein Schmugglerring - Tempe Brennan hat alle Hände voll zu tun.
Tempe Brennan ist mit der Leiche eines Mädchens beschäftigt, die achtlos in einem Straßengraben deponiert wurde. Die Spur...
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Produktinformationen zu „Tempe Brennan Band 16: Totengeld “
Ein totes Mädchen und ein Schmugglerring - Tempe Brennan hat alle Hände voll zu tun.
Tempe Brennan ist mit der Leiche eines Mädchens beschäftigt, die achtlos in einem Straßengraben deponiert wurde. Die Spur führt zu einem Geschäftsmann. Doch der kam bereits vor einigen Monaten bei einem mysteriösen Brand ums Leben. Und dann ist da noch der Fall eines Schmugglers, der mumifizierte Artefakte in die USA schleust. Besteht eine Verbindung zwischen dem Mädchen und dem illegalen Handel? Nichts ist so, wie es scheint
Klappentext zu „Tempe Brennan Band 16: Totengeld “
Ein getötetes Mädchen im Straßengraben, ein Schmugglerring, der keine Gnade kennt: ein neuer Fall für Tempe BrennanDer Tod einer jungen Frau, deren Leiche an einem einsamen Highway im Straßengraben deponiert wurde, bereitet Forensikerin Tempe Brennan schlaflose Nächte. Der Teenager könnte ohne Papiere ins Land gereist sein, eine Spur, die Tempe zu dem Geschäftsmann John-Henry Story führt. Doch ihr Hauptverdächtiger starb Monate zuvor bei einem mysteriösen Brand. Und dann ist da noch der Fall eines Schmugglers, der kuriose mumifizierte Artefakte in die USA schleust. Könnte eine Verbindung zwischen dem toten Mädchen und dem lukrativen illegalen Handel bestehen? An Tempes neustem Fall ist nichts so, wie es zunächst scheint. Nur auf eines kann die Todesermittlerin sich verlassen: Die Knochen kennen die Wahrheit.
Lese-Probe zu „Tempe Brennan Band 16: Totengeld “
Totengeld von Kathy ReichsAus dem Amerikanischen von Klaus Berr
PROLOG
Mit hämmerndem Herzen kroch ich auf den Ziegel zu, der aus dem oberen Rand der Nische ragte. Streckte den Kopf hinaus.
Wieder Schritte. Dann tauchten schwere Stiefel oben auf der Treppe auf, daneben ein paar kleine Füße, einer nackt, der andere in einem hochhackigen Schuh.
Die Füße stiegen herunter, die kleinen wackelig, als wäre ihre Besitzerin irgendwie beeinträchtigt. Die Unterschenkel waren merkwürdig ausgestellt, was darauf hindeutete, dass die Knie wenig Gewicht trugen.
Die Wut brannte mir in der Brust. Die Frau stand unter Drogen. Der Mistkerl schleifte sie mit sich.
Vier Stufen weiter unten durchquerten der Mann und die Frau einen Streifen Mondlicht. Keine Frau, ein Mädchen. Die Haare waren lang, die Arme und Beine klapperdürr. Unter dem Kinn des Mannes sah ich ein Dreieck aus weißem T-Shirt-Stoff. Einen Pistolengriff, der aus seinem Hosenbund ragte.
Das Paar tauchte wieder in die Dunkelheit. Die eng aneinandergepressten Körper bildeten eine zweiköpfige Silhouette.
Nach dem letzten Schritt von der untersten Stufe packte der Mann das Mädchen mit einer Hand im Nacken und schob sie brutal auf die Tür zur Laderampe zu. Sie stolperte. Er riss sie wieder hoch. Ihr Kopf schwankte hin und her wie der eines Wackeldackels.
Die junge Frau machte noch ein paar taumelnde Schritte. Dann hob sie das Kinn, und ihr Körper sackte zusammen. Ein Schrei zerriss die Stille.
Der Arm des Mannes schoss hervor. Die Silhouette verschmolz wieder. Ich hörte einen Schmerzensschrei, dann kippte das Mädchen nach vorne auf den Beton.
Der Mann stützte sich auf ein Knie. Sein Ellbogen pumpte, als er auf den leblosen, kleinen Körper einschlug.
... mehr
»Willst du gegen mich kämpfen, du kleine Schlampe?«
Der Mann schlug und schlug, bis sein Atem abgehackt ging.
Meine Wut loderte jetzt weißglühend in meinem Hirn und vertrieb jeden Gedanken an meine eigene Sicherheit.
Ich kroch nach hinten und schnappte mir die Waffe. Kontrollierte die Sicherung und war in diesem Augenblick dankbar für das Training auf dem Schießplatz.
Froh um die Waffe, griff ich nach meinem Handy. Es war nicht in der Tasche bei der Taschenlampe.
Ich suchte in der anderen Tasche. Kein Handy.
Hatte ich es fallen gelassen? Hatte ich es bei meinem überstürzten Aufbruch zu Hause vergessen?
Die Panik war fast überwältigend. Ich konnte niemanden erreichen. Was sollte ich tun?
Eine winzige Stimme riet mir zur Vorsicht. Bleib in deinem Versteck. Warte. Slidell weiß, wo du bist.
»Du bist ja so was von tot.« Die Stimme dröhnte, grausam und böswillig.
Ich wirbelte herum.
Der Mann zerrte das Mädchen an den Haaren hoch.
Die Beretta in beiden Händen, stürmte ich aus der Nische. Der Mann erstarrte, als er die Bewegung hörte. Fünf Meter von ihm entfernt blieb ich stehen. Eine Säule als Deckung nutzend, spreizte ich die Füße und richtete die Waffe auf ihn.
»Lassen Sie sie gehen.« Mein Schrei wurde von Ziegeln und Beton zurückgeworfen.
Der Mann hielt weiter die Haare des Mädchens fest umklammert. Er stand mit dem Rücken zu mir.
»Hände hoch.«
Endlich ließ der Mann das Mädchen los und richtete sich auf. Seine Hände hoben sich bis zur Höhe seiner Ohren.
»Umdrehen.«
Als der Mann sich umdrehte, traf ihn wieder ein Lichtstreifen. Einen Augenblick lang sah ich sein Gesicht in völliger Klarheit.
Beim Anblick seiner Widersacherin ließ er die Hände leicht herabsinken. Da ich spürte, dass er mich besser sehen konnte als ich ihn, drückte ich mich weiter hinter die Säule.
»Die verdammte Schlampe lebt.«
Du stirbst auch, du verdammte Schlampe.
»Man braucht Mut, um Droh-Mails zu schicken!« Meine Stimme klang viel selbstbewusster, als ich mich fühlte. »Um hilflose kleine Mädchen herumzuschubsen.«
»Schulden eintreiben? Sie kennen die Regeln.«
»Für dich ist Schluss mit Schuldeneintreiben, du kranker Widerling.«
»Sagt wer?«
»Sagt ein Dutzend Polizisten, das jeden Augenblick hier sein wird.«
Der Mann hielt sich eine Hand ans Ohr. »Ich höre keine Sirenen.«
»Gehen Sie von dem Mädchen weg!«, befahl ich.
Er machte einen rein symbolischen Schritt.
»Los«, knurrte ich. Die Arroganz des Kerls machte mich so wütend, dass ich ihm am liebsten die Beretta über den Kopf gezogen hätte.
»Sonst was? Erschießen Sie mich?«
»Ja.« Kalt wie Stahl. »Ich erschieße Sie.«
Würde ich es tun? Ich hatte noch nie auf einen Menschen geschossen.
Wo zum Teufel war Slidell? Ich wusste, dass mein Bluff genährt war von Koffein und Adrenalin. Und dass beides irgendwann nachlassen würde.
Das Mädchen stöhnte.
In diesem Sekundenbruchteil verlor ich den Vorteil, der dem Mann vielleicht das Leben gerettet hätte.
Ich schaute nach unten.
Er machte einen Satz auf mich zu.
Frisches Adrenalin schoss durch meinen Körper.
Ich hob die Waffe.
Er kam näher.
Ich zielte auf das weiße Dreieck.
Schoss.
Die Explosion war brutal laut. Der Rückstoß riss mir die Hände nach oben, aber ich blieb sicher stehen.
Der Mann sackte zu Boden.
Im Dämmerlicht sah ich das Dreieck dunkel werden. Wusste, dass Rot sich darüber ausbreitete. Ein perfekter Treffer. Das Dreieck des Todes.
Stille bis auf mein eigenes, heiseres Atmen.
Dann übernahm mein Verstand die Kontrolle über das Stammhirn.
Ich hatte einen Mann getötet.
Meine Hände zitterten. Galle stieg mir in die Kehle.
Ich schluckte. Richtete die Waffe wieder aus und ging langsam vorwärts.
Das Mädchen lag reglos da. Ich kauerte mich hin und drückte ihr zitternde Finger an die Kehle. Spürte einen Puls, schwach, aber regelmäßig.
Ich drehte mich um. Schaute in die stummen, böswilligen Augen des Mannes.
Plötzlich fühlte ich mich erschöpft. Und war entsetzt von dem, was ich eben getan hatte.
Ich überlegte. Konnte ich in meinem Zustand gute Entscheidungen treffen? Sie auch umsetzen? Mein Handy lag zu Hause.
Ich wollte mich hinsetzen, den Kopf in die Hände stützen und den Tränen freien Lauf lassen.
Stattdessen atmete ich ein paarmal tief durch, stand auf und ging durch Dunkelheit, die mir wie tausend Meilen vorkam, zur Treppe. Mit Beinen weich wie Gummi stieg ich hinauf.
Vom Treppenabsatz bog ein Gang nach rechts ab. Ich folgte ihm zu der einzigen geschlossenen Tür.
Die Waffe fest in einer feuchten Hand, streckte ich die andere aus und drehte den Knauf.
Die Tür schwang nach innen.
Ich starrte in nacktes Grauen.
ERSTER TEIL
1
Man hat mich schon öfter gefangen gehalten. In einem Keller, im Kühlraum einer Leichenhalle, in einer Gruft unter der Erde. Es ist immer furchterregend und intensiv. Aber diese Gefangenschaft übertraf alles, was ich je an körperlichem Schmerz erlebt hatte.
Der Jurorenbereich im Gerichtsgebäude des Mecklenburg County ist so gut, wie solche Einrichtungen eben sein können - WLAN, Computer, Billardtische, Popcorn. Ich hätte eine Freistellung beantragen können. Habe ich aber nicht. Die Justiz rief, und ich kam. Brennan, die gute Staatsbürgerin. Außerdem wusste ich, dass man mich aufgrund meines Arbeitsbereichs sowieso ausschließen würde. Als ich den heutigen Tag plante, hatte ich sechzig, maximal neunzig Minuten eingerechnet, in denen ich mir wahrscheinlich Plattfüße holen würde.
Von wegen Plattfüße. Beachten Sie meinen Gedankensprung. Zu meiner aufregenden beruflichen Fußbekleidung gehören atmungsaktive Goretex-Wanderschuhe und vielleicht Gummistiefel, damit man nicht im Matsch landet. Dass ich jemals mörderische High Heels kaufe, geschweige denn trage, ist so wahrscheinlich wie die Entdeckung von Gigantosaurus- Knochen hinter einem Bad Daddy's Burger.
Meine Schwester Harry hatte mich zu zehn Zentimeter hohen Pumps von Christian Louboutin überredet. Harry aus Texas, dem Land der großen Frisuren und meilenhohen Stilettos. Damit du professionell aussiehst, hatte sie gesagt. In verantwortlicher Position. Außerdem sind sie sechzig Prozent reduziert.
Ich muss zugeben, das glänzende Leder und die schicken Ziernähte sahen an meinen Füßen toll aus. Aber fühlte ich mich auch toll? Nicht nach drei Stunden Warten. Als der Gerichtsdiener unsere Gruppe schließlich aufrief, torkelte ich fast in den Gerichtssaal, und dann, als meine Nummer aufgerufen wurde, in den Zeugenstand.
»Bitte nennen Sie Ihren vollen Namen.« Chelsea Jett, gefühlte sechs Minuten nach ihrem Juradiplom, 400-Dollar- Kostüm, teure Perlenhalskette und Stilettos, die meine alt aussehen ließen. Die frischgebackene Staatsanwältin Jett versteckte ihre Nervosität hinter einem barschen Auftreten.
»Temperance Daessee Brennan.« Mach's für uns beide leichter. Lass mich ruck, zuck wieder gehen.
»Bitten nennen Sie Ihre Adresse.«
Ich tat es. »Das ist auf Sharon Hall«, fügte ich leutselig hinzu. Ein Herrenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert, roter Backstein, weiße Säulen, Magnolien. Mein Häuschen ist der Anbau zur Remise, der Annex. Mehr Old South geht nicht. Doch das sagte ich alles nicht.
»Wie lange wohnen Sie schon in Charlotte?«
»Seit meinem achten Lebensjahr.«
»Wohnt unter dieser Adresse jemand bei Ihnen?«
»Manchmal meine erwachsene Tochter, aber nicht im Augenblick.« Das Armband, das Katy mir geschenkt hatte, hing lose an meinem Handgelenk, ein zartes Silberband mit der Gravur Mom rocks.
»Ihr Familienstand?«
»Getrennt.« Kompliziert. Auch das sagte ich nicht.
»Sind Sie in einem festen Arbeitsverhältnis?«
»Ja.«
»Bitte nennen Sie Ihren Arbeitgeber.«
»Der Staat North Carolina.« Immer schön kurz und bündig.
»Ihr Beruf?«
»Forensische Anthropologin.«
»Welche Ausbildung verlangt der Beruf?« Steif.
»Ich habe einen Doktortitel und eine Zulassung durch das American Board of Forensic Anthropology.«
»Dann führen Sie also Autopsien durch?«
»Sie denken, ich bin forensische Pathologin. Ein häufiger Fehler.«
Jett wurde noch steifer.
