Engelslicht
Diese Liebe bringt die Welt ins Wanken
"Engelslicht" ist der vierte und letzte Band der Engelssaga um Luce und Daniel: Luzifer will die Welt endgültig vernichten. Nur neun Tage bleiben ihnen, um seinen Plan zu vereiteln. Gemeinsam machen Luce,...
"Engelslicht" ist der vierte und letzte Band der Engelssaga um Luce und Daniel: Luzifer will die Welt endgültig vernichten. Nur neun Tage bleiben ihnen, um seinen Plan zu vereiteln. Gemeinsam machen Luce,...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Engelslicht “
Diese Liebe bringt die Welt ins Wanken
"Engelslicht" ist der vierte und letzte Band der Engelssaga um Luce und Daniel: Luzifer will die Welt endgültig vernichten. Nur neun Tage bleiben ihnen, um seinen Plan zu vereiteln. Gemeinsam machen Luce, Daniel und ihre Mitstreiter sich auf die Suche nach drei unschätzbar wertvollen Reliquien. Sollten sie diese rechtzeitig zum Berg Sinai bringen, haben sie noch eine Chance. Doch die Zeit läuft ihnen davon und der letzte Kampf erfordert große Opfer, denn auch Engel können sterben ... Und Luce versteht endlich, wer sie ist. Eine Erkenntnis, die alles für immer verändert. Auch für die unendliche Liebe zwischen Daniel und Luce.
"Engelslicht" ist der vierte und letzte Band der Engelssaga um Luce und Daniel: Luzifer will die Welt endgültig vernichten. Nur neun Tage bleiben ihnen, um seinen Plan zu vereiteln. Gemeinsam machen Luce, Daniel und ihre Mitstreiter sich auf die Suche nach drei unschätzbar wertvollen Reliquien. Sollten sie diese rechtzeitig zum Berg Sinai bringen, haben sie noch eine Chance. Doch die Zeit läuft ihnen davon und der letzte Kampf erfordert große Opfer, denn auch Engel können sterben ... Und Luce versteht endlich, wer sie ist. Eine Erkenntnis, die alles für immer verändert. Auch für die unendliche Liebe zwischen Daniel und Luce.
Klappentext zu „Engelslicht “
Diese Liebe bringt die Welt ins Wanken"Engelslicht" ist der vierte und letzte Band der Engelssaga um Luce und Daniel: Luzifer will die Welt endgültig vernichten. Nur neun Tage bleiben ihnen, um seinen Plan zu vereiteln. Gemeinsam machen Luce, Daniel und ihre Mitstreiter sich auf die Suche nach drei unschätzbar wertvollen Reliquien. Sollten sie diese rechtzeitig zum Berg Sinai bringen, haben sie noch eine Chance. Doch die Zeit läuft ihnen davon und der letzte Kampf erfordert große Opfer, denn auch Engel können sterben ... Und Luce versteht endlich, wer sie ist. Eine Erkenntnis, die alles für immer verändert. Auch für die unendliche Liebe zwischen Daniel und Luce.
Lese-Probe zu „Engelslicht “
Engelslicht von Lauren KateProlog
Im Fall
... mehr
Zuerst war da Stille ...
In dem Raum zwischen dem Himmel und dem Sturz, weit in der unendlichen Ferne, gab es einen Augenblick, da das herrliche Summen des Himmels verstummte und durch eine Stille ersetzt wurde, die so absolut war, dass Daniels Seele angestrengt auf den leisesten Laut horchte.
Dann war ihm, als würde er fallen - ein Sturz, den nicht einmal seine Flügel verhindern konnten, als hätte der Thron Monde an ihnen befestigt. Sie waren kaum zu bewegen, und wenn doch, hatten sie keinen Einfluss auf seinen Sturz.
Wohin fiel er? Es war nichts vor ihm und nichts hinter ihm. Nichts oben und nichts unten. Nur undurchdringliche Dunkelheit und der verschwommene Umriss von dem, was von Daniels Seele übrig war.
In der Lautlosigkeit übernahm seine Fantasie das Kommando. Sie füllte seinen Kopf mit etwas Unausweichlichem: den quälenden Worten von Lucindas Fluch.
Sie wird sterben ... sie wird niemals ins Erwachsenenalter eintreten - sie wird wieder und wieder und wieder sterben, in genau dem Moment, in dem sie sich an deine Entscheidung erinnert.
Ihr werdet niemals wirklich zusammen sein.
Es war Luzifers üble Verwünschung, seine verbitterte Ergänzung des Urteils, das der Thron auf der himmlischen Wiese gesprochen hatte. Jetzt kam der Tod seine Liebste holen. Konnte Daniel ihn aufhalten? Würde er ihn überhaupt erkennen?
Denn was wusste ein Engel schon vom Tod? Daniel hatte erlebt, wie er friedlich zu einigen Menschen gekommen war, wie man die neue sterbliche Rasse nannte, aber der Tod betraf die Engel nicht.
Tod und Erwachsenenalter: die beiden absoluten Werte in Luzifers Fluch. Keiner von beiden sagte Daniel etwas. Er wusste nur, dass die Trennung von Lucinda eine Strafe war, die er nicht ertragen konnte. Sie mussten zusammen sein.
»Lucinda!«, rief er.
Bei dem bloßen Gedanken an sie hätte ein wohliges Gefühl in seiner Seele aufsteigen sollen, aber da war nur der Trennungsschmerz, ein Übermaß von dem, was nicht war.
Er hätte seine Brüder um sich herum spüren müssen - all jene, die sich falsch oder zu spät entschieden hatten, die überhaupt keine Wahl getroffen hatten und wegen ihrer Unentschlossenheit verstoßen worden waren. Er wusste, dass er nicht wirklich allein war. So viele von ihnen waren in die Tiefe gestürzt, als die Wolken sich über der Leere aufgetan hatten.
Aber er konnte niemanden sehen noch spüren.
Er war nie zuvor allein gewesen. Jetzt kam er sich wie der letzte Engel aller Welten vor.
So darfst du nicht denken. Du wirst dich verlieren.
Er versuchte, es vor sich zu sehen ... Lucinda, den Namensaufruf, Lucinda, die Entscheidung ... aber während er fiel, wurde es schwerer für ihn, sich zu erinnern. Was zum Beispiel waren die letzten Worte, die der Thron gesprochen hatte ...
Die Tore des Himmels ...
Die Tore des Himmels sind ...
Er wusste nicht mehr, wie es weiterging. Er entsann sich nur noch schwach, wie das große Licht geflackert und eine bittere Kälte sich über der Wiese ausgebreitet hatte, wie die Bäume im Obstgarten ineinander gestürzt waren und Wellen heftiger Turbulenzen ausgelöst hatten, die im ganzen Kosmos zu spüren gewesen waren, Wolkentsunamis, die die Engel geblendet und ihre Herrlichkeit vernichtet hatten. Da war noch etwas anderes gewesen, kurz vor der Zerstörung der Wiese, etwas wie ein ...
Zwilling.
Ein kühner, strahlender Engel war während des Namensaufrufs emporgeschwebt und hatte gesagt, er sei Daniel, der aus der Zukunft zurückgekommen sei. Da war eine Traurigkeit in seinen Augen gewesen, die so ... alt ausgesehen hatte. Hatte dieser Engel - diese Version von Daniels Seele - sehr gelitten?
Hatte Lucinda gelitten?
Ein gewaltiger Zorn stieg in Daniel auf. Er würde Luzifer finden, den Engel, der in der Sackgasse aller Ideen lebte. Daniel fürchtete den Verräter nicht, der einst der Morgenstern gewesen war. Daniel würde Rache nehmen, wo und wann auch immer dieses Vergessen ein Ende hatte. Aber zuerst würde er Lucinda finden, denn ohne sie war alles bedeutungslos. Ohne ihre Liebe ging gar nichts.
Ihre Liebe war von der Art, die es unvorstellbar machte, sich für Luzifer oder den Thron zu entscheiden. Die einzige Seite, die er jemals wählen konnte, war ihre. Daher würde Daniel jetzt für diesen Entschluss bezahlen, aber er wusste noch nicht, welcher Art seine Strafe sein würde. Nur dass Lucinda von dem Ort verschwunden war, an den sie gehörte: seiner Seite.
Plötzlich durchzuckte Daniel der Schmerz der Trennung von seiner Seelengefährtin mit brutaler Schärfe. Er stöhnte lautlos, sein Verstand trübte sich, und mit einem Mal konnte er sich nicht mehr daran erinnern, warum. Es machte ihm Angst.
Er stürzte weiter, tief hinunter durch dichtere Schwärze.
Er konnte nichts mehr sehen oder fühlen oder sich daran erinnern, wie er hier im Nirgendwo gelandet war, durch das Nichts rasend - wohin? Für wie lange?
