Die Liebesnachricht
Roman. Deutsche Erstausgabe
Mit ihren Schwestern lebt Mariana in einer schwedischen Kleinstadt. Der Vater, ein Schausteller, starb vor Jahren auf mysteriöse Weise. Doch im Ort spricht niemand darüber. Dann taucht der schöne Amnon aus San Francisco auf - und in die kleine Gemeinschaft kommt Bewegung.
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Produktinformationen zu „Die Liebesnachricht “
Mit ihren Schwestern lebt Mariana in einer schwedischen Kleinstadt. Der Vater, ein Schausteller, starb vor Jahren auf mysteriöse Weise. Doch im Ort spricht niemand darüber. Dann taucht der schöne Amnon aus San Francisco auf - und in die kleine Gemeinschaft kommt Bewegung.
Klappentext zu „Die Liebesnachricht “
Drei Schwestern, eine schwedische Kleinstadt und ein geheimnisvoller Mann ...Mariana ist die älteste von drei Schwestern, die zusammen in einer schwedischen Kleinstadt leben. Der Vater, ein Schausteller, wurde vor Jahren tot auf seinem eigenen Karussell gefunden. Doch im Ort spricht niemand darüber. Bis der schöne und mysteriöse Amnon aus San Francisco auftaucht und plötzlich wieder Bewegung in die kleine Gemeinschaft kommt. Mariana wird zu Amnons Vertrauten, was einigen Leuten ganz und gar nicht zu gefallen scheint. Sie beginnt, das Geheimnis um ihre Familie aufzudecken, doch am Ende findet sie noch etwas viel Wichtigeres heraus: nämlich wie nah Liebe und Verzeihen beieinander liegen...
Lese-Probe zu „Die Liebesnachricht “
Die Liebesnachricht von Maria ErnestamProlog
Mein Vater starb auf dem Pferderücken. Seine Schuhe waren schmutzig, und an den Händen trug er weiße Handschuhe.
Der Tag, an dem das passierte, war von ganz besonderer Art. Nach wochenlangen Regengüssen an der Westküste hatten die Menschen resigniert und rechneten mit Ferien in den eigenen vier Wänden. Doch dann kam er plötzlich, dieser Morgen, an dem wir alle mit dem Gefühl erwachten, etwas sei geschehen, und sehr bald merkten, dass dieses Gefühl zutraf, denn die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel.
Bald bewegte sich die in den Gärten zum Trocknen aufgehängte Wäsche im Wind, und in der Bäckerei waren die Rosinenbrötchen schon am Vormittag ausverkauft. Decken wurden aus den Schränken geholt, die Rasenmäher summten hinter den Zäunen, die Zutaten zu einer Mahlzeit im Freien wurden besorgt. Die Menschen lächelten einander an und sagten »endlich«, sie trugen leichte Kleider und kurzärmlige Hemden, die bisher unbenutzt geblieben waren. Die Hitze war so willkommen, dass sie erträglich schien. Boote verließen den Hafen in Richtung der Inseln, Jugendliche kletterten auf den Felsen herum und berührten gegenseitig ihre noch weißen Körper.
... mehr
Zu Hause bei uns war die Stimmung anders als sonst. Papa zauberte beim Frühstück für uns, aber er war nicht bei der Sache und konnte weder mich noch meine Schwestern an der Nase herumführen. Sein Gesicht war starr wie eine Theatermaske, und später hörten wir seine erregte Stimme, die aus allen Zimmern gleichzeitig zu kommen schien. Was in der Nacht passiert war, hing noch immer voll stechender Spannung in der Luft, und als wir mit unseren Badesachen unter dem Arm zum Meer loszogen, war Mamas Gesicht unglücklich, obwohl sie zu lächeln versuchte.
Am Strand wimmelte es von Menschen, aber nur sehr wenige badeten, und als wir ins Wasser liefen, begriffen wir, warum. Die Feuerquallen hatten die Bucht erobert. In dichten Schwärmen trieben sie herum und zogen ihre brennenden Fäden hinter sich her. Wir fanden eine freie Stelle, mussten aber steif wie die Zinnsoldaten im Wasser stehen, und trotz aller Vorsicht verbrannte ich mich. Die Haut an meinen Beinen tat sofort weh, und bald schon blühte roter Ausschlag auf. Trotzdem wollte keine von uns nach Hause gehen. So blieben wir bis zum späten Nachmittag, liefen auf den Felsen herum, versuchten noch einmal, ins Wasser zu gehen, ließen uns von der Sonne wärmen und sahen zu, wie das Meer zur Ruhe kam.
Zu Hause bat ich meine Mutter um Rat. Mit zerstreuter Miene strich sie eine Salbe auf meine Haut und rührte dann wieder die Erdbeergrütze um. Mein Vater ließ sich nicht blicken, und als ich nach ihm fragte, trug sie mir auf, das Backblech mit dem Zwieback zu überwachen, was mir wie eine Strafe für etwas erschien, das ich nicht getan hatte. Ihr Gesicht machte mir Angst, doch als meine Schwestern dazukamen und sie anfing, Märchen zu erzählen, wich die Wirklichkeit eine Zeit lang einer anderen Welt, und ich hoffte, dass am Abend alles doch noch ein glückliches Ende finden würde.
Nach einer Weile hörten wir, wie an die Haustür geklopft wurde. Mama lief die Treppe hinunter und kam mit einer Frau zurück, die wir nicht sonderlich gut kannten und deren Mann im Stall arbeitete. Kaum hatte sie uns erblickt, fing sie an, hastig eine Menge Fragen zu stellen. Wir seien doch sicher alle tüchtige Reiterinnen und könnten erzählen, warum wir Pferde liebten und wo wir so viel gelernt hätten?
Etwas an ihr steigerte mein Unbehagen nur noch. Ihre Hände jagten über ihre Haare und ihre Bluse, sie roch nicht gut und packte uns an Armen und Schultern, um uns auf unsere Stühle zu drücken. Meine Schwestern zappelten, und ich wäre ebenfalls am liebsten weggelaufen, aber bei jedem Versuch wurden wir erneut ins Gespräch einbezogen. Ob es schön sei, Sommerferien zu haben, was wir denn so tagsüber machten und wie weit wir schwimmen könnten.
»Und Mariana, du bist ja vielleicht groß geworden. Spielst du noch immer so viel mit den Marionetten? Und ihr anderen, hilft euch jemand, wenn ihr Theater spielen wollt?«
Mama bot ihr etwas zu trinken an und ersparte uns damit die Antwort. Die Finger der Frau bewegten sich auf der Tischplatte im Kreis, und ich hatte Angst, sie könnte Spuren hinterlassen, die niemals verschwinden würden. Sie fragte Mama, ob viele Leute in den Laden kämen, und Mama klang nervös, als sie antwortete. Der Kloß in meinem Hals wuchs, und ich wollte gerade ein weiteres Mal aufstehen, als unser Gast offenbar eine Entscheidung traf. Ich solle warten, sagte sie, das hier gehe uns alle an. An diesem Tag sei etwas Seltsames passiert. Etwas Schreckliches geradezu.
Ihre Augen waren wässrig und rot unterlaufen, aber ich musste doch hineinstarren, als sie sagte, ihr Mann sei keiner, der sich etwas aus den Fingern sauge. Er lese lieber die Zeitung statt Märchen. Aber als er an diesem Tag von der Arbeit gekommen sei, habe er einfach nur krank ausgesehen, bis er ihr endlich gestanden habe, etwas Unfassbares erlebt zu haben.
Aus der Ferne hörten wir das Geräusch eines Motors und etwas, das klang wie ein eingesperrter Vogel, der immer wieder gegen ein Gitter flatterte. Mama fragte, was denn geschehen sei, und jetzt wollten auch wir Kinder es hören. Die Frau zupfte an einem Faden in der Tischdecke. In ihrem Mundwinkel war ein wenig Spucke zu sehen, als sie sagte, jemand habe drüben beim Stall einen Baum gefällt.
»Der war viel zu groß geworden, und das kann gefährlich sein, wenn die Herbststürme einsetzen. Aber als sie noch bei der Arbeit waren, verfehlte jemand den Baum. Die Axt traf den Arm des Mannes, der neben ihm stand.«
Aus dem Herd quoll Rauch, und als ich das Blech herausnahm, war der Zwieback verkohlt. Die Frau am Tisch redete weiter mit vor Erregung schriller Stimme. Es habe entsetzlich geblutet. Jemand habe ein Hemd um die Wunde gebunden, aber das habe nicht geholfen. Ihr Mann sei losgelaufen, um das Auto zu holen, und als er zurückgekommen sei, habe er es gesehen.
»Was denn?«
Meine jüngste Schwester konnte sich nicht beherrschen. Die Frau wandte ihren Blick von mir ab und richtete ihn jetzt auf meine Schwester. Ein Tropfen aus meinen noch immer nassen Haaren lief langsam über meinen Hals, meinen Nacken, zwischen den Schulterblättern und dann weiter mein Rückgrat hinab. In der Stille, die nun entstand, hörten wir sie plötzlich. Die Musik.
»Was er gesehen hat? Ja, das kann ich dir erzählen, meine Kleine. Er sah die Männer, mit denen er zusammengearbeitet hatte. Aber es war einer zu viel. Sie hatten zu fünft an dem Baum gearbeitet, und als mein Mann dann im Auto saß, sah er fünf Männer auf sich zukommen. Vier, die gingen, und einen fünften, den einer der anderen trug. Mein Mann hielt den Wagen an und blinzelte einige Male, und dann schaute er noch einmal hin. Jetzt waren es nur noch vier.«
Die Frau leerte ihr Glas und sagte, es könne ja jemand dazugekommen sein, während ihr Mann unterwegs gewesen sei. Aber er habe eben gespürt, dass es ... etwas anderes war. Mama erkundigte sich nach dem Verletzten. Unser Gast schüttelte den Kopf. Keine Ahnung. So schlimm sei es sicher nicht gewesen. Und wir sollten verzeihen, wenn sie ein wenig überspannt wirke, aber sie müsse es einfach irgendwem erzählen. Hier an der Küste seien Visionen und Trugbilder ja nichts Ungewöhnliches, das müsse sie doch wissen, ihr Großvater sei schließlich Pastor gewesen. Aber man sei dennoch verblüfft, wenn es dann dazu käme.
Als sie Atem holte, war sie noch deutlicher zu hören, die Musik. Meine Schwestern sahen verwirrt aus, und die Frau redete immer weiter, bis Mama offenbar genug hatte. Sie bot an, die Besucherin zur Tür zu bringen, und als die beiden verschwanden, hörte ich Mama sagen, nicht nur die dunklen Winternächte seien von Magie und Spuk erfüllt. Wir sollten doch nur an Mittsommer denken, was man da alles in Brunnen und auf Wiesen finden könne. Die rätselhaften Begleiter würden oft gesehen, wenn es auf dem Meer oder im Gebirge stürme. Dann stehe der geheimnisvolle Fremde plötzlich am Steuer oder auf einem Felsen.
Meine Mutter kam zurück und fing an, Dinge aus dem Kühlschrank zu nehmen. Sie kehrte uns den Rücken zu und sagte dabei, vielleicht habe der Verletzte einfach einen guten Schutzengel gehabt. Meine kleinen Schwestern liefen aus der Küche, ohne weitere Fragen zu stellen. Ich nuckelte an einer Haarsträhne. Meine Arme kamen mir kraftlos und schwer vor, und mein Herz hämmerte, obwohl ich ganz still saß. Mama sagte nichts weiter, und am Ende stand ich ebenfalls auf und lief die Treppen hinunter, in unseren Laden und dann aus der Tür.
Das Gras war jetzt feucht wie am frühen Morgen. In einem vergessenen Eimer war das Wasser von tanzenden Insekten bedeckt, und alles schien vom Duft der Hagebutten erfüllt. Ich sah unser Haus, den unebenen Weg zum Dorf, umgeben von Feldern und Wald, als ob ich durch ein Bilderbuch wanderte, und ich fing an, ein kleines Gedicht aufzusagen, um nicht in Tränen auszubrechen. Das Zebra gern zum Trinkloch geht, wo ihr auch seine Streifen seht. Das Zebra gern zum Trinkloch geht, wo ihr auch seine Streifen seht ...
Kein Mensch war zu sehen. Niemand hatte sich von dem Geräusch anlocken lassen. An sich wäre ich lieber überall gewesen, nur nicht hier, wo die Musik, die sonst immer vertraut klang, jetzt mit ihren Disharmonien schrill und bedrohlich klang. Ich wusste plötzlich, dass der Rattenfänger ein Lied spielte, um mich tief in die Erde zu locken, dorthin, wo jedes »alles wird gut« seine Bedeutung verloren hätte. Die Musik wurde immer lauter, aber ich hätte sie trotzdem mit meinem Schrei übertönen können, wenn ich nur gewagt hätte, den Mund zu öffnen. Meine Füße bewegten sich vorwärts wie von unsichtbaren Fäden gezogen, und ich starrte lange den Boden an, ehe ich mich zwang, den Blick zu heben.
Mein Vater saß auf einem der Pferde. Seine Arme waren an die Stange gefesselt, an der auch sein Ross befestigt war. Als er an mir vorbeikam, sah ich, dass sein Blick ebenso starr nach vorn gerichtet war wie der des bemalten Holztieres. Das Blut, das seine Kleider färbte, war an den Seiten nach unten gelaufen und bildete kleine Lachen auf dem Karussell. Eigentlich waren meine Schwestern und ich für das Reinigen zuständig, und als das Feuer in meinem Kopf sich für einen Moment legte, war mein erster Gedanke von dieser seltsamen Sorte, die uns vor der Erkenntnis des Schlimmsten bewahren soll.
Ob wir wohl auch diesmal das Karussell würden putzen müssen?
Kapitel 1
In all diesen Jahren erwache ich jeden Morgen mit dem Bild von Papas blutigem Hemd und schlafe jeden Abend mit dem Gefühl ein, dass seine erloschenen Augen mich betrachten. Wenn diese Bilder nachts zu aufdringlich werden, stehe ich auf und versuche, sie mit konkreten Tätigkeiten zu verjagen, ich bestelle Waren oder räume die Regale auf. Ab und zu setze ich mich mit einem Buch in die Märchenecke, und es ist schon vorgekommen, dass ich im Laden von Kunden geweckt worden bin, die morgens früh am Schaufenster vorbeigehen und mich erschöpft zwischen den Kissen liegen sehen.
Denn wir haben alle unsere Methoden, um dem zu entgehen, was uns quält. Wir arbeiten, reden, schweigen, putzen, lesen, fahren aufs Meer hinaus, treten auf einer Bühne auf, stehen still oder rennen vorwärts, aufwärts, fort. Jeder und jede von uns findet irgendwann die beste Möglichkeit, um den finsteren Wölfen der Angst zu entkommen, und wir lernen, mit ihnen zu leben, sie vielleicht sogar als etwas zu betrachten, das wir zähmen können.
Jener Morgen jedoch war anders. Die Erinnerung an meinen toten Vater hatte mich schon lange nicht mehr so deutlich heimgesucht, und sehr bald ahnte ich den Grund. Der Wind hatte sich gedreht. Ebenso wie meine Mutter kann ich spüren, wenn bald etwas passieren wird, Gutes oder Schlechtes, Glück oder Unglück. Jetzt wehrten Körper und Gedanken sich gegen den Tag, und ich zog mir wieder die Decke über den Kopf und drückte das Gesicht ins Kissen, das meine unruhigen Atemzüge aufnehmen musste.