Ich schenkte ihr ein Lächeln. Das die Staatsanwältin nicht erwiderte.
»Forensische Anthropologen arbeiten mit Toten, bei denen Autopsien unmöglich sind, also mit Skelettierten, Mumifizierten, Verwesten, Zerstückelten, Verbrannten oder Verstümmelten. Wir werden hinsichtlich vieler Fragen konsultiert, die alle mittels einer Untersuchung der Knochen beantwortet werden. Zum Beispiel, ob die fraglichen Überreste menschlich oder tierisch sind.«
»Dazu ist ein Experte nötig?« Kaum beherrschte Skepsis.
»Einige menschliche und tierische Knochen sind sich täuschend ähnlich.« Ich dachte an die mumifizierten Exemplare, die mich im MCME erwarteten. »Vor allem fragmentierte Überreste sind sehr schwer zu beurteilen. Stammen Sie von einem Individuum, von mehreren, von Menschen, Tieren oder beidem?« Die Bündel, die ich gerade nicht untersuchte, weil ich, mit Füßen so aufgedunsen wie Wasserleichen, hier festhing.
Jett bedeutete mir mit einer ungeduldigen Geste ihrer manikürten Hand weiterzureden.
»Wenn die Überreste menschlich sind, suche ich nach Indikatoren auf Alter, Geschlecht, Abstammung, Größe, Krankheiten, Missbildungen oder Anomalien - nach allem, was zur Identifikation von Nutzen sein kann. Ich untersuche Verletzungen, um die Todesart zu bestimmen. Ich schätze, wie lange das Opfer schon tot ist. Ich betrachte etwaige postmortale Leichenbehandlung. «
Jett hob fragend eine Augenbraue.
»Köpfen, zerstückeln, eingraben, ins Wasser werfen.«
»Ich denke, das genügt.«
Jett schaute auf die Liste ihrer Fragen. Eine sehr lange Liste.
Mein Blick wanderte zu meiner Uhr, dann zu den Unglücklichen, die noch auf ihre Befragung warteten. Ich hatte mich angezogen, um respektvoll auszusehen, dem Bild zu entsprechen, das man von einer Vertreterin des Mecklenburg County Medical Examiner's Office erwartete. Hellbrauner Hosenanzug, seidenes Rollkragenoberteil. Das traf nicht auf alle meine Mitgefangenen zu. Mein Favorit war das junge Mädchen in engem, ärmellosem Oberteil, Jeans und Sandalen.
Keine Haute Couture, aber ich vermutete, dass ihre Füße sich besser anfühlten als meine. Ich versuchte, in meinen Mörderpumps die Zehen zu bewegen. Keine Chance.
Ms. Jett atmete einmal tief durch. Worauf wollte sie hinaus? Ich zögerte nicht lange, es herauszufinden.
»Als forensische Anthropologin für den Staat stehe ich sowohl bei der UNC Charlotte - ich unterrichte dort ein Haupt seminar -, beim Office of the Chief Medical Examiner in Chapel Hill und beim Mecklenburg County Medical Examiner hier in Charlotte unter Vertrag. Außerdem bin ich konsultierende Expertin für das Laboratoire de sciences judiciaires et de médecine légale in Montreal.« Soll heißen: Ich habe sehr viel zu tun. Ich berate Polizeieinheiten, das FBI, das Militär, Coroner und Leichenbeschauer. Sie wissen genau, dass der Verteidiger mich entlassen wird, wenn Sie es nicht tun.
»Verstehe ich das richtig? Sie arbeiten regelmäßig in zwei Ländern?«
»Das ist nicht so merkwürdig, wie es klingt. In den meisten Rechtssystemen fungieren forensische Anthropologen als spezialisierte Berater. Wie bereits gesagt, werden meine Kollegen und ich nur zu Fällen gerufen, bei denen nicht genügend Fleisch für eine Autopsie vorhanden ist oder die Überreste -«
»Richtig.«
Jett fuhr die endlose Liste auf ihrem gelben Block mit dem Finger ab.
Ich streckte meine unglücklichen Zehen - oder versuchte es zumindest.
»Im Verlauf Ihrer Arbeit für den Medical Examiner, kommen Sie da in Kontakt mit Polizeibeamten?«
Endlich. Vielen Dank.
»Ja. Sehr oft.«
»Mit Staatsanwälten oder Strafverteidigern?«
»Mit beiden. Außerdem ist mein Exgatte Anwalt.« Eine Art Ex.
»Kennen Sie persönlich jemanden, der mit diesem Verfahren zu tun hat, den Angeklagten, seine Familie, die Polizeiermittler, die Anwälte, den Richter?«
»Ja.«
Und damit war ich entlassen.
Ohne Rücksicht auf meine protestierenden Zehen stürzte ich humpelnd aus dem Gerichtssaal, durch die Lobby und zu den Doppelglastüren hinaus. Mein Mazda stand am hintersten Ende des Parkdecks. Da ich erst um zehn nach acht, der in der Vorladung genannten Zeit, eingetroffen war, hatte ich die erste Lücke genommen, die ich fand, und die lag etwa auf dem halben Weg nach Kansas.
Nach einem schnellen Humpeln über die Fahrspur ging ich an einer Reihe von Fahrzeugen entlang und fand meinen Mazda, dicht flankiert von einem riesigen, blauen SUV auf der Fahrerseite und noch stärker bedrängt auf der Beifahrerseite. Schwitzend drückte ich mich zwischen den beiden Türgriffen und dem Außenspiegel hindurch und streifte dabei mit Brust und Hintern die schmuddeligen Türen und Seitenbleche, die meinen Oberkörper einklemmten. Danach sah mein toller, hellbrauner Leinenanzug aus, als hätte ich mich im Dreck gewälzt.
Als ich die Tür aufzog und mich hinters Lenkrad klemmte, klimperte etwas zu meinen Füßen. Ein vernünftiger Staatsbürger - also ein Staatsbürger in vernünftigem Schuhwerk - hätte sich gebückt, um nachzusehen, welcher bewegliche Schmuck sich da gelöst hatte. Doch ich konzentrierte mich auf meine Flucht und tastete mit den Fingern nach dem Schlüssel im Reißverschlussfach meiner Handtasche.
Mit brennenden Füßen rammte ich den Schlüssel in die Zündung und bückte mich seitlich, um an meinem rechten Schuh zu zerren. Das Ding klebte so fest, als wäre es mir aufs Fleisch verpflanzt.
Ich zerrte noch fester.
Mein Fuß explodierte aus seiner Umhüllung. Mit viel Verbiegen und Verdrehen wiederholte ich die Prozedur am linken.
Ich drückte mich in die Lehne und betrachtete zwei spektakuläre Blasen. Dann die verhassten Louboutins in meiner
Hand.
Meine Hand.
Mein Handgelenk.
Mein nacktes Handgelenk.
Katy.
Ich spürte einen vertrauten Stich der Angst in meiner Brust.
Ich verdrängte ihn.
Konzentrier dich. Das Armband war im Jurorenzimmer und im Zeugenstand an Ort und Stelle gewesen.
Das Klimpern. Anscheinend hatte sich das zarte Silberarmband an irgendetwas verfangen, als ich mich an dem SUV vorbeigedrückt hatte.
Fluchend zwängte ich mich wieder hinaus und warf die Autotür zu.
Das menschliche Hirn ist eine Schaltstation, die auf zwei Ebenen funktioniert. Während ein Reflexbefehl noch an meine Hand ging, kam es in meinem Kleinhirn bereits zu einer neuralen Verbindung. Bevor die Tür ins Schloss fiel, wusste ich, dass ich in der Patsche saß. Ich riss am Griff, obwohl es nichts brachte, und kontrollierte dann die Stellung aller vier Schließ- knöpfe.
Noch bildhafter fluchend, griff ich nach meiner Handtasche. Die auf dem Beifahrersitz lag.
Scheiße.
Und der Schlüssel? Steckte in der Zündung.
Einen Augenblick stand ich nur da, die Hosenbeine fielen mir über die nackten Füße, der Hosenanzug war schmutzig, die Achseln schweißnass. Und überlegte.
Konnte dieser Tag noch schlimmer werden?
Eine gedämpfte Stimme drang aus dem Auto. Andy Grammer, der mit Keep Your Head Up einen Anruf auf meinem iPhone ankündigte. Fast hätte ich gelacht. Nur fast.
Meinem Chef Tim Larabee hatte ich gesagt, dass ich noch vor Mittag im Institut sein würde. Vom Jurorenzimmer aus hatte ich angerufen, um meine geschätzte Ankunftszeit auf 13 Uhr nachzudatieren. Auf meiner Uhr war es jetzt 14 Uhr. Larabee machte sich sicher Gedanken über die mumifizierten Überreste, die auf meine Untersuchung warteten.
Vielleicht war es gar nicht Larabee.
Ach, was soll's. Dass ich barfuß und aus meinem Auto ausgesperrt auf einem Parkdeck stand, wollte ich sowieso niemandem erzählen.
But you gotta keep your head up ...
Genau.
Ich schaute mich auf dem Parkdeck um. Überall Autos. Nirgends Leute.
Die Scheibe einschlagen? Womit? Frustriert starrte ich das Glas an. Es warf mir das Bild einer wütenden Frau mit einer wirklich üblen Frisur zurück. Clever.
Das war es tatsächlich. Mein Blick wanderte über das Glas, das oben nicht mehr bündig mit dem Rahmen abschloss. Ein abgenutzter oder abgebrochener Zahn im Hebemechanismus, hatte Jimmy, mein Mechaniker, gesagt. Gefährlich. Die Lücke war so groß, dass ein Kerl einen Draht hindurchschieben und auf halbem Weg nach Georgia sein konnte, bevor man überhaupt merkt, dass das Auto geklaut ist.
Ernsthaft?, hatte ich gesagt. Einen zehn Jahre alten Mazda?
Ersatzteile, hatte er feierlich erwidert.
War ein Kleiderbügel zu viel verlangt? Ich ließ meinen Blick über den Abfall schweifen, der sich angesammelt hatte, wo der Betonboden des Parkdecks an die Rückwand stieß. Steinchen, Plastikverpackungen, Aluminiumdosen. Nichts, was mich in mein Auto bringen konnte.
Vorsichtig auftretend ging ich an der Wand entlang. Obwohl die Blasen inzwischen aussahen wie Hackfleisch, stapfte ich, die Hosenränder über den dreckigen Beton schleifend, voran.
Im Institut mumifizierte Knochen, die minütlich älter wurden.
Bei all diesen Verzögerungen würde ich bis weit in den Abend im Institut des ME sein. Dann nach Hause zu einer gereizten Katze. Und in der Mikrowelle aufwärmen, was ich noch im Gefrierfach hatte.
But you gotta keep your ...
Vergiss es.
Dann bemerkte ich zwei Meter vor mir ein Funkeln im Unrat. Hoffnungsvoll ging ich darauf zu.
Meine Beute war ein etwa sechzig Zentimeter langes Drahtstück, früher vielleicht wirklich einmal Teil eines zusammengebastelten Instruments, wie mir eins vorschwebte.
Nachdem ich schnell zum Mazda zurückgehumpelt war, bog ich das eine Ende zu einer kleinen Öse und schob den Draht durch Jimmys Lücke.
Mit beiden Händen, das Gesicht flach an die Scheibe gedrückt , versuchte ich, die Öse über den Knopf zu schieben. Jedes Mal wenn mir das Ding an der richtigen Position schien, zog ich den Draht scharf nach oben.
Ich war bei meinem zigtausendsten Versuch, als hinter mir eine Stimme dröhnte.
»Treten Sie von dem Fahrzeug zurück.«
Scheiße.
Den Draht fest mit einer Hand umklammernd, drehte ich mich um.
Ein uniformierter Parkwächter stand gut drei Meter von mir entfernt, die Füße gespreizt, die Handflächen erhoben und in meine Richtung gedreht. Sein Ausdruck wirkte nervös und angespannt.
Ich zeigte ihm ein, wie ich hoffte, entwaffnendes Lächeln. Oder wenigstens ein beruhigendes.
Der Wachmann erwiderte das Lächeln nicht.
»Treten Sie vom Fahrzeug zurück.« Der Kerl hatte blonde Haare und ein Gesicht, das fast so rot war wie meine Blasen. Ich schätzte ihn auf etwa achtzehn.
Jetzt hieß mein Lächeln: Ich bin ja auch zu blöd. »Ich habe mich aus meinem eigenen Auto ausgesperrt.«
»Ich muss Ihren Ausweis und die Zulassung sehen.«
»Meine Handtasche ist da drin. Der Schlüssel steckt in der Zündung.«
»Treten Sie vom Fahrzeug zurück.«
»Wenn ich das Schloss aufbekomme, kann ich Ihnen alles zeigen.«
»Treten Sie vom Fahrzeug zurück.« Was für ein enormes sprachliches Repertoire.
Ich tat, was er verlangte, ließ jedoch den Draht nicht los. Blondie bedeutete mir, noch weiter zurückzutreten.
Ich verdrehte die Augen und vergrößerte die Distanz. Ließ los. Der Draht fiel innen auf den Fahrersitz.
Ärger verdrängte meinen Entschluss, höflich zu bleiben.
»Hören Sie, das hier ist mein Wagen. Ich habe eben eine Jurorenanhörung hinter mir. Meine Zulassung und der Führerschein sind da drin. Ich muss dringend zur Arbeit. Ins Institut des Medical Examiner.«
Wenn ich gehofft hatte, dass der letzte Hinweis etwas bewirken würde, hatte ich mich getäuscht. Blondies Miene sagte, schmutzige, barfüßige Frau mit einem Einbruchswerkzeug.
Gefährlich?
»Rufen Sie im Büro des ME an«, blaffte ich.