Erinnerungsfetzen tauchten auf und verschwanden. Es wurde immer schwerer, sich an die Worte zu erinnern, die der Engel auf der weißen Wiese gesprochen hatte, der Engel, der so große Ähnlichkeit gehabt hatte mit ...
Wem hatte der Engel ähnlich gesehen? Und was hatte er gesagt, das so wichtig war?
Daniel wusste es nicht, wusste überhaupt nichts mehr.
Nur dass er durch eine endlose Leere stürzte.
Er war erfüllt von dem Drang, etwas zu finden ... jemanden.
Dem Drang, sich wieder ganz zu fühlen ...
Aber da war nur Dunkelheit in der Dunkelheit ...
Stille, die seine Gedanken übertönte ...
Ein Nichts, das alles war.
Daniel fiel.
Eins
Das Wächteramt der Engel
»Guten Morgen.«
Eine warme Hand strich Luce übers Gesicht und schob ihr eine Haarsträhne hinters Ohr.
Sie rollte sich auf die Seite, gähnte und öffnete die Augen. Sie hatte tief geschlafen und von Daniel geträumt.
»Oh«, stieß sie hervor und betastete ihre Wange. Da war er.
Daniel saß neben ihr. Er trug einen schwarzen Pullover und den roten Schal, wie damals, als sie ihn in der Sword & Cross das erste Mal gesehen hatte. Er sah besser aus als ein Traum.
Sein Gewicht ließ den Rand des Feldbetts ein wenig einsinken, und Lucinda zog die Beine an, um sich enger an ihn zu kuscheln.
»Du bist kein Traum«, sagte sie.
Daniels Augen waren müder als gewöhnlich, aber sie strahlten trotzdem in einem leuchtenden Violett, als er sie anschaute und ihre Züge musterte, als sähe er sie zum ersten Mal. Er beugte sich vor und drückte seine Lippen auf ihre.
Luce schmiegte sich an ihn und schlang ihm die Arme um den Hals, glücklich, seinen Kuss zu erwidern. Seine ungeputzten Zähne und ihr vom Schlaf zerzaustes Haar interessiert sie nicht. Sie interessierte sich für nichts anderes als für seinen Kuss. Sie waren zusammen und konnten nicht aufhören zu grinsen.
Dann stürmte die Erinnerung auf sie ein:
Rasiermesserscharfe Klauen und glanzlose rote Augen. Ein erstickender Gestank nach Tod und Fäulnis. Überall Dunkelheit, so vollkommen in ihrem Verderben, dass sie Licht und Liebe und alles Gute auf der Welt müde, zerstört und tot erscheinen ließ.
Dass Luzifer ihr früher einmal etwas anderes bedeutet hatte - Bill, der störrische steinerne Gargoyle, den sie irrtümlich für einen Freund gehalten hatte, war Luzifer höchstpersönlich gewesen -, schien unmöglich zu sein. Sie hatte ihn zu nah an sich herangelassen, und jetzt, weil sie nicht das getan hatte, was er wollte - ihre Seele im alten Ägypten zu töten -, hatte er beschlossen, reinen Tisch zu machen.
Die Zeit zu verbiegen und alles seit dem Engelssturz auszulöschen.
Jedes Leben, jede Liebe, jeder Augenblick, den jede Seele eines Sterblichen und eines Engels je erfahren hatte, würde von Luzifer nach Lust und Laune zerknüllt und weggeworfen werden, als sei das Universum ein Brettspiel und er ein jammerndes Kind, das aufgab, wenn es zu verlieren begann. Aber was er gewinnen wollte, konnte Luce nicht sagen.
Ihr wurde heiß, als sie sich an seinen Zorn erinnerte. Er hatte gewollt, dass sie es sah, dass sie in seiner Hand zitterte, als er sie in die Zeit des Sturzes zurückführte. Er hatte ihr zeigen wollen, dass es für ihn etwas Persönliches war.
Dann hatte er sie von sich gestoßen und einen Verkünder wie ein Netz ausgeworfen, um all die Engel einzufangen, die aus dem Himmel gefallen waren.
Gerade als Daniel sie in diesem Nirgendwo voller Sterne aufgefangen hatte, war Luzifer mit einem Mal verschwunden und hatte den Sturz von Neuem beginnen lassen. Er war nun bei den fallenden Engeln, zusammen mit der vergangenen Version seiner selbst. Luzifer würde wie die anderen in eine machtlose Isolation fallen - mit seinen Brüdern, aber abseits von ihnen, zusammen, aber allein. Jahrtausende zuvor hatten die Engel neun sterbliche Tage gebraucht, um vom Himmel auf die Erde zu fallen. Da Luzifers zweiter Fall der gleichen Flugbahn folgen würde, hatten Luce, Daniel und die anderen nur neun Tage Zeit, um ihn aufzuhalten.
Wenn ihnen dies nicht gelang, würde es, sobald Luzifer und sein Verkünder voller Engel auf der Erde gelandet waren, einen Zeitsprung geben, der sich bis zurück zu dem ursprünglichen Sturz auswirken würde, und alles würde von Neuem beginnen. Als hätte es die siebentausend Jahre zwischen damals und heute nie gegeben.
Als hätte Luce nicht endlich begonnen, den Fluch zu verstehen, zu verstehen, wo ihr Platz in all dem war, und zu erfahren, wer sie war und was sie sein konnte.
Die Geschichte und die Zukunft der Welt waren in Gefahr - es sei denn, Luce, sieben Engel und zwei Nephilim konnten Luzifer aufhalten. Sie hatten neun Tage Zeit und keine Ahnung, wo sie anfangen sollten.
Luce war am Abend zuvor so müde gewesen, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, sich auf diese Pritsche gelegt und die dünne blaue Decke um die Schultern gezogen zu haben. Da waren Spinnweben in den Dachsparren der kleinen Hütte und ein Klapptisch voller halb ausgetrunkener Becher Kakao, den Gabbe am vergangenen Abend für alle gemacht hatte. Aber es erschien Luce alles wie ein Traum. Ihren Flug von dem Verkünder auf diese winzige, vor Tybee gelegene Insel, diese sichere Zone für die Engel, hatte sie vor lauter Müdigkeit kaum wahrgenommen.
Sie war eingeschlafen, während die anderen noch geredet hatten, und hatte sich von Daniels Stimme in einen Traum lullen lassen. Jetzt war es still in der Hütte und in dem Fenster hinter Daniel kündigte der graue Himmel den Sonnenaufgang an.
Sie berührte ihn an der Wange. Er drehte den Kopf und küsste sie auf die Handfläche. Luce kniff die Augen zusammen, um nicht zu weinen. Warum mussten sie nach allem, was sie durchgemacht hatten, erst den Teufel besiegen, bevor sie frei waren, einander zu lieben?
»Daniel.« Rolands Stimme kam vom Eingang der Hütte. Seine Hände steckten tief in den Taschen seiner Cabanjacke und er hatte eine graue wollene Skimütze auf den Dreadlocks. Er lächelte Luce müde an. »Es wird Zeit.«
»Zeit wofür?« Luce stützte sich auf den Ellbogen. »Brechen wir auf? Jetzt schon? Ich wollte meinen Eltern noch Lebewohl sagen. Sie haben wahrscheinlich schon Panik.«
»Ich dachte, ich bringe dich jetzt bei ihnen vorbei«, warf Daniel ein, »damit du dich verabschieden kannst.«
»Aber wie soll ich ihnen erklären, dass ich nach dem Thanksgiving-Dinner verschwunden bin?«
Sie erinnerte sich an Daniels Worte vom vergangenen Abend: Obwohl es ihnen so vorgekommen war, als seien sie eine Ewigkeit in dem Verkünder gewesen, waren in Wirklichkeit nur wenige Stunden vergangen.
Doch für Harry und Doreen Price war es eine Ewigkeit, wenn ihre Tochter ein paar Stunden vermisst wurde.
Daniel und Roland tauschten einen Blick. »Wir haben uns darum gekümmert«, sagte Roland und gab Daniel einen Autoschlüssel.
»Ihr habt euch darum gekümmert? Wie?«, fragte Luce. »Mein Dad hat schon mal die Polizei angerufen, als ich nur eine halbe Stunde zu spät aus der Schule gekommen bin ...«
»Keine Sorge, Kleine«, entgegnete Roland. »Du kannst dich auf uns verlassen. Du brauchst nur einen schnellen Kostümwechsel. « Er zeigte auf einen Rucksack auf dem Schaukelstuhl neben der Tür. »Gabbe hat deine Sachen hergebracht.«
»Ähm, danke«, murmelte sie verwirrt. Wo war Gabbe? Wo waren die anderen? Die Hütte war am Abend zuvor gerammelt voll gewesen, richtig gemütlich durch den Schein der Engelsflügel und den Geruch von heißer Schokolade und Zimt. Die Erinnerung an diese Behaglichkeit, zusammen mit dem Versprechen, ihren Eltern Lebewohl zu sagen, ohne zu wissen, wohin sie ging, gaben ihr an diesem Morgen ein Gefühl der Leere.
