Ghostman
Thriller. Ausgezeichnet mit dem CWA The Ian Fleming Steel Dagger for Thrillers 2013. Deutsche Erstausgabe
Kein Coup ist zu heiß für ihn, kein Job ist zu gefährlich ...
Sich unsichtbar zu machen, ist sein tägliches Geschäft. Alles Mögliche verschwinden zu lassen, damit kennt er sich aus. Diesmal geht es um einen misslungenen...
Sich unsichtbar zu machen, ist sein tägliches Geschäft. Alles Mögliche verschwinden zu lassen, damit kennt er sich aus. Diesmal geht es um einen misslungenen...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ghostman “
Kein Coup ist zu heiß für ihn, kein Job ist zu gefährlich ...
Sich unsichtbar zu machen, ist sein tägliches Geschäft. Alles Mögliche verschwinden zu lassen, damit kennt er sich aus. Diesmal geht es um einen misslungenen Überfall auf ein Kasino. Er soll aufräumen, die Spuren beseitigen. Eine Millionen Dollar in bar stehen auf dem Spiel - 48 Stunden hat er Zeit. Und da draußen gibt es jemanden, der es auf seinen Kopf abgesehen hat. Aber auch der wird ihn zuerst einmal finden müssen. Sie nennen ihn schließlich nicht umsonst "Ghostman".
Sich unsichtbar zu machen, ist sein tägliches Geschäft. Alles Mögliche verschwinden zu lassen, damit kennt er sich aus. Diesmal geht es um einen misslungenen Überfall auf ein Kasino. Er soll aufräumen, die Spuren beseitigen. Eine Millionen Dollar in bar stehen auf dem Spiel - 48 Stunden hat er Zeit. Und da draußen gibt es jemanden, der es auf seinen Kopf abgesehen hat. Aber auch der wird ihn zuerst einmal finden müssen. Sie nennen ihn schließlich nicht umsonst "Ghostman".
Klappentext zu „Ghostman “
Kein Coup ist zu heiß für ihn, kein Job ist zu gefährlich ...Sich unsichtbar zu machen, ist sein tägliches Geschäft. Alles Mögliche verschwinden zu lassen, damit kennt er sich aus. Diesmal geht es um einen misslungenen Überfall auf ein Kasino. Er soll aufräumen, die Spuren beseitigen. Eine Millionen Dollar in bar stehen auf dem Spiel - 48 Stunden hat er Zeit. Und da draußen gibt es jemanden, der es auf seinen Kopf abgesehen hat. Aber auch der wird ihn zuerst einmal finden müssen. Sie nennen ihn schließlich nicht umsonst "Ghostman".
Lese-Probe zu „Ghostman “
Ghostman von Roger HobbsIns Deutsche übertragen von Rainer Schmidt
Prolog
Atlantic City, New Jersey
Hector Moreno und Jerome Ribbons saßen in ihrem Wagen im Erdgeschoss der Parkgarage des Atlantic Regency Hotel Casinos und zogen sich mit einem zusammengerollten fünfer, einem Feuerzeug und einem zerknautschten Stück Alufolie ihr Crystal Meth rein. Sie hatten dreißig Minuten.
Es gibt drei gute Methoden, ein Casino auszurauben. Die erste führt durch den Vordereingang. Das hat in den Achtzigern geklappt, heute eher weniger. Wie bei einer Bank spazierten da zwei Typen mit Masken und Knarren rein und zeigten dem hübschen kleinen Ding hinter dem Gitter ein bisschen Eisen. Sie fing an zu heulen und um ihr Leben zu betteln, und der Geschäftsführer reichte die Bündel aus der Schublade herüber. Anschließend spazierten die bösen Buben zum Vordereingang wieder hinaus und düsten davon, denn eine Schießerei hätte das Casino mehr gekostet als das, was man aus dem Gitterkäfig geholt hatte. Aber die Zeiten ändern sich. Die Kassierer sind inzwischen entsprechend ausgebildet. Die Security ist aggressiver. Sobald der lautlose Alarm losgeht - und das tut er immer -, kommen die Jungs mit den Gewehren aus dem Gebüsch. Sie warten immer noch, bis du gehst, aber wenn du durch die Tür kommst, stehen da vierzig Mann mit halbautomatischen AR-15 und Schrotgewehren, um dich zu erledigen. Keine zwei Minuten Vorsprung wie früher.