Ein kurzes Zögern. Dann: »Sie warten hier.«
Als würde bei mir ohne Schuhe und ohne Fahrzeug Fluchtgefahr bestehen.
Blondie eilte davon.
Wütend lehnte ich mich gegen den Mazda, trat von einem verletzten Fuß auf den anderen und blickte abwechselnd auf die Uhr und auf den Beton, in der Hoffnung, irgendwo mein Armband zu entdecken. Ich fing an, auf dem Parkdeck hin und her zu gehen. Schließlich hörte ich ein Motorengeräusch.
Sekunden später rollte ein weißer Ford Taurus die Auffahrt hoch.
Konnte dieser Tag noch schlimmer werden?
Er war es soeben geworden.
2
Erskine »Skinny« Slidell bremste neben mir, nahm seine nachgemachte Ray-Ban ab, ließ sein Fenster herunter und begaffte meine flatternden Hosenbeine, die verwüsteten Füße und die zerzauste Frisur. Ein Grinsen schob einen seiner Mundwinkel nach oben. Obwohl das Dezernat für Mord und Schwerverbrechen von Charlotte-Mecklenburg mehr als zwei Dutzend Detectives hat, lande ich immer bei Skinny. Und die Begegnungen sind immer Prüfungen meiner inneren Stärke.
Dabei ist Skinny kein schlechter Ermittler. Ganz im Gegenteil. Aber Skinny betrachtet sich selbst als »alte Schule«. In seiner Vorstellung bedeutet das Dirty Harry Callahan, Popeye Doyle und Sergeant Friday. Ich habe Skinny Zeugen befragen sehen. Man erwartet da immer: »Nur die Fakten, Ma'am.« Aber Skinny ist keiner, dem jemals ein »Sir« oder »Ma'am« über die Lippen kommt.
Vor einigen Jahren war Eddie Rinaldi, Slidells Partner, bei einer Schießerei auf einem Bürgersteig ums Leben gekommen. Kein Mensch hatte Slidell die Schuld dafür gegeben. Bis auf Slidell selbst. Da man im Dezernat der Meinung war, Slidell könnte ein bisschen mehr kulturelle Aufgeschlossenheit vertragen, hatte man ihm eine hispanische Lesbe namens Theresa Madrid als Partnerin zugeteilt. Zur Überraschung aller kamen die beiden gut miteinander aus.
Erst kürzlich hatten Madrid und ihre Partnerin ein koreanisches Kleinkind adoptiert, und Madrid war in Mutterschutz gegangen. Vorübergehend arbeitete Slidell also allein. Was ihm gefiel.
»Aber holla.« Der Trottel sagte das tatsächlich.
»Detective -«
»Haben Sie jemanden sauer gemacht?«
Später kann ich vielleicht über diese Episode lachen. In diesem Augenblick sah ich nur unerfreuliche Alternativen vor mir. Mit dem Parkhaustrottel streiten. Zu einem Telefon latschen und dann auf den Automobilclub warten. Mich mit Slidell herumschlagen.
»Woher wussten Sie, dass ich hier bin?« Cool.
»Ich war bei Doc Larabee, als er einen Anruf erhielt.« Slidell beugte sich zur Seite und öffnete die Beifahrertür. »Steigen Sie ein.«
Ich nahm noch eine Lunge voll frischer Luft, bevor ich mich auf den Sitz gleiten ließ.
»Gütiger Himmel. Doc. Ich weiß nicht, ob ich in den letzten Jahren irgendjemanden in so verlottertem Zustand gesehen habe.«
»Sie sollten mehr unter die Leute gehen.«
»Was zum Teufel haben Sie denn -«
»Schlamm-Catchen. Fahren Sie da rüber.« Ich deutete zu meinem Wagen.
»Den Gegner möchte ich lieber nicht sehen.«
»Ich werd ein Video auf YouTube hochladen.« Ungeduldig deutete ich mit dem Finger auf den SUV.
Slidell fuhr in die Richtung.
»Stopp!« Ich hob die Hand. »Nein, hinter diesen Geländewagen. «
»Ich weiß, was passiert ist. Jemand hat Sie sich vorgenommen, weil Sie sein Auto aufbrechen wollten.«
»Wenn ich ein Auto aufbrechen könnte, wäre ich nicht hier.« Ich stieg aus. Die Blasen sahen aus wie zwei rote Augen, die mir ins Gesicht starrten.
Wenn das Armband nicht ein Geschenk von Katy gewesen wäre, hätte ich es als verloren abgeschrieben und mich aus dem Staub gemacht. Irgendwann werde ich es ihr wohl erzählen. Dann lachen wir. Vielleicht.
Ich zwängte mich zwischen mein Auto und das blaue Monster und suchte den Beton ab. Bingo. Das Armband lag in der Mitte unter den beiden beinahe aneinanderstoßenden Außenspiegeln, genau an der am wenigsten zugänglichen Stelle.
Ich zog den Bauch ein, drückte mich zwischen den Türgriffen nach unten und kauerte mich hin. Die Schulter so weit seitlich verdreht, wie es ging, streckte ich die Hand aus und bekam das Armband zu fassen. Dann richtete ich mich vorsichtig, um keine Alarmanlage auszulösen, wieder auf und ging auf den Taurus zu.
Slidell beobachtete meine Darbietung kommentarlos. Anscheinend hatte ich die Grenze zwischen amüsant und bemitleidenswert überschritten.
Ich stieg ein und knallte die Tür zu.
»Wohin?«
»Ins Institut des ME.« Ich befestigte mir das Kettchen wieder am Handgelenk.
»Ich fahre aber auch gerne bei Ihnen zu Hause vorbei.«
»Mein Hausschlüssel ist in meiner Handtasche. In meinem Auto.«
»Schuhgeschäft?«
»Nein, vielen Dank.« Kurz angebunden.
»Kein Problem. Ich muss sowieso wieder dorthin zurück.«
Ich hätte fragen können, warum. Stattdessen saß ich da, starrte zum Seitenfenster hinaus und konzentrierte mich darauf, die olfaktorischen Hinterlassenschaften von Slidells Vorliebe für Frittiertes mit zu viel Fett zu ignorieren. Von Kaffee, auf dem weiße Schimmelkolonien prangten. Von verschwitzten Turnschuhen und ölfleckigen Kappen. Von schalem Zigarettenrauch. Von Skinny selbst.
Aber ich selbst war ja auch nicht gerade wohlriechend.
Slidell verließ das Parkdeck, fuhr auf die East Trade und wechselte auf die linke Spur.
Ein paar Minuten vergingen schweigend. Dann:
»Wer hat Wuschel um die Ecke gebracht, hm?«
Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete.
»Wer hat den Köter gekillt?«
Klasse. Slidell wusste also über meine Mumienbündel Bescheid. Frisches Wasser auf die Witzmühle.
»Wer hat den ...«
»Ich wurde gebeten, vier eingewickelte, mumifizierte Körper zu untersuchen, um nachzuweisen, dass sie nicht menschlich sind. Sollte das der Fall sein, werden Archäologen das Material datieren, authentifizieren und dann weiterschicken nach ... irgendwohin.«
»Warum ist dieser Wurf toter Chihuahuas -«
»Die Bündel kommen aus Peru, nicht Mexiko.«
»Ja, klar. Also, wie kommt's, dass die Köter eine ME-Behandlung kriegen?«
»Zollbeamte haben sie am Flughafen beschlagnahmt. Irgendeinem Holzkopf wird vorgeworfen, sie ins Land geschmuggelt zu haben. Der illegale Import von Antiquitäten ist ein Verbrechen, müssen Sie wissen.«
»Jaja.« Und nach einer Weile beiderseitigem Schweigen: »Der alte Dom Rockett wurde vom FBI eingebuchtet.«
Obwohl ich neugierig geworden war, wartete ich, weil ich wusste, dass Slidell weiterreden würde.
»Dom Rockett, Folkore-Schnickschnack aus der ganzen Welt.«
»Aus der ganzen Welt?« Ich konnte nicht anders.
»Vorwiegend Südamerika. Unsere Amigos da unten haben genug Schnickschnack für die ganze Welt.«
Offensichtlich hatte Slidell etwas gegen fairen Handel.
»Wertlose Armbänder, Ringe und jede Menge Kram, den man sich um den Hals hängen kann. Wollschals von der Lama- Mama, Wandteppiche. Flöhe aus Übersee.«
»Sie sind ein Poet, Detective.«
»Angeblich glaubt das ICE, dass Rockett seinen Horizont erweitern, sich vielleicht auf wirkliche Antiquitäten verlegen will.« ICE hieß United States Immigration and Customs Enforcement und war die Behörde zur Durchsetzung von Einwanderungs- und Zollbestimmungen der Homeland Security, also des Heimatschutzministeriums. »Nicht angemeldete Antiquitäten.«
Ich sagte nichts.
»Würde mich nicht überraschen. Der Kerl ist Abschaum.«
»Sie kennen ihn?«
»Ich weiß einiges über ihn. Abschaum erkennt Abschaum.«
Ich fragte nicht, was er damit meinte.
»Können Sie die Frischluft höher drehen?«
»Bekommen Sie dann keine kalten Füße?« Ohne die Miene zu verziehen.
Ich warf Slidell noch einen warnenden Blick zu. Was nichts brachte, weil seine Ray-Ban auf die Straße gerichtet war.
Slidell streckte die Hand aus, legte einen Schalter um und schlug dann mit den Handballen gegen das Armaturenbrett. Ein blaues Lämpchen sprang flackernd an, und laue Luft strömte aus den Lüftungsschlitzen.
»Wenn das stimmt, was Sie sagen, dann könnte Rockett ja mit dem Gedanken gespielt haben, die Mumienbündel an ein Museum zu verkaufen«, sagte ich. »Oder an einen privaten Sammler.«
»Ich bin mir sicher, das ICE wird sich eingehend mit seinen Ambitionen beschäftigen. Scheiße bleibt an jedem hängen, der sich mit ihm einlässt.«
Hinter der I-77 schwenkte die West Trade zuerst nach Westen, dann wieder nach Osten. Slidell nahm die Kurve so schnell, dass im Fond Papiertüten und Fast-Food-Kartons über den Boden schlitterten. Ich stellte mir längst verschlungene Fressalien vor. Panierte Hähnchen? Grillfleisch? Überfahrene Tiere?
Schließlich setzte sich meine Neugier durch.
»Was hatten Sie bei Larabee zu tun?«, fragte ich.
»Heute Morgen kam ein Fahrerfluchtopfer herein. Weiblich. Kein Ausweis.«
»Alter?«
»Alt genug.«
»Soll heißen?« Mein Ton schärfer als beabsichtigt.
»Mittlerer bis älterer Teenager.«
»Abstammung?«
»Illegale Latina. Da können Sie Gift drauf nehmen.«
»Kein Ausweis, aber Sie wissen wie aus Zauberhand, dass das Mädchen Latina ist und deshalb nicht registriert?«
»Sie war ohne Ausweis und ohne Schlüssel unterwegs.« So wie ich, dachte ich, sagte es aber nicht.
Sekunden vergingen.
»Wo wurde sie gefunden?«
»An der Kreuzung Rountree und Old Pineville Road, südlich von Woodland. Doc Larabee schätzt den Todeszeitpunkt auf irgendwann zwischen Mitternacht und Morgengrauen. «
»Was wollte sie da draußen?« Ich dachte laut.
»Was denken Sie?«
Ich dachte, dass die Old Pineville Road schon bei Tag eine verlassene Gegend war, von nachts ganz zu schweigen. Es gab einige kleine Geschäfte, aber keins, das für ein Teenagermädchen interessant sein könnte.
»Irgendwelche Zeugen?«
Slidell schüttelte den Kopf. »Ich werde mich ein bisschen in der Gegend umhören, sobald ich bei Doc Larabee fertig bin. Ich vermute, sie war da anschaffen.«
»Wirklich?«
Slidell hob eine fleischige Schulter.
»Eine nicht identifizierte Teenagerin, mehr wissen Sie nicht. Aber für Sie ist sie sofort eine Illegale, die auf den Strich geht. Ist das Detektivarbeit im Schnelldurchgang?«
Er murmelte irgendwas.
Ich verdrängte ihn aus meinen Gedanken. Nach all den Jahren habe ich inzwischen einige Übung darin.
Meine grauen Zellen lieferten eine Collage von Bildern. Ein junges Mädchen alleine im Dunkeln auf einer leeren zweispurigen Straße. Scheinwerfer. Der Aufprall einer Stoßstange.
»... Story?«
»Was?«
»Erinnern Sie sich an John-Henry Story?«
Der Themenwechsel verblüffte mich. »Das Flammenopfer im letzten April?«
Vor sechs Monaten hatte ich nach einer Explosion auf einem Flohmarkt mit anschließendem Brand fragmentarische Überreste untersucht. Ich war zu dem Schluss gelangt, dass das Opfer weiß, männlich und zwischen fünfundvierzig und sechzig Jahre alt war. Das Bioprofil passte auf John-Henry Story, den Besitzer des Marktes. Story hatte Zeugen erzählt, dass er dorthin wollte, und war seitdem nicht mehr gesehen worden. Bei den Knochen wurde auch persönlicher Kram gefunden. Ein Handy? Brieftasche? Uhr? Ich konnte mich an die Details nicht mehr erinnern.
Obwohl die Identifizierung ausschließlich auf Indizien beruhte, hatte der ME entschieden, dass sie ausreichend war. Brandermittler hatten Proben genommen und untersucht, aber die Scheune war so alt und die Zerstörung so total, dass eine Brandursache nicht mehr eindeutig festgestellt werden konnte.