Der Holzboden fühlte sich rau an unter ihren nackten Füßen. Als sie hinabschaute, bemerkte sie, dass sie noch immer das schmale weiße Etuikleid trug, das sie in Ägypten angehabt hatte, in dem letzten Leben, das sie durch die Verkünder besucht hatte. Bill hatte es ihr besorgt.
Nein, nicht Bill. Luzifer. Er hatte anzüglich gegrinst, als sie den Sternenpfeil unter dem Kleid befestigt und über seinen Rat nachgedacht hatte, ihre Seele zu töten.
Niemals, niemals, niemals. Es gab zu vieles, wofür es sich zu leben lohnte.
In dem alten grünen Rucksack, den sie immer mit ins Sommercamp genommen hatte, fand Luce ihren Lieblingsschlafanzug - den rot-weiß gestreiften aus Flanell - ordentlich zusammengelegt, mit den dazugehörigen weißen Pantoffeln darunter. »Aber es ist früh am Morgen«, sagte Luce. »Wozu brauche ich einen Schlafanzug?«
Wieder tauschten Daniel und Roland einen Blick, und diesmal versuchten sie, nicht zu lachen.
»Vertrau uns einfach«, meinte Roland.
Nachdem sie sich umgezogen hatte, folgte Luce Daniel aus der Hütte. Seine breiten Schultern schützten sie vor dem Wind, als sie über den Kiesstrand ans Wasser gingen.
Die kleine Insel lag etwa anderthalb Kilometer vor der Küste. Roland hatte versprochen, dass an Land ein Wagen warten würde.
Daniels Flügel waren verborgen, aber er musste gespürt haben, dass sie auf die Stelle sah, an der sie sich aus seinen Schultern entfalteten. »Ich denke, hier und jetzt ist es besser, wenn wir am Boden bleiben.«
»Okay«, erwiderte Luce.
»Schwimmen wir um die Wette hinüber?« Ihr Atem bildete eine Wolke in der Luft. »Du weißt, dass ich dich schlagen würde.«
»Stimmt.« Er legte einen Arm um sie und wärmte sie. »Vielleicht sollten wir deshalb besser das Boot nehmen. Meinen berühmt-berüchtigten Stolz wahren.«
Sie sah zu, wie er ein kleines stählernes Ruderboot losband. Das sanfte Licht auf dem Wasser ließ sie an den Tag zurückdenken, an dem sie mit ihm ein Wettschwimmen über den verborgenen See an der Sword & Cross gemacht hatte. Seine Haut hatte geglänzt, als sie sich auf dem flachen Felsen in der Mitte hochgezogen hatten, um wieder zu Atem zu kommen, dann hatten sie sich auf den warmen Stein gelegt und sich von der Sonne trocknen lassen. Sie hatte Daniel damals kaum gekannt - hatte noch nicht gewusst, dass er ein Engel war -, doch schon damals war sie gefährlich in ihn verliebt gewesen.
»Wir sind in meinem Leben in Tahiti viel zusammen schwimmen gewesen, nicht wahr?«, fragte sie, überrascht, sich an ein anderes Mal zu erinnern, da sie Daniels Haar nass hatte glänzen sehen.
Daniel schaute sie an, und sie wusste, wie viel es für ihn bedeutete, endlich einige Erinnerungen an ihre gemeinsame Vergangenheit mit ihr teilen zu können. Er wirkte so gerührt, dass Luce dachte, er würde weinen.
Stattdessen küsste er sie zart auf die Stirn und sagte: »Da hast du mich auch jedes Mal geschlagen, Lulu.«
Sie redeten nicht viel, während Daniel ruderte. Es reichte Luce schon, einfach zuzusehen, wie seine Muskeln sich anspannten, wenn er die Riemen nach hinten zog, zu hören, wie die Ruderblätter aus dem kalten Wasser gehoben wurden und wieder eintauchten, und die salzige Luft des Ozeans einzuatmen. Die Sonne ging über ihren Schultern auf und wärmte ihr den Nacken, aber als sie sich dem Festland näherten, sah sie etwas, das ihr einen Schauder über den Rücken sandte.
Sie erkannte den weißen 1993er Taurus sofort.
»Was ist los?« Daniel bemerkte, dass Luce sich versteifte, als das Ruderboot das Ufer berührte. »Oh. Das.« Er klang unbesorgt, als er aus dem Boot sprang und Luce eine Hand hinhielt. Der Boden war mulchig und roch intensiv. Er erinnerte Luce an ihre Kindheit, wenn sie im Herbst durch die Wälder von Georgia gelaufen war und in der Vorfreude auf Streiche und Abenteuer geschwelgt hatte.
»Es ist nicht das, was du denkst«, bemerkte Daniel. »Als Sophia aus der Sword & Cross geflohen ist, nachdem« - Luce wartete, zuckte zusammen und hoffte, dass Daniel nicht sagen würde: Nachdem sie Penn ermordet hatte - »nachdem wir herausgefunden hatten, wer sie wirklich war, haben die Engel ihren Wagen beschlagnahmt.« Seine Züge verhärteten sich. »Sie ist es uns schuldig, und mehr als das.«
Luce dachte an Penns weißes Gesicht, aus dem das Leben wich. »Wo ist Sophia jetzt?«
Daniel schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Leider werden wir es wohl bald herausfinden. Ich habe das Gefühl, dass sie sich in unsere Pläne einmischen wird.« Er zog die Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Beifahrertür. »Aber darüber solltest du dir im Moment keine Gedanken machen.«
Luce sah ihn an, während sie in den grauen Stoffsitz sank. »Worüber sollte ich mir denn dann Gedanken machen?«
Daniel drehte den Zündschlüssel und der Wagen erwachte langsam und bebend zum Leben. Als sie das letzte Mal in diesem Sitz gesessen hatte, war sie besorgt darüber gewesen, mit ihm alleine zu sein. Es war die erste Nacht gewesen, in der sie sich geküsst hatten - zumindest soweit sie es damals gewusst hatte. Luce stocherte mit dem Sicherheitsgurt in dem Gurtschloss, als sie Daniels Finger über ihren spürte. »Du weißt doch«, murmelte er, während er sich vorbeugte, um sie anzuschnallen, und dabei seine Hände auf ihren liegen ließ. »Das geht nur mit diesem kleinen Kniff.«
Er küsste sie auf die Wange, dann legte er den Rückwärtsgang ein und fuhr aus dem nassen Wald auf eine zweispurige Straße. Ihr Auto war das einzige weit und breit.
»Daniel?«, fragte Luce noch einmal. »Worüber sollte ich mir noch Gedanken machen?«
Er warf einen Blick auf Luces Schlafanzug. »Kannst du dich gut krank stellen?«
Der weiße Taurus stand im Leerlauf in der Gasse hinter dem Haus ihrer Eltern, als Luce sich an den drei Azaleen neben ihrem Schlafzimmerfenster vorbeischlich. Im Sommer würden Tomatenranken aus dem schwarzen Erdreich kriechen, aber im Winter sah es neben dem Haus kahl und trostlos und nicht besonders anheimelnd aus. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal hier draußen gestanden hatte. Sie hatte sich aus drei verschiedenen Internaten gestohlen, aber niemals aus dem Haus ihrer Eltern. Jetzt schlich sie sich hinein, und sie wusste nicht, wie ihr Fenster funktionierte. Luce ließ den Blick über die Häuser in ihrer Straße wandern, über die Morgenzeitung, die in einer beschlagenen Plastiktüte am Rand des Rasens ihrer Eltern lag, über den alten netzlosen Basketballkorb in der Einfahrt der Johnsons auf der anderen Straßenseite. Nichts hatte sich verändert, seit sie fort gewesen war. Nichts hatte sich verändert außer ihr selbst. Wenn Bill Erfolg hatte, würde diese Wohngegend dann auch verschwinden?
Sie winkte Daniel im Auto ein letztes Mal zu, holte tief Luft und benutzte die Daumen, um das Fenster hochzustemmen.
Es glitt mühelos nach oben. Innen hatte bereits jemand das Fenstergitter herausgenommen. Luce hielt erstaunt inne, als die weißen Vorhänge sich teilten und der halb blonde, halb schwarze Schopf ihrer einstigen Feindin Molly Zane den freien Raum ausfüllte.