Ich dachte an Victor und Teresa und an heftige Regengüsse über dem Tiefland von Kansas. Vor dem Schlafengehen am Abend zuvor hatte ich mit beiden telefoniert. Oder genauer gesagt, ich hatte ihnen zugehört. Victor klang zufrieden, als er über die Universität, über Kollegen, bewilligte Forschungsmittel, das Interesse für seine Entdeckungen und die vielen Menschen sprach, die Gesteinsarten und seltsame Fossilien spannend fanden. Über all das verbreitete er sich und teilte mir mit, dass er jetzt joggen gehe und sich schon lange nicht mehr so fit gefühlt habe. Außerdem sei es schön, Teresa bei sich zu haben. Nach einem einsamen halben Jahr dort drüben habe er sich nun eingelebt und könne ihr bei allen Fragen und Problemen helfen.
Teresa ihrerseits erklärte munter, dass alles genauso aussehe wie bei den Simpsons und dass sie in allen Fächern einen Vorsprung zu haben scheine. Trotz vieler Küsse am Ende des Gesprächs war deutlich, dass sie eine neue Welt entdeckte und dort drüben die Sonne viel öfter für sie schien als zu Hause. Sogar die Stürme fand sie spannend.
Ich hätte zu dem Gespräch nur Alltäglichkeiten beisteuern können, verzichtete jedoch darauf, antwortete lediglich, ich freue mich für sie und mir selbst gehe es gut. Zwischen uns lagen nicht nur endlose Kilometer, sondern auch eine Entscheidung, die unsere Tochter sicher nur mit großer Mühe verstehen konnte: dass ich von meinem Mann getrennt leben mochte, aber nicht von meinem Laden.
Warum ich nicht mitgekommen war, hatte ich ihr bisher weder erklären können, noch hatte ich es erklären wollen , auch wenn sie sicher ahnte, dass es dabei nicht um eine Entscheidung zwischen heiß und kalt ging. Teresa weiß, wie sehr ich neue Umgebungen und ein milderes Klima liebe. Das machte meine Sehnsucht nach ihr nicht erträglicher und meine Beteuerungen, dass es mir gutgehe, nicht glaubwürdiger. Es kam vor, dass ich Mails schrieb und sie im Fach für Entwürfe liegen ließ, nur um zu wissen, dass ich sie jederzeit abschicken könnte. Dass ich alles zurücknehmen könnte, dass unsere Familie noch nicht in die Brüche gegangen war. Es war möglich. Nur ein Tastendruck wäre nötig, um die Mail abzuschicken.
Es tat weh, an Teresa zu denken. Ich schlang die Arme um das Kissen und dachte daran, dass es noch viel zu lange dauern würde, bis ich sie morgens, bevor sie sich an den Frühstückstisch setzte, wieder umarmen könnte. Ich glaubte, den Duft ihres Shampoos wahrzunehmen, und ich hätte das Kissen prügeln mögen, weil es nicht sie war. Meine Gefühle für Victor waren ebenso schmerzlich, wenn auch auf andere Weise. Ich konnte uns zusammen am Meer entlang gehen sehen, und das fehlte mir, aber gleich darauf fiel mir dann eine blöde Bemerkung ein, die er gemacht hatte, und ich war froh, dass er nicht neben mir lag.
Mein Trauring hatte immer in einer Schachtel neben dem Bett gelegen, wenn ich schlief. Morgens hatte ich ihn an meinen Finger gesteckt, mit einer Geste, die kein Bewusstsein erforderte. Diese tagtägliche Bewegung war so selbstverständlich wie das Zähneputzen im Badezimmer und das Aufsetzen des Teewassers in der Küche. Aber seit Victor nicht mehr da war, kam es immer häufiger vor, dass meine Hand in der Luft innehielt, während die Frage sich aufdrängte: Würde er jemals kommen, der Moment, in dem ich den Ring nicht mehr trug, weil ich es nicht mehr konnte oder wollte?
Ich öffnete meine Hand und registrierte die Linien in der Handfläche. Sah vor meinem inneren Auge Ivo. Den Mann, den ich vor drei Monaten kennengelernt und der mein Leben bereits verändert hatte. Als unsere Wege sich trennten, nahm er meine Hand und küsste die Handfläche. Danach schloss er meine Hand und sagte, den Kuss solle ich benutzen, wann ich das wollte. Wenn ich im Flugzeug säße. Sobald ich über die Schwelle träte. Im Bett, wenn ich mich hingelegt hätte, damit ich wüsste, dass ich nicht allein wäre. Er dächte an mich. Eine einzige Begegnung. Vierundzwanzig Stunden. Ich konnte ihn nicht vergessen und wollte es auch gar nicht.
War es meine verwirrende Sehnsucht nach diesem Menschen, die mich beim Erwachen dazu gebracht hatte, so intensiv an meinen Vater zu denken, als sei er nicht vor vielen Jahren gestorben, sondern erst vor ganz kurzer Zeit?
Resigniert wälzte ich mich hin und her und starrte dann zur Decke hoch. Victor hatte den Mond aus Holz geschnitzt und über unser Bett gehängt. Zu sehen, wie er etwas herstellte, hatte mir immer das Gefühl gegeben, ihm ein wenig näherzukommen, aber vielleicht war es ja ein Omen, dass einer der Sterne, die bisher den Mond umgeben hatten, vor wenigen Tagen von seinem Stahldraht gefallen war. Er war wie eine harte Sternschnuppe überraschend auf meinem Bett gelandet. Ich hatte ihn in der Hand gehalten und mich für keinen Wunsch entscheiden können. Eine intakte Familie? Weitere Begegnungen mit dem Mann, der mich so berührt hatte, dass ich beim bloßen Gedanken an ihn Wärme und Glück aufsteigen spürte? Oder die Möglichkeit, die Zeit zurückzudrehen, so dass ich niemals meinen ermordeten Vater auf unserem Karussell gefunden hätte?
Arbeit hilft, um die meisten Sorgen zu vertreiben, und in der stetigen Bewegung finde ich eine gewisse Ruhe. Aber in stillen Augenblicken kommen dann die Gedanken, und ab und zu dröhnt und lärmt es in meinem Kopf wie damals, als Papa begraben wurde und all die Lieder und die Musik in mich eindrangen.
Der Mord an Papa erregte Aufsehen, und im ganzen Land war davon die Rede. In Zeitungen, Radio und Fernsehen wurde von dem Karussellmord berichtet und über Tatsachen und mögliche Hintergründe spekuliert. Meine Schwestern und ich wussten das damals nicht, wir wussten nur, dass wir im Mittelpunkt großer Aufmerksamkeit standen. Uns wurde hinterherspioniert, Leute klopften an unsere Ladentür oder starrten hemmungslos das Karussell an.
Streifenwagen standen auf unserem Rasen, und wir und Mama wurden vernommen, zusammen mit Verwandten, Bekannten und Nachbarn. Aber niemand wurde jemals schuldig gesprochen, und am Ende gab es nur die vage Annahme, es sei ein untypisches Verbrechen, begangen von untypischen Menschen. Von Banden war die Rede, von Fremden und von »unschwedischer« Rache, davon, dass die Täter möglicherweise das Land verlassen oder bei »ihresgleichen« Zuflucht gesucht hatten.
Ich erinnere mich an das alles nur bruchstückweise, und die Tage scheinen ineinanderzufließen. Obwohl ich noch immer sehen kann, wie ich auf das Karussell zulaufe und Papa entdecke, ist das, was später geschah, in Nebel gehüllt. Sicher bin ich zurückgerannt und habe davon berichtet, was ich gesehen hatte, und vielleicht habe ich auch geschrien. Ich kann zudem Mamas Gesicht vor mir sehen, ihre wahnsinnige Verzweiflung, aber auch etwas, das ich im Nachhinein als Akzeptanz bezeichnen würde, so als sei sie auf das, was ich erzählen würde, schon vorbereitet gewesen.
Sie blieb ruhig und ließ das Böse nicht ihr schönes Gesicht zerstören. Sie war immer für uns da und bald auch für andere. Was sie das gekostet hat, weiß nur sie allein, und vielleicht habe ich deshalb meine ganze Kindheit hindurch akzeptiert, dass wir über alles reden konnten, auch über Papa, so lange es nicht um den Mord und die Einzelheiten des Mordes ging. Sie versicherte, wir seien nicht in Gefahr. Die Mörder würden niemals zurückkehren, und wir würden uns für den Rest unseres Lebens sicher fühlen können.
Ich war die Älteste, und meine Last war doppelt schwer - Papa entdeckt und ihn verloren zu haben. Mama wusste, dass ich von Visionen heimgesucht wurde, die meinen Schwestern erspart blieben. Sicher sah sie auch, dass ich die Rolle eines Ersatzelternteils auf mich nahm, und sie gab sich alle Mühe, mir das Leben zu erleichtern. Es war selbstverständlich, dass ich mich zu ihr schleichen und in Papas Bett schlafen durfte, wenn ich nachts aufwachte. Sie ließ das Bett dort stehen, und immer, wenn ich mich hineinlegte, hatte ich das Gefühl, mich für einen Moment in seiner Umarmung auszuruhen.
Unser Karussell mit seiner Bemalung und den Lampen, das seit über hundert Jahren im Besitz der Familie gewesen war, wurde von anderen gereinigt. Einige Wochen nach der Tragödie verließ meine Mutter den Laden und schaltete die Musik wieder ein. Wir näherten uns, ich zuletzt, als das gebrannte Kind, das ich nun war. Als wir uns dann jede auf ein Pferd setzten und uns zu den vertrauten Klängen im Kreis tragen ließen, ließen wir ein wichtiges Stück Trauer zurück. Unser Kleinod wurde abermals zu einer Art Zufluchtsort, und es kam vor, dass ich mich hinausschlich und mich auf das abgenutzte Holz setzte, in der Hoffnung, dass die Pferde ihr Geheimnis enthüllen würden. Aber sogar das Pferd, das meinen Vater auf seinem letzten Ritt getragen hatte, blieb stumm und sah mich nur traurig, mit glasigem Blick an, statt zu entschleiern, was sich an jenem Tag zugetragen hatte.
Das Schweigen breitete sich damals sehr schnell in unserem Ort und der Umgebung aus. Was hinter verschlossenen Türen und vorgezogenen Gardinen gesagt wurde, konnten wir ja nicht wissen, an unser Ohr gelangte jedenfalls überraschend wenig. Bestimmt wurden uns auch Trost und teilnehmende Worte zuteil, und bestimmt hat jemand den Arm um unsere Mutter gelegt und sie ermuntert, Bescheid zu sagen, wenn sie Hilfe brauchte, und bestimmt haben manche Leute uns angesehen und gedacht, »die armen Kinder«. Aber ich habe das alles nicht klar im Gedächtnis, ich erinnere mich nur an Mitgefühl, das nach einer Weile verschwand, und wer weiß, vielleicht war eine rasche Rückkehr in den Alltag für uns eine größere Hilfe als alles andere.
Alle schienen zu denken, dass das Geschehene nicht wieder zur Sprache gebracht werden sollte oder dürfte. Trotz der bestialischen Tat schien es wohl besser, gewisse Dinge zu den Akten zu legen und danach keine Spekulationen mehr anzustellen. Die Zeit heilt alle Wunden, und wenn sie das nicht tut, muss man eben behaupten, sie tue es. Wenn jetzt jemand gefragt würde, würden die Älteren, die sich noch daran erinnern, antworten, die Aufmerksamkeit, die der Ort damals auf sich gezogen hatte, habe gereicht. Als Nachbar, Bekannte oder Mitbürger Fragen beantworten zu müssen, wirkt auf die Dauer störend. Was soll man auch sagen, wenn man nichts weiß, außer dass es Verbrechen gibt, bei denen nichts fehlt bis auf den Täter, und Dinge, die man niemals begreifen kann und auch nicht begreifen will. Hier haben doch sonst immer nur anständige Menschen gewohnt, die nicht aufeinander schießen oder mit dem Messer aufeinander losgehen.
Es kam eine Zeit, ich war zwanzig Jahre alt und neugierig und wütend auf die Welt, als ich dann doch versuchte, mehr darüber in Erfahrung zu bringen, was damals passiert war. Meine Mutter hatte nichts aufbewahrt, bei uns gab es keine vergilbten Zeitungsartikel in den Schubladen, aber ich suchte in allerlei Archiven und las alles, was ich finden konnte. Was ich fand, hätte mir eigentlich neu sein müssen, aber seltsamerweise war das nicht der Fall. Vielleicht hatte ich im Unterbewusstsein gelauscht und mir zurechtgelegt, was ich damals gesehen und gehört hatte, um mich anschließend in der mir angebotenen Wahrheit einzukapseln. Ein Mord wie aus einem Theaterstück und ein Täter, der schon vor langer Zeit in den Schatten verschwunden war.
Ein pensionierter Polizist, der damals dabei gewesen war, erklärte sich bereit, mich zu treffen, aber auch er konnte mir nichts Neues erzählen. Alles, was sie damals gefunden und untersucht hatten, hatte sie zu der Überzeugung gebracht, dass der Mörder das Land so schnell wie möglich verlassen hatte. Der Polizist hatte sich seine Gedanken gemacht, natürlich hatte er das, aber er war nie zu einem anderen Ergebnis gekommen, und er fand, es wäre das Beste, die Sache einfach loszulassen. Das war viel verlangt, das verstand er nur zu gut, denn er hatte in all seinen Dienstjahren mehr gesehen, als man eigentlich ertragen kann. Aber einen anderen Rat konnte er mir nicht geben.
Ich erzählte meinen Schwestern von meinen privaten Nachforschungen, die eigentlich zu nichts geführt hatten. An jenem Abend sprachen wir lange über unseren Vater und darüber, wie sein Tod uns beeinflusst hatte, aber danach schien jede ihre Trauer wieder wegzustecken und zu verbergen.
Karolina hat mit in Rubriken einsortierten Zahlen Ordnung in ihrem Leben gehalten und flieht, wenn sie das braucht, mit ihrem Pinsel in die Welt der Phantasie. Die Dekorationen auf dem Sarg, in dem unser Vater damals lag, waren ihr Werk, und als alle daran vorbeizogen, verstand sie, obwohl oder weil sie erst sieben war, dass sein so oft zur Sprache gebrachter Wunsch, in einem Einzelstück begraben zu werden, von anderen geteilt wurde.
Karolina nahm sich diese Erkenntnis zu Herzen. Sie ist eine tüchtige Steuerprüferin, aber oft legt sie die Zahlen beiseite, um einem letzten Wunsch nach Dekorationen nachzukommen, die beweisen, dass dieser Mensch zumindest im Tod wagt, zu seinen vielleicht niemals verwirklichten Träumen zu stehen.
Elena hat sich entschieden, das zu backen, was zu ihrer Stimmung passt, und deshalb stiebt das Mehl auf und bildet um ihren Kopf einen Glorienschein. Sie hat einen Hafen in Form von Mann und Kindern, und dort kann sie vertäuen, aber auch den Anker lichten, wenn sie das braucht.