Storys Tod hatte Schlagzeilen gemacht. Ein prominenter Geschäftsmann, verbrannt in einem Gebäude mit ungenügendem Alarm- und Sprinklersystem. Die Medien hatten sich auf das Thema öffentliche Sicherheit auf nicht genügend reglementierten Märkten und Waffenmessen gestürzt. Doch schließlich wandte sich die Presse etwas anderem zu, der Aufschrei verklang, und Storys Flohmarkt wurde woanders wiedereröffnet.
»Jaja.« Slidells Lieblingsäußerung. Sie machte mich wahnsinnig.
Jahrelang war der Mecklenburg County Medical Examiner an der Ecke 10th und College untergebracht, in einem Backsteingebäude, das früher ein Sears-Gartencenter war. Jahrelang hatten die Stadtväter von einem Standortwechsel gesprochen. Jahrelang war nichts passiert. Doch dann kam, wie durch ein Wunder, Bewegung in das Vorhaben.
Zu Kosten von acht Millionen Dollar wurde auf einem Regierungsgrundstück in einem Industriegebiet nordwestlich des Zentrums ein Ersatzbau errichtet. Mit einer Nutzfläche von fast 1600 Quadratmetern ist das neue Gebäude viermal so groß wie das alte. Epoxy-Böden, Corian-Wände, Edelstahl, wohin man blickt. Anstatt nur zwei können die Pathologen jetzt simultan vier Autopsien durchführen. Zur neuen Ausstattung gehören auch zwei Räume für Untersuchungen, bei denen aufgrund von Verwesung oder potenzieller Kontamination eine spezielle Behandlung notwendig ist.
Die Stinker. Meine Art von Fällen.
Und das Funkelnagelneue ist konsequent ökologisch.Hochkomplexe Energieerhaltungssysteme. Topmoderne Klima- und Heizanlage mit bis zu einen Meter breiten Luftschächten. Obwohl alle Arbeit im Erdgeschoss stattfindet, erhielt ein Teil des Gebäudes ein Obergeschoss, um die ganze Technik unterzubringen.
Und doch ist die Atmosphäre einigermaßen friedlich. Die Büros und die öffentlichen Bereiche sind in sanften Blau- und Erdtönen gehalten. Die Fenster sind groß und haben Sonnenblenden und intelligente Lichtführung, um eine maximale Tageslichtaufnahme und minimale Blendung zu gewährleisten.
Mit anderen Worten, unser neuer Laden ist der Hammer.
Ich wartete, während Slidell durch das schwarze Sicherheitstor fuhr, die Fahnenmasten umrundete und eine Parklücke gefunden hatte. Er stellte den Motor ab und legte den Arm über die Rückenlehne, was eine Woge Geruch in meine Richtung schickte. Dann wandte er sich mir zu.
»John-Henry Story hat diverse Unternehmungen überall in den Countys Mecklenburg und Gaston. Story Motors. Story Storage -«
J.-H. Story - Wir haben für jeden ein sicheres Lager. Der grässliche Slogan kam mir unverlangt wieder in den Sinn. Es war eine nervtötende, aber sehr effektive Werbekampagne gewesen.
»- John-Henry's Tavern. Die Liste ist länger als der Schwanz meines Hundes.«
»Sie haben einen Hund?«
»Wollen Sie die Geschichte hören?«
»Storys Tod wurde als Unfall eingestuft. Wieso kommen Sie jetzt auf ihn?«
Slidell fixierte mich mit einem theatralischen Blick, während er in sein Sakko griff. Das senffarben und braun war. Mit einer schnellen Bewegung zog er einen Ziploc-Beutel aus der Brusttasche seines Hemds. Das einen Orangeton hatte, den man wahrscheinlich Melone nannte.
Ich verkniff es mir, die Augen zu verdrehen, während ich mich zur Seite beugte, um mir den Inhalt des Beutels anzusehen.
Und spürte, wie meine Augenbrauen vor Überraschung in die Höhe gingen.
3
Die Sonne glitzerte auf dem Plastik zwischen Slidells Daumen und Zeigefinger.
Ich wartete auf eine Erklärung.
»Das Opfer hatte eine Handtasche. Kreischend pink, nur so groß wie ein Burger, Nuttenriemchen.«
»Ich trage auch eine Schultertasche.« Slidells Sarkasmus machte mich wie üblich reizbar. Wie auch seine vorschnelle Schlussfolgerung, das Unfallfluchtopfer sei eine Prostituierte.
»Leuchtend pink? Geformt wie eine gottverdammte Comickatze? «
»Sind Sie sicher, dass es ihre war?«
»Das Ding lag im Gestrüpp, drei Meter von der Leiche entfernt. Hatte noch nicht lange dort gelegen. Wir untersuchen sie noch nach Fingerabdrücken. Aber ja, ich bin sicher, dass es ihre war.«
»Das war in der Handtasche?« Ich deutete auf das Objekt in der Tüte.
»Zusammen mit einem komm-fick-mich-roten Lippenstift. «
»Bargeld?«
»Ein Zehner und zwei Einer. Lose. Einfach nur reingestopft. «
»Sonst noch was?«
»Nada ... bis auf.« Er wedelte mit dem Tütchen. Der Erstaunliche Slidell, Zauberer von Mecklenburg.
Ich nahm die Tüte und schaute mir das Plastikrechteck darin genau an, denn ich war sicher, dass ich die winzigen schwarzen Buchstaben auf der Oberseite falsch gelesen hatte.
Hatte ich nicht.
»Was soll ich damit?«
»Dachte, es interessiert Sie vielleicht.«
Die gelb-braune US Airways Club Card hatte eine Gültigkeit bis Februar des folgenden Jahres. Das Konto lief auf den Namen John-Henry Story.
»Sie hatte John-Henry Storys Fluglinien-Clubkarte?«
Slidell nickte.
»Wie kam sie dazu?«
»Intelligente Frage, Doc. Und hier ist noch eine. Story ist vor sechs Monaten verbrannt. Wo war das Plastik in der Zwischenzeit?«
Das ergab keinen Sinn.
»Die Sache ist die, Story stirbt, aber seine Karte lebt weiter. Nur in einer Art Dämmerschlaf«, sagte Slidell. »Ich habe es kontrolliert. Zum letzten Mal wurde die Karte sechs Wochen vor dem Feuer benutzt.«
»Wohin flog er?«
»Daran arbeite ich noch.«
»War irgendjemand bei ihm?«
»Ein Gast.«
»Das Mädchen?«
»Diese Information wird nicht gespeichert.«
Slidell zog noch eine Ziploc-Tüte aus seiner Tasche. »Und das war auch noch in ihrer Handtasche.«
Ich betrachtete den Papierfetzen durch das Plastik. Darauf stand gekritzelt: Las clases de Inglés. Saint Vincent de Paul Catholic Church.
Ich schaute Slidell an. Er schaute mich an und zuckte die Achseln.
Ich wollte meine Habseligkeiten zusammenraffen, bevor ich aus dem Taurus stieg, aber natürlich hatte ich keine Habseligkeiten. Keine Schuhe, keine Handtasche, weder Haus- noch Autoschlüssel, kein Handy, kein Bargeld, keine Karten.
Zu einer anderen Zeit hätte ich Katy anrufen und sie um die Ersatzschlüssel bitten können, die sie für mein Haus aufbewahrt.
O Gott. Katy.
»Hören Sie, danke, dass Sie mich hergefahren haben. Ich -«
»Sie sind mir was schuldig? Machen Sie sich darüber jetzt keine Gedanken.«
Jetzt? Klasse.
Ich zog die Hosenbeine hoch, schwang mich aus dem Taurus und eilte zur Eingangstür. Über den glatten Asphalt zu laufen war so ziemlich die größte Freude, die ich den ganzen Tag erlebt hatte. Ich blieb einen Augenblick stehen und genoss den kühlenden Stein.
In meinem Büro warteten Laborkluft und vernünftige Schuhe. Bald würde ich einigermaßen präsentabel sein.
Wie schon Slidell würde mein Erscheinungsbild die Leute drinnen weniger schockieren als amüsieren. Ich war schon schlimmer aussehend und riechend aufgetaucht.
Bis auf Mrs. Flowers. Sie würde ihr Missfallen durch eine minimale Augenverengung und ein hastiges Neuordnen ihres bereits penibel ordentlichen Schreibtisches kundtun.
Ich nickte Mrs. Flowers durch das Rezeptionsfenster zu. Nachdem sie mich eingelassen hatte, winkte sie mich mit einer Fingerbewegung zu sich.
Obwohl Mrs. Flowers einen Vornamen hatte - Eunice -, war sie nach meinem Wissen noch nie anders als mit Mrs. Flowers angesprochen worden. Der Namen passt so gut zu ihr, dass ich mich manchmal frage, ob sie einen Verehrer namens Smith oder Gaspard geheiratet hat. Sie ist eine Pfingstrose von einer Frau, mit einer vollen Figur und einer Haut, die sie offensichtlich seit Kindertagen verwöhnt. Der einzige Makel dieser perfekten Haut? Mrs. Flowers' Farben in Gegenwart des anderen Geschlechts.
Trotz ihres unangebrachten Farbenspiels hat Mrs. Flowers die Fähigkeit, jedes Dokument archiviert und zugriffsbereit, jeden Bericht getippt, geprüft und sofort verfügbar zu halten, daneben den Telefondienst zu machen und die Besucher, die sich an ihrem Fenster zeigen, gezielt weiterzuleiten. Bei einem Personal aus drei Pathologen, zahlreichen Todesermittlern, gelegentlichen externen Beratern und meiner Wenigkeit ist das eine ziemliche Leistung.
»Ach du meine Güte.« Mrs. Flowers' erhobene Hand sank auf ihre gelbe Seidenbluse.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte ich. Sollte heißen, fragen Sie lieber nicht.
Eine sorgfältig gezupfte Augenbraue wanderte leicht in die Höhe, aber dabei beließ sie es.
»Dr. Larabee möchte Sie sehen.« Eine Stimme so südlich wie Vom Winde verweht. »Er ist im großen Autopsiesaal.«
»Danke.«
Zwei kleine Gänge, von den Erfindern Biovestibüle genannt, verbinden die Verwaltungs- und Öffentlichkeitsbereiche mit dem Autopsiebereich. Ich ging den einen hinunter und blieb kurz vor der Anschlagtafel stehen.
Vier neue Fälle. Ein Unfall mit einem einzelnen Fahrzeug in der Nähe des Optimist Park an der N. Davidson Street, ein älterer Fahrer, D.O.A., wie es so schön kurz heißt für dead on arrival - tot bei Ankunft - im Carolinas Medical Center. Eine Sechzehnjährige mit einer Schusswunde im Kopf, neben einem Müllcontainer am Shamrock Drive tot aufgefunden. Die peruanischen mumifizierten Überreste, die auf meine Untersuchung warteten. Und das junge Opfer der Fahrerflucht von der Old Pineville Road.
Slidells Unbekannte.
Ich stellte mich vor der Damentoilette an, ließ meinen Haaren und meinem schmutzverkrusteten Gesicht die größtmögliche Interimspflege angedeihen und ging dann in den Umkleideraum, um Laborkluft anzulegen. Schließlich noch ins Büro, wo ich mir Pflaster, Antiseptikum und die Nikes holte, die immer unter meinem Garderobenständer stehen. Zehn Minuten nach meinem Eintreffen war ich bereit für den Einsatz.
Als ich die Tür zum großen Autopsiesaal aufstieß, stand Tim Larabee neben einem der beiden Edelstahltische. Er schnitt oder wog nicht, diktierte nicht, schaute sich die Überreste nicht einmal an.
Wollte er sie vor mir abschirmen? Vor Slidell? Vor den vielen anderen, die sie befingern und fotografieren, analysieren und sezieren würden?
Komischer Gedanke. Aber wahr. Das kalte Verfahren hatte begonnen. Und ich würde daran teilnehmen.
Röntgenaufnahmen leuchteten vor den Lichtkästen an einer der Wände. Schädelaufnahmen. Und eine Ganzkörperserie.
Auf einer Arbeitsfläche stand ein Paar Stiefel. Hellbraunes Vinyl, mit hohen Absätzen und roten und blauen Blumen an den Flanken. Die Sohlen schlammverklebt. Billig.
Und klein. Vielleicht Größe fünfunddreißig. Winzige Füße in Stiefeln für ein sehr erwachsenes Mädchen.
An einem Trockengestell hingen Kleidungsstücke. Eine rote Bluse. Ein Jeans-Minirock. Weißer Baumwollslip mit hellblauen Punkten.
Slidell stand neben dem Ständer, die Füße gespreizt, die Hände zu einem V über den Genitalien zusammengelegt. Er schaute sich weder die Kleidung noch die Leiche an. Und reagierte nicht auf mein Eintreten.
Wieder spürte ich Verärgerung in mir aufsteigen, unterdrückte sie aber, als ich in den Wissenschaftsmodus schaltete. Die oberste Regel: Vorgefasste Meinungen ausschalten. Kein Verdacht, keine Angst, keine Hoffnung, was das Ergebnis angeht. Beobachte, wiege, messe und zeichne auf.
Zweite Regel: Emotionen ausschalten. Heb dir Trauer, Mitleid und Entrüstung für später auf. Wut und Kummer können zu Irrtümern und Fehlurteilen führen. Fehler helfen deinem Opfer nicht.
Und trotzdem. Ich schaute mir das gequetschte und verzerrte junge Gesicht an, und nur einen Augenblick lang stellte ich mir das Mädchen lebendig vor, wie sie sich ihr pinkfarbenes Kätzchentäschchen über die Schulter hängte. Die Riemchen rutschten, weil das bisschen Zeug darin nichts wog.
Ein dunkler Straßenabschnitt.
Ein hämmerndes Herz.
Scheinwerfer.
Weißer Baumwollslip mit hellblauen Punkten. Die Art, die Katy in der Middleschool bevorzugt hatte.