»Ey Hackepeter, was geht ab?«
Luce stellten sich die Nackenhaare auf, als sie den Spitznamen hörte, den sie sich an ihrem ersten Tag in der Sword & Cross eingehandelt hatte. Hatten Daniel und Roland das gemeint, als sie sagten, sie würden sich daheim um alles kümmern?
»Was machst du denn hier, Molly?«
»Los, komm. Ich beiße nicht.« Molly streckte eine Hand aus. Ihre Nägel zierte abgeplatzter grüner Nagellack. Luce legte ihre Hand in Mollys, duckte sich und schob sich seitwärts, ein Bein nach dem anderen, durch das Fenster. Ihr Schlafzimmer sah klein und altmodisch aus, wie eine Zeitkapsel einer längst vergangenen Luce. An ihrer Tür hing das gerahmte Poster des Eiffelturms. Da war ihre Pinnwand mit Bändern vom Schwimmteam aus der Thunderbolt Elementary. Und dort, unter der grün-gelben Bettdecke mit Hawaiiprint, lag ihre beste Freundin, Callie.
Callie kroch unter der Decke hervor, rannte um das Bett herum und warf sich Luce in die Arme. »Sie haben mir immer wieder gesagt, dass du okay sein würdest, aber weißt du, so, dass ich gleich wusste: Sie haben selber Schiss wie sonst was, aber sie verraten dir nichts. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie absolut unheimlich das war? Es war, als seist du vom Erdboden verschwunden ...«
Luce umarmte sie fest.
»Okay, ihr zwei«, knurrte Molly und zog Luce von Callie weg, »ihr könnt euch später noch mit ›Oh mein Gott!‹ verausgaben. Ich habe nicht die ganze Nacht mit dieser billigen Polyesterperücke in deinem Bett gelegen und Luce-mit-Magengrippe gespielt, damit ihr beiden jetzt unsere Tarnung auffliegen lassen könnt.« Sie verdrehte die Augen. »Amateure.«
»Warte mal. Du hast was getan?«, fragte Luce.
»Als du ... verschwunden warst«, sagte Callie, »war doch eins klar. Das konnten wir deinen Eltern einfach nicht erklären. Ich konnte es ja selbst kaum fassen, obwohl ich es mit eigenen Augen gesehen hatte. Während Gabbe den Garten in Ordnung gebracht hat, habe ich deinen Eltern erzählt, dass dir übel sei und du ins Bett gegangen seist, und Molly hat so getan, als sei sie du, und ...«
»Ein Glück, dass ich das hier in deinem Schrank gefunden habe.« Molly zwirbelte eine kurze schwarze Lockenperücke um einen Finger. »Ein Überbleibsel von Halloween?«
»Wonderwoman.« Luce zuckte zusammen und verfluchte ihr Halloweenkostüm aus der Mittelschule, und das nicht zum ersten Mal.
»Nun, es hat funktioniert.«
Es war seltsam, dass Molly - die einst mit Luzifer paktiert hatte - ihr half. Aber wie Cam und Roland wollte selbst Molly nicht noch einmal den Sturz erleben. Da waren sie nun also, ein Team, ein seltsames Gespann.
»Du bist für mich eingesprungen? Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Danke.«
»Na wenn schon.« Molly machte eine Kopfbewegung zu Callie, um von Luces Dankbarkeit abzulenken. »Sie war diejenige mit den Engelszungen. Bedank dich bei ihr.« Sie streckte ein Bein durch das offene Fenster und drehte sich um: »Denkt ihr, ihr kommt jetzt alleine klar? Ich muss an einem Gipfeltreffen im Waffle House teilnehmen.«
Luce reckte den Daumen hoch und ließ sich auf ihr Bett fallen.
»Oh, Luce«, flüsterte Callie. »Als du weg warst, war euer ganzer Garten mit grauem Staub bedeckt. Und dieses blonde Mädchen, Gabbe, hat nur einmal die Hand bewegt und alles war verschwunden. Dann haben wir gesagt, du seist krank, dass alle anderen nach Hause gegangen seien, und wir haben einfach angefangen, mit deinen Eltern den Abwasch zu machen. Und zuerst dachte ich, diese Molly sei ein bisschen schrecklich, aber in Wirklichkeit ist sie irgendwie cool.« Ihre Augen wurden schmal. »Aber wo warst du? Was ist mit dir passiert? Du hast mir wirklich einen Schrecken eingejagt, Luce.«
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Luce.
Ein Klopfen erklang, gefolgt von dem vertrauten Knarren ihrer sich öffnenden Zimmertür.
Luces Mutter stand im Flur, das vom Schlaf zerzauste Haar von einer gelben Bananenspange gezähmt, das Gesicht ungeschminkt und hübsch. Sie hielt ein Basttablett mit zwei Gläsern Orangensaft, zwei Tellern mit gebuttertem Toast und einer Schachtel Alka-Seltzer. »Sieht so aus, als würde sich da jemand besser fühlen.«
Luce wartete, bis ihre Mom das Tablett auf den Nachttisch gestellt hatte, dann schlang sie die Arme um ihre Mutter und vergrub das Gesicht in ihrem rosafarbenen Frotteebademantel. Tränen brannten ihr in den Augen. Sie schniefte. »Mein kleines Mädchen«, sagte ihre Mom und fühlte Luce die Stirn und die Wangen, um festzustellen, ob sie Fieber hatte. Seit Ewigkeiten hatte sie nicht mehr mit dieser sanften Stimme zu Luce gesprochen, und jetzt tat es gut, sie zu hören.
»Ich habe dich lieb, Mom.«
»Erzähl mir nicht, dass sie zu krank für Black Friday ist.« Luces Vater erschien in der Tür, eine grüne Plastikgießkanne in der Hand. Er lächelte, aber hinter seiner randlosen Brille wirkten Mr Price' Augen besorgt.
»Es geht mir besser«, erklärte Luce. »Aber ...«
»Oh, Harry«, sagte Luces Mom. »Du weißt, dass wir sie nur für den einen Tag hier hatten. Sie muss zurück in die Schule.« Sie wandte sich an Luce. »Daniel hat vor einer Weile angerufen, Liebes. Er sagte, er könne dich abholen und in die Sword & Cross zurückbringen. Ich habe gesagt, dass dein Vater und ich dich natürlich gerne fahren würden, aber ...«
»Nein«, unterbrach Luce sie schnell und dachte an den Plan, den Daniel im Wagen erklärt hatte. »Auch wenn ich nicht mitgehen kann, solltet ihr beiden trotzdem eure Black Friday Einkäufe machen. Es ist eine Price'sche Familientradition. «
Sie einigten sich darauf, dass Luce mit Daniel fahren sollte und ihre Eltern Callie zum Flughafen bringen würden. Während die Mädchen aßen, hockten Luces Eltern auf der Bettkante und sprachen über Thanksgiving (»Gabbe hat das ganze Porzellan poliert - was für ein Engel«). Als sie zu den Black Friday Schnäppchen kamen, auf die sie Jagd machen wollten (»Dein Vater will immer nur Werkzeug«), wurde Luce bewusst, dass sie nichts gesagt hatte außer idiotischen Rückmeldungen wie »Mhm« und »Ach wirklich?«.
Als ihre Eltern endlich aufstanden, um die Teller in die Küche zu bringen, und Callie zu packen begann, ging Luce ins Badezimmer und schloss die Tür.
Es kam ihr so vor, als sei sie das erste Mal seit einer Million Jahren allein. Sie setzte sich auf den Schminkhocker und schaute in den Spiegel.
Sie war sie selbst, aber anders. Sicher, Lucinda Price blickte ihr entgegen. Aber auch ...
Da war Layla mit ihren vollen Lippen, Lulu mit dem dicken gewellten Haar, Lu Xin mit ihren intensiven haselnussbraunen Augen, Lucia mit ihrem Funkeln. Sie war nicht allein. Vielleicht würde sie nie wieder allein sein. Aus dem Spiegel blickte sie eine jede ihrer Inkarnationen an und fragte sich: Was soll aus mir werden? Was ist mit meiner Geschichte und meiner Liebe? Sie duschte und zog saubere Jeans an, ihre schwarzen Reitstiefel und einen langen weißen Pullover. Dann setzte sie sich auf Callies Koffer, während ihre Freundin mit dem Reißverschluss kämpfte. Das Schweigen zwischen ihnen lastete schwer.
»Callie, du bist meine beste Freundin«, sagte Luce schließlich. »Ich mache etwas durch, was ich nicht verstehe. Aber es hat nichts mir dir zu tun. Es tut mir leid, dass ich nicht weiß, wie ich mich genauer ausdrücken kann, aber ich habe dich vermisst. So sehr.«
Callies Schultern spannten sich an. »Früher hast du mir alles erzählt.« Doch der Blick, den sie tauschten, sagte, dass beide Mädchen wussten, dass das nicht länger möglich war. Vor dem Haus schlug eine Autotür zu.