... mehr
Bei der zweiten Methode nimmt man sich die Chips vor. Du fährst mit dem Aufzug von den Suiten nach unten, gehst an den Roulettetisch, wo die großen Einsätze gemacht werden, und jagst eine Kugel durch die Double Zero. Sobald der Schuss knallt, rennen alle weg, besonders der Croupier. Reiche Leute sind nicht mutig, und Angestellte sind es noch weniger. Wenn sie weg sind, harkst du alle Chips in einen Sack. Du feuerst noch zwei Kugeln in die Decke, damit sie wissen, dass du es ernst meinst, und dann läufst du raus, als wäre der Teufel dir auf den Fersen. Klingt blöd, funktioniert aber. Du lässt die Käfige in Ruhe, und deshalb ist die Reaktionszeit länger, und draußen wartet nicht die Security wie im ersten Szenario. Du könntest es tatsächlich zum Parkplatz und von da auf den Highway schaffen. Aber dann hast du immer noch das Problem, was du mit den Chips anfangen sollst. Wenn du genug erwischt hast, sagen wir, für eine Million oder mehr, wird das Casino sämtliche Chips auf dem Parkett gegen neue mit einem anderen Design auswechseln, und dann hast du einen Sack voll wertloser Tonscherben. Schlimmer noch, die Technologie macht diese Methode obsolet. Manche Casinos setzen zu Zählzwecken Mikrochips ein und können damit die, die du mitgenommen hast, nachverfolgen. Innerhalb von sechs Wochen stehst du auf allen Fahndungslisten zwischen Vegas und Monaco, und die Chips sind schon wieder wertlos. Wenn aus irgendeinem Grund beides nicht zutrifft, kannst du im besten Fall darauf hoffen, sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, aber das geht nur zum halben Nennwert oder noch billiger, denn niemand wird dieses Risiko eingehen, wenn er sein Geld nicht verdoppeln kann. Langer Rede kurzer Sinn: Chips bringen's nicht.
Die dritte Methode, ein Casino auszurauben, besteht darin, das Geld im Transit zu stehlen. Man schnappt sich einen der gepanzerten Transporter. Casinos bewegen eine Menge Bargeld. Sogar mehr als Banken. Die meisten bewahren keine Riesenpaletten mit Hundertern im Keller auf wie im Kino. Sie haben überall verteilt kleinere Bargeldkäfige, keine massigen Tresore mit Hunderten von Millionen. Und statt das gestapelte Geld zu behalten, tun sie das, was jede Einrichtung dieser Größe tut. Wenn sie zu viel Bargeld haben, schicken sie es mit einem gepanzerten Transporter zur Bank. Wenn sie nicht genug haben, läuft das Gleiche umgekehrt. Alles in allem zwei oder drei Lieferungen am Tag.