Eine Fensterscheibe klirrte im Wind und riss mich aus meinen Grübeleien. Kalter Wind traf mein Gesicht. Ich verkroch mich noch tiefer im Bett. Hätte ich in diesem Moment der Zeit einen Riss zufügen und darin verschwinden können, hätte ich es getan, aber die Zeitachse birgt keine Überraschungen dieser Art, sondern schiebt uns mit unerbittlicher, eindimensionaler Logik vorwärts. Bald würde die Kundschaft im Laden Bedienung verlangen, und niemand sollte erfahren, dass meine Gedanken über die Gegenwart alte Schlacke aus der Kindheit mit sich führten, so stinkend und schwarz wie der Sturm, der gerade vom Meer aufs Land trieb.
Kapitel 2
Am Ende beschloss ich, mich wenigstens an diesem Tag um einiges zu kümmern. Mit einer Teetasse setzte ich mich in eins der Schaufenster und versuchte, das dort aufgebaute Schloss herzurichten. Es war sicher zwanzig Jahre her, dass meine Mutter es zusammengesetzt hatte, und jetzt war es an der Zeit, sie um Hilfe bei der Restauration des Werkes zu bitten, falls ihre Hände dieser Anstrengung gewachsen wären. Ein Sonnenflecken ließ mich aufblicken, und ich entdeckte hinter der Fensterscheibe Karolina. An den Händen trug sie Handschuhe in unterschiedlichen Farben. Nichts an Karolina ist jemals symmetrisch. Träumen war immer schon ihr Lebenselixier, ihr Inneres ist das einzige Universum, in dem sie sich zurechtfindet.
Als wir noch Kinder waren, schwebte Karolina durch unsere Leben und verlangte nichts weiter, als sich in ihre eigene Welt einzupassen, wo auf Spiegeln Glasfiguren standen und sommers wie winters Kerzen brannten. Auf Karolinas Spuren standen Kühlschranktüren immer offen, in den Töpfen verdampfte das Wasser und verwandelte sie in rotglühende Höllengeräte, und vor der Wirklichkeit der Bilder gerieten Zeit und Raum in Vergessenheit. Sie saß noch mit Papier und Stiften in einer Ecke, wenn wir anderen schon weitergezogen waren, und wusste nicht, dass wir los wollten, egal, wie oft wir ihr das gesagt hatten.
Als kleines Mädchen hatte sie von unserem Vater einen Anhänger bekommen, ein Karussell mit einem kleinen Silberpferd, das an einer Stange befestigt war. Noch immer trägt sie das Karussell an einer Kette um den Hals, und ab und zu schließt sich ihre Hand darum in einer Geste, die zu einer für Karolina typischen Bewegung geworden ist.
Sie ging am Laden vorbei, ohne anzuhalten. Vielleicht glaubte sie, sich verirrt zu haben. Vor drei Jahren habe ich die Tür neu gestrichen, und Karolina hat sich an diese Veränderung noch immer nicht gewöhnt. Als sie eine halbe Stunde später zurückkam, hatte sie eine Tüte aus Elenas Bäckerei in der Hand. Sie legte die Tüte vor mich hin und nahm ein Rosinenbrötchen heraus.
»Du hast das Fenster aber schön dekoriert«, sagte sie.
»Dass dir das aufgefallen ist. Es geschehen eben noch Zeichen und Wunder.«
»Ich habe bei Elena Rosinenbrötchen gekauft«, sagte Karolina, ohne auf meine harmlose Stichelei einzugehen.
Langsam zog sie den Mantel aus. Darunter trug sie eine hauchdünne Bluse und einen Rock, der an keiner anderen Frau als ihr schön ausgesehen hätte. Ich öffnete die Tüte und sah, dass die Brötchen mit Herzen aus Puderzucker dekoriert waren - ein Zeichen dafür, dass Elena morgens offenbar in liebevoller Stimmung gewesen war. Ich musste dabei an unsere Mutter denken und fragte Karolina, wann sie zuletzt mit ihr gesprochen habe.
»Eben erst.«
»Wie geht es ihr?«
Karolina schaute zur Decke und sagte, sie habe ziemlich gut geklungen. Aber sie wolle auf jeden Fall noch persönlich bei ihr vorbeischauen.
Ich sah Mama vor mir. Sie saß in ihrer kleinen Seniorenwohnung, wo die sichere Ordnung sie ab und zu zu ersticken drohte.
»Und wie ging es Elena?«
»Ach, gut, aber sie kam mir ein bisschen aufgekratzt vor, als sie von diesem Mann erzählt hat.«
Meine jüngste Schwester hat die nervige Gewohnheit, mindestens einen Gedanken zu überspringen, wenn sie etwas erzählt. Sie kann die Folgen eines Ereignisses schildern, ohne das Ereignis erwähnt zu haben, und sie spielt mit den Namen von Fremden, als handele es sich um alte Bekannte.
»Welcher Mann?«
Karolina fing an, mit vielen Abschweifungen zu berichten, dass am Tag zuvor ein Mann Elenas Laden betreten hatte. Er sprach mit ausländischem Akzent Schwedisch und war erst vor kurzem hergezogen. Bei ihm herrschte Chaos, und deshalb wollte er ein fertiges Gericht kaufen. Warum er sich in der alten verlassenen Bäckerei niederlassen wollte, hatte Elena nicht in Erfahrung bringen können. Aber er wollte das Haus wieder herrichten. Was Karolina da erzählte, war um einiges interessanter, als ihr vager Tonfall annehmen ließ. Die ehemalige Dorfbäckerei stand seit vielen Jahren leer, aber niemand hatte je Interesse daran gezeigt, und Elena sagte oft, wenn sie dort ihr Brot backen müsste, würde alles anbrennen. Das ganze Haus hatte etwas Schwarzes und Verrußtes. Es wusste auch niemand so genau, wem es gehörte, und im Laufe der Zeit hatten wir uns alle so an den Anblick gewöhnt, dass wir es gar nicht mehr wahrnahmen. Ich hatte einmal aufgeschnappt, dass die Frau, die einst dort gewohnt und gearbeitet hatte, seltsam luftige Schokoküsse buk und eine schöne Tochter hatte. Jetzt wollte dort also ein Fremder einziehen. Falls man Karolina glauben durfte.
»War das alles, was du erfahren hast?«
»Jaaa ... glaub schon.«
»Oder hast du nach einer Weile das Zuhören vergessen?«
Karolina sagte, ich könne mich ja bei Elena erkundigen. Dann stieg sie ins Schaufenster und fing an, Figuren und Samtgras neu zu arrangieren. Sie hätte beinahe selbst zu dieser Märchenszene gehören können. Kein Wunder, dass die Männer, die in ihrer Nähe sein wollten, sie nicht hatten festhalten können. Einer hatte sie verlassen, als sie nach einigen Monaten ihrer Bekanntschaft morgens aufgewacht war und ihn mit einem Blick gemustert hatte, aus dem hervorging, dass sie keine Ahnung hatte, wer er war.
Mit just diesem Blick drehte sie sich jetzt um und schaute sich im Laden um. Dem Laden, in dem sie einen Großteil ihrer Kindheit verbracht hatte. Meine Kundschaft sieht Regale voller Teddybären und Blechspielzeug, Marionetten, die von der Decke hängen, Zinnsoldaten, Spieldosen, Märchenbücher, venezianische Masken, Lesezeichen, Theaterkostüme, Klötzchen und Bälle, Brett- und Kartenspiele und ein echtes hölzernes Karussellpferd, das offenbar so viele Kinder auf seinem Rücken getragen hat, dass die Farbe am Rücken abblättert und die Ohren nach zu hartem Zugreifen immer wieder repariert werden müssen.
Aber Karolina hätte auch das Karussellpferd sehen können, das vor hundert Jahren in vollem Tempo durch einen Wald gelaufen war, mit einem lachenden Jungen auf dem Rücken. Denn wenn sie dieses Gesicht macht, hat sie die konkrete Welt verlassen und sich in ihrer eigenen verkrochen.
Noch immer in ihren Phantasien verhaftet, schwebte sie aus dem Schaufenster und wiederholte zerstreut, dass sie unsere Mutter besuchen wolle. Die Türklingel bimmelte, als sie verschwand.
Ich stieg die Treppe zur Wohnung hoch, während mich wild gemischte Erinnerungen überkamen. Meine Eltern und wir drei Schwestern, das Geplauder und die lebhafte Gemeinschaft. Das Klingeln der Kasse, die Kommentare der Kundschaft, die Kinder, die ab und zu nach oben kamen, um mit uns zu spielen, das Spielzeug, das verschwand, um den Alltag anderer glücklicher zu gestalten. Papas Tod, Mamas Umzug, Victor und ich und Teresa, die wir das Haus zu unserem machten.
Und jetzt. Nur ich.
Mit leichtem Unlustgefühl setzte ich mich vor den Rechner und öffnete einige Dokumente. Danach klickte ich die Mail herauf und begann erneut.
Betreff: Ein verwirrter Traum
Hallo, Ivo! Danke für Deine schöne Mail. Das mit Deiner Vorstellung klingt spannend. Ich habe sofort Lust, in kleinerem Maßstab etwas Ähnliches zu versuchen.
Ein wenig förmlich, nur um zu verbergen, wie sehr ich mich nach einem Lebenszeichen gesehnt hatte. Ich ließ die Wange in meiner Handfläche ruhen und blinzelte kurz, ehe ich weiterschrieb.
Ich habe das von Dir geschriebene Märchen mit großer Begeisterung gelesen. Die Illustrationen regen die Phantasie an. Lustig, dass die Gestalten ihre Eigenschaften getauscht zu haben scheinen. Die des Traumes, der verwirrt und berauscht aussah, während er noch anhielt. Die des Bechers, der wie ein Traum schien. Das Schicksal, das wie der Tod aussah. Apropos verwirrt, eben war meine Schwester Karolina hier. Sie hat erzählt, dass wir im Ort einen interessanten Neuzugang haben. Ein geheimnisvoller Fremder hat offenbar vor, sich in unserer alten Bäckerei niederzulassen. Die ist ein echtes Spukhaus. Wenn wir bedenken, wie sehr ich für geheimnisvolle Fremde schwärme, ist das doch spannend. Ich muss jetzt den Laden öffnen, werde aber bald mehr schreiben. Pass auf Dich auf. Mariana. Pass auf dich auf. Entschlossen griff ich zum neuesten Geschäftsbericht, den Karolinas mathematischer Teil vor einigen Tagen angefertigt hatte. Als die Zahlen mich lange genug zur Närrin gehalten hatten, kam wieder ein Pling.
Wenn wir bedenken, wie sehr Du für geheimnisvolle Fremde schwärmst, solltest Du vorsichtig sein!
Ich schaltete den Rechner aus und ging nach unten. Als ich das Schild in der Tür umdrehte, um anzuzeigen, dass geöffnet war, begriff ich, warum Elena ihre Rosinenbrötchen mit Herzchen geschmückt hatte. Genau wie ich ist sie die Tochter ihrer Mutter, und auf diese Weise versucht sie, mit guten Symbolen eine heraufziehende Gefahr abzuwehren. Der Besuch des Fremden hatte sie beunruhigt. Das wusste ich, so sicher, wie ich wusste, dass sie das nie im Leben zugeben würde, wenn ich sie danach fragte.
Kapitel 3
Ich finde oft Gründe, an das Märchen vom Fischer un siner Fru zu denken. Der Mann fängt in seinem Netz einen Fisch, der um sein Leben bittet und sich als verwunschener Prinz ausgibt.
Der Mann schenkt dem Fisch das Leben und geht zu seiner Frau nach Hause. Die beiden wohnen in einem »Pisspott«, und als die Frau hört, was passiert ist, bittet sie ihren Mann zurückzugehen und sich zum Dank für seine Barmherzigkeit etwas zu wünschen. Immer bedrückter muss der Mann wieder und wieder den Strand aufsuchen und den Fisch rufen, der alle Wünsche erfüllt und die Frau zuerst zur reichen Bäuerin, dann zu König, Kaiser und Papst macht.
Doch als sie dann Gott werden will, folgt ein Ende mit Schrecken. Der Fischer un sine Fru sitzen wieder in ihrem Pisspott, und wenn sie nicht gestorben sind, so sitzen sie dort noch heute. Die gierige Frau wird bestraft, doch die Strafe trifft auch ihren Mann, der es nicht wagt, sich seiner Frau zu widersetzen, als sie verlangt, dass er ihrer Habsucht nachgibt. Feigheit ist, mit anderen Worten, eine ebenso große Sünde wie Habgier, und was hilft es dem Opfer, wenn der Mitläufer ein gutes Herz hat.
Das Meer prägt die Stimmung im Märchen und wird immer wütender, während die Wünsche immer unverschämter werden. Auf dieselbe Weise prägt das Meer unser Dorf, ob wir das nun wollen oder nicht. Wir sind nie weit entfernt vom Geruch des Salzes, vom Rauschen der Wellen oder dem gierigen Geschrei der Möwen. Wenn ich meine Wege gehe, das Gesicht zum Schutz gegen den Wind halb bedeckt oder zu den Wolken gewandt, wenn die Sonne hervorlugt, komme ich früher oder später zu einem Felsen oder einer Bucht und gerate ins Staunen, als wäre ich hier zum ersten Mal.
Die Sehnsucht nach diesem Gefühl bringt mich oft dazu, das »Offen«-Schild umzudrehen und wegzugehen, und um die Mittagszeit tat ich genau das. Nach kurzer Zeit drehte ich mich um und betrachtete mein eigenes Schloss, den Laden mit seinen Schätzen und mit Fenstern, die an diesem Tag wie zwei Katzenaugen leuchteten.
So hatten meine Eltern es gewollt. Der Laden sollte ein Zufluchtsort sein. Die Menschen sollten hereinkommen und Wetter oder Missmut abschütteln, ehe sie sich mit allerlei Spielen beschäftigten. Mein Vater konnte Marionetten vorführen, während meine Mutter im Kreis von Kindern vorlas. Ich habe versucht, diesen Geist zu bewahren, auch wenn es ein Balanceakt zwischen Traditionsbewahrung und Nostalgie ist. Aber dass der Laden gut läuft und normale Kundschaft ebenso anlockt wie Sammler, muss ja wohl bedeuten, dass es noch immer Platz für das gibt, was die Menschen im Laufe der Geschichte unterhalten hat. Und es ist ein offenes Geheimnis, dass ich unter dem Ladentisch ausgewählte Computerspiele anbiete. Solche, die die Märchen weiterführen oder sie in etwas verwandeln, das ursprünglich und neu zugleich ist.
Unser Ort ist nicht groß, und es fragt sich, ob er im Sommer oder im Winter schöner ist. Ich sah, wie der ängstliche Sonnenschein sich vorsichtig über das Feld bewegte, und ich dachte daran, dass der Anblick des Strandes bald von provisorischen Geschäften und Restaurants geprägt sein würde, während sich die Straßen mit Touristen füllten, die zwischen den Kleidern herumwühlten, essen gingen und den Vögeln unten bei den Booten Krümel hinwarfen. So einsam, wie es hier im Winterhalbjahr ist, so hektisch wird es im Sommer, der nur für einige Wochen tanzt und dann zu Ende ist. Es sieht sicher aus wie eine Schweizer Kuckucksuhr, wenn wir alle aus dem Loch springen und zwitschern, ehe wir uns wieder ins Uhreninnere zurückziehen und einfach warten müssen.