Durch die offene Jalousie sah Luce, wie Daniel auf das Haus zukam. Und obwohl noch keine Stunde vergangen war, seit er sie abgesetzt hatte, beschleunigte sich ihr Herzschlag und ihre Wangen röteten sich bei seinem Anblick. Er ging langsam, als würde er schweben, und sein roter Schal flatterte hinter ihm im Wind. Selbst Callies Augen folgten ihm.
Sie standen mit ihren Eltern am Eingang. Luce schloss jeden lange in die Arme - zuerst ihren Dad, dann ihre Mom, dann Callie, die ihre Umarmung erwiderte und flüsterte: »Was ich gestern Abend gesehen habe - wie du in diesen ... diesen Schatten getreten bist - das war wunderschön. Ich will nur, dass du das weißt.«
Luce spürte, dass ihre Augen erneut zu brennen anfingen. Sie drückte Callie noch einmal und flüsterte: »Danke.«
Dann lief sie den Weg hinunter und in Daniels Arme.
Übersetzung: Michaela Link
© 2013 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Zuerst war da Stille ...
In dem Raum zwischen dem Himmel und dem Sturz, weit in der unendlichen Ferne, gab es einen Augenblick, da das herrliche Summen des Himmels verstummte und durch eine Stille ersetzt wurde, die so absolut war, dass Daniels Seele angestrengt auf den leisesten Laut horchte.
Dann war ihm, als würde er fallen - ein Sturz, den nicht einmal seine Flügel verhindern konnten, als hätte der Thron Monde an ihnen befestigt. Sie waren kaum zu bewegen, und wenn doch, hatten sie keinen Einfluss auf seinen Sturz.
Wohin fiel er? Es war nichts vor ihm und nichts hinter ihm. Nichts oben und nichts unten. Nur undurchdringliche Dunkelheit und der verschwommene Umriss von dem, was von Daniels Seele übrig war.
In der Lautlosigkeit übernahm seine Fantasie das Kommando. Sie füllte seinen Kopf mit etwas Unausweichlichem: den quälenden Worten von Lucindas Fluch.
Sie wird sterben ... sie wird niemals ins Erwachsenenalter eintreten - sie wird wieder und wieder und wieder sterben, in genau dem Moment, in dem sie sich an deine Entscheidung erinnert.
Ihr werdet niemals wirklich zusammen sein.
Es war Luzifers üble Verwünschung, seine verbitterte Ergänzung des Urteils, das der Thron auf der himmlischen Wiese gesprochen hatte. Jetzt kam der Tod seine Liebste holen. Konnte Daniel ihn aufhalten? Würde er ihn überhaupt erkennen?
Denn was wusste ein Engel schon vom Tod? Daniel hatte erlebt, wie er friedlich zu einigen Menschen gekommen war, wie man die neue sterbliche Rasse nannte, aber der Tod betraf die Engel nicht.
Tod und Erwachsenenalter: die beiden absoluten Werte in Luzifers Fluch. Keiner von beiden sagte Daniel etwas. Er wusste nur, dass die Trennung von Lucinda eine Strafe war, die er nicht ertragen konnte. Sie mussten zusammen sein.
»Lucinda!«, rief er.
Bei dem bloßen Gedanken an sie hätte ein wohliges Gefühl in seiner Seele aufsteigen sollen, aber da war nur der Trennungsschmerz, ein Übermaß von dem, was nicht war.
Er hätte seine Brüder um sich herum spüren müssen - all jene, die sich falsch oder zu spät entschieden hatten, die überhaupt keine Wahl getroffen hatten und wegen ihrer Unentschlossenheit verstoßen worden waren. Er wusste, dass er nicht wirklich allein war. So viele von ihnen waren in die Tiefe gestürzt, als die Wolken sich über der Leere aufgetan hatten.
Aber er konnte niemanden sehen noch spüren.
Er war nie zuvor allein gewesen. Jetzt kam er sich wie der letzte Engel aller Welten vor.
So darfst du nicht denken. Du wirst dich verlieren.
Er versuchte, es vor sich zu sehen ... Lucinda, den Namensaufruf, Lucinda, die Entscheidung ... aber während er fiel, wurde es schwerer für ihn, sich zu erinnern. Was zum Beispiel waren die letzten Worte, die der Thron gesprochen hatte ...
Die Tore des Himmels ...
Die Tore des Himmels sind ...
Er wusste nicht mehr, wie es weiterging. Er entsann sich nur noch schwach, wie das große Licht geflackert und eine bittere Kälte sich über der Wiese ausgebreitet hatte, wie die Bäume im Obstgarten ineinander gestürzt waren und Wellen heftiger Turbulenzen ausgelöst hatten, die im ganzen Kosmos zu spüren gewesen waren, Wolkentsunamis, die die Engel geblendet und ihre Herrlichkeit vernichtet hatten. Da war noch etwas anderes gewesen, kurz vor der Zerstörung der Wiese, etwas wie ein ...
Zwilling.
Ein kühner, strahlender Engel war während des Namensaufrufs emporgeschwebt und hatte gesagt, er sei Daniel, der aus der Zukunft zurückgekommen sei. Da war eine Traurigkeit in seinen Augen gewesen, die so ... alt ausgesehen hatte. Hatte dieser Engel - diese Version von Daniels Seele - sehr gelitten?
Hatte Lucinda gelitten?
Ein gewaltiger Zorn stieg in Daniel auf. Er würde Luzifer finden, den Engel, der in der Sackgasse aller Ideen lebte. Daniel fürchtete den Verräter nicht, der einst der Morgenstern gewesen war. Daniel würde Rache nehmen, wo und wann auch immer dieses Vergessen ein Ende hatte. Aber zuerst würde er Lucinda finden, denn ohne sie war alles bedeutungslos. Ohne ihre Liebe ging gar nichts.
Ihre Liebe war von der Art, die es unvorstellbar machte, sich für Luzifer oder den Thron zu entscheiden. Die einzige Seite, die er jemals wählen konnte, war ihre. Daher würde Daniel jetzt für diesen Entschluss bezahlen, aber er wusste noch nicht, welcher Art seine Strafe sein würde. Nur dass Lucinda von dem Ort verschwunden war, an den sie gehörte: seiner Seite.
Plötzlich durchzuckte Daniel der Schmerz der Trennung von seiner Seelengefährtin mit brutaler Schärfe. Er stöhnte lautlos, sein Verstand trübte sich, und mit einem Mal konnte er sich nicht mehr daran erinnern, warum. Es machte ihm Angst.
Er stürzte weiter, tief hinunter durch dichtere Schwärze.
Er konnte nichts mehr sehen oder fühlen oder sich daran erinnern, wie er hier im Nirgendwo gelandet war, durch das Nichts rasend - wohin? Für wie lange?
Erinnerungsfetzen tauchten auf und verschwanden. Es wurde immer schwerer, sich an die Worte zu erinnern, die der Engel auf der weißen Wiese gesprochen hatte, der Engel, der so große Ähnlichkeit gehabt hatte mit ...
Wem hatte der Engel ähnlich gesehen? Und was hatte er gesagt, das so wichtig war?
Daniel wusste es nicht, wusste überhaupt nichts mehr.
Nur dass er durch eine endlose Leere stürzte.
Er war erfüllt von dem Drang, etwas zu finden ... jemanden.
Dem Drang, sich wieder ganz zu fühlen ...
Aber da war nur Dunkelheit in der Dunkelheit ...
Stille, die seine Gedanken übertönte ...
Ein Nichts, das alles war.
Daniel fiel.
Eins
Das Wächteramt der Engel
»Guten Morgen.«
Eine warme Hand strich Luce übers Gesicht und schob ihr eine Haarsträhne hinters Ohr.
Sie rollte sich auf die Seite, gähnte und öffnete die Augen. Sie hatte tief geschlafen und von Daniel geträumt.
»Oh«, stieß sie hervor und betastete ihre Wange. Da war er.
Daniel saß neben ihr. Er trug einen schwarzen Pullover und den roten Schal, wie damals, als sie ihn in der Sword & Cross das erste Mal gesehen hatte. Er sah besser aus als ein Traum.
Sein Gewicht ließ den Rand des Feldbetts ein wenig einsinken, und Lucinda zog die Beine an, um sich enger an ihn zu kuscheln.
»Du bist kein Traum«, sagte sie.
Daniels Augen waren müder als gewöhnlich, aber sie strahlten trotzdem in einem leuchtenden Violett, als er sie anschaute und ihre Züge musterte, als sähe er sie zum ersten Mal. Er beugte sich vor und drückte seine Lippen auf ihre.