Aber einen Geldtransporter auszuräumen ist eigentlich nicht zu machen. Ein modernes Fahrzeug ist wie ein Panzer. Sich die Bank vorzunehmen, von der das Geld kommt, ist eigentlich auch keine Option, denn Banken haben eine noch bessere Security als Casinos. Entscheidend ist, dass man mitten in der Transaktion zuschlägt, wenn die Leute das Geld ein- oder ausladen. Da machen sie es dir sogar leicht. Die meisten Casinos haben kein spezielles Geldtransporter-Depot, denn das ist ihnen zu unpraktisch. Stattdessen parkt der Truck vor einem der Seiten- oder Hintereingänge, jedes Mal vor einem anderen. Die Wachleute machen die Hecktür auf, und dann tragen sie das Geld einfach durch die Glastüren. Das ist der ideale Moment, um zuzuschlagen. Zweimal am Tag sechzig Sekunden lang wird mehr Geld von einer Hand zur nächsten gereicht, als zwei Mann aus einem Dutzend Banken holen könnten. Unter freiem Himmel, vor aller Augen. Ein Profi-Team muss nichts weiter tun, als zwei oder drei Typen mit Bürstenhaarschnitten und Pistolen auszuschalten und die fliege zu machen, bevor die Cops eintreffen. Ganz einfach. Natürlich muss man wissen, wann die Lieferungen stattfinden und wie viel Geld im Spiel ist und welchen Eingang die Trucks benutzen werden, aber an solche Details zu kommen ist nicht unmöglich. Das ist der leichtere Teil. Schwierig ist es wegzukommen. Wenn du es schaffst, dir das Geld zu schnappen und in zwei Minuten weg zu sein, bist du reich.
Jerome Ribbons schaute auf seine goldene Rolex. Es war halb sechs in der Früh.
Bis zur ersten Lieferung noch eine halbe Stunde.
Ein Casino auszurauben erfordert monatelange Planung. Ein Glück für sie war, dass Ribbons so was nicht zum ersten Mal machte. Er war ein zweimal verurteilter Straftäter aus North Philadelphia. Das war nichts Rühmliches, nicht mal bei einem, der solche Jobs organisierte, aber es bedeutete, dass er einen guten Grund hatte, sich nicht erwischen zu lassen. Seine Haut hatte die Farbe von Holzkohle, und die blauen Tattoos, die unter seiner Kleidung hervorschauten, hatte er aus dem Knast in Rockview. Er hatte fünf Jahre für den Überfall auf eine Citibank in Northern Liberties in den Neunzigern gesessen und war seit seiner Entlassung an vier oder fünf Bank-Jobs beteiligt gewesen. Ribbons war ein massiger Mann, über eins neunzig groß und mit mehr als dem entsprechenden Gewicht. fettrollen quollen über seinen Gürtel, und sein Gesicht war rund und glatt wie das eines Kindes. An guten Tagen stemmte er vierhundert Pfund, und sechshundert nach zwei Lines Koks. Er war gut in dem, was er tat, was immer in seinem Vorstrafenregister stehen mochte.
Hector Moreno war eher der Soldatentyp. Eins fünfundsechzig groß, mit einem Viertel des Gewichts, das Ribbons auf die Waage brachte, Haaren so kurz wie Wüstengras und Knochen, die durch die kaffeebraune Haut schimmerten. Er war beim Militär zu einem guten Schützen geworden, und er zuckte nur mit der Wimper, wenn er zuckte. Er hatte eine unehrenhafte Entlassung in den Papieren, aber keine Haftstrafe. Als er nach Hause gekommen war, hatte er ein Jahr lang in Boston Koteletts zugeschnitten und ein weiteres damit verbracht, bei Dope-Dealern in Vegas Schutzgeld zu kassieren. Das hier war sein erster großer Job, und darum war er nervös. Er hatte eine ganze Apotheke hier bei sich im Dodge, nur um die Rübe oben zu behalten. Pillen, Popper und Pülverchen sowie Zeug zum Rauchen. Mit einer Faustvoll Speed wollte er seine Hektik wegbrennen. Drogen bekam er nie genug. In der Vorbereitungszeit hatten sie den ganzen Plan immer und immer wieder durchgesprochen, aber Moreno brauchte mehr als das. Schlürfend verbrannte er einen dicken Klumpen Crystal Meth. Seine Augen fingen an zu tränen. Ein Freund von ihm hatte den Stoff in einem Trailer westlich des Schuynkill River gekocht. Es war Strawberry Quick von schlechter Qualität, doch das war ihm egal. Er wollte ein wenig runterkommen, aber sich nicht vor der eigentlichen Show mit Meth und Farbverdünner die Schädeldecke wegsprengen.