Die Ausländer, die im Winter im Laden vorbeischauen, fragen oft, wie es möglich ist, in dieser Dunkelheit zu leben. Die meisten Menschen auf der Welt leben dort, wo es warm ist. Sind wir denn nicht alle dazu geschaffen? Ich antworte dann immer, dass wir hier im Norden ein tapferer Menschenschlag sind. Dass es vielleicht nie geplant war, auch diese Breitengrade zu bevölkern. Dass sich ein in die Irre gegangenes Exemplar des Homo sapiens vielleicht irgendwann einmal von der Mitternachtssonne hat blenden lassen und geblieben ist, in der Hoffnung, eine solche Nacht noch einmal zu erleben.
Aber natürlich hat mich die Sehnsucht nach Wärme, Spontaneität und anderen Gewohnheiten schon oft dazu gebracht, hier weggehen zu wollen. Und dann habe ich es Karolina und Elena überlassen, sich um den Laden zu kümmern, während ich zu Messen oder in Länder gereist bin, wo ich in Antiquitätenläden, Werkstätten oder Antiquariaten Schätze finden konnte. Ab und zu habe ich mich in ein Haus, ein Dorf, eine Wohngegend oder eine Stadt verliebt und mit dem Gedanken gespielt, dass ein anderes Leben möglich sein könnte.
Danach bin ich mit der Gewissheit zurückgekehrt, dass die Augen meines Vaters mir immer folgen werden und dass ich mich hier ebenso verteidigen kann wie anderswo. Zumal man nicht einfach so ein Karussell in einen Rucksack packt und den dann über seine Schulter wirft. Es mitzutransportieren würde bedeuten, auf andere Weise zu reisen, ein Leben zu leben, das meine Familie gelebt hat, von dem ich aber nicht mehr weiß, ob ich ihm gewachsen wäre.
Jahr für Jahr reisten meine Großeltern mit dem Karussell und mit ihren Spielwaren durch Europa. Drei, vier Tage an einem Ort, Auftritte an zufälligen Vergnügungsorten oder auf Jahrmärkten. Sie hatten keine Nationalität, nur eine Bescheinigung zur Vorlage bei den lokalen Behörden, und das ging gut bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs, als Zirkusleute und andere Fahrende sich entscheiden mussten. Meine Großeltern befanden sich damals im deutsch-französischen Grenzgebiet. Sie warfen eine Münze und wurden Deutsche.
Nach Schweden gelangten sie dann im nächsten Weltkrieg, als mein Vater dreizehn war. Sie blieben einige Jahre, dann gingen sie fort, aber die Erinnerungen an dieses vergleichsweise friedliche Land im Norden waren offenbar so gut, dass die Familie nach einigen Jahren Nachkriegswanderschaft in einem zerstörten Europa wieder zurückkehren wollte.
Hier fanden sie das Haus mit dem Garten, der riesigen Scheune und dem großen Rasen, wo es möglich war, das Karussell im Winter einzulagern und es im Sommer aufzubauen und in Betrieb zu nehmen. Dass sie Bomben und Schüssen unversehrt entkamen, ist ein ebensolches Wunder wie all die beliebten Berichte von Menschen, die vor dem sicheren Tod gerettet worden sind. Mit den Dingen, die sie noch hatten, eröffneten sie den Laden und vergrößerten mit den Jahren ihr Angebot. Mein Vater reiste noch weiter, kehrte aber immer zu seinen Eltern zurück, um im Geschäft zu helfen.
Er war um die vierzig und dachte nicht daran, sesshaft zu werden, als er bei einem Besuch meine Mutter kennenlernte. Sie betrat den Laden und verliebte sich, eine Fischertochter, verhext von Marionetten und erwiderter Liebe. Es regnete bei ihrer Hochzeit, aber an dem Tag, an dem sie den Spielwarenladen übernahmen, strahlte die Sonne.
Ich schüttelte diese alten Gedanken ab, merkte, dass ich im Gehen Selbstgespräche geführt hatte, kletterte auf einen Felsen und sah das erzürnte Meer. Wutschaum krönte die Wellen, und einige Boote rissen und zerrten an ihren Vertäuungen. Beim Haus des Segelvereins lagen Schwimmwesten und Planen wild durcheinander auf dem Boden. Die Steine waren glatt, als ich den Weg einschlug, über den die Jugendlichen der Gegend wandern, egal, wie betrunken sie freitagabends auch sein mögen. Die ein Stück weiter draußen gelegenen Inseln sahen verlassen aus, und in der Nachbarbucht kauerten sich die Fischerbuden zusammen. Der Sturm hatte, wie ich vermutet hatte, den Sandstrand mit schwarzem Tang bedeckt, der bald aber weggeschwemmt und dann durch neuen ersetzt werden würde. Der Vorrat war unerschöpflich.
Bei der Wegkreuzung bog ich in Richtung Dorf ab. Kürzlich war ein weiterer Weg asphaltiert worden, und das Klappern meiner Schuhe mischte sich unter das Dröhnen eines vorüberfahrenden Zuges. Die Gerüchte, dass wir einen neuen Bahnhof bekommen sollen, sind diskutiert worden, als sei von einem königlichen Besuch die Rede, aber noch weiß niemand etwas Genaues, nicht einmal der Gemeindevorstand.
Aber die Landstraße ist nicht weit entfernt. Autos voller Menschen, die den Strand, Erholung, ein antikes Spielzeug oder Rosinenbrötchen mit Zuckerherzchen suchen, können die Straße ganz einfach verlassen und zu uns abbiegen.
Schon aus der Ferne sah ich den Möbelwagen. Kein Mensch war in der Nähe. Die alten Holzbuchstaben, die mitteilten, dass es hier einst eine Bäckerei gegeben hatte, waren noch immer an der Wand befestigt, die Spitzengardinen aus den Fenstern waren jedoch verschwunden. Als auf mein Klopfen niemand reagierte, drückte ich die Klinke und stellte fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Elena wäre jetzt mit offenen Augen hineingegangen, Karolina mit halb geschlossenen. Ich blieb in der Türöffnung stehen. Das Erdgeschoss bestand aus zwei Räumen, einer war mit einem alten Tresen und einigen verschlissenen Regalen möbliert, der andere enthielt die Reste einer Küche. Eine Plastikfliese hatte sich gelockert, und die Treppe ins Obergeschoss schien kurz davor zusammenzubrechen.
Der Mann, der hier einziehen wollte, war nicht zu Hause. Entweder er gehörte zu denen, die von allen nur Gutes glauben, oder er hatte das Haus in der Gewissheit nicht abgeschlossen, dass es nichts zu stehlen gab. Ich dachte an Teresa und daran, dass ich ihr von dem Neuankömmling erzählen müsste. Als kleines Kind hatte sie dieses Haus immer bestaunt, und ich hatte aus einem Impuls heraus erzählt, hier träfen sich Elfen und Schwarzalben und täten sich an Kuchenkrümeln gütlich. Als Elena ihre Bäckerei eröffnet hatte, war sie nie auch nur auf den Gedanken gekommen, sie könnte ihre Arbeit in einem dermaßen ungastlichen Haus verrichten.
Ein plötzliches Unbehagen trieb mich wieder nach draußen, und ein kühler Regen beschleunigte meine Schritte, woraufhin ich fast mit einem älteren Mann zusammengestoßen wäre. Als er unter seinem Südwester aufschaute, erkannte ich Torsten, der mit George, seinem Hund und ständigem Begleiter, unterwegs war. Dass die beiden immer um fast die gleiche Tageszeit loszogen, war fast so sicher wie das Amen, das ab und zu aus unserer ökumenischen Kirche zu hören ist. Sie hatten drei Routen zur Auswahl, und dieser Weg gehörte zu zwei von ihnen.
»Hallo, Torsten. Ich bin's, Mariana.«
Ich ging in die Hocke, machte eine scherzhafte Bemerkung über das Hundewetter und kraulte George hinter den Ohren. Er war ein großer Schäferhund und hieß, vielleicht wegen seines Scharfblicks, nach George Orwell. Torsten streckte die Hand aus, und ich nahm sie, während ich versuchte, mir mit der anderen die wild herumpeitschenden Haare aus dem Gesicht zu halten.
Er ist fast blind, kann nur Hell und Dunkel noch unterscheiden. Aber seine Angst vor dem Daheimbleiben treibt ihn auf seine Wanderungen. Seine weite Regenjacke war falsch geknöpft, aber das sagte ich nicht. Früher einmal musste man mit ihm rechnen, und es ist eine Qual für ihn, dass Körper und Geist die Anstrengungen nicht mehr ertragen, denen sie seiner Ansicht nach gewachsen sein müssten.
»Ach du, du bist bei diesem Wind unterwegs? Ich vermute, dass hier und da die Ziegel heruntergekommen sind. Und dass Bäume umgeweht wurden. Warst du bei deiner Mutter?«
»Nein, ich wollte nur mal kurz raus. Ich muss bald zurück. «
»Wie geht es ihr denn?«
»Es geht ihr ziemlich gut, aber das ändert sich von Tag zu Tag immer mal.«
»Ja. So ist es eben. Wie sieht es denn unten in der Bucht aus?«
Der Wind trieb ihm die Tränen in die Augen, und die Haut an seinen Händen war gelblich bleich und trocken. Torsten trägt niemals Handschuhe und behauptet, seine Finger seien immer warm und dass es doch schön sei, wenn einige Körperteile noch immer vorschriftsgemäß funktionieren. Ich schilderte, wie es am Strand aussah und dass die Wellen schon fast einen alten Steg zerfressen hätten. Darum müssten die Handwerker sich wohl bald kümmern. Torsten lächelte vielsagend.
»Wenn sie dazu kommen. Denn bald werden sie vielleicht eine andere Beschäftigung finden. Draußen bei Jan ist fast alles so weit. Und jetzt scheint es noch andere zu geben, die Hilfe brauchen.«
»Meinst du den Mann, der in die alte Bäckerei gezogen ist?«
Er sah so enttäuscht aus, dass ich ganz schnell hinzufügte, dass ich wirklich nicht mehr wüsste als das Wenige, das die Gerüchte verbreitet hatten.
»Ich bin eben gerade da vorbeigegangen. Aber es war offenbar niemand zu Hause. Du weißt sicher mehr, also tu jetzt nicht so geheimnisvoll.«
Torsten wühlte in seiner Tasche, zog etwas für seinen Hund hervor und ließ es auf den Boden fallen.
»Nun, ich war am Sonntag im Gottesdienst.«
»Und war das erbaulich?«
»Was heißt schon erbaulich, dumm war es sicher nicht. Es ist doch egal, was man macht. Und danach haben die Klatschtanten darüber geredet, dass die Kerle in der Sägemühle Besuch von einem Mann hatten, der sich nach Baumaterial erkundigen wollte. Der Mann kommt offenbar aus den USA und will eine Weile hier wohnen, um ein Buch zu schreiben.«
»Was denn für ein Buch?«
»Darüber schweigt die Geschichte. Und was zum Teufel kann man denn hier zu schreiben finden, wenn man in den USA wohnt? Das ist ja wohl total daneben. Das einzig Spannende, was wir hier vorzeigen können, ist dein Laden, und den ganzen Weg herzukommen, nur um darüber zu schreiben ... ja, du weißt schon, was ich meine. Aber wir können hier wirklich frisches Blut brauchen. Die Umzugswagen fahren ja sonst in die Gegenrichtung. Aber du frierst, also mach jetzt, dass du ins Warme kommst.«
Er streckte wieder die Hand aus und wanderte dann mit George weiter. Auch ich setzte mich in Bewegung. Unser Ortszentrum besteht aus zwei Lebensmittelläden, einer Bankfiliale und einer Apotheke, einem Optiker und einem Bekleidungsgeschäft. Es gibt auch saisonbedingte Geschäfte für Möbel und Ziergegenstände, die am Ende des Sommers dichtmachen. Die Pizzeria und der Chinese bleiben offen, während die übrigen Restaurants in der kalten Jahreszeit ebenfalls schließen. Einige ihrer Besitzer verlagern ihre Tätigkeit auf den Fischwagen und fahren den frischen Fang aus.
Elenas Bäckerei liegt am Marktplatz, und wie ich wohnt sie über dem Laden und kennt keinen Unterschied zwischen
Arbeit und Freizeit. Oft steht sie um vier Uhr morgens auf, um Brot und Brötchen zu backen, die sofort verkauft werden, sowie sie den Laden öffnet. Sie hat im Winter fast genauso viel zu tun wie im Sommer. Die dunkle Jahreszeit bietet wenig Zerstreuung, und dann kann frisches Gebäck ebenso gut zur Befriedigung dienen wie etwas anderes.
Ich lief über den Marktplatz und sah, dass das ganze Zentrum wie verlassen dalag, sogar der Parkplatz und die Fahrradständer. Elenas Schaufenster leuchtete immerhin einladend, und darin thronte eine Pyramide aus Rosinenbrötchen mit Zuckerherzen, die ich ja schon kannte. Daneben stand eine Hochzeitstorte. Die Braut lächelte starr neben ihrem Bräutigam, und unter einem Baiserblatt verbarg sich ein gebrochenes Kuchenherz.
Vielleicht sollte Elena das lieber wegnehmen. Sie weicht nicht gern zurück, hat aber Verstand genug, um ihre Kämpfe sorgfältig abzuwägen. Takt war noch nie die Stärke meiner Schwester. Sie zieht Ehrlichkeit vor, was befreiend und schmerzlich sein kann. Der Glaube daran, dass die Wahrheit alles wiedergutmacht, muss nicht unbedingt zutreffen, auch wenn Elena ihn sich zu eigen gemacht hat.
Sie stand auf einer Leiter und kehrte mir den Rücken zu, und als sie sich auf die Zehen stellte, konnte ich ihre Waden bewundern. Ihre bloßen Füße sind die ersten Frühlingsboten hier im Dorf, zusammen mit Schneeglöckchen und dem Geruch von Pferdeäpfeln aus dem Stall. Ich schlich mich in den Laden und hatte die Leiter schon zum Wackeln gebracht, ehe sie mich bemerkte. Sie schrie auf und klammerte sich an das Regalfach. Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht, aber sie wagte nicht loszulassen und sie wegzustreichen.
»Ich fand, es sah aus, als ob du von Liebe träumtest.«
Elena kletterte von der Leiter und fauchte, sie sei im Gegenteil klar bei Verstand. Gleich darauf fragte sie, ob ich schon gegessen hätte. Obwohl ich die Älteste bin, kommandiert Elena mich gern herum, und ehe ich mich's versah, hielt ich plötzlich eine Tasse heiße Schokolade in der Hand. Aber ich lasse mich gern von ihr verwöhnen. Ab und zu lohnt es sich, sie bestimmen zu lassen, in anderen Fällen sollte man ihr diese Illusion lassen.
Ihre Bäckerei bot genau die Wärme, die Torsten mir gewünscht hatte. Die Regale waren gefüllt mit Brötchen, und im Tresen lagen süße Backwaren und Kuchen aller Art und Farbe. Auf jedem der drei kleinen Tische am Fenster stand eine Kerze in einem Leuchter, und auf einem Tisch verriet eine leere Tasse, dass sich schon vor mir jemand vor der Kälte hierhergeflüchtet hatte.
Ich trocknete mir mit einem Handtuch die Haare ab und merkte zu spät, dass es mehlig war. Elena fragte nicht, wieso ich unterwegs sei. Sie dreht wie ich ab und zu das Ladenschild um, weil sie das Gefühl braucht, unterwegs zu sein.