Luce schmiegte sich an ihn und schlang ihm die Arme um den Hals, glücklich, seinen Kuss zu erwidern. Seine ungeputzten Zähne und ihr vom Schlaf zerzaustes Haar interessiert sie nicht. Sie interessierte sich für nichts anderes als für seinen Kuss. Sie waren zusammen und konnten nicht aufhören zu grinsen.
Dann stürmte die Erinnerung auf sie ein:
Rasiermesserscharfe Klauen und glanzlose rote Augen. Ein erstickender Gestank nach Tod und Fäulnis. Überall Dunkelheit, so vollkommen in ihrem Verderben, dass sie Licht und Liebe und alles Gute auf der Welt müde, zerstört und tot erscheinen ließ.
Dass Luzifer ihr früher einmal etwas anderes bedeutet hatte - Bill, der störrische steinerne Gargoyle, den sie irrtümlich für einen Freund gehalten hatte, war Luzifer höchstpersönlich gewesen -, schien unmöglich zu sein. Sie hatte ihn zu nah an sich herangelassen, und jetzt, weil sie nicht das getan hatte, was er wollte - ihre Seele im alten Ägypten zu töten -, hatte er beschlossen, reinen Tisch zu machen.
Die Zeit zu verbiegen und alles seit dem Engelssturz auszulöschen.
Jedes Leben, jede Liebe, jeder Augenblick, den jede Seele eines Sterblichen und eines Engels je erfahren hatte, würde von Luzifer nach Lust und Laune zerknüllt und weggeworfen werden, als sei das Universum ein Brettspiel und er ein jammerndes Kind, das aufgab, wenn es zu verlieren begann. Aber was er gewinnen wollte, konnte Luce nicht sagen.
Ihr wurde heiß, als sie sich an seinen Zorn erinnerte. Er hatte gewollt, dass sie es sah, dass sie in seiner Hand zitterte, als er sie in die Zeit des Sturzes zurückführte. Er hatte ihr zeigen wollen, dass es für ihn etwas Persönliches war.
Dann hatte er sie von sich gestoßen und einen Verkünder wie ein Netz ausgeworfen, um all die Engel einzufangen, die aus dem Himmel gefallen waren.
Gerade als Daniel sie in diesem Nirgendwo voller Sterne aufgefangen hatte, war Luzifer mit einem Mal verschwunden und hatte den Sturz von Neuem beginnen lassen. Er war nun bei den fallenden Engeln, zusammen mit der vergangenen Version seiner selbst. Luzifer würde wie die anderen in eine machtlose Isolation fallen - mit seinen Brüdern, aber abseits von ihnen, zusammen, aber allein. Jahrtausende zuvor hatten die Engel neun sterbliche Tage gebraucht, um vom Himmel auf die Erde zu fallen. Da Luzifers zweiter Fall der gleichen Flugbahn folgen würde, hatten Luce, Daniel und die anderen nur neun Tage Zeit, um ihn aufzuhalten.
Wenn ihnen dies nicht gelang, würde es, sobald Luzifer und sein Verkünder voller Engel auf der Erde gelandet waren, einen Zeitsprung geben, der sich bis zurück zu dem ursprünglichen Sturz auswirken würde, und alles würde von Neuem beginnen. Als hätte es die siebentausend Jahre zwischen damals und heute nie gegeben.
Als hätte Luce nicht endlich begonnen, den Fluch zu verstehen, zu verstehen, wo ihr Platz in all dem war, und zu erfahren, wer sie war und was sie sein konnte.
Die Geschichte und die Zukunft der Welt waren in Gefahr - es sei denn, Luce, sieben Engel und zwei Nephilim konnten Luzifer aufhalten. Sie hatten neun Tage Zeit und keine Ahnung, wo sie anfangen sollten.
Luce war am Abend zuvor so müde gewesen, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, sich auf diese Pritsche gelegt und die dünne blaue Decke um die Schultern gezogen zu haben. Da waren Spinnweben in den Dachsparren der kleinen Hütte und ein Klapptisch voller halb ausgetrunkener Becher Kakao, den Gabbe am vergangenen Abend für alle gemacht hatte. Aber es erschien Luce alles wie ein Traum. Ihren Flug von dem Verkünder auf diese winzige, vor Tybee gelegene Insel, diese sichere Zone für die Engel, hatte sie vor lauter Müdigkeit kaum wahrgenommen.
Sie war eingeschlafen, während die anderen noch geredet hatten, und hatte sich von Daniels Stimme in einen Traum lullen lassen. Jetzt war es still in der Hütte und in dem Fenster hinter Daniel kündigte der graue Himmel den Sonnenaufgang an.
Sie berührte ihn an der Wange. Er drehte den Kopf und küsste sie auf die Handfläche. Luce kniff die Augen zusammen, um nicht zu weinen. Warum mussten sie nach allem, was sie durchgemacht hatten, erst den Teufel besiegen, bevor sie frei waren, einander zu lieben?
»Daniel.« Rolands Stimme kam vom Eingang der Hütte. Seine Hände steckten tief in den Taschen seiner Cabanjacke und er hatte eine graue wollene Skimütze auf den Dreadlocks. Er lächelte Luce müde an. »Es wird Zeit.«
»Zeit wofür?« Luce stützte sich auf den Ellbogen. »Brechen wir auf? Jetzt schon? Ich wollte meinen Eltern noch Lebewohl sagen. Sie haben wahrscheinlich schon Panik.«
»Ich dachte, ich bringe dich jetzt bei ihnen vorbei«, warf Daniel ein, »damit du dich verabschieden kannst.«
»Aber wie soll ich ihnen erklären, dass ich nach dem Thanksgiving-Dinner verschwunden bin?«
Sie erinnerte sich an Daniels Worte vom vergangenen Abend: Obwohl es ihnen so vorgekommen war, als seien sie eine Ewigkeit in dem Verkünder gewesen, waren in Wirklichkeit nur wenige Stunden vergangen.
Doch für Harry und Doreen Price war es eine Ewigkeit, wenn ihre Tochter ein paar Stunden vermisst wurde.
Daniel und Roland tauschten einen Blick. »Wir haben uns darum gekümmert«, sagte Roland und gab Daniel einen Autoschlüssel.
»Ihr habt euch darum gekümmert? Wie?«, fragte Luce. »Mein Dad hat schon mal die Polizei angerufen, als ich nur eine halbe Stunde zu spät aus der Schule gekommen bin ...«
»Keine Sorge, Kleine«, entgegnete Roland. »Du kannst dich auf uns verlassen. Du brauchst nur einen schnellen Kostümwechsel. « Er zeigte auf einen Rucksack auf dem Schaukelstuhl neben der Tür. »Gabbe hat deine Sachen hergebracht.«
»Ähm, danke«, murmelte sie verwirrt. Wo war Gabbe? Wo waren die anderen? Die Hütte war am Abend zuvor gerammelt voll gewesen, richtig gemütlich durch den Schein der Engelsflügel und den Geruch von heißer Schokolade und Zimt. Die Erinnerung an diese Behaglichkeit, zusammen mit dem Versprechen, ihren Eltern Lebewohl zu sagen, ohne zu wissen, wohin sie ging, gaben ihr an diesem Morgen ein Gefühl der Leere.
Der Holzboden fühlte sich rau an unter ihren nackten Füßen. Als sie hinabschaute, bemerkte sie, dass sie noch immer das schmale weiße Etuikleid trug, das sie in Ägypten angehabt hatte, in dem letzten Leben, das sie durch die Verkünder besucht hatte. Bill hatte es ihr besorgt.
Nein, nicht Bill. Luzifer. Er hatte anzüglich gegrinst, als sie den Sternenpfeil unter dem Kleid befestigt und über seinen Rat nachgedacht hatte, ihre Seele zu töten.
Niemals, niemals, niemals. Es gab zu vieles, wofür es sich zu leben lohnte.
In dem alten grünen Rucksack, den sie immer mit ins Sommercamp genommen hatte, fand Luce ihren Lieblingsschlafanzug - den rot-weiß gestreiften aus Flanell - ordentlich zusammengelegt, mit den dazugehörigen weißen Pantoffeln darunter. »Aber es ist früh am Morgen«, sagte Luce. »Wozu brauche ich einen Schlafanzug?«
Wieder tauschten Daniel und Roland einen Blick, und diesmal versuchten sie, nicht zu lachen.
»Vertrau uns einfach«, meinte Roland.
Nachdem sie sich umgezogen hatte, folgte Luce Daniel aus der Hütte. Seine breiten Schultern schützten sie vor dem Wind, als sie über den Kiesstrand ans Wasser gingen.
Die kleine Insel lag etwa anderthalb Kilometer vor der Küste. Roland hatte versprochen, dass an Land ein Wagen warten würde.