Ribbons schaute wieder auf die Uhr. Vierundzwanzig Minuten.
Keiner der beiden sprach. Es war nicht nötig.
Moreno zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an, und dann reichte er Ribbons die Folie hinüber. Er stieß zweimal kurz hintereinander paffend den Rauch aus.
Ribbons betäubte seinen Mund mit einem Schluck aus der Bourbon-flasche. Meth zu rauchen ist ein heißes und bitteres Erlebnis. Er ließ sich Zeit, als er den Tropfen über die Folie in seinen schwieligen Fingern verfolgte. Es war nicht das erste Mal für ihn. Das Meth gab ihm ein gutes Gefühl, aber nicht annähernd so gut wie der Kick, den er kriegen würde, wenn er die Maske auf und die Pistole in der Hand hätte. Er war gern mitten im dicksten Getümmel.
Moreno beobachtete ihn, rauchte seine Zigarette und nahm verstohlen ein paar Schluck aus der Flasche mit dem Hustensirup. Sein Herz setzte einmal aus. Viele Leute in seinem alten Viertel hätten ordentlich etwas dafür hingelegt, derart erstklassig high zu sein, aber keiner von denen nahm mehr Hustensirup. Nur er. Man sah dann Sachen wie in einem Fieber, das so hoch war, dass man am Rande des Todes stand. Man sah Gott am Ende des Tunnels warten. Niemand sonst erzählte ihm von der endlosen Atemnot, dem Herzklopfen oder dem Zeug, das man halluzinierte, wenn der Hustenstiller in den Blutkreislauf gelangte wie eine Ladung Ketamin. Er hörte dem Radio zu und wartete.
Moreno schnippte seine Zigarette aus dem Fenster und fragte: »Hast du dir dein Haus schon ausgesucht?«
»Ja. Ein blaues viktorianisches. Superlage unten am Wasser. Virginia.«
»Was hat die Lady gesagt?«
»Dass wir einen Käufermarkt haben. Mit unserem Deal gibt's kein Problem.«
Sie saßen eine Weile schweigend da und hörten die morgendlichen Verkehrshinweise im Radio. Es gab auch nicht viel zu sagen - nichts, was sie nicht schon tausendmal bei Kaffee und Blaupausen vor leuchtenden Computermonitoren gesagt hatten. Es gab nichts mehr zu tun, außer sich die Verkehrshinweise anzuhören.
Sie hatten diesen Job weit im Voraus geplant, auch wenn es vielleicht falsch ist, wenn man sagt, sie hätten ihn überhaupt geplant. Der Mann mit der Idee saß dreitausend Meilen weiter westlich an seinem Telefon in Seattle und wartete darauf, dass er einen Anruf tätigen würde. Er war der »Jugmarker« - der Mann, der alles ausgekundschaftet hatte. Die meisten Raubüberfälle sind Operationen von einsamen Wölfen, aus denen nie etwas wird. Zwei Crackheads, die versuchen, eine Bank auszunehmen, landen schnell im Knast. Aber ein Job mit einem Jugmarker ist etwas anderes. Das ist ein Job, von dem man einmal in den Abendnachrichten hört und dann nie wieder. Einer, der von Anfang an gut läuft. Dies war ein Job mit einem strengen Plan, mit Timing und Endspiel. Eine Jugmarker-Operation von Anfang bis Ende. Der Mann mit dem Plan wusste alles, und er gab die Kommandos. Ribbons und Moreno sprachen seinen Namen nicht gern aus. Niemand tat das.
Es brachte Unglück.