»Komm. Setz dich. Hier. Hast du was von Victor gehört?«
Ich nahm das Brot, das sie mir hinstellte. Als ich aufschaute und sah, wie sie die Stirn runzelte und die Lippen zusammenkniff, wusste ich, dass sie keine Gnade kennen würde, wenn ich auch nur den geringsten Krümel übrig ließ oder die Wahrheit frisierte.
»Es scheint ihm gutzugehen. Er wird endlich so geschätzt, wie er glaubt, es verdient zu haben und es zu Hause nie erlebt hat, er wird besser bezahlt, und das Haus, das sie gemietet haben, gefällt ihm gut. Er hat nette Nachbarn, das Wetter ist zuverlässig, und Teresa ist bei ihm. Und auch sie ist zufrieden. Viel mehr kann er sich doch nicht wünschen.«
© der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by BTB Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Zu Hause bei uns war die Stimmung anders als sonst. Papa zauberte beim Frühstück für uns, aber er war nicht bei der Sache und konnte weder mich noch meine Schwestern an der Nase herumführen. Sein Gesicht war starr wie eine Theatermaske, und später hörten wir seine erregte Stimme, die aus allen Zimmern gleichzeitig zu kommen schien. Was in der Nacht passiert war, hing noch immer voll stechender Spannung in der Luft, und als wir mit unseren Badesachen unter dem Arm zum Meer loszogen, war Mamas Gesicht unglücklich, obwohl sie zu lächeln versuchte.
Am Strand wimmelte es von Menschen, aber nur sehr wenige badeten, und als wir ins Wasser liefen, begriffen wir, warum. Die Feuerquallen hatten die Bucht erobert. In dichten Schwärmen trieben sie herum und zogen ihre brennenden Fäden hinter sich her. Wir fanden eine freie Stelle, mussten aber steif wie die Zinnsoldaten im Wasser stehen, und trotz aller Vorsicht verbrannte ich mich. Die Haut an meinen Beinen tat sofort weh, und bald schon blühte roter Ausschlag auf. Trotzdem wollte keine von uns nach Hause gehen. So blieben wir bis zum späten Nachmittag, liefen auf den Felsen herum, versuchten noch einmal, ins Wasser zu gehen, ließen uns von der Sonne wärmen und sahen zu, wie das Meer zur Ruhe kam.
Zu Hause bat ich meine Mutter um Rat. Mit zerstreuter Miene strich sie eine Salbe auf meine Haut und rührte dann wieder die Erdbeergrütze um. Mein Vater ließ sich nicht blicken, und als ich nach ihm fragte, trug sie mir auf, das Backblech mit dem Zwieback zu überwachen, was mir wie eine Strafe für etwas erschien, das ich nicht getan hatte. Ihr Gesicht machte mir Angst, doch als meine Schwestern dazukamen und sie anfing, Märchen zu erzählen, wich die Wirklichkeit eine Zeit lang einer anderen Welt, und ich hoffte, dass am Abend alles doch noch ein glückliches Ende finden würde.
Nach einer Weile hörten wir, wie an die Haustür geklopft wurde. Mama lief die Treppe hinunter und kam mit einer Frau zurück, die wir nicht sonderlich gut kannten und deren Mann im Stall arbeitete. Kaum hatte sie uns erblickt, fing sie an, hastig eine Menge Fragen zu stellen. Wir seien doch sicher alle tüchtige Reiterinnen und könnten erzählen, warum wir Pferde liebten und wo wir so viel gelernt hätten?
Etwas an ihr steigerte mein Unbehagen nur noch. Ihre Hände jagten über ihre Haare und ihre Bluse, sie roch nicht gut und packte uns an Armen und Schultern, um uns auf unsere Stühle zu drücken. Meine Schwestern zappelten, und ich wäre ebenfalls am liebsten weggelaufen, aber bei jedem Versuch wurden wir erneut ins Gespräch einbezogen. Ob es schön sei, Sommerferien zu haben, was wir denn so tagsüber machten und wie weit wir schwimmen könnten.
»Und Mariana, du bist ja vielleicht groß geworden. Spielst du noch immer so viel mit den Marionetten? Und ihr anderen, hilft euch jemand, wenn ihr Theater spielen wollt?«
Mama bot ihr etwas zu trinken an und ersparte uns damit die Antwort. Die Finger der Frau bewegten sich auf der Tischplatte im Kreis, und ich hatte Angst, sie könnte Spuren hinterlassen, die niemals verschwinden würden. Sie fragte Mama, ob viele Leute in den Laden kämen, und Mama klang nervös, als sie antwortete. Der Kloß in meinem Hals wuchs, und ich wollte gerade ein weiteres Mal aufstehen, als unser Gast offenbar eine Entscheidung traf. Ich solle warten, sagte sie, das hier gehe uns alle an. An diesem Tag sei etwas Seltsames passiert. Etwas Schreckliches geradezu.
Ihre Augen waren wässrig und rot unterlaufen, aber ich musste doch hineinstarren, als sie sagte, ihr Mann sei keiner, der sich etwas aus den Fingern sauge. Er lese lieber die Zeitung statt Märchen. Aber als er an diesem Tag von der Arbeit gekommen sei, habe er einfach nur krank ausgesehen, bis er ihr endlich gestanden habe, etwas Unfassbares erlebt zu haben.
Aus der Ferne hörten wir das Geräusch eines Motors und etwas, das klang wie ein eingesperrter Vogel, der immer wieder gegen ein Gitter flatterte. Mama fragte, was denn geschehen sei, und jetzt wollten auch wir Kinder es hören. Die Frau zupfte an einem Faden in der Tischdecke. In ihrem Mundwinkel war ein wenig Spucke zu sehen, als sie sagte, jemand habe drüben beim Stall einen Baum gefällt.
»Der war viel zu groß geworden, und das kann gefährlich sein, wenn die Herbststürme einsetzen. Aber als sie noch bei der Arbeit waren, verfehlte jemand den Baum. Die Axt traf den Arm des Mannes, der neben ihm stand.«
Aus dem Herd quoll Rauch, und als ich das Blech herausnahm, war der Zwieback verkohlt. Die Frau am Tisch redete weiter mit vor Erregung schriller Stimme. Es habe entsetzlich geblutet. Jemand habe ein Hemd um die Wunde gebunden, aber das habe nicht geholfen. Ihr Mann sei losgelaufen, um das Auto zu holen, und als er zurückgekommen sei, habe er es gesehen.
»Was denn?«
Meine jüngste Schwester konnte sich nicht beherrschen. Die Frau wandte ihren Blick von mir ab und richtete ihn jetzt auf meine Schwester. Ein Tropfen aus meinen noch immer nassen Haaren lief langsam über meinen Hals, meinen Nacken, zwischen den Schulterblättern und dann weiter mein Rückgrat hinab. In der Stille, die nun entstand, hörten wir sie plötzlich. Die Musik.
»Was er gesehen hat? Ja, das kann ich dir erzählen, meine Kleine. Er sah die Männer, mit denen er zusammengearbeitet hatte. Aber es war einer zu viel. Sie hatten zu fünft an dem Baum gearbeitet, und als mein Mann dann im Auto saß, sah er fünf Männer auf sich zukommen. Vier, die gingen, und einen fünften, den einer der anderen trug. Mein Mann hielt den Wagen an und blinzelte einige Male, und dann schaute er noch einmal hin. Jetzt waren es nur noch vier.«
Die Frau leerte ihr Glas und sagte, es könne ja jemand dazugekommen sein, während ihr Mann unterwegs gewesen sei. Aber er habe eben gespürt, dass es ... etwas anderes war. Mama erkundigte sich nach dem Verletzten. Unser Gast schüttelte den Kopf. Keine Ahnung. So schlimm sei es sicher nicht gewesen. Und wir sollten verzeihen, wenn sie ein wenig überspannt wirke, aber sie müsse es einfach irgendwem erzählen. Hier an der Küste seien Visionen und Trugbilder ja nichts Ungewöhnliches, das müsse sie doch wissen, ihr Großvater sei schließlich Pastor gewesen. Aber man sei dennoch verblüfft, wenn es dann dazu käme.
Als sie Atem holte, war sie noch deutlicher zu hören, die Musik. Meine Schwestern sahen verwirrt aus, und die Frau redete immer weiter, bis Mama offenbar genug hatte. Sie bot an, die Besucherin zur Tür zu bringen, und als die beiden verschwanden, hörte ich Mama sagen, nicht nur die dunklen Winternächte seien von Magie und Spuk erfüllt. Wir sollten doch nur an Mittsommer denken, was man da alles in Brunnen und auf Wiesen finden könne. Die rätselhaften Begleiter würden oft gesehen, wenn es auf dem Meer oder im Gebirge stürme. Dann stehe der geheimnisvolle Fremde plötzlich am Steuer oder auf einem Felsen.
Meine Mutter kam zurück und fing an, Dinge aus dem Kühlschrank zu nehmen. Sie kehrte uns den Rücken zu und sagte dabei, vielleicht habe der Verletzte einfach einen guten Schutzengel gehabt. Meine kleinen Schwestern liefen aus der Küche, ohne weitere Fragen zu stellen. Ich nuckelte an einer Haarsträhne. Meine Arme kamen mir kraftlos und schwer vor, und mein Herz hämmerte, obwohl ich ganz still saß. Mama sagte nichts weiter, und am Ende stand ich ebenfalls auf und lief die Treppen hinunter, in unseren Laden und dann aus der Tür.
Das Gras war jetzt feucht wie am frühen Morgen. In einem vergessenen Eimer war das Wasser von tanzenden Insekten bedeckt, und alles schien vom Duft der Hagebutten erfüllt. Ich sah unser Haus, den unebenen Weg zum Dorf, umgeben von Feldern und Wald, als ob ich durch ein Bilderbuch wanderte, und ich fing an, ein kleines Gedicht aufzusagen, um nicht in Tränen auszubrechen. Das Zebra gern zum Trinkloch geht, wo ihr auch seine Streifen seht. Das Zebra gern zum Trinkloch geht, wo ihr auch seine Streifen seht ...
Kein Mensch war zu sehen. Niemand hatte sich von dem Geräusch anlocken lassen. An sich wäre ich lieber überall gewesen, nur nicht hier, wo die Musik, die sonst immer vertraut klang, jetzt mit ihren Disharmonien schrill und bedrohlich klang. Ich wusste plötzlich, dass der Rattenfänger ein Lied spielte, um mich tief in die Erde zu locken, dorthin, wo jedes »alles wird gut« seine Bedeutung verloren hätte. Die Musik wurde immer lauter, aber ich hätte sie trotzdem mit meinem Schrei übertönen können, wenn ich nur gewagt hätte, den Mund zu öffnen. Meine Füße bewegten sich vorwärts wie von unsichtbaren Fäden gezogen, und ich starrte lange den Boden an, ehe ich mich zwang, den Blick zu heben.
Mein Vater saß auf einem der Pferde. Seine Arme waren an die Stange gefesselt, an der auch sein Ross befestigt war. Als er an mir vorbeikam, sah ich, dass sein Blick ebenso starr nach vorn gerichtet war wie der des bemalten Holztieres. Das Blut, das seine Kleider färbte, war an den Seiten nach unten gelaufen und bildete kleine Lachen auf dem Karussell. Eigentlich waren meine Schwestern und ich für das Reinigen zuständig, und als das Feuer in meinem Kopf sich für einen Moment legte, war mein erster Gedanke von dieser seltsamen Sorte, die uns vor der Erkenntnis des Schlimmsten bewahren soll.
Ob wir wohl auch diesmal das Karussell würden putzen müssen?
Kapitel 1
In all diesen Jahren erwache ich jeden Morgen mit dem Bild von Papas blutigem Hemd und schlafe jeden Abend mit dem Gefühl ein, dass seine erloschenen Augen mich betrachten. Wenn diese Bilder nachts zu aufdringlich werden, stehe ich auf und versuche, sie mit konkreten Tätigkeiten zu verjagen, ich bestelle Waren oder räume die Regale auf. Ab und zu setze ich mich mit einem Buch in die Märchenecke, und es ist schon vorgekommen, dass ich im Laden von Kunden geweckt worden bin, die morgens früh am Schaufenster vorbeigehen und mich erschöpft zwischen den Kissen liegen sehen.
Denn wir haben alle unsere Methoden, um dem zu entgehen, was uns quält. Wir arbeiten, reden, schweigen, putzen, lesen, fahren aufs Meer hinaus, treten auf einer Bühne auf, stehen still oder rennen vorwärts, aufwärts, fort. Jeder und jede von uns findet irgendwann die beste Möglichkeit, um den finsteren Wölfen der Angst zu entkommen, und wir lernen, mit ihnen zu leben, sie vielleicht sogar als etwas zu betrachten, das wir zähmen können.
Jener Morgen jedoch war anders. Die Erinnerung an meinen toten Vater hatte mich schon lange nicht mehr so deutlich heimgesucht, und sehr bald ahnte ich den Grund. Der Wind hatte sich gedreht. Ebenso wie meine Mutter kann ich spüren, wenn bald etwas passieren wird, Gutes oder Schlechtes, Glück oder Unglück. Jetzt wehrten Körper und Gedanken sich gegen den Tag, und ich zog mir wieder die Decke über den Kopf und drückte das Gesicht ins Kissen, das meine unruhigen Atemzüge aufnehmen musste.
Ich dachte an Victor und Teresa und an heftige Regengüsse über dem Tiefland von Kansas. Vor dem Schlafengehen am Abend zuvor hatte ich mit beiden telefoniert. Oder genauer gesagt, ich hatte ihnen zugehört. Victor klang zufrieden, als er über die Universität, über Kollegen, bewilligte Forschungsmittel, das Interesse für seine Entdeckungen und die vielen Menschen sprach, die Gesteinsarten und seltsame Fossilien spannend fanden. Über all das verbreitete er sich und teilte mir mit, dass er jetzt joggen gehe und sich schon lange nicht mehr so fit gefühlt habe. Außerdem sei es schön, Teresa bei sich zu haben. Nach einem einsamen halben Jahr dort drüben habe er sich nun eingelebt und könne ihr bei allen Fragen und Problemen helfen.
Teresa ihrerseits erklärte munter, dass alles genauso aussehe wie bei den Simpsons und dass sie in allen Fächern einen Vorsprung zu haben scheine. Trotz vieler Küsse am Ende des Gesprächs war deutlich, dass sie eine neue Welt entdeckte und dort drüben die Sonne viel öfter für sie schien als zu Hause. Sogar die Stürme fand sie spannend.
Ich hätte zu dem Gespräch nur Alltäglichkeiten beisteuern können, verzichtete jedoch darauf, antwortete lediglich, ich freue mich für sie und mir selbst gehe es gut. Zwischen uns lagen nicht nur endlose Kilometer, sondern auch eine Entscheidung, die unsere Tochter sicher nur mit großer Mühe verstehen konnte: dass ich von meinem Mann getrennt leben mochte, aber nicht von meinem Laden.
Warum ich nicht mitgekommen war, hatte ich ihr bisher weder erklären können, noch hatte ich es erklären wollen , auch wenn sie sicher ahnte, dass es dabei nicht um eine Entscheidung zwischen heiß und kalt ging. Teresa weiß, wie sehr ich neue Umgebungen und ein milderes Klima liebe. Das machte meine Sehnsucht nach ihr nicht erträglicher und meine Beteuerungen, dass es mir gutgehe, nicht glaubwürdiger. Es kam vor, dass ich Mails schrieb und sie im Fach für Entwürfe liegen ließ, nur um zu wissen, dass ich sie jederzeit abschicken könnte. Dass ich alles zurücknehmen könnte, dass unsere Familie noch nicht in die Brüche gegangen war. Es war möglich. Nur ein Tastendruck wäre nötig, um die Mail abzuschicken.