Daniels Flügel waren verborgen, aber er musste gespürt haben, dass sie auf die Stelle sah, an der sie sich aus seinen Schultern entfalteten. »Ich denke, hier und jetzt ist es besser, wenn wir am Boden bleiben.«
»Okay«, erwiderte Luce.
»Schwimmen wir um die Wette hinüber?« Ihr Atem bildete eine Wolke in der Luft. »Du weißt, dass ich dich schlagen würde.«
»Stimmt.« Er legte einen Arm um sie und wärmte sie. »Vielleicht sollten wir deshalb besser das Boot nehmen. Meinen berühmt-berüchtigten Stolz wahren.«
Sie sah zu, wie er ein kleines stählernes Ruderboot losband. Das sanfte Licht auf dem Wasser ließ sie an den Tag zurückdenken, an dem sie mit ihm ein Wettschwimmen über den verborgenen See an der Sword & Cross gemacht hatte. Seine Haut hatte geglänzt, als sie sich auf dem flachen Felsen in der Mitte hochgezogen hatten, um wieder zu Atem zu kommen, dann hatten sie sich auf den warmen Stein gelegt und sich von der Sonne trocknen lassen. Sie hatte Daniel damals kaum gekannt - hatte noch nicht gewusst, dass er ein Engel war -, doch schon damals war sie gefährlich in ihn verliebt gewesen.
»Wir sind in meinem Leben in Tahiti viel zusammen schwimmen gewesen, nicht wahr?«, fragte sie, überrascht, sich an ein anderes Mal zu erinnern, da sie Daniels Haar nass hatte glänzen sehen.
Daniel schaute sie an, und sie wusste, wie viel es für ihn bedeutete, endlich einige Erinnerungen an ihre gemeinsame Vergangenheit mit ihr teilen zu können. Er wirkte so gerührt, dass Luce dachte, er würde weinen.
Stattdessen küsste er sie zart auf die Stirn und sagte: »Da hast du mich auch jedes Mal geschlagen, Lulu.«
Sie redeten nicht viel, während Daniel ruderte. Es reichte Luce schon, einfach zuzusehen, wie seine Muskeln sich anspannten, wenn er die Riemen nach hinten zog, zu hören, wie die Ruderblätter aus dem kalten Wasser gehoben wurden und wieder eintauchten, und die salzige Luft des Ozeans einzuatmen. Die Sonne ging über ihren Schultern auf und wärmte ihr den Nacken, aber als sie sich dem Festland näherten, sah sie etwas, das ihr einen Schauder über den Rücken sandte.
Sie erkannte den weißen 1993er Taurus sofort.
»Was ist los?« Daniel bemerkte, dass Luce sich versteifte, als das Ruderboot das Ufer berührte. »Oh. Das.« Er klang unbesorgt, als er aus dem Boot sprang und Luce eine Hand hinhielt. Der Boden war mulchig und roch intensiv. Er erinnerte Luce an ihre Kindheit, wenn sie im Herbst durch die Wälder von Georgia gelaufen war und in der Vorfreude auf Streiche und Abenteuer geschwelgt hatte.
»Es ist nicht das, was du denkst«, bemerkte Daniel. »Als Sophia aus der Sword & Cross geflohen ist, nachdem« - Luce wartete, zuckte zusammen und hoffte, dass Daniel nicht sagen würde: Nachdem sie Penn ermordet hatte - »nachdem wir herausgefunden hatten, wer sie wirklich war, haben die Engel ihren Wagen beschlagnahmt.« Seine Züge verhärteten sich. »Sie ist es uns schuldig, und mehr als das.«
Luce dachte an Penns weißes Gesicht, aus dem das Leben wich. »Wo ist Sophia jetzt?«
Daniel schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Leider werden wir es wohl bald herausfinden. Ich habe das Gefühl, dass sie sich in unsere Pläne einmischen wird.« Er zog die Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Beifahrertür. »Aber darüber solltest du dir im Moment keine Gedanken machen.«
Luce sah ihn an, während sie in den grauen Stoffsitz sank. »Worüber sollte ich mir denn dann Gedanken machen?«
Daniel drehte den Zündschlüssel und der Wagen erwachte langsam und bebend zum Leben. Als sie das letzte Mal in diesem Sitz gesessen hatte, war sie besorgt darüber gewesen, mit ihm alleine zu sein. Es war die erste Nacht gewesen, in der sie sich geküsst hatten - zumindest soweit sie es damals gewusst hatte. Luce stocherte mit dem Sicherheitsgurt in dem Gurtschloss, als sie Daniels Finger über ihren spürte. »Du weißt doch«, murmelte er, während er sich vorbeugte, um sie anzuschnallen, und dabei seine Hände auf ihren liegen ließ. »Das geht nur mit diesem kleinen Kniff.«
Er küsste sie auf die Wange, dann legte er den Rückwärtsgang ein und fuhr aus dem nassen Wald auf eine zweispurige Straße. Ihr Auto war das einzige weit und breit.
»Daniel?«, fragte Luce noch einmal. »Worüber sollte ich mir noch Gedanken machen?«
Er warf einen Blick auf Luces Schlafanzug. »Kannst du dich gut krank stellen?«
Der weiße Taurus stand im Leerlauf in der Gasse hinter dem Haus ihrer Eltern, als Luce sich an den drei Azaleen neben ihrem Schlafzimmerfenster vorbeischlich. Im Sommer würden Tomatenranken aus dem schwarzen Erdreich kriechen, aber im Winter sah es neben dem Haus kahl und trostlos und nicht besonders anheimelnd aus. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal hier draußen gestanden hatte. Sie hatte sich aus drei verschiedenen Internaten gestohlen, aber niemals aus dem Haus ihrer Eltern. Jetzt schlich sie sich hinein, und sie wusste nicht, wie ihr Fenster funktionierte. Luce ließ den Blick über die Häuser in ihrer Straße wandern, über die Morgenzeitung, die in einer beschlagenen Plastiktüte am Rand des Rasens ihrer Eltern lag, über den alten netzlosen Basketballkorb in der Einfahrt der Johnsons auf der anderen Straßenseite. Nichts hatte sich verändert, seit sie fort gewesen war. Nichts hatte sich verändert außer ihr selbst. Wenn Bill Erfolg hatte, würde diese Wohngegend dann auch verschwinden?
Sie winkte Daniel im Auto ein letztes Mal zu, holte tief Luft und benutzte die Daumen, um das Fenster hochzustemmen.
Es glitt mühelos nach oben. Innen hatte bereits jemand das Fenstergitter herausgenommen. Luce hielt erstaunt inne, als die weißen Vorhänge sich teilten und der halb blonde, halb schwarze Schopf ihrer einstigen Feindin Molly Zane den freien Raum ausfüllte.
»Ey Hackepeter, was geht ab?«
Luce stellten sich die Nackenhaare auf, als sie den Spitznamen hörte, den sie sich an ihrem ersten Tag in der Sword & Cross eingehandelt hatte. Hatten Daniel und Roland das gemeint, als sie sagten, sie würden sich daheim um alles kümmern?
»Was machst du denn hier, Molly?«
»Los, komm. Ich beiße nicht.« Molly streckte eine Hand aus. Ihre Nägel zierte abgeplatzter grüner Nagellack. Luce legte ihre Hand in Mollys, duckte sich und schob sich seitwärts, ein Bein nach dem anderen, durch das Fenster. Ihr Schlafzimmer sah klein und altmodisch aus, wie eine Zeitkapsel einer längst vergangenen Luce. An ihrer Tür hing das gerahmte Poster des Eiffelturms. Da war ihre Pinnwand mit Bändern vom Schwimmteam aus der Thunderbolt Elementary. Und dort, unter der grün-gelben Bettdecke mit Hawaiiprint, lag ihre beste Freundin, Callie.
Callie kroch unter der Decke hervor, rannte um das Bett herum und warf sich Luce in die Arme. »Sie haben mir immer wieder gesagt, dass du okay sein würdest, aber weißt du, so, dass ich gleich wusste: Sie haben selber Schiss wie sonst was, aber sie verraten dir nichts. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie absolut unheimlich das war? Es war, als seist du vom Erdboden verschwunden ...«
Luce umarmte sie fest.
»Okay, ihr zwei«, knurrte Molly und zog Luce von Callie weg, »ihr könnt euch später noch mit ›Oh mein Gott!‹ verausgaben. Ich habe nicht die ganze Nacht mit dieser billigen Polyesterperücke in deinem Bett gelegen und Luce-mit-Magengrippe gespielt, damit ihr beiden jetzt unsere Tarnung auffliegen lassen könnt.« Sie verdrehte die Augen. »Amateure.«
»Warte mal. Du hast was getan?«, fragte Luce.