»Hat Slidell Sie ins Bild gesetzt?«
Larabees Frage holte mich aus meinen Gedanken zurück.
»Unfall mit Fahrerflucht. Noch nicht identifiziert.«
»Schauen Sie mal.« Larabee ging zu den Lichtkästen. Sein Gesicht wirkte hager und abgespannt, und das bei einem obsessiven Langstreckenläufer ohne jegliches Körperfett und mit Wangenhöhlungen so tief wie Ozeangräben.
Ich stellte mich neben ihn. Er zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Labormantels und deutete auf einen Defekt etwa in der Mitte des linken Schlüsselbeins.
Und auf die dritten und vierten Rippen darunter.
Dann trat er vor das nächste Foto und fuhr mit dem Stift den Arm entlang, über Oberarmknochen, Elle und Speiche, dann die Hand.
»Ja«, sagte ich auf seine unausgesprochene Frage.
Zu einer Vorder- und Hinteransicht des Schädels. Einer Seitenansicht.
Eine kalte Faust umklammerte meine Eingeweide.
Wortlos kehrte ich zu der Leiche zurück.
Das Mädchen lag auf dem Rücken. Larabee hatte den Y- Schnitt noch nicht gesetzt, und abgesehen von den Quetschungen, Abschürfungen und Deformationen aufgrund der Brüche hätte das Mädchen auch schlafen können. Die Haare, die sich um ihren Kopf ausbreiteten, waren lang und blond, eine Strähne wurde zusammengehalten von einer Haarspange in Form einer Katze. Pink. Wie kleine Mädchen sie mögen.
Konzentrier dich.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
»Willst du gegen mich kämpfen, du kleine Schlampe?«
Der Mann schlug und schlug, bis sein Atem abgehackt ging.
Meine Wut loderte jetzt weißglühend in meinem Hirn und vertrieb jeden Gedanken an meine eigene Sicherheit.
Ich kroch nach hinten und schnappte mir die Waffe. Kontrollierte die Sicherung und war in diesem Augenblick dankbar für das Training auf dem Schießplatz.
Froh um die Waffe, griff ich nach meinem Handy. Es war nicht in der Tasche bei der Taschenlampe.
Ich suchte in der anderen Tasche. Kein Handy.
Hatte ich es fallen gelassen? Hatte ich es bei meinem überstürzten Aufbruch zu Hause vergessen?
Die Panik war fast überwältigend. Ich konnte niemanden erreichen. Was sollte ich tun?
Eine winzige Stimme riet mir zur Vorsicht. Bleib in deinem Versteck. Warte. Slidell weiß, wo du bist.
»Du bist ja so was von tot.« Die Stimme dröhnte, grausam und böswillig.
Ich wirbelte herum.
Der Mann zerrte das Mädchen an den Haaren hoch.
Die Beretta in beiden Händen, stürmte ich aus der Nische. Der Mann erstarrte, als er die Bewegung hörte. Fünf Meter von ihm entfernt blieb ich stehen. Eine Säule als Deckung nutzend, spreizte ich die Füße und richtete die Waffe auf ihn.
»Lassen Sie sie gehen.« Mein Schrei wurde von Ziegeln und Beton zurückgeworfen.
Der Mann hielt weiter die Haare des Mädchens fest umklammert. Er stand mit dem Rücken zu mir.
»Hände hoch.«
Endlich ließ der Mann das Mädchen los und richtete sich auf. Seine Hände hoben sich bis zur Höhe seiner Ohren.
»Umdrehen.«
Als der Mann sich umdrehte, traf ihn wieder ein Lichtstreifen. Einen Augenblick lang sah ich sein Gesicht in völliger Klarheit.
Beim Anblick seiner Widersacherin ließ er die Hände leicht herabsinken. Da ich spürte, dass er mich besser sehen konnte als ich ihn, drückte ich mich weiter hinter die Säule.
»Die verdammte Schlampe lebt.«
Du stirbst auch, du verdammte Schlampe.
»Man braucht Mut, um Droh-Mails zu schicken!« Meine Stimme klang viel selbstbewusster, als ich mich fühlte. »Um hilflose kleine Mädchen herumzuschubsen.«
»Schulden eintreiben? Sie kennen die Regeln.«
»Für dich ist Schluss mit Schuldeneintreiben, du kranker Widerling.«
»Sagt wer?«
»Sagt ein Dutzend Polizisten, das jeden Augenblick hier sein wird.«
Der Mann hielt sich eine Hand ans Ohr. »Ich höre keine Sirenen.«
»Gehen Sie von dem Mädchen weg!«, befahl ich.
Er machte einen rein symbolischen Schritt.
»Los«, knurrte ich. Die Arroganz des Kerls machte mich so wütend, dass ich ihm am liebsten die Beretta über den Kopf gezogen hätte.
»Sonst was? Erschießen Sie mich?«
»Ja.« Kalt wie Stahl. »Ich erschieße Sie.«
Würde ich es tun? Ich hatte noch nie auf einen Menschen geschossen.
Wo zum Teufel war Slidell? Ich wusste, dass mein Bluff genährt war von Koffein und Adrenalin. Und dass beides irgendwann nachlassen würde.
Das Mädchen stöhnte.
In diesem Sekundenbruchteil verlor ich den Vorteil, der dem Mann vielleicht das Leben gerettet hätte.
Ich schaute nach unten.
Er machte einen Satz auf mich zu.
Frisches Adrenalin schoss durch meinen Körper.
Ich hob die Waffe.
Er kam näher.
Ich zielte auf das weiße Dreieck.
Schoss.
Die Explosion war brutal laut. Der Rückstoß riss mir die Hände nach oben, aber ich blieb sicher stehen.
Der Mann sackte zu Boden.
Im Dämmerlicht sah ich das Dreieck dunkel werden. Wusste, dass Rot sich darüber ausbreitete. Ein perfekter Treffer. Das Dreieck des Todes.
Stille bis auf mein eigenes, heiseres Atmen.
Dann übernahm mein Verstand die Kontrolle über das Stammhirn.
Ich hatte einen Mann getötet.
Meine Hände zitterten. Galle stieg mir in die Kehle.
Ich schluckte. Richtete die Waffe wieder aus und ging langsam vorwärts.
Das Mädchen lag reglos da. Ich kauerte mich hin und drückte ihr zitternde Finger an die Kehle. Spürte einen Puls, schwach, aber regelmäßig.
Ich drehte mich um. Schaute in die stummen, böswilligen Augen des Mannes.
Plötzlich fühlte ich mich erschöpft. Und war entsetzt von dem, was ich eben getan hatte.
Ich überlegte. Konnte ich in meinem Zustand gute Entscheidungen treffen? Sie auch umsetzen? Mein Handy lag zu Hause.
Ich wollte mich hinsetzen, den Kopf in die Hände stützen und den Tränen freien Lauf lassen.
Stattdessen atmete ich ein paarmal tief durch, stand auf und ging durch Dunkelheit, die mir wie tausend Meilen vorkam, zur Treppe. Mit Beinen weich wie Gummi stieg ich hinauf.
Vom Treppenabsatz bog ein Gang nach rechts ab. Ich folgte ihm zu der einzigen geschlossenen Tür.
Die Waffe fest in einer feuchten Hand, streckte ich die andere aus und drehte den Knauf.
Die Tür schwang nach innen.
Ich starrte in nacktes Grauen.
ERSTER TEIL
1
Man hat mich schon öfter gefangen gehalten. In einem Keller, im Kühlraum einer Leichenhalle, in einer Gruft unter der Erde. Es ist immer furchterregend und intensiv. Aber diese Gefangenschaft übertraf alles, was ich je an körperlichem Schmerz erlebt hatte.
Der Jurorenbereich im Gerichtsgebäude des Mecklenburg County ist so gut, wie solche Einrichtungen eben sein können - WLAN, Computer, Billardtische, Popcorn. Ich hätte eine Freistellung beantragen können. Habe ich aber nicht. Die Justiz rief, und ich kam. Brennan, die gute Staatsbürgerin. Außerdem wusste ich, dass man mich aufgrund meines Arbeitsbereichs sowieso ausschließen würde. Als ich den heutigen Tag plante, hatte ich sechzig, maximal neunzig Minuten eingerechnet, in denen ich mir wahrscheinlich Plattfüße holen würde.
Von wegen Plattfüße. Beachten Sie meinen Gedankensprung. Zu meiner aufregenden beruflichen Fußbekleidung gehören atmungsaktive Goretex-Wanderschuhe und vielleicht Gummistiefel, damit man nicht im Matsch landet. Dass ich jemals mörderische High Heels kaufe, geschweige denn trage, ist so wahrscheinlich wie die Entdeckung von Gigantosaurus- Knochen hinter einem Bad Daddy's Burger.
Meine Schwester Harry hatte mich zu zehn Zentimeter hohen Pumps von Christian Louboutin überredet. Harry aus Texas, dem Land der großen Frisuren und meilenhohen Stilettos. Damit du professionell aussiehst, hatte sie gesagt. In verantwortlicher Position. Außerdem sind sie sechzig Prozent reduziert.
Ich muss zugeben, das glänzende Leder und die schicken Ziernähte sahen an meinen Füßen toll aus. Aber fühlte ich mich auch toll? Nicht nach drei Stunden Warten. Als der Gerichtsdiener unsere Gruppe schließlich aufrief, torkelte ich fast in den Gerichtssaal, und dann, als meine Nummer aufgerufen wurde, in den Zeugenstand.
»Bitte nennen Sie Ihren vollen Namen.« Chelsea Jett, gefühlte sechs Minuten nach ihrem Juradiplom, 400-Dollar- Kostüm, teure Perlenhalskette und Stilettos, die meine alt aussehen ließen. Die frischgebackene Staatsanwältin Jett versteckte ihre Nervosität hinter einem barschen Auftreten.
»Temperance Daessee Brennan.« Mach's für uns beide leichter. Lass mich ruck, zuck wieder gehen.
»Bitten nennen Sie Ihre Adresse.«
Ich tat es. »Das ist auf Sharon Hall«, fügte ich leutselig hinzu. Ein Herrenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert, roter Backstein, weiße Säulen, Magnolien. Mein Häuschen ist der Anbau zur Remise, der Annex. Mehr Old South geht nicht. Doch das sagte ich alles nicht.
»Wie lange wohnen Sie schon in Charlotte?«
»Seit meinem achten Lebensjahr.«
»Wohnt unter dieser Adresse jemand bei Ihnen?«
»Manchmal meine erwachsene Tochter, aber nicht im Augenblick.« Das Armband, das Katy mir geschenkt hatte, hing lose an meinem Handgelenk, ein zartes Silberband mit der Gravur Mom rocks.
»Ihr Familienstand?«
»Getrennt.« Kompliziert. Auch das sagte ich nicht.
»Sind Sie in einem festen Arbeitsverhältnis?«
»Ja.«
»Bitte nennen Sie Ihren Arbeitgeber.«
»Der Staat North Carolina.« Immer schön kurz und bündig.
»Ihr Beruf?«
»Forensische Anthropologin.«
»Welche Ausbildung verlangt der Beruf?« Steif.
»Ich habe einen Doktortitel und eine Zulassung durch das American Board of Forensic Anthropology.«
»Dann führen Sie also Autopsien durch?«
»Sie denken, ich bin forensische Pathologin. Ein häufiger Fehler.«
Jett wurde noch steifer.
Ich schenkte ihr ein Lächeln. Das die Staatsanwältin nicht erwiderte.
»Forensische Anthropologen arbeiten mit Toten, bei denen Autopsien unmöglich sind, also mit Skelettierten, Mumifizierten, Verwesten, Zerstückelten, Verbrannten oder Verstümmelten. Wir werden hinsichtlich vieler Fragen konsultiert, die alle mittels einer Untersuchung der Knochen beantwortet werden. Zum Beispiel, ob die fraglichen Überreste menschlich oder tierisch sind.«
»Dazu ist ein Experte nötig?« Kaum beherrschte Skepsis.
»Einige menschliche und tierische Knochen sind sich täuschend ähnlich.« Ich dachte an die mumifizierten Exemplare, die mich im MCME erwarteten. »Vor allem fragmentierte Überreste sind sehr schwer zu beurteilen. Stammen Sie von einem Individuum, von mehreren, von Menschen, Tieren oder beidem?« Die Bündel, die ich gerade nicht untersuchte, weil ich, mit Füßen so aufgedunsen wie Wasserleichen, hier festhing.
Jett bedeutete mir mit einer ungeduldigen Geste ihrer manikürten Hand weiterzureden.
»Wenn die Überreste menschlich sind, suche ich nach Indikatoren auf Alter, Geschlecht, Abstammung, Größe, Krankheiten, Missbildungen oder Anomalien - nach allem, was zur Identifikation von Nutzen sein kann. Ich untersuche Verletzungen, um die Todesart zu bestimmen. Ich schätze, wie lange das Opfer schon tot ist. Ich betrachte etwaige postmortale Leichenbehandlung. «
Jett hob fragend eine Augenbraue.
»Köpfen, zerstückeln, eingraben, ins Wasser werfen.«
»Ich denke, das genügt.«
Jett schaute auf die Liste ihrer Fragen. Eine sehr lange Liste.
Mein Blick wanderte zu meiner Uhr, dann zu den Unglücklichen, die noch auf ihre Befragung warteten. Ich hatte mich angezogen, um respektvoll auszusehen, dem Bild zu entsprechen, das man von einer Vertreterin des Mecklenburg County Medical Examiner's Office erwartete. Hellbrauner Hosenanzug, seidenes Rollkragenoberteil. Das traf nicht auf alle meine Mitgefangenen zu. Mein Favorit war das junge Mädchen in engem, ärmellosem Oberteil, Jeans und Sandalen.
Keine Haute Couture, aber ich vermutete, dass ihre Füße sich besser anfühlten als meine. Ich versuchte, in meinen Mörderpumps die Zehen zu bewegen. Keine Chance.