Es tat weh, an Teresa zu denken. Ich schlang die Arme um das Kissen und dachte daran, dass es noch viel zu lange dauern würde, bis ich sie morgens, bevor sie sich an den Frühstückstisch setzte, wieder umarmen könnte. Ich glaubte, den Duft ihres Shampoos wahrzunehmen, und ich hätte das Kissen prügeln mögen, weil es nicht sie war. Meine Gefühle für Victor waren ebenso schmerzlich, wenn auch auf andere Weise. Ich konnte uns zusammen am Meer entlang gehen sehen, und das fehlte mir, aber gleich darauf fiel mir dann eine blöde Bemerkung ein, die er gemacht hatte, und ich war froh, dass er nicht neben mir lag.
Mein Trauring hatte immer in einer Schachtel neben dem Bett gelegen, wenn ich schlief. Morgens hatte ich ihn an meinen Finger gesteckt, mit einer Geste, die kein Bewusstsein erforderte. Diese tagtägliche Bewegung war so selbstverständlich wie das Zähneputzen im Badezimmer und das Aufsetzen des Teewassers in der Küche. Aber seit Victor nicht mehr da war, kam es immer häufiger vor, dass meine Hand in der Luft innehielt, während die Frage sich aufdrängte: Würde er jemals kommen, der Moment, in dem ich den Ring nicht mehr trug, weil ich es nicht mehr konnte oder wollte?
Ich öffnete meine Hand und registrierte die Linien in der Handfläche. Sah vor meinem inneren Auge Ivo. Den Mann, den ich vor drei Monaten kennengelernt und der mein Leben bereits verändert hatte. Als unsere Wege sich trennten, nahm er meine Hand und küsste die Handfläche. Danach schloss er meine Hand und sagte, den Kuss solle ich benutzen, wann ich das wollte. Wenn ich im Flugzeug säße. Sobald ich über die Schwelle träte. Im Bett, wenn ich mich hingelegt hätte, damit ich wüsste, dass ich nicht allein wäre. Er dächte an mich. Eine einzige Begegnung. Vierundzwanzig Stunden. Ich konnte ihn nicht vergessen und wollte es auch gar nicht.
War es meine verwirrende Sehnsucht nach diesem Menschen, die mich beim Erwachen dazu gebracht hatte, so intensiv an meinen Vater zu denken, als sei er nicht vor vielen Jahren gestorben, sondern erst vor ganz kurzer Zeit?
Resigniert wälzte ich mich hin und her und starrte dann zur Decke hoch. Victor hatte den Mond aus Holz geschnitzt und über unser Bett gehängt. Zu sehen, wie er etwas herstellte, hatte mir immer das Gefühl gegeben, ihm ein wenig näherzukommen, aber vielleicht war es ja ein Omen, dass einer der Sterne, die bisher den Mond umgeben hatten, vor wenigen Tagen von seinem Stahldraht gefallen war. Er war wie eine harte Sternschnuppe überraschend auf meinem Bett gelandet. Ich hatte ihn in der Hand gehalten und mich für keinen Wunsch entscheiden können. Eine intakte Familie? Weitere Begegnungen mit dem Mann, der mich so berührt hatte, dass ich beim bloßen Gedanken an ihn Wärme und Glück aufsteigen spürte? Oder die Möglichkeit, die Zeit zurückzudrehen, so dass ich niemals meinen ermordeten Vater auf unserem Karussell gefunden hätte?
Arbeit hilft, um die meisten Sorgen zu vertreiben, und in der stetigen Bewegung finde ich eine gewisse Ruhe. Aber in stillen Augenblicken kommen dann die Gedanken, und ab und zu dröhnt und lärmt es in meinem Kopf wie damals, als Papa begraben wurde und all die Lieder und die Musik in mich eindrangen.
Der Mord an Papa erregte Aufsehen, und im ganzen Land war davon die Rede. In Zeitungen, Radio und Fernsehen wurde von dem Karussellmord berichtet und über Tatsachen und mögliche Hintergründe spekuliert. Meine Schwestern und ich wussten das damals nicht, wir wussten nur, dass wir im Mittelpunkt großer Aufmerksamkeit standen. Uns wurde hinterherspioniert, Leute klopften an unsere Ladentür oder starrten hemmungslos das Karussell an.
Streifenwagen standen auf unserem Rasen, und wir und Mama wurden vernommen, zusammen mit Verwandten, Bekannten und Nachbarn. Aber niemand wurde jemals schuldig gesprochen, und am Ende gab es nur die vage Annahme, es sei ein untypisches Verbrechen, begangen von untypischen Menschen. Von Banden war die Rede, von Fremden und von »unschwedischer« Rache, davon, dass die Täter möglicherweise das Land verlassen oder bei »ihresgleichen« Zuflucht gesucht hatten.
Ich erinnere mich an das alles nur bruchstückweise, und die Tage scheinen ineinanderzufließen. Obwohl ich noch immer sehen kann, wie ich auf das Karussell zulaufe und Papa entdecke, ist das, was später geschah, in Nebel gehüllt. Sicher bin ich zurückgerannt und habe davon berichtet, was ich gesehen hatte, und vielleicht habe ich auch geschrien. Ich kann zudem Mamas Gesicht vor mir sehen, ihre wahnsinnige Verzweiflung, aber auch etwas, das ich im Nachhinein als Akzeptanz bezeichnen würde, so als sei sie auf das, was ich erzählen würde, schon vorbereitet gewesen.
Sie blieb ruhig und ließ das Böse nicht ihr schönes Gesicht zerstören. Sie war immer für uns da und bald auch für andere. Was sie das gekostet hat, weiß nur sie allein, und vielleicht habe ich deshalb meine ganze Kindheit hindurch akzeptiert, dass wir über alles reden konnten, auch über Papa, so lange es nicht um den Mord und die Einzelheiten des Mordes ging. Sie versicherte, wir seien nicht in Gefahr. Die Mörder würden niemals zurückkehren, und wir würden uns für den Rest unseres Lebens sicher fühlen können.
Ich war die Älteste, und meine Last war doppelt schwer - Papa entdeckt und ihn verloren zu haben. Mama wusste, dass ich von Visionen heimgesucht wurde, die meinen Schwestern erspart blieben. Sicher sah sie auch, dass ich die Rolle eines Ersatzelternteils auf mich nahm, und sie gab sich alle Mühe, mir das Leben zu erleichtern. Es war selbstverständlich, dass ich mich zu ihr schleichen und in Papas Bett schlafen durfte, wenn ich nachts aufwachte. Sie ließ das Bett dort stehen, und immer, wenn ich mich hineinlegte, hatte ich das Gefühl, mich für einen Moment in seiner Umarmung auszuruhen.
Unser Karussell mit seiner Bemalung und den Lampen, das seit über hundert Jahren im Besitz der Familie gewesen war, wurde von anderen gereinigt. Einige Wochen nach der Tragödie verließ meine Mutter den Laden und schaltete die Musik wieder ein. Wir näherten uns, ich zuletzt, als das gebrannte Kind, das ich nun war. Als wir uns dann jede auf ein Pferd setzten und uns zu den vertrauten Klängen im Kreis tragen ließen, ließen wir ein wichtiges Stück Trauer zurück. Unser Kleinod wurde abermals zu einer Art Zufluchtsort, und es kam vor, dass ich mich hinausschlich und mich auf das abgenutzte Holz setzte, in der Hoffnung, dass die Pferde ihr Geheimnis enthüllen würden. Aber sogar das Pferd, das meinen Vater auf seinem letzten Ritt getragen hatte, blieb stumm und sah mich nur traurig, mit glasigem Blick an, statt zu entschleiern, was sich an jenem Tag zugetragen hatte.
Das Schweigen breitete sich damals sehr schnell in unserem Ort und der Umgebung aus. Was hinter verschlossenen Türen und vorgezogenen Gardinen gesagt wurde, konnten wir ja nicht wissen, an unser Ohr gelangte jedenfalls überraschend wenig. Bestimmt wurden uns auch Trost und teilnehmende Worte zuteil, und bestimmt hat jemand den Arm um unsere Mutter gelegt und sie ermuntert, Bescheid zu sagen, wenn sie Hilfe brauchte, und bestimmt haben manche Leute uns angesehen und gedacht, »die armen Kinder«. Aber ich habe das alles nicht klar im Gedächtnis, ich erinnere mich nur an Mitgefühl, das nach einer Weile verschwand, und wer weiß, vielleicht war eine rasche Rückkehr in den Alltag für uns eine größere Hilfe als alles andere.
Alle schienen zu denken, dass das Geschehene nicht wieder zur Sprache gebracht werden sollte oder dürfte. Trotz der bestialischen Tat schien es wohl besser, gewisse Dinge zu den Akten zu legen und danach keine Spekulationen mehr anzustellen. Die Zeit heilt alle Wunden, und wenn sie das nicht tut, muss man eben behaupten, sie tue es. Wenn jetzt jemand gefragt würde, würden die Älteren, die sich noch daran erinnern, antworten, die Aufmerksamkeit, die der Ort damals auf sich gezogen hatte, habe gereicht. Als Nachbar, Bekannte oder Mitbürger Fragen beantworten zu müssen, wirkt auf die Dauer störend. Was soll man auch sagen, wenn man nichts weiß, außer dass es Verbrechen gibt, bei denen nichts fehlt bis auf den Täter, und Dinge, die man niemals begreifen kann und auch nicht begreifen will. Hier haben doch sonst immer nur anständige Menschen gewohnt, die nicht aufeinander schießen oder mit dem Messer aufeinander losgehen.
Es kam eine Zeit, ich war zwanzig Jahre alt und neugierig und wütend auf die Welt, als ich dann doch versuchte, mehr darüber in Erfahrung zu bringen, was damals passiert war. Meine Mutter hatte nichts aufbewahrt, bei uns gab es keine vergilbten Zeitungsartikel in den Schubladen, aber ich suchte in allerlei Archiven und las alles, was ich finden konnte. Was ich fand, hätte mir eigentlich neu sein müssen, aber seltsamerweise war das nicht der Fall. Vielleicht hatte ich im Unterbewusstsein gelauscht und mir zurechtgelegt, was ich damals gesehen und gehört hatte, um mich anschließend in der mir angebotenen Wahrheit einzukapseln. Ein Mord wie aus einem Theaterstück und ein Täter, der schon vor langer Zeit in den Schatten verschwunden war.
Ein pensionierter Polizist, der damals dabei gewesen war, erklärte sich bereit, mich zu treffen, aber auch er konnte mir nichts Neues erzählen. Alles, was sie damals gefunden und untersucht hatten, hatte sie zu der Überzeugung gebracht, dass der Mörder das Land so schnell wie möglich verlassen hatte. Der Polizist hatte sich seine Gedanken gemacht, natürlich hatte er das, aber er war nie zu einem anderen Ergebnis gekommen, und er fand, es wäre das Beste, die Sache einfach loszulassen. Das war viel verlangt, das verstand er nur zu gut, denn er hatte in all seinen Dienstjahren mehr gesehen, als man eigentlich ertragen kann. Aber einen anderen Rat konnte er mir nicht geben.
Ich erzählte meinen Schwestern von meinen privaten Nachforschungen, die eigentlich zu nichts geführt hatten. An jenem Abend sprachen wir lange über unseren Vater und darüber, wie sein Tod uns beeinflusst hatte, aber danach schien jede ihre Trauer wieder wegzustecken und zu verbergen.
Karolina hat mit in Rubriken einsortierten Zahlen Ordnung in ihrem Leben gehalten und flieht, wenn sie das braucht, mit ihrem Pinsel in die Welt der Phantasie. Die Dekorationen auf dem Sarg, in dem unser Vater damals lag, waren ihr Werk, und als alle daran vorbeizogen, verstand sie, obwohl oder weil sie erst sieben war, dass sein so oft zur Sprache gebrachter Wunsch, in einem Einzelstück begraben zu werden, von anderen geteilt wurde.
Karolina nahm sich diese Erkenntnis zu Herzen. Sie ist eine tüchtige Steuerprüferin, aber oft legt sie die Zahlen beiseite, um einem letzten Wunsch nach Dekorationen nachzukommen, die beweisen, dass dieser Mensch zumindest im Tod wagt, zu seinen vielleicht niemals verwirklichten Träumen zu stehen.
Elena hat sich entschieden, das zu backen, was zu ihrer Stimmung passt, und deshalb stiebt das Mehl auf und bildet um ihren Kopf einen Glorienschein. Sie hat einen Hafen in Form von Mann und Kindern, und dort kann sie vertäuen, aber auch den Anker lichten, wenn sie das braucht.
Eine Fensterscheibe klirrte im Wind und riss mich aus meinen Grübeleien. Kalter Wind traf mein Gesicht. Ich verkroch mich noch tiefer im Bett. Hätte ich in diesem Moment der Zeit einen Riss zufügen und darin verschwinden können, hätte ich es getan, aber die Zeitachse birgt keine Überraschungen dieser Art, sondern schiebt uns mit unerbittlicher, eindimensionaler Logik vorwärts. Bald würde die Kundschaft im Laden Bedienung verlangen, und niemand sollte erfahren, dass meine Gedanken über die Gegenwart alte Schlacke aus der Kindheit mit sich führten, so stinkend und schwarz wie der Sturm, der gerade vom Meer aufs Land trieb.
Kapitel 2
Am Ende beschloss ich, mich wenigstens an diesem Tag um einiges zu kümmern. Mit einer Teetasse setzte ich mich in eins der Schaufenster und versuchte, das dort aufgebaute Schloss herzurichten. Es war sicher zwanzig Jahre her, dass meine Mutter es zusammengesetzt hatte, und jetzt war es an der Zeit, sie um Hilfe bei der Restauration des Werkes zu bitten, falls ihre Hände dieser Anstrengung gewachsen wären. Ein Sonnenflecken ließ mich aufblicken, und ich entdeckte hinter der Fensterscheibe Karolina. An den Händen trug sie Handschuhe in unterschiedlichen Farben. Nichts an Karolina ist jemals symmetrisch. Träumen war immer schon ihr Lebenselixier, ihr Inneres ist das einzige Universum, in dem sie sich zurechtfindet.
Als wir noch Kinder waren, schwebte Karolina durch unsere Leben und verlangte nichts weiter, als sich in ihre eigene Welt einzupassen, wo auf Spiegeln Glasfiguren standen und sommers wie winters Kerzen brannten. Auf Karolinas Spuren standen Kühlschranktüren immer offen, in den Töpfen verdampfte das Wasser und verwandelte sie in rotglühende Höllengeräte, und vor der Wirklichkeit der Bilder gerieten Zeit und Raum in Vergessenheit. Sie saß noch mit Papier und Stiften in einer Ecke, wenn wir anderen schon weitergezogen waren, und wusste nicht, dass wir los wollten, egal, wie oft wir ihr das gesagt hatten.