»Als du ... verschwunden warst«, sagte Callie, »war doch eins klar. Das konnten wir deinen Eltern einfach nicht erklären. Ich konnte es ja selbst kaum fassen, obwohl ich es mit eigenen Augen gesehen hatte. Während Gabbe den Garten in Ordnung gebracht hat, habe ich deinen Eltern erzählt, dass dir übel sei und du ins Bett gegangen seist, und Molly hat so getan, als sei sie du, und ...«
»Ein Glück, dass ich das hier in deinem Schrank gefunden habe.« Molly zwirbelte eine kurze schwarze Lockenperücke um einen Finger. »Ein Überbleibsel von Halloween?«
»Wonderwoman.« Luce zuckte zusammen und verfluchte ihr Halloweenkostüm aus der Mittelschule, und das nicht zum ersten Mal.
»Nun, es hat funktioniert.«
Es war seltsam, dass Molly - die einst mit Luzifer paktiert hatte - ihr half. Aber wie Cam und Roland wollte selbst Molly nicht noch einmal den Sturz erleben. Da waren sie nun also, ein Team, ein seltsames Gespann.
»Du bist für mich eingesprungen? Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Danke.«
»Na wenn schon.« Molly machte eine Kopfbewegung zu Callie, um von Luces Dankbarkeit abzulenken. »Sie war diejenige mit den Engelszungen. Bedank dich bei ihr.« Sie streckte ein Bein durch das offene Fenster und drehte sich um: »Denkt ihr, ihr kommt jetzt alleine klar? Ich muss an einem Gipfeltreffen im Waffle House teilnehmen.«
Luce reckte den Daumen hoch und ließ sich auf ihr Bett fallen.
»Oh, Luce«, flüsterte Callie. »Als du weg warst, war euer ganzer Garten mit grauem Staub bedeckt. Und dieses blonde Mädchen, Gabbe, hat nur einmal die Hand bewegt und alles war verschwunden. Dann haben wir gesagt, du seist krank, dass alle anderen nach Hause gegangen seien, und wir haben einfach angefangen, mit deinen Eltern den Abwasch zu machen. Und zuerst dachte ich, diese Molly sei ein bisschen schrecklich, aber in Wirklichkeit ist sie irgendwie cool.« Ihre Augen wurden schmal. »Aber wo warst du? Was ist mit dir passiert? Du hast mir wirklich einen Schrecken eingejagt, Luce.«
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Luce.
Ein Klopfen erklang, gefolgt von dem vertrauten Knarren ihrer sich öffnenden Zimmertür.
Luces Mutter stand im Flur, das vom Schlaf zerzauste Haar von einer gelben Bananenspange gezähmt, das Gesicht ungeschminkt und hübsch. Sie hielt ein Basttablett mit zwei Gläsern Orangensaft, zwei Tellern mit gebuttertem Toast und einer Schachtel Alka-Seltzer. »Sieht so aus, als würde sich da jemand besser fühlen.«
Luce wartete, bis ihre Mom das Tablett auf den Nachttisch gestellt hatte, dann schlang sie die Arme um ihre Mutter und vergrub das Gesicht in ihrem rosafarbenen Frotteebademantel. Tränen brannten ihr in den Augen. Sie schniefte. »Mein kleines Mädchen«, sagte ihre Mom und fühlte Luce die Stirn und die Wangen, um festzustellen, ob sie Fieber hatte. Seit Ewigkeiten hatte sie nicht mehr mit dieser sanften Stimme zu Luce gesprochen, und jetzt tat es gut, sie zu hören.
»Ich habe dich lieb, Mom.«
»Erzähl mir nicht, dass sie zu krank für Black Friday ist.« Luces Vater erschien in der Tür, eine grüne Plastikgießkanne in der Hand. Er lächelte, aber hinter seiner randlosen Brille wirkten Mr Price' Augen besorgt.
»Es geht mir besser«, erklärte Luce. »Aber ...«
»Oh, Harry«, sagte Luces Mom. »Du weißt, dass wir sie nur für den einen Tag hier hatten. Sie muss zurück in die Schule.« Sie wandte sich an Luce. »Daniel hat vor einer Weile angerufen, Liebes. Er sagte, er könne dich abholen und in die Sword & Cross zurückbringen. Ich habe gesagt, dass dein Vater und ich dich natürlich gerne fahren würden, aber ...«
»Nein«, unterbrach Luce sie schnell und dachte an den Plan, den Daniel im Wagen erklärt hatte. »Auch wenn ich nicht mitgehen kann, solltet ihr beiden trotzdem eure Black Friday Einkäufe machen. Es ist eine Price'sche Familientradition. «
Sie einigten sich darauf, dass Luce mit Daniel fahren sollte und ihre Eltern Callie zum Flughafen bringen würden. Während die Mädchen aßen, hockten Luces Eltern auf der Bettkante und sprachen über Thanksgiving (»Gabbe hat das ganze Porzellan poliert - was für ein Engel«). Als sie zu den Black Friday Schnäppchen kamen, auf die sie Jagd machen wollten (»Dein Vater will immer nur Werkzeug«), wurde Luce bewusst, dass sie nichts gesagt hatte außer idiotischen Rückmeldungen wie »Mhm« und »Ach wirklich?«.
Als ihre Eltern endlich aufstanden, um die Teller in die Küche zu bringen, und Callie zu packen begann, ging Luce ins Badezimmer und schloss die Tür.
Es kam ihr so vor, als sei sie das erste Mal seit einer Million Jahren allein. Sie setzte sich auf den Schminkhocker und schaute in den Spiegel.
Sie war sie selbst, aber anders. Sicher, Lucinda Price blickte ihr entgegen. Aber auch ...
Da war Layla mit ihren vollen Lippen, Lulu mit dem dicken gewellten Haar, Lu Xin mit ihren intensiven haselnussbraunen Augen, Lucia mit ihrem Funkeln. Sie war nicht allein. Vielleicht würde sie nie wieder allein sein. Aus dem Spiegel blickte sie eine jede ihrer Inkarnationen an und fragte sich: Was soll aus mir werden? Was ist mit meiner Geschichte und meiner Liebe? Sie duschte und zog saubere Jeans an, ihre schwarzen Reitstiefel und einen langen weißen Pullover. Dann setzte sie sich auf Callies Koffer, während ihre Freundin mit dem Reißverschluss kämpfte. Das Schweigen zwischen ihnen lastete schwer.
»Callie, du bist meine beste Freundin«, sagte Luce schließlich. »Ich mache etwas durch, was ich nicht verstehe. Aber es hat nichts mir dir zu tun. Es tut mir leid, dass ich nicht weiß, wie ich mich genauer ausdrücken kann, aber ich habe dich vermisst. So sehr.«
Callies Schultern spannten sich an. »Früher hast du mir alles erzählt.« Doch der Blick, den sie tauschten, sagte, dass beide Mädchen wussten, dass das nicht länger möglich war. Vor dem Haus schlug eine Autotür zu.
Durch die offene Jalousie sah Luce, wie Daniel auf das Haus zukam. Und obwohl noch keine Stunde vergangen war, seit er sie abgesetzt hatte, beschleunigte sich ihr Herzschlag und ihre Wangen röteten sich bei seinem Anblick. Er ging langsam, als würde er schweben, und sein roter Schal flatterte hinter ihm im Wind. Selbst Callies Augen folgten ihm.
Sie standen mit ihren Eltern am Eingang. Luce schloss jeden lange in die Arme - zuerst ihren Dad, dann ihre Mom, dann Callie, die ihre Umarmung erwiderte und flüsterte: »Was ich gestern Abend gesehen habe - wie du in diesen ... diesen Schatten getreten bist - das war wunderschön. Ich will nur, dass du das weißt.«
Luce spürte, dass ihre Augen erneut zu brennen anfingen. Sie drückte Callie noch einmal und flüsterte: »Danke.«
Dann lief sie den Weg hinunter und in Daniels Arme.
Übersetzung: Michaela Link
© 2013 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Lauren Kate
Lauren Kate wuchs in Dallas auf, arbeitete einige Zeit in einem New Yorker Verlag und zog dann nach Kalifornien, wo sie "Creative Writing" studiert und parallel an ihrem ersten Jugendbuch arbeitete. "Engelsnacht" ist ihr erster Fantasyroman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lauren Kate
- Altersempfehlung: 13 - 16 Jahre
- 2013, 416 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Link, Michaela
- Übersetzer: Michaela Link
- Verlag: cbt
- ISBN-10: 3570160807
- ISBN-13: 9783570160800
- Erscheinungsdatum: 22.07.2013
Rezension zu „Engelslicht “
"Der aufregende Abschluss der süchtig machenden Bestseller-Serie um Luce, Daniel und ihre unsterbliche Liebe durch die Jahrhunderte." Literatur-Report
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