Ms. Jett atmete einmal tief durch. Worauf wollte sie hinaus? Ich zögerte nicht lange, es herauszufinden.
»Als forensische Anthropologin für den Staat stehe ich sowohl bei der UNC Charlotte - ich unterrichte dort ein Haupt seminar -, beim Office of the Chief Medical Examiner in Chapel Hill und beim Mecklenburg County Medical Examiner hier in Charlotte unter Vertrag. Außerdem bin ich konsultierende Expertin für das Laboratoire de sciences judiciaires et de médecine légale in Montreal.« Soll heißen: Ich habe sehr viel zu tun. Ich berate Polizeieinheiten, das FBI, das Militär, Coroner und Leichenbeschauer. Sie wissen genau, dass der Verteidiger mich entlassen wird, wenn Sie es nicht tun.
»Verstehe ich das richtig? Sie arbeiten regelmäßig in zwei Ländern?«
»Das ist nicht so merkwürdig, wie es klingt. In den meisten Rechtssystemen fungieren forensische Anthropologen als spezialisierte Berater. Wie bereits gesagt, werden meine Kollegen und ich nur zu Fällen gerufen, bei denen nicht genügend Fleisch für eine Autopsie vorhanden ist oder die Überreste -«
»Richtig.«
Jett fuhr die endlose Liste auf ihrem gelben Block mit dem Finger ab.
Ich streckte meine unglücklichen Zehen - oder versuchte es zumindest.
»Im Verlauf Ihrer Arbeit für den Medical Examiner, kommen Sie da in Kontakt mit Polizeibeamten?«
Endlich. Vielen Dank.
»Ja. Sehr oft.«
»Mit Staatsanwälten oder Strafverteidigern?«
»Mit beiden. Außerdem ist mein Exgatte Anwalt.« Eine Art Ex.
»Kennen Sie persönlich jemanden, der mit diesem Verfahren zu tun hat, den Angeklagten, seine Familie, die Polizeiermittler, die Anwälte, den Richter?«
»Ja.«
Und damit war ich entlassen.
Ohne Rücksicht auf meine protestierenden Zehen stürzte ich humpelnd aus dem Gerichtssaal, durch die Lobby und zu den Doppelglastüren hinaus. Mein Mazda stand am hintersten Ende des Parkdecks. Da ich erst um zehn nach acht, der in der Vorladung genannten Zeit, eingetroffen war, hatte ich die erste Lücke genommen, die ich fand, und die lag etwa auf dem halben Weg nach Kansas.
Nach einem schnellen Humpeln über die Fahrspur ging ich an einer Reihe von Fahrzeugen entlang und fand meinen Mazda, dicht flankiert von einem riesigen, blauen SUV auf der Fahrerseite und noch stärker bedrängt auf der Beifahrerseite. Schwitzend drückte ich mich zwischen den beiden Türgriffen und dem Außenspiegel hindurch und streifte dabei mit Brust und Hintern die schmuddeligen Türen und Seitenbleche, die meinen Oberkörper einklemmten. Danach sah mein toller, hellbrauner Leinenanzug aus, als hätte ich mich im Dreck gewälzt.
Als ich die Tür aufzog und mich hinters Lenkrad klemmte, klimperte etwas zu meinen Füßen. Ein vernünftiger Staatsbürger - also ein Staatsbürger in vernünftigem Schuhwerk - hätte sich gebückt, um nachzusehen, welcher bewegliche Schmuck sich da gelöst hatte. Doch ich konzentrierte mich auf meine Flucht und tastete mit den Fingern nach dem Schlüssel im Reißverschlussfach meiner Handtasche.
Mit brennenden Füßen rammte ich den Schlüssel in die Zündung und bückte mich seitlich, um an meinem rechten Schuh zu zerren. Das Ding klebte so fest, als wäre es mir aufs Fleisch verpflanzt.
Ich zerrte noch fester.
Mein Fuß explodierte aus seiner Umhüllung. Mit viel Verbiegen und Verdrehen wiederholte ich die Prozedur am linken.
Ich drückte mich in die Lehne und betrachtete zwei spektakuläre Blasen. Dann die verhassten Louboutins in meiner
Hand.
Meine Hand.
Mein Handgelenk.
Mein nacktes Handgelenk.
Katy.
Ich spürte einen vertrauten Stich der Angst in meiner Brust.
Ich verdrängte ihn.
Konzentrier dich. Das Armband war im Jurorenzimmer und im Zeugenstand an Ort und Stelle gewesen.
Das Klimpern. Anscheinend hatte sich das zarte Silberarmband an irgendetwas verfangen, als ich mich an dem SUV vorbeigedrückt hatte.
Fluchend zwängte ich mich wieder hinaus und warf die Autotür zu.
Das menschliche Hirn ist eine Schaltstation, die auf zwei Ebenen funktioniert. Während ein Reflexbefehl noch an meine Hand ging, kam es in meinem Kleinhirn bereits zu einer neuralen Verbindung. Bevor die Tür ins Schloss fiel, wusste ich, dass ich in der Patsche saß. Ich riss am Griff, obwohl es nichts brachte, und kontrollierte dann die Stellung aller vier Schließ- knöpfe.
Noch bildhafter fluchend, griff ich nach meiner Handtasche. Die auf dem Beifahrersitz lag.
Scheiße.
Und der Schlüssel? Steckte in der Zündung.
Einen Augenblick stand ich nur da, die Hosenbeine fielen mir über die nackten Füße, der Hosenanzug war schmutzig, die Achseln schweißnass. Und überlegte.
Konnte dieser Tag noch schlimmer werden?
Eine gedämpfte Stimme drang aus dem Auto. Andy Grammer, der mit Keep Your Head Up einen Anruf auf meinem iPhone ankündigte. Fast hätte ich gelacht. Nur fast.
Meinem Chef Tim Larabee hatte ich gesagt, dass ich noch vor Mittag im Institut sein würde. Vom Jurorenzimmer aus hatte ich angerufen, um meine geschätzte Ankunftszeit auf 13 Uhr nachzudatieren. Auf meiner Uhr war es jetzt 14 Uhr. Larabee machte sich sicher Gedanken über die mumifizierten Überreste, die auf meine Untersuchung warteten.
Vielleicht war es gar nicht Larabee.
Ach, was soll's. Dass ich barfuß und aus meinem Auto ausgesperrt auf einem Parkdeck stand, wollte ich sowieso niemandem erzählen.
But you gotta keep your head up ...
Genau.
Ich schaute mich auf dem Parkdeck um. Überall Autos. Nirgends Leute.
Die Scheibe einschlagen? Womit? Frustriert starrte ich das Glas an. Es warf mir das Bild einer wütenden Frau mit einer wirklich üblen Frisur zurück. Clever.
Das war es tatsächlich. Mein Blick wanderte über das Glas, das oben nicht mehr bündig mit dem Rahmen abschloss. Ein abgenutzter oder abgebrochener Zahn im Hebemechanismus, hatte Jimmy, mein Mechaniker, gesagt. Gefährlich. Die Lücke war so groß, dass ein Kerl einen Draht hindurchschieben und auf halbem Weg nach Georgia sein konnte, bevor man überhaupt merkt, dass das Auto geklaut ist.
Ernsthaft?, hatte ich gesagt. Einen zehn Jahre alten Mazda?
Ersatzteile, hatte er feierlich erwidert.
War ein Kleiderbügel zu viel verlangt? Ich ließ meinen Blick über den Abfall schweifen, der sich angesammelt hatte, wo der Betonboden des Parkdecks an die Rückwand stieß. Steinchen, Plastikverpackungen, Aluminiumdosen. Nichts, was mich in mein Auto bringen konnte.
Vorsichtig auftretend ging ich an der Wand entlang. Obwohl die Blasen inzwischen aussahen wie Hackfleisch, stapfte ich, die Hosenränder über den dreckigen Beton schleifend, voran.
Im Institut mumifizierte Knochen, die minütlich älter wurden.
Bei all diesen Verzögerungen würde ich bis weit in den Abend im Institut des ME sein. Dann nach Hause zu einer gereizten Katze. Und in der Mikrowelle aufwärmen, was ich noch im Gefrierfach hatte.
But you gotta keep your ...
Vergiss es.
Dann bemerkte ich zwei Meter vor mir ein Funkeln im Unrat. Hoffnungsvoll ging ich darauf zu.
Meine Beute war ein etwa sechzig Zentimeter langes Drahtstück, früher vielleicht wirklich einmal Teil eines zusammengebastelten Instruments, wie mir eins vorschwebte.
Nachdem ich schnell zum Mazda zurückgehumpelt war, bog ich das eine Ende zu einer kleinen Öse und schob den Draht durch Jimmys Lücke.
Mit beiden Händen, das Gesicht flach an die Scheibe gedrückt , versuchte ich, die Öse über den Knopf zu schieben. Jedes Mal wenn mir das Ding an der richtigen Position schien, zog ich den Draht scharf nach oben.
Ich war bei meinem zigtausendsten Versuch, als hinter mir eine Stimme dröhnte.
»Treten Sie von dem Fahrzeug zurück.«
Scheiße.
Den Draht fest mit einer Hand umklammernd, drehte ich mich um.
Ein uniformierter Parkwächter stand gut drei Meter von mir entfernt, die Füße gespreizt, die Handflächen erhoben und in meine Richtung gedreht. Sein Ausdruck wirkte nervös und angespannt.
Ich zeigte ihm ein, wie ich hoffte, entwaffnendes Lächeln. Oder wenigstens ein beruhigendes.
Der Wachmann erwiderte das Lächeln nicht.
»Treten Sie vom Fahrzeug zurück.« Der Kerl hatte blonde Haare und ein Gesicht, das fast so rot war wie meine Blasen. Ich schätzte ihn auf etwa achtzehn.
Jetzt hieß mein Lächeln: Ich bin ja auch zu blöd. »Ich habe mich aus meinem eigenen Auto ausgesperrt.«
»Ich muss Ihren Ausweis und die Zulassung sehen.«
»Meine Handtasche ist da drin. Der Schlüssel steckt in der Zündung.«
»Treten Sie vom Fahrzeug zurück.«
»Wenn ich das Schloss aufbekomme, kann ich Ihnen alles zeigen.«
»Treten Sie vom Fahrzeug zurück.« Was für ein enormes sprachliches Repertoire.
Ich tat, was er verlangte, ließ jedoch den Draht nicht los. Blondie bedeutete mir, noch weiter zurückzutreten.
Ich verdrehte die Augen und vergrößerte die Distanz. Ließ los. Der Draht fiel innen auf den Fahrersitz.
Ärger verdrängte meinen Entschluss, höflich zu bleiben.
»Hören Sie, das hier ist mein Wagen. Ich habe eben eine Jurorenanhörung hinter mir. Meine Zulassung und der Führerschein sind da drin. Ich muss dringend zur Arbeit. Ins Institut des Medical Examiner.«
Wenn ich gehofft hatte, dass der letzte Hinweis etwas bewirken würde, hatte ich mich getäuscht. Blondies Miene sagte, schmutzige, barfüßige Frau mit einem Einbruchswerkzeug.
Gefährlich?
»Rufen Sie im Büro des ME an«, blaffte ich.
Ein kurzes Zögern. Dann: »Sie warten hier.«
Als würde bei mir ohne Schuhe und ohne Fahrzeug Fluchtgefahr bestehen.
Blondie eilte davon.
Wütend lehnte ich mich gegen den Mazda, trat von einem verletzten Fuß auf den anderen und blickte abwechselnd auf die Uhr und auf den Beton, in der Hoffnung, irgendwo mein Armband zu entdecken. Ich fing an, auf dem Parkdeck hin und her zu gehen. Schließlich hörte ich ein Motorengeräusch.
Sekunden später rollte ein weißer Ford Taurus die Auffahrt hoch.
Konnte dieser Tag noch schlimmer werden?
Er war es soeben geworden.
2
Erskine »Skinny« Slidell bremste neben mir, nahm seine nachgemachte Ray-Ban ab, ließ sein Fenster herunter und begaffte meine flatternden Hosenbeine, die verwüsteten Füße und die zerzauste Frisur. Ein Grinsen schob einen seiner Mundwinkel nach oben. Obwohl das Dezernat für Mord und Schwerverbrechen von Charlotte-Mecklenburg mehr als zwei Dutzend Detectives hat, lande ich immer bei Skinny. Und die Begegnungen sind immer Prüfungen meiner inneren Stärke.
Dabei ist Skinny kein schlechter Ermittler. Ganz im Gegenteil. Aber Skinny betrachtet sich selbst als »alte Schule«. In seiner Vorstellung bedeutet das Dirty Harry Callahan, Popeye Doyle und Sergeant Friday. Ich habe Skinny Zeugen befragen sehen. Man erwartet da immer: »Nur die Fakten, Ma'am.« Aber Skinny ist keiner, dem jemals ein »Sir« oder »Ma'am« über die Lippen kommt.
Vor einigen Jahren war Eddie Rinaldi, Slidells Partner, bei einer Schießerei auf einem Bürgersteig ums Leben gekommen. Kein Mensch hatte Slidell die Schuld dafür gegeben. Bis auf Slidell selbst. Da man im Dezernat der Meinung war, Slidell könnte ein bisschen mehr kulturelle Aufgeschlossenheit vertragen, hatte man ihm eine hispanische Lesbe namens Theresa Madrid als Partnerin zugeteilt. Zur Überraschung aller kamen die beiden gut miteinander aus.
Erst kürzlich hatten Madrid und ihre Partnerin ein koreanisches Kleinkind adoptiert, und Madrid war in Mutterschutz gegangen. Vorübergehend arbeitete Slidell also allein. Was ihm gefiel.
»Aber holla.« Der Trottel sagte das tatsächlich.