Als kleines Mädchen hatte sie von unserem Vater einen Anhänger bekommen, ein Karussell mit einem kleinen Silberpferd, das an einer Stange befestigt war. Noch immer trägt sie das Karussell an einer Kette um den Hals, und ab und zu schließt sich ihre Hand darum in einer Geste, die zu einer für Karolina typischen Bewegung geworden ist.
Sie ging am Laden vorbei, ohne anzuhalten. Vielleicht glaubte sie, sich verirrt zu haben. Vor drei Jahren habe ich die Tür neu gestrichen, und Karolina hat sich an diese Veränderung noch immer nicht gewöhnt. Als sie eine halbe Stunde später zurückkam, hatte sie eine Tüte aus Elenas Bäckerei in der Hand. Sie legte die Tüte vor mich hin und nahm ein Rosinenbrötchen heraus.
»Du hast das Fenster aber schön dekoriert«, sagte sie.
»Dass dir das aufgefallen ist. Es geschehen eben noch Zeichen und Wunder.«
»Ich habe bei Elena Rosinenbrötchen gekauft«, sagte Karolina, ohne auf meine harmlose Stichelei einzugehen.
Langsam zog sie den Mantel aus. Darunter trug sie eine hauchdünne Bluse und einen Rock, der an keiner anderen Frau als ihr schön ausgesehen hätte. Ich öffnete die Tüte und sah, dass die Brötchen mit Herzen aus Puderzucker dekoriert waren - ein Zeichen dafür, dass Elena morgens offenbar in liebevoller Stimmung gewesen war. Ich musste dabei an unsere Mutter denken und fragte Karolina, wann sie zuletzt mit ihr gesprochen habe.
»Eben erst.«
»Wie geht es ihr?«
Karolina schaute zur Decke und sagte, sie habe ziemlich gut geklungen. Aber sie wolle auf jeden Fall noch persönlich bei ihr vorbeischauen.
Ich sah Mama vor mir. Sie saß in ihrer kleinen Seniorenwohnung, wo die sichere Ordnung sie ab und zu zu ersticken drohte.
»Und wie ging es Elena?«
»Ach, gut, aber sie kam mir ein bisschen aufgekratzt vor, als sie von diesem Mann erzählt hat.«
Meine jüngste Schwester hat die nervige Gewohnheit, mindestens einen Gedanken zu überspringen, wenn sie etwas erzählt. Sie kann die Folgen eines Ereignisses schildern, ohne das Ereignis erwähnt zu haben, und sie spielt mit den Namen von Fremden, als handele es sich um alte Bekannte.
»Welcher Mann?«
Karolina fing an, mit vielen Abschweifungen zu berichten, dass am Tag zuvor ein Mann Elenas Laden betreten hatte. Er sprach mit ausländischem Akzent Schwedisch und war erst vor kurzem hergezogen. Bei ihm herrschte Chaos, und deshalb wollte er ein fertiges Gericht kaufen. Warum er sich in der alten verlassenen Bäckerei niederlassen wollte, hatte Elena nicht in Erfahrung bringen können. Aber er wollte das Haus wieder herrichten. Was Karolina da erzählte, war um einiges interessanter, als ihr vager Tonfall annehmen ließ. Die ehemalige Dorfbäckerei stand seit vielen Jahren leer, aber niemand hatte je Interesse daran gezeigt, und Elena sagte oft, wenn sie dort ihr Brot backen müsste, würde alles anbrennen. Das ganze Haus hatte etwas Schwarzes und Verrußtes. Es wusste auch niemand so genau, wem es gehörte, und im Laufe der Zeit hatten wir uns alle so an den Anblick gewöhnt, dass wir es gar nicht mehr wahrnahmen. Ich hatte einmal aufgeschnappt, dass die Frau, die einst dort gewohnt und gearbeitet hatte, seltsam luftige Schokoküsse buk und eine schöne Tochter hatte. Jetzt wollte dort also ein Fremder einziehen. Falls man Karolina glauben durfte.
»War das alles, was du erfahren hast?«
»Jaaa ... glaub schon.«
»Oder hast du nach einer Weile das Zuhören vergessen?«
Karolina sagte, ich könne mich ja bei Elena erkundigen. Dann stieg sie ins Schaufenster und fing an, Figuren und Samtgras neu zu arrangieren. Sie hätte beinahe selbst zu dieser Märchenszene gehören können. Kein Wunder, dass die Männer, die in ihrer Nähe sein wollten, sie nicht hatten festhalten können. Einer hatte sie verlassen, als sie nach einigen Monaten ihrer Bekanntschaft morgens aufgewacht war und ihn mit einem Blick gemustert hatte, aus dem hervorging, dass sie keine Ahnung hatte, wer er war.
Mit just diesem Blick drehte sie sich jetzt um und schaute sich im Laden um. Dem Laden, in dem sie einen Großteil ihrer Kindheit verbracht hatte. Meine Kundschaft sieht Regale voller Teddybären und Blechspielzeug, Marionetten, die von der Decke hängen, Zinnsoldaten, Spieldosen, Märchenbücher, venezianische Masken, Lesezeichen, Theaterkostüme, Klötzchen und Bälle, Brett- und Kartenspiele und ein echtes hölzernes Karussellpferd, das offenbar so viele Kinder auf seinem Rücken getragen hat, dass die Farbe am Rücken abblättert und die Ohren nach zu hartem Zugreifen immer wieder repariert werden müssen.
Aber Karolina hätte auch das Karussellpferd sehen können, das vor hundert Jahren in vollem Tempo durch einen Wald gelaufen war, mit einem lachenden Jungen auf dem Rücken. Denn wenn sie dieses Gesicht macht, hat sie die konkrete Welt verlassen und sich in ihrer eigenen verkrochen.
Noch immer in ihren Phantasien verhaftet, schwebte sie aus dem Schaufenster und wiederholte zerstreut, dass sie unsere Mutter besuchen wolle. Die Türklingel bimmelte, als sie verschwand.
Ich stieg die Treppe zur Wohnung hoch, während mich wild gemischte Erinnerungen überkamen. Meine Eltern und wir drei Schwestern, das Geplauder und die lebhafte Gemeinschaft. Das Klingeln der Kasse, die Kommentare der Kundschaft, die Kinder, die ab und zu nach oben kamen, um mit uns zu spielen, das Spielzeug, das verschwand, um den Alltag anderer glücklicher zu gestalten. Papas Tod, Mamas Umzug, Victor und ich und Teresa, die wir das Haus zu unserem machten.
Und jetzt. Nur ich.
Mit leichtem Unlustgefühl setzte ich mich vor den Rechner und öffnete einige Dokumente. Danach klickte ich die Mail herauf und begann erneut.
Betreff: Ein verwirrter Traum
Hallo, Ivo! Danke für Deine schöne Mail. Das mit Deiner Vorstellung klingt spannend. Ich habe sofort Lust, in kleinerem Maßstab etwas Ähnliches zu versuchen.
Ein wenig förmlich, nur um zu verbergen, wie sehr ich mich nach einem Lebenszeichen gesehnt hatte. Ich ließ die Wange in meiner Handfläche ruhen und blinzelte kurz, ehe ich weiterschrieb.
Ich habe das von Dir geschriebene Märchen mit großer Begeisterung gelesen. Die Illustrationen regen die Phantasie an. Lustig, dass die Gestalten ihre Eigenschaften getauscht zu haben scheinen. Die des Traumes, der verwirrt und berauscht aussah, während er noch anhielt. Die des Bechers, der wie ein Traum schien. Das Schicksal, das wie der Tod aussah. Apropos verwirrt, eben war meine Schwester Karolina hier. Sie hat erzählt, dass wir im Ort einen interessanten Neuzugang haben. Ein geheimnisvoller Fremder hat offenbar vor, sich in unserer alten Bäckerei niederzulassen. Die ist ein echtes Spukhaus. Wenn wir bedenken, wie sehr ich für geheimnisvolle Fremde schwärme, ist das doch spannend. Ich muss jetzt den Laden öffnen, werde aber bald mehr schreiben. Pass auf Dich auf. Mariana. Pass auf dich auf. Entschlossen griff ich zum neuesten Geschäftsbericht, den Karolinas mathematischer Teil vor einigen Tagen angefertigt hatte. Als die Zahlen mich lange genug zur Närrin gehalten hatten, kam wieder ein Pling.
Wenn wir bedenken, wie sehr Du für geheimnisvolle Fremde schwärmst, solltest Du vorsichtig sein!
Ich schaltete den Rechner aus und ging nach unten. Als ich das Schild in der Tür umdrehte, um anzuzeigen, dass geöffnet war, begriff ich, warum Elena ihre Rosinenbrötchen mit Herzchen geschmückt hatte. Genau wie ich ist sie die Tochter ihrer Mutter, und auf diese Weise versucht sie, mit guten Symbolen eine heraufziehende Gefahr abzuwehren. Der Besuch des Fremden hatte sie beunruhigt. Das wusste ich, so sicher, wie ich wusste, dass sie das nie im Leben zugeben würde, wenn ich sie danach fragte.
Kapitel 3
Ich finde oft Gründe, an das Märchen vom Fischer un siner Fru zu denken. Der Mann fängt in seinem Netz einen Fisch, der um sein Leben bittet und sich als verwunschener Prinz ausgibt.
Der Mann schenkt dem Fisch das Leben und geht zu seiner Frau nach Hause. Die beiden wohnen in einem »Pisspott«, und als die Frau hört, was passiert ist, bittet sie ihren Mann zurückzugehen und sich zum Dank für seine Barmherzigkeit etwas zu wünschen. Immer bedrückter muss der Mann wieder und wieder den Strand aufsuchen und den Fisch rufen, der alle Wünsche erfüllt und die Frau zuerst zur reichen Bäuerin, dann zu König, Kaiser und Papst macht.
Doch als sie dann Gott werden will, folgt ein Ende mit Schrecken. Der Fischer un sine Fru sitzen wieder in ihrem Pisspott, und wenn sie nicht gestorben sind, so sitzen sie dort noch heute. Die gierige Frau wird bestraft, doch die Strafe trifft auch ihren Mann, der es nicht wagt, sich seiner Frau zu widersetzen, als sie verlangt, dass er ihrer Habsucht nachgibt. Feigheit ist, mit anderen Worten, eine ebenso große Sünde wie Habgier, und was hilft es dem Opfer, wenn der Mitläufer ein gutes Herz hat.
Das Meer prägt die Stimmung im Märchen und wird immer wütender, während die Wünsche immer unverschämter werden. Auf dieselbe Weise prägt das Meer unser Dorf, ob wir das nun wollen oder nicht. Wir sind nie weit entfernt vom Geruch des Salzes, vom Rauschen der Wellen oder dem gierigen Geschrei der Möwen. Wenn ich meine Wege gehe, das Gesicht zum Schutz gegen den Wind halb bedeckt oder zu den Wolken gewandt, wenn die Sonne hervorlugt, komme ich früher oder später zu einem Felsen oder einer Bucht und gerate ins Staunen, als wäre ich hier zum ersten Mal.
Die Sehnsucht nach diesem Gefühl bringt mich oft dazu, das »Offen«-Schild umzudrehen und wegzugehen, und um die Mittagszeit tat ich genau das. Nach kurzer Zeit drehte ich mich um und betrachtete mein eigenes Schloss, den Laden mit seinen Schätzen und mit Fenstern, die an diesem Tag wie zwei Katzenaugen leuchteten.
So hatten meine Eltern es gewollt. Der Laden sollte ein Zufluchtsort sein. Die Menschen sollten hereinkommen und Wetter oder Missmut abschütteln, ehe sie sich mit allerlei Spielen beschäftigten. Mein Vater konnte Marionetten vorführen, während meine Mutter im Kreis von Kindern vorlas. Ich habe versucht, diesen Geist zu bewahren, auch wenn es ein Balanceakt zwischen Traditionsbewahrung und Nostalgie ist. Aber dass der Laden gut läuft und normale Kundschaft ebenso anlockt wie Sammler, muss ja wohl bedeuten, dass es noch immer Platz für das gibt, was die Menschen im Laufe der Geschichte unterhalten hat. Und es ist ein offenes Geheimnis, dass ich unter dem Ladentisch ausgewählte Computerspiele anbiete. Solche, die die Märchen weiterführen oder sie in etwas verwandeln, das ursprünglich und neu zugleich ist.
Unser Ort ist nicht groß, und es fragt sich, ob er im Sommer oder im Winter schöner ist. Ich sah, wie der ängstliche Sonnenschein sich vorsichtig über das Feld bewegte, und ich dachte daran, dass der Anblick des Strandes bald von provisorischen Geschäften und Restaurants geprägt sein würde, während sich die Straßen mit Touristen füllten, die zwischen den Kleidern herumwühlten, essen gingen und den Vögeln unten bei den Booten Krümel hinwarfen. So einsam, wie es hier im Winterhalbjahr ist, so hektisch wird es im Sommer, der nur für einige Wochen tanzt und dann zu Ende ist. Es sieht sicher aus wie eine Schweizer Kuckucksuhr, wenn wir alle aus dem Loch springen und zwitschern, ehe wir uns wieder ins Uhreninnere zurückziehen und einfach warten müssen.
Die Ausländer, die im Winter im Laden vorbeischauen, fragen oft, wie es möglich ist, in dieser Dunkelheit zu leben. Die meisten Menschen auf der Welt leben dort, wo es warm ist. Sind wir denn nicht alle dazu geschaffen? Ich antworte dann immer, dass wir hier im Norden ein tapferer Menschenschlag sind. Dass es vielleicht nie geplant war, auch diese Breitengrade zu bevölkern. Dass sich ein in die Irre gegangenes Exemplar des Homo sapiens vielleicht irgendwann einmal von der Mitternachtssonne hat blenden lassen und geblieben ist, in der Hoffnung, eine solche Nacht noch einmal zu erleben.
Aber natürlich hat mich die Sehnsucht nach Wärme, Spontaneität und anderen Gewohnheiten schon oft dazu gebracht, hier weggehen zu wollen. Und dann habe ich es Karolina und Elena überlassen, sich um den Laden zu kümmern, während ich zu Messen oder in Länder gereist bin, wo ich in Antiquitätenläden, Werkstätten oder Antiquariaten Schätze finden konnte. Ab und zu habe ich mich in ein Haus, ein Dorf, eine Wohngegend oder eine Stadt verliebt und mit dem Gedanken gespielt, dass ein anderes Leben möglich sein könnte.
Danach bin ich mit der Gewissheit zurückgekehrt, dass die Augen meines Vaters mir immer folgen werden und dass ich mich hier ebenso verteidigen kann wie anderswo. Zumal man nicht einfach so ein Karussell in einen Rucksack packt und den dann über seine Schulter wirft. Es mitzutransportieren würde bedeuten, auf andere Weise zu reisen, ein Leben zu leben, das meine Familie gelebt hat, von dem ich aber nicht mehr weiß, ob ich ihm gewachsen wäre.
Jahr für Jahr reisten meine Großeltern mit dem Karussell und mit ihren Spielwaren durch Europa. Drei, vier Tage an einem Ort, Auftritte an zufälligen Vergnügungsorten oder auf Jahrmärkten. Sie hatten keine Nationalität, nur eine Bescheinigung zur Vorlage bei den lokalen Behörden, und das ging gut bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs, als Zirkusleute und andere Fahrende sich entscheiden mussten. Meine Großeltern befanden sich damals im deutsch-französischen Grenzgebiet. Sie warfen eine Münze und wurden Deutsche.