»Detective -«
»Haben Sie jemanden sauer gemacht?«
Später kann ich vielleicht über diese Episode lachen. In diesem Augenblick sah ich nur unerfreuliche Alternativen vor mir. Mit dem Parkhaustrottel streiten. Zu einem Telefon latschen und dann auf den Automobilclub warten. Mich mit Slidell herumschlagen.
»Woher wussten Sie, dass ich hier bin?« Cool.
»Ich war bei Doc Larabee, als er einen Anruf erhielt.« Slidell beugte sich zur Seite und öffnete die Beifahrertür. »Steigen Sie ein.«
Ich nahm noch eine Lunge voll frischer Luft, bevor ich mich auf den Sitz gleiten ließ.
»Gütiger Himmel. Doc. Ich weiß nicht, ob ich in den letzten Jahren irgendjemanden in so verlottertem Zustand gesehen habe.«
»Sie sollten mehr unter die Leute gehen.«
»Was zum Teufel haben Sie denn -«
»Schlamm-Catchen. Fahren Sie da rüber.« Ich deutete zu meinem Wagen.
»Den Gegner möchte ich lieber nicht sehen.«
»Ich werd ein Video auf YouTube hochladen.« Ungeduldig deutete ich mit dem Finger auf den SUV.
Slidell fuhr in die Richtung.
»Stopp!« Ich hob die Hand. »Nein, hinter diesen Geländewagen. «
»Ich weiß, was passiert ist. Jemand hat Sie sich vorgenommen, weil Sie sein Auto aufbrechen wollten.«
»Wenn ich ein Auto aufbrechen könnte, wäre ich nicht hier.« Ich stieg aus. Die Blasen sahen aus wie zwei rote Augen, die mir ins Gesicht starrten.
Wenn das Armband nicht ein Geschenk von Katy gewesen wäre, hätte ich es als verloren abgeschrieben und mich aus dem Staub gemacht. Irgendwann werde ich es ihr wohl erzählen. Dann lachen wir. Vielleicht.
Ich zwängte mich zwischen mein Auto und das blaue Monster und suchte den Beton ab. Bingo. Das Armband lag in der Mitte unter den beiden beinahe aneinanderstoßenden Außenspiegeln, genau an der am wenigsten zugänglichen Stelle.
Ich zog den Bauch ein, drückte mich zwischen den Türgriffen nach unten und kauerte mich hin. Die Schulter so weit seitlich verdreht, wie es ging, streckte ich die Hand aus und bekam das Armband zu fassen. Dann richtete ich mich vorsichtig, um keine Alarmanlage auszulösen, wieder auf und ging auf den Taurus zu.
Slidell beobachtete meine Darbietung kommentarlos. Anscheinend hatte ich die Grenze zwischen amüsant und bemitleidenswert überschritten.
Ich stieg ein und knallte die Tür zu.
»Wohin?«
»Ins Institut des ME.« Ich befestigte mir das Kettchen wieder am Handgelenk.
»Ich fahre aber auch gerne bei Ihnen zu Hause vorbei.«
»Mein Hausschlüssel ist in meiner Handtasche. In meinem Auto.«
»Schuhgeschäft?«
»Nein, vielen Dank.« Kurz angebunden.
»Kein Problem. Ich muss sowieso wieder dorthin zurück.«
Ich hätte fragen können, warum. Stattdessen saß ich da, starrte zum Seitenfenster hinaus und konzentrierte mich darauf, die olfaktorischen Hinterlassenschaften von Slidells Vorliebe für Frittiertes mit zu viel Fett zu ignorieren. Von Kaffee, auf dem weiße Schimmelkolonien prangten. Von verschwitzten Turnschuhen und ölfleckigen Kappen. Von schalem Zigarettenrauch. Von Skinny selbst.
Aber ich selbst war ja auch nicht gerade wohlriechend.
Slidell verließ das Parkdeck, fuhr auf die East Trade und wechselte auf die linke Spur.
Ein paar Minuten vergingen schweigend. Dann:
»Wer hat Wuschel um die Ecke gebracht, hm?«
Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete.
»Wer hat den Köter gekillt?«
Klasse. Slidell wusste also über meine Mumienbündel Bescheid. Frisches Wasser auf die Witzmühle.
»Wer hat den ...«
»Ich wurde gebeten, vier eingewickelte, mumifizierte Körper zu untersuchen, um nachzuweisen, dass sie nicht menschlich sind. Sollte das der Fall sein, werden Archäologen das Material datieren, authentifizieren und dann weiterschicken nach ... irgendwohin.«
»Warum ist dieser Wurf toter Chihuahuas -«
»Die Bündel kommen aus Peru, nicht Mexiko.«
»Ja, klar. Also, wie kommt's, dass die Köter eine ME-Behandlung kriegen?«
»Zollbeamte haben sie am Flughafen beschlagnahmt. Irgendeinem Holzkopf wird vorgeworfen, sie ins Land geschmuggelt zu haben. Der illegale Import von Antiquitäten ist ein Verbrechen, müssen Sie wissen.«
»Jaja.« Und nach einer Weile beiderseitigem Schweigen: »Der alte Dom Rockett wurde vom FBI eingebuchtet.«
Obwohl ich neugierig geworden war, wartete ich, weil ich wusste, dass Slidell weiterreden würde.
»Dom Rockett, Folkore-Schnickschnack aus der ganzen Welt.«
»Aus der ganzen Welt?« Ich konnte nicht anders.
»Vorwiegend Südamerika. Unsere Amigos da unten haben genug Schnickschnack für die ganze Welt.«
Offensichtlich hatte Slidell etwas gegen fairen Handel.
»Wertlose Armbänder, Ringe und jede Menge Kram, den man sich um den Hals hängen kann. Wollschals von der Lama- Mama, Wandteppiche. Flöhe aus Übersee.«
»Sie sind ein Poet, Detective.«
»Angeblich glaubt das ICE, dass Rockett seinen Horizont erweitern, sich vielleicht auf wirkliche Antiquitäten verlegen will.« ICE hieß United States Immigration and Customs Enforcement und war die Behörde zur Durchsetzung von Einwanderungs- und Zollbestimmungen der Homeland Security, also des Heimatschutzministeriums. »Nicht angemeldete Antiquitäten.«
Ich sagte nichts.
»Würde mich nicht überraschen. Der Kerl ist Abschaum.«
»Sie kennen ihn?«
»Ich weiß einiges über ihn. Abschaum erkennt Abschaum.«
Ich fragte nicht, was er damit meinte.
»Können Sie die Frischluft höher drehen?«
»Bekommen Sie dann keine kalten Füße?« Ohne die Miene zu verziehen.
Ich warf Slidell noch einen warnenden Blick zu. Was nichts brachte, weil seine Ray-Ban auf die Straße gerichtet war.
Slidell streckte die Hand aus, legte einen Schalter um und schlug dann mit den Handballen gegen das Armaturenbrett. Ein blaues Lämpchen sprang flackernd an, und laue Luft strömte aus den Lüftungsschlitzen.
»Wenn das stimmt, was Sie sagen, dann könnte Rockett ja mit dem Gedanken gespielt haben, die Mumienbündel an ein Museum zu verkaufen«, sagte ich. »Oder an einen privaten Sammler.«
»Ich bin mir sicher, das ICE wird sich eingehend mit seinen Ambitionen beschäftigen. Scheiße bleibt an jedem hängen, der sich mit ihm einlässt.«
Hinter der I-77 schwenkte die West Trade zuerst nach Westen, dann wieder nach Osten. Slidell nahm die Kurve so schnell, dass im Fond Papiertüten und Fast-Food-Kartons über den Boden schlitterten. Ich stellte mir längst verschlungene Fressalien vor. Panierte Hähnchen? Grillfleisch? Überfahrene Tiere?
Schließlich setzte sich meine Neugier durch.
»Was hatten Sie bei Larabee zu tun?«, fragte ich.
»Heute Morgen kam ein Fahrerfluchtopfer herein. Weiblich. Kein Ausweis.«
»Alter?«
»Alt genug.«
»Soll heißen?« Mein Ton schärfer als beabsichtigt.
»Mittlerer bis älterer Teenager.«
»Abstammung?«
»Illegale Latina. Da können Sie Gift drauf nehmen.«
»Kein Ausweis, aber Sie wissen wie aus Zauberhand, dass das Mädchen Latina ist und deshalb nicht registriert?«
»Sie war ohne Ausweis und ohne Schlüssel unterwegs.« So wie ich, dachte ich, sagte es aber nicht.
Sekunden vergingen.
»Wo wurde sie gefunden?«
»An der Kreuzung Rountree und Old Pineville Road, südlich von Woodland. Doc Larabee schätzt den Todeszeitpunkt auf irgendwann zwischen Mitternacht und Morgengrauen. «
»Was wollte sie da draußen?« Ich dachte laut.
»Was denken Sie?«
Ich dachte, dass die Old Pineville Road schon bei Tag eine verlassene Gegend war, von nachts ganz zu schweigen. Es gab einige kleine Geschäfte, aber keins, das für ein Teenagermädchen interessant sein könnte.
»Irgendwelche Zeugen?«
Slidell schüttelte den Kopf. »Ich werde mich ein bisschen in der Gegend umhören, sobald ich bei Doc Larabee fertig bin. Ich vermute, sie war da anschaffen.«
»Wirklich?«
Slidell hob eine fleischige Schulter.
»Eine nicht identifizierte Teenagerin, mehr wissen Sie nicht. Aber für Sie ist sie sofort eine Illegale, die auf den Strich geht. Ist das Detektivarbeit im Schnelldurchgang?«
Er murmelte irgendwas.
Ich verdrängte ihn aus meinen Gedanken. Nach all den Jahren habe ich inzwischen einige Übung darin.
Meine grauen Zellen lieferten eine Collage von Bildern. Ein junges Mädchen alleine im Dunkeln auf einer leeren zweispurigen Straße. Scheinwerfer. Der Aufprall einer Stoßstange.
»... Story?«
»Was?«
»Erinnern Sie sich an John-Henry Story?«
Der Themenwechsel verblüffte mich. »Das Flammenopfer im letzten April?«
Vor sechs Monaten hatte ich nach einer Explosion auf einem Flohmarkt mit anschließendem Brand fragmentarische Überreste untersucht. Ich war zu dem Schluss gelangt, dass das Opfer weiß, männlich und zwischen fünfundvierzig und sechzig Jahre alt war. Das Bioprofil passte auf John-Henry Story, den Besitzer des Marktes. Story hatte Zeugen erzählt, dass er dorthin wollte, und war seitdem nicht mehr gesehen worden. Bei den Knochen wurde auch persönlicher Kram gefunden. Ein Handy? Brieftasche? Uhr? Ich konnte mich an die Details nicht mehr erinnern.
Obwohl die Identifizierung ausschließlich auf Indizien beruhte, hatte der ME entschieden, dass sie ausreichend war. Brandermittler hatten Proben genommen und untersucht, aber die Scheune war so alt und die Zerstörung so total, dass eine Brandursache nicht mehr eindeutig festgestellt werden konnte.
Storys Tod hatte Schlagzeilen gemacht. Ein prominenter Geschäftsmann, verbrannt in einem Gebäude mit ungenügendem Alarm- und Sprinklersystem. Die Medien hatten sich auf das Thema öffentliche Sicherheit auf nicht genügend reglementierten Märkten und Waffenmessen gestürzt. Doch schließlich wandte sich die Presse etwas anderem zu, der Aufschrei verklang, und Storys Flohmarkt wurde woanders wiedereröffnet.
»Jaja.« Slidells Lieblingsäußerung. Sie machte mich wahnsinnig.
Jahrelang war der Mecklenburg County Medical Examiner an der Ecke 10th und College untergebracht, in einem Backsteingebäude, das früher ein Sears-Gartencenter war. Jahrelang hatten die Stadtväter von einem Standortwechsel gesprochen. Jahrelang war nichts passiert. Doch dann kam, wie durch ein Wunder, Bewegung in das Vorhaben.
Zu Kosten von acht Millionen Dollar wurde auf einem Regierungsgrundstück in einem Industriegebiet nordwestlich des Zentrums ein Ersatzbau errichtet. Mit einer Nutzfläche von fast 1600 Quadratmetern ist das neue Gebäude viermal so groß wie das alte. Epoxy-Böden, Corian-Wände, Edelstahl, wohin man blickt. Anstatt nur zwei können die Pathologen jetzt simultan vier Autopsien durchführen. Zur neuen Ausstattung gehören auch zwei Räume für Untersuchungen, bei denen aufgrund von Verwesung oder potenzieller Kontamination eine spezielle Behandlung notwendig ist.
Die Stinker. Meine Art von Fällen.
Und das Funkelnagelneue ist konsequent ökologisch.Hochkomplexe Energieerhaltungssysteme. Topmoderne Klima- und Heizanlage mit bis zu einen Meter breiten Luftschächten. Obwohl alle Arbeit im Erdgeschoss stattfindet, erhielt ein Teil des Gebäudes ein Obergeschoss, um die ganze Technik unterzubringen.
Und doch ist die Atmosphäre einigermaßen friedlich. Die Büros und die öffentlichen Bereiche sind in sanften Blau- und Erdtönen gehalten. Die Fenster sind groß und haben Sonnenblenden und intelligente Lichtführung, um eine maximale Tageslichtaufnahme und minimale Blendung zu gewährleisten.
Mit anderen Worten, unser neuer Laden ist der Hammer.
Ich wartete, während Slidell durch das schwarze Sicherheitstor fuhr, die Fahnenmasten umrundete und eine Parklücke gefunden hatte. Er stellte den Motor ab und legte den Arm über die Rückenlehne, was eine Woge Geruch in meine Richtung schickte. Dann wandte er sich mir zu.