Nach Schweden gelangten sie dann im nächsten Weltkrieg, als mein Vater dreizehn war. Sie blieben einige Jahre, dann gingen sie fort, aber die Erinnerungen an dieses vergleichsweise friedliche Land im Norden waren offenbar so gut, dass die Familie nach einigen Jahren Nachkriegswanderschaft in einem zerstörten Europa wieder zurückkehren wollte.
Hier fanden sie das Haus mit dem Garten, der riesigen Scheune und dem großen Rasen, wo es möglich war, das Karussell im Winter einzulagern und es im Sommer aufzubauen und in Betrieb zu nehmen. Dass sie Bomben und Schüssen unversehrt entkamen, ist ein ebensolches Wunder wie all die beliebten Berichte von Menschen, die vor dem sicheren Tod gerettet worden sind. Mit den Dingen, die sie noch hatten, eröffneten sie den Laden und vergrößerten mit den Jahren ihr Angebot. Mein Vater reiste noch weiter, kehrte aber immer zu seinen Eltern zurück, um im Geschäft zu helfen.
Er war um die vierzig und dachte nicht daran, sesshaft zu werden, als er bei einem Besuch meine Mutter kennenlernte. Sie betrat den Laden und verliebte sich, eine Fischertochter, verhext von Marionetten und erwiderter Liebe. Es regnete bei ihrer Hochzeit, aber an dem Tag, an dem sie den Spielwarenladen übernahmen, strahlte die Sonne.
Ich schüttelte diese alten Gedanken ab, merkte, dass ich im Gehen Selbstgespräche geführt hatte, kletterte auf einen Felsen und sah das erzürnte Meer. Wutschaum krönte die Wellen, und einige Boote rissen und zerrten an ihren Vertäuungen. Beim Haus des Segelvereins lagen Schwimmwesten und Planen wild durcheinander auf dem Boden. Die Steine waren glatt, als ich den Weg einschlug, über den die Jugendlichen der Gegend wandern, egal, wie betrunken sie freitagabends auch sein mögen. Die ein Stück weiter draußen gelegenen Inseln sahen verlassen aus, und in der Nachbarbucht kauerten sich die Fischerbuden zusammen. Der Sturm hatte, wie ich vermutet hatte, den Sandstrand mit schwarzem Tang bedeckt, der bald aber weggeschwemmt und dann durch neuen ersetzt werden würde. Der Vorrat war unerschöpflich.
Bei der Wegkreuzung bog ich in Richtung Dorf ab. Kürzlich war ein weiterer Weg asphaltiert worden, und das Klappern meiner Schuhe mischte sich unter das Dröhnen eines vorüberfahrenden Zuges. Die Gerüchte, dass wir einen neuen Bahnhof bekommen sollen, sind diskutiert worden, als sei von einem königlichen Besuch die Rede, aber noch weiß niemand etwas Genaues, nicht einmal der Gemeindevorstand.
Aber die Landstraße ist nicht weit entfernt. Autos voller Menschen, die den Strand, Erholung, ein antikes Spielzeug oder Rosinenbrötchen mit Zuckerherzchen suchen, können die Straße ganz einfach verlassen und zu uns abbiegen.
Schon aus der Ferne sah ich den Möbelwagen. Kein Mensch war in der Nähe. Die alten Holzbuchstaben, die mitteilten, dass es hier einst eine Bäckerei gegeben hatte, waren noch immer an der Wand befestigt, die Spitzengardinen aus den Fenstern waren jedoch verschwunden. Als auf mein Klopfen niemand reagierte, drückte ich die Klinke und stellte fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Elena wäre jetzt mit offenen Augen hineingegangen, Karolina mit halb geschlossenen. Ich blieb in der Türöffnung stehen. Das Erdgeschoss bestand aus zwei Räumen, einer war mit einem alten Tresen und einigen verschlissenen Regalen möbliert, der andere enthielt die Reste einer Küche. Eine Plastikfliese hatte sich gelockert, und die Treppe ins Obergeschoss schien kurz davor zusammenzubrechen.
Der Mann, der hier einziehen wollte, war nicht zu Hause. Entweder er gehörte zu denen, die von allen nur Gutes glauben, oder er hatte das Haus in der Gewissheit nicht abgeschlossen, dass es nichts zu stehlen gab. Ich dachte an Teresa und daran, dass ich ihr von dem Neuankömmling erzählen müsste. Als kleines Kind hatte sie dieses Haus immer bestaunt, und ich hatte aus einem Impuls heraus erzählt, hier träfen sich Elfen und Schwarzalben und täten sich an Kuchenkrümeln gütlich. Als Elena ihre Bäckerei eröffnet hatte, war sie nie auch nur auf den Gedanken gekommen, sie könnte ihre Arbeit in einem dermaßen ungastlichen Haus verrichten.
Ein plötzliches Unbehagen trieb mich wieder nach draußen, und ein kühler Regen beschleunigte meine Schritte, woraufhin ich fast mit einem älteren Mann zusammengestoßen wäre. Als er unter seinem Südwester aufschaute, erkannte ich Torsten, der mit George, seinem Hund und ständigem Begleiter, unterwegs war. Dass die beiden immer um fast die gleiche Tageszeit loszogen, war fast so sicher wie das Amen, das ab und zu aus unserer ökumenischen Kirche zu hören ist. Sie hatten drei Routen zur Auswahl, und dieser Weg gehörte zu zwei von ihnen.
»Hallo, Torsten. Ich bin's, Mariana.«
Ich ging in die Hocke, machte eine scherzhafte Bemerkung über das Hundewetter und kraulte George hinter den Ohren. Er war ein großer Schäferhund und hieß, vielleicht wegen seines Scharfblicks, nach George Orwell. Torsten streckte die Hand aus, und ich nahm sie, während ich versuchte, mir mit der anderen die wild herumpeitschenden Haare aus dem Gesicht zu halten.
Er ist fast blind, kann nur Hell und Dunkel noch unterscheiden. Aber seine Angst vor dem Daheimbleiben treibt ihn auf seine Wanderungen. Seine weite Regenjacke war falsch geknöpft, aber das sagte ich nicht. Früher einmal musste man mit ihm rechnen, und es ist eine Qual für ihn, dass Körper und Geist die Anstrengungen nicht mehr ertragen, denen sie seiner Ansicht nach gewachsen sein müssten.
»Ach du, du bist bei diesem Wind unterwegs? Ich vermute, dass hier und da die Ziegel heruntergekommen sind. Und dass Bäume umgeweht wurden. Warst du bei deiner Mutter?«
»Nein, ich wollte nur mal kurz raus. Ich muss bald zurück. «
»Wie geht es ihr denn?«
»Es geht ihr ziemlich gut, aber das ändert sich von Tag zu Tag immer mal.«
»Ja. So ist es eben. Wie sieht es denn unten in der Bucht aus?«
Der Wind trieb ihm die Tränen in die Augen, und die Haut an seinen Händen war gelblich bleich und trocken. Torsten trägt niemals Handschuhe und behauptet, seine Finger seien immer warm und dass es doch schön sei, wenn einige Körperteile noch immer vorschriftsgemäß funktionieren. Ich schilderte, wie es am Strand aussah und dass die Wellen schon fast einen alten Steg zerfressen hätten. Darum müssten die Handwerker sich wohl bald kümmern. Torsten lächelte vielsagend.
»Wenn sie dazu kommen. Denn bald werden sie vielleicht eine andere Beschäftigung finden. Draußen bei Jan ist fast alles so weit. Und jetzt scheint es noch andere zu geben, die Hilfe brauchen.«
»Meinst du den Mann, der in die alte Bäckerei gezogen ist?«
Er sah so enttäuscht aus, dass ich ganz schnell hinzufügte, dass ich wirklich nicht mehr wüsste als das Wenige, das die Gerüchte verbreitet hatten.
»Ich bin eben gerade da vorbeigegangen. Aber es war offenbar niemand zu Hause. Du weißt sicher mehr, also tu jetzt nicht so geheimnisvoll.«
Torsten wühlte in seiner Tasche, zog etwas für seinen Hund hervor und ließ es auf den Boden fallen.
»Nun, ich war am Sonntag im Gottesdienst.«
»Und war das erbaulich?«
»Was heißt schon erbaulich, dumm war es sicher nicht. Es ist doch egal, was man macht. Und danach haben die Klatschtanten darüber geredet, dass die Kerle in der Sägemühle Besuch von einem Mann hatten, der sich nach Baumaterial erkundigen wollte. Der Mann kommt offenbar aus den USA und will eine Weile hier wohnen, um ein Buch zu schreiben.«
»Was denn für ein Buch?«
»Darüber schweigt die Geschichte. Und was zum Teufel kann man denn hier zu schreiben finden, wenn man in den USA wohnt? Das ist ja wohl total daneben. Das einzig Spannende, was wir hier vorzeigen können, ist dein Laden, und den ganzen Weg herzukommen, nur um darüber zu schreiben ... ja, du weißt schon, was ich meine. Aber wir können hier wirklich frisches Blut brauchen. Die Umzugswagen fahren ja sonst in die Gegenrichtung. Aber du frierst, also mach jetzt, dass du ins Warme kommst.«
Er streckte wieder die Hand aus und wanderte dann mit George weiter. Auch ich setzte mich in Bewegung. Unser Ortszentrum besteht aus zwei Lebensmittelläden, einer Bankfiliale und einer Apotheke, einem Optiker und einem Bekleidungsgeschäft. Es gibt auch saisonbedingte Geschäfte für Möbel und Ziergegenstände, die am Ende des Sommers dichtmachen. Die Pizzeria und der Chinese bleiben offen, während die übrigen Restaurants in der kalten Jahreszeit ebenfalls schließen. Einige ihrer Besitzer verlagern ihre Tätigkeit auf den Fischwagen und fahren den frischen Fang aus.
Elenas Bäckerei liegt am Marktplatz, und wie ich wohnt sie über dem Laden und kennt keinen Unterschied zwischen
Arbeit und Freizeit. Oft steht sie um vier Uhr morgens auf, um Brot und Brötchen zu backen, die sofort verkauft werden, sowie sie den Laden öffnet. Sie hat im Winter fast genauso viel zu tun wie im Sommer. Die dunkle Jahreszeit bietet wenig Zerstreuung, und dann kann frisches Gebäck ebenso gut zur Befriedigung dienen wie etwas anderes.
Ich lief über den Marktplatz und sah, dass das ganze Zentrum wie verlassen dalag, sogar der Parkplatz und die Fahrradständer. Elenas Schaufenster leuchtete immerhin einladend, und darin thronte eine Pyramide aus Rosinenbrötchen mit Zuckerherzen, die ich ja schon kannte. Daneben stand eine Hochzeitstorte. Die Braut lächelte starr neben ihrem Bräutigam, und unter einem Baiserblatt verbarg sich ein gebrochenes Kuchenherz.
Vielleicht sollte Elena das lieber wegnehmen. Sie weicht nicht gern zurück, hat aber Verstand genug, um ihre Kämpfe sorgfältig abzuwägen. Takt war noch nie die Stärke meiner Schwester. Sie zieht Ehrlichkeit vor, was befreiend und schmerzlich sein kann. Der Glaube daran, dass die Wahrheit alles wiedergutmacht, muss nicht unbedingt zutreffen, auch wenn Elena ihn sich zu eigen gemacht hat.
Sie stand auf einer Leiter und kehrte mir den Rücken zu, und als sie sich auf die Zehen stellte, konnte ich ihre Waden bewundern. Ihre bloßen Füße sind die ersten Frühlingsboten hier im Dorf, zusammen mit Schneeglöckchen und dem Geruch von Pferdeäpfeln aus dem Stall. Ich schlich mich in den Laden und hatte die Leiter schon zum Wackeln gebracht, ehe sie mich bemerkte. Sie schrie auf und klammerte sich an das Regalfach. Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht, aber sie wagte nicht loszulassen und sie wegzustreichen.
»Ich fand, es sah aus, als ob du von Liebe träumtest.«
Elena kletterte von der Leiter und fauchte, sie sei im Gegenteil klar bei Verstand. Gleich darauf fragte sie, ob ich schon gegessen hätte. Obwohl ich die Älteste bin, kommandiert Elena mich gern herum, und ehe ich mich's versah, hielt ich plötzlich eine Tasse heiße Schokolade in der Hand. Aber ich lasse mich gern von ihr verwöhnen. Ab und zu lohnt es sich, sie bestimmen zu lassen, in anderen Fällen sollte man ihr diese Illusion lassen.
Ihre Bäckerei bot genau die Wärme, die Torsten mir gewünscht hatte. Die Regale waren gefüllt mit Brötchen, und im Tresen lagen süße Backwaren und Kuchen aller Art und Farbe. Auf jedem der drei kleinen Tische am Fenster stand eine Kerze in einem Leuchter, und auf einem Tisch verriet eine leere Tasse, dass sich schon vor mir jemand vor der Kälte hierhergeflüchtet hatte.
Ich trocknete mir mit einem Handtuch die Haare ab und merkte zu spät, dass es mehlig war. Elena fragte nicht, wieso ich unterwegs sei. Sie dreht wie ich ab und zu das Ladenschild um, weil sie das Gefühl braucht, unterwegs zu sein.
»Komm. Setz dich. Hier. Hast du was von Victor gehört?«
Ich nahm das Brot, das sie mir hinstellte. Als ich aufschaute und sah, wie sie die Stirn runzelte und die Lippen zusammenkniff, wusste ich, dass sie keine Gnade kennen würde, wenn ich auch nur den geringsten Krümel übrig ließ oder die Wahrheit frisierte.
»Es scheint ihm gutzugehen. Er wird endlich so geschätzt, wie er glaubt, es verdient zu haben und es zu Hause nie erlebt hat, er wird besser bezahlt, und das Haus, das sie gemietet haben, gefällt ihm gut. Er hat nette Nachbarn, das Wetter ist zuverlässig, und Teresa ist bei ihm. Und auch sie ist zufrieden. Viel mehr kann er sich doch nicht wünschen.«
© der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by BTB Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Maria Ernestam
Maria Ernestam, geb. 1959, begann ihre Laufbahn als Journalistin. Sie hat lange Jahre als Auslandskorrespondentin für schwedische Zeitungen in Deutschland gelebt, daneben eine Ausbildung als Tänzerin, Sängerin und Schauspielerin absolviert. In Schweden sind mittlerweile drei hoch gelobte Romane von ihr erschienen. Maria Ernestam lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Stockholm.Dr. Gabriele Haefs studierte in Bonn und Hamburg Sprachwissenschaft. Seit 25 Jahren übersetzt sie u.a. aus dem Dänischen, Englischen, Niederländischen und Walisischen. Sie wurde dafür u.a. mit dem Gustav- Heinemann-Friedenspreis und dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, 2008 mit dem Sonderpreis für ihr übersetzerisches Gesamtwerk. 2011 wurde Gabriele Haefs als Königlich Norwegische Ritterin des St.Olavs Ordens in der Norwegischen Botschaft in Berlin ausgezeichnet u.a. für ihre Übersetzungen, für die Vermittlung von norwegischen Büchern nach Deutschland sowie für das Knüpfen von Kontakten im Kulturbereich ganz allgemein.
Bibliographische Angaben
- Autor: Maria Ernestam
- 2013, 416 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Haefs, Gabriele
- Übersetzer: Gabriele Haefs
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442746574
- ISBN-13: 9783442746576
- Erscheinungsdatum: 11.11.2013
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