»John-Henry Story hat diverse Unternehmungen überall in den Countys Mecklenburg und Gaston. Story Motors. Story Storage -«
J.-H. Story - Wir haben für jeden ein sicheres Lager. Der grässliche Slogan kam mir unverlangt wieder in den Sinn. Es war eine nervtötende, aber sehr effektive Werbekampagne gewesen.
»- John-Henry's Tavern. Die Liste ist länger als der Schwanz meines Hundes.«
»Sie haben einen Hund?«
»Wollen Sie die Geschichte hören?«
»Storys Tod wurde als Unfall eingestuft. Wieso kommen Sie jetzt auf ihn?«
Slidell fixierte mich mit einem theatralischen Blick, während er in sein Sakko griff. Das senffarben und braun war. Mit einer schnellen Bewegung zog er einen Ziploc-Beutel aus der Brusttasche seines Hemds. Das einen Orangeton hatte, den man wahrscheinlich Melone nannte.
Ich verkniff es mir, die Augen zu verdrehen, während ich mich zur Seite beugte, um mir den Inhalt des Beutels anzusehen.
Und spürte, wie meine Augenbrauen vor Überraschung in die Höhe gingen.
3
Die Sonne glitzerte auf dem Plastik zwischen Slidells Daumen und Zeigefinger.
Ich wartete auf eine Erklärung.
»Das Opfer hatte eine Handtasche. Kreischend pink, nur so groß wie ein Burger, Nuttenriemchen.«
»Ich trage auch eine Schultertasche.« Slidells Sarkasmus machte mich wie üblich reizbar. Wie auch seine vorschnelle Schlussfolgerung, das Unfallfluchtopfer sei eine Prostituierte.
»Leuchtend pink? Geformt wie eine gottverdammte Comickatze? «
»Sind Sie sicher, dass es ihre war?«
»Das Ding lag im Gestrüpp, drei Meter von der Leiche entfernt. Hatte noch nicht lange dort gelegen. Wir untersuchen sie noch nach Fingerabdrücken. Aber ja, ich bin sicher, dass es ihre war.«
»Das war in der Handtasche?« Ich deutete auf das Objekt in der Tüte.
»Zusammen mit einem komm-fick-mich-roten Lippenstift. «
»Bargeld?«
»Ein Zehner und zwei Einer. Lose. Einfach nur reingestopft. «
»Sonst noch was?«
»Nada ... bis auf.« Er wedelte mit dem Tütchen. Der Erstaunliche Slidell, Zauberer von Mecklenburg.
Ich nahm die Tüte und schaute mir das Plastikrechteck darin genau an, denn ich war sicher, dass ich die winzigen schwarzen Buchstaben auf der Oberseite falsch gelesen hatte.
Hatte ich nicht.
»Was soll ich damit?«
»Dachte, es interessiert Sie vielleicht.«
Die gelb-braune US Airways Club Card hatte eine Gültigkeit bis Februar des folgenden Jahres. Das Konto lief auf den Namen John-Henry Story.
»Sie hatte John-Henry Storys Fluglinien-Clubkarte?«
Slidell nickte.
»Wie kam sie dazu?«
»Intelligente Frage, Doc. Und hier ist noch eine. Story ist vor sechs Monaten verbrannt. Wo war das Plastik in der Zwischenzeit?«
Das ergab keinen Sinn.
»Die Sache ist die, Story stirbt, aber seine Karte lebt weiter. Nur in einer Art Dämmerschlaf«, sagte Slidell. »Ich habe es kontrolliert. Zum letzten Mal wurde die Karte sechs Wochen vor dem Feuer benutzt.«
»Wohin flog er?«
»Daran arbeite ich noch.«
»War irgendjemand bei ihm?«
»Ein Gast.«
»Das Mädchen?«
»Diese Information wird nicht gespeichert.«
Slidell zog noch eine Ziploc-Tüte aus seiner Tasche. »Und das war auch noch in ihrer Handtasche.«
Ich betrachtete den Papierfetzen durch das Plastik. Darauf stand gekritzelt: Las clases de Inglés. Saint Vincent de Paul Catholic Church.
Ich schaute Slidell an. Er schaute mich an und zuckte die Achseln.
Ich wollte meine Habseligkeiten zusammenraffen, bevor ich aus dem Taurus stieg, aber natürlich hatte ich keine Habseligkeiten. Keine Schuhe, keine Handtasche, weder Haus- noch Autoschlüssel, kein Handy, kein Bargeld, keine Karten.
Zu einer anderen Zeit hätte ich Katy anrufen und sie um die Ersatzschlüssel bitten können, die sie für mein Haus aufbewahrt.
O Gott. Katy.
»Hören Sie, danke, dass Sie mich hergefahren haben. Ich -«
»Sie sind mir was schuldig? Machen Sie sich darüber jetzt keine Gedanken.«
Jetzt? Klasse.
Ich zog die Hosenbeine hoch, schwang mich aus dem Taurus und eilte zur Eingangstür. Über den glatten Asphalt zu laufen war so ziemlich die größte Freude, die ich den ganzen Tag erlebt hatte. Ich blieb einen Augenblick stehen und genoss den kühlenden Stein.
In meinem Büro warteten Laborkluft und vernünftige Schuhe. Bald würde ich einigermaßen präsentabel sein.
Wie schon Slidell würde mein Erscheinungsbild die Leute drinnen weniger schockieren als amüsieren. Ich war schon schlimmer aussehend und riechend aufgetaucht.
Bis auf Mrs. Flowers. Sie würde ihr Missfallen durch eine minimale Augenverengung und ein hastiges Neuordnen ihres bereits penibel ordentlichen Schreibtisches kundtun.
Ich nickte Mrs. Flowers durch das Rezeptionsfenster zu. Nachdem sie mich eingelassen hatte, winkte sie mich mit einer Fingerbewegung zu sich.
Obwohl Mrs. Flowers einen Vornamen hatte - Eunice -, war sie nach meinem Wissen noch nie anders als mit Mrs. Flowers angesprochen worden. Der Namen passt so gut zu ihr, dass ich mich manchmal frage, ob sie einen Verehrer namens Smith oder Gaspard geheiratet hat. Sie ist eine Pfingstrose von einer Frau, mit einer vollen Figur und einer Haut, die sie offensichtlich seit Kindertagen verwöhnt. Der einzige Makel dieser perfekten Haut? Mrs. Flowers' Farben in Gegenwart des anderen Geschlechts.
Trotz ihres unangebrachten Farbenspiels hat Mrs. Flowers die Fähigkeit, jedes Dokument archiviert und zugriffsbereit, jeden Bericht getippt, geprüft und sofort verfügbar zu halten, daneben den Telefondienst zu machen und die Besucher, die sich an ihrem Fenster zeigen, gezielt weiterzuleiten. Bei einem Personal aus drei Pathologen, zahlreichen Todesermittlern, gelegentlichen externen Beratern und meiner Wenigkeit ist das eine ziemliche Leistung.
»Ach du meine Güte.« Mrs. Flowers' erhobene Hand sank auf ihre gelbe Seidenbluse.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte ich. Sollte heißen, fragen Sie lieber nicht.
Eine sorgfältig gezupfte Augenbraue wanderte leicht in die Höhe, aber dabei beließ sie es.
»Dr. Larabee möchte Sie sehen.« Eine Stimme so südlich wie Vom Winde verweht. »Er ist im großen Autopsiesaal.«
»Danke.«
Zwei kleine Gänge, von den Erfindern Biovestibüle genannt, verbinden die Verwaltungs- und Öffentlichkeitsbereiche mit dem Autopsiebereich. Ich ging den einen hinunter und blieb kurz vor der Anschlagtafel stehen.
Vier neue Fälle. Ein Unfall mit einem einzelnen Fahrzeug in der Nähe des Optimist Park an der N. Davidson Street, ein älterer Fahrer, D.O.A., wie es so schön kurz heißt für dead on arrival - tot bei Ankunft - im Carolinas Medical Center. Eine Sechzehnjährige mit einer Schusswunde im Kopf, neben einem Müllcontainer am Shamrock Drive tot aufgefunden. Die peruanischen mumifizierten Überreste, die auf meine Untersuchung warteten. Und das junge Opfer der Fahrerflucht von der Old Pineville Road.
Slidells Unbekannte.
Ich stellte mich vor der Damentoilette an, ließ meinen Haaren und meinem schmutzverkrusteten Gesicht die größtmögliche Interimspflege angedeihen und ging dann in den Umkleideraum, um Laborkluft anzulegen. Schließlich noch ins Büro, wo ich mir Pflaster, Antiseptikum und die Nikes holte, die immer unter meinem Garderobenständer stehen. Zehn Minuten nach meinem Eintreffen war ich bereit für den Einsatz.
Als ich die Tür zum großen Autopsiesaal aufstieß, stand Tim Larabee neben einem der beiden Edelstahltische. Er schnitt oder wog nicht, diktierte nicht, schaute sich die Überreste nicht einmal an.
Wollte er sie vor mir abschirmen? Vor Slidell? Vor den vielen anderen, die sie befingern und fotografieren, analysieren und sezieren würden?
Komischer Gedanke. Aber wahr. Das kalte Verfahren hatte begonnen. Und ich würde daran teilnehmen.
Röntgenaufnahmen leuchteten vor den Lichtkästen an einer der Wände. Schädelaufnahmen. Und eine Ganzkörperserie.
Auf einer Arbeitsfläche stand ein Paar Stiefel. Hellbraunes Vinyl, mit hohen Absätzen und roten und blauen Blumen an den Flanken. Die Sohlen schlammverklebt. Billig.
Und klein. Vielleicht Größe fünfunddreißig. Winzige Füße in Stiefeln für ein sehr erwachsenes Mädchen.
An einem Trockengestell hingen Kleidungsstücke. Eine rote Bluse. Ein Jeans-Minirock. Weißer Baumwollslip mit hellblauen Punkten.
Slidell stand neben dem Ständer, die Füße gespreizt, die Hände zu einem V über den Genitalien zusammengelegt. Er schaute sich weder die Kleidung noch die Leiche an. Und reagierte nicht auf mein Eintreten.
Wieder spürte ich Verärgerung in mir aufsteigen, unterdrückte sie aber, als ich in den Wissenschaftsmodus schaltete. Die oberste Regel: Vorgefasste Meinungen ausschalten. Kein Verdacht, keine Angst, keine Hoffnung, was das Ergebnis angeht. Beobachte, wiege, messe und zeichne auf.
Zweite Regel: Emotionen ausschalten. Heb dir Trauer, Mitleid und Entrüstung für später auf. Wut und Kummer können zu Irrtümern und Fehlurteilen führen. Fehler helfen deinem Opfer nicht.
Und trotzdem. Ich schaute mir das gequetschte und verzerrte junge Gesicht an, und nur einen Augenblick lang stellte ich mir das Mädchen lebendig vor, wie sie sich ihr pinkfarbenes Kätzchentäschchen über die Schulter hängte. Die Riemchen rutschten, weil das bisschen Zeug darin nichts wog.
Ein dunkler Straßenabschnitt.
Ein hämmerndes Herz.
Scheinwerfer.
Weißer Baumwollslip mit hellblauen Punkten. Die Art, die Katy in der Middleschool bevorzugt hatte.
»Hat Slidell Sie ins Bild gesetzt?«
Larabees Frage holte mich aus meinen Gedanken zurück.
»Unfall mit Fahrerflucht. Noch nicht identifiziert.«
»Schauen Sie mal.« Larabee ging zu den Lichtkästen. Sein Gesicht wirkte hager und abgespannt, und das bei einem obsessiven Langstreckenläufer ohne jegliches Körperfett und mit Wangenhöhlungen so tief wie Ozeangräben.
Ich stellte mich neben ihn. Er zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Labormantels und deutete auf einen Defekt etwa in der Mitte des linken Schlüsselbeins.
Und auf die dritten und vierten Rippen darunter.
Dann trat er vor das nächste Foto und fuhr mit dem Stift den Arm entlang, über Oberarmknochen, Elle und Speiche, dann die Hand.
»Ja«, sagte ich auf seine unausgesprochene Frage.
Zu einer Vorder- und Hinteransicht des Schädels. Einer Seitenansicht.
Eine kalte Faust umklammerte meine Eingeweide.
Wortlos kehrte ich zu der Leiche zurück.
Das Mädchen lag auf dem Rücken. Larabee hatte den Y- Schnitt noch nicht gesetzt, und abgesehen von den Quetschungen, Abschürfungen und Deformationen aufgrund der Brüche hätte das Mädchen auch schlafen können. Die Haare, die sich um ihren Kopf ausbreiteten, waren lang und blond, eine Strähne wurde zusammengehalten von einer Haarspange in Form einer Katze. Pink. Wie kleine Mädchen sie mögen.
Konzentrier dich.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
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Autoren-Porträt von Kathy Reichs
Kathy Reichs, geb. in Chicago, lebt in Charlotte und Montreal. Sie ist Professorin für Soziologie und Anthropologie und unter anderem als forensische Anthropologin für gerichtsmedizinische Institute in Quebec und North Carolina tätig. Ihre Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt.Klaus Berr, geb. 1957 in Schongau, Studium der Germanistik und Anglistik in München, einjähriger Aufenthalt in Wales als 'Assistant Teacher', ist der Übersetzer von u.a. Lawrence Ferlinghetti, Tony Parsons, William Owen Roberts, Will Self.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kathy Reichs
- 2013, 448 Seiten, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Berr, Klaus
- Übersetzer: Klaus Berr
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896674528
- ISBN-13: 9783896674524
- Erscheinungsdatum: 11.11.2013
Rezension zu „Tempe Brennan Band 16: Totengeld “
"Geschickt führt sie ihre Leser in die Irre, um am Ende eine überzeugende Lösung zu liefern." Petra Pluwatsch, Kölner Stadt-Anzeiger
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