Aber Ribbons und Moreno waren nicht dumm. Sie kannten die Anordnung der Sicherheitskameras. Sie kannten den Transporter innen und außen. Sie wussten, wie die Fahrer und die Casino-Manager hießen, sie kannten ihre Gewohnheiten, ihre Akten, ihre Telefonnummern, ihre Freundinnen. Sie wussten Sachen, die sie niemals brauchen würden; das alles war Teil der Vorbereitung. Es gab tausenderlei Möglichkeiten, dass etwas schieflief. Also ging es darum, das Chaos im Griff zu haben. Jetzt blieben allerdings nur noch die Verkehrsmeldungen, auf die sie sich konzentrieren konnten.
Nach zwanzig Minuten klingelte Ribbons' Telefon. Ein schrilles Geräusch, zweimal. Ein spezieller Klingelton für eine spezielle Nummer. Er brauchte sich nicht zu melden. Beide Männer wussten, was es bedeutete. Sie wechselten einen Blick. Ribbons leitete den Anruf auf die Voicemail um, packte die Drogen ins Handschuhfach und schaute ein drittes und letztes Mal auf die Uhr. Zwei Minuten vor sechs Uhr früh.
Der Zwei-Minuten-Countdown hatte begonnen.
Ribbons nahm eine Skimaske aus feinfaseriger Baumwolle aus dem Handschuhfach, setzte sie auf und zog sie zurecht, bis der Stoff glatt auf seinem Gesicht lag. Moreno tat langsam das Gleiche mit seiner eigenen Maske. Ribbons hielt die Drähte unter dem Armaturenbrett aneinander und startete den Motor. Auf dem Boden lag eine KDH-Weste mit Kugelschutzplatten der Klasse 4, die die Projektile aus Aufständischengewehren auf eine Distanz von fünfzehn Metern stoppen konnten. Ribbons musste sie anziehen. Er war der Frontmann. Unter einer Decke auf dem Rücksitz lag ein Remington-Jagdgewehr Model 700 mit fünf Patronen, ausgestattet mit einer Laserzielvorrichtung und einem achteinhalbzölligen Schalldämpfer vom Typ AWC Thundertrap - Morenos Waffe. Daneben lag eine vollautomatische Kalaschnikow Type 56 mit drei Magazinen 120-Grain-Vollmantel-Torpedoheck-Geschossen. Ribbons nahm die Kalaschnikow, schob ein Magazin hinein, zog den Spannhebel zurück, drehte sich zu Moreno um und fragte: »Bist du so weit?«
»Ich bin so weit.«
Sie schwiegen wieder. Die Lichter in der Parkgarage flackerten und gingen dann aus. Nach Sonnenaufgang waren sie nicht mehr nötig. Der Dodge Spirit war übersät von faulig braunen Rostflecken. Geradeaus vor ihnen auf der anderen Straßenseite sah man den Seiteneingang des Casinos, wo der Transporter anhalten würde. Die Regenstreifen auf der Frontscheibe erinnerten Ribbons an ein Kaleidoskop.
Neunzig Sekunden vor der planmäßigen Ankunft des Trucks stieg Moreno aus und ging vor der Straße hinter einer Absperrung in Stellung. Die Salzluft hatte den Beton bis auf die Moniereisen zerfressen. Moreno schaute zu den Überwachungskameras hinauf. Sie waren weggedreht. Das Timing war perfekt. Die Sicherheitsmaßnahmen des Casinos waren so streng, dass sie Kameras selbst in der Parkgarage hatten - aber eben nicht streng genug. Moreno hatte die blinden Flecken der Kameras ausfindig gemacht und schon vor sechs Wochen getestet. Eigentlich interessierte es niemanden, was morgens um sechs in der Parkgarage los war. Moreno legte den Gewehrlauf auf den Betonblock. Er nahm den Objektivdeckel vom Visier, zog den Hebel zurück und lud die erste Patrone in die Kammer.
Dann stieg Ribbons aus. Er beeilte sich, solange die Kameras noch weggedreht waren, und versteckte sich hinter dem nächsten Pfeiler an einem weiteren blinden Fleck. Er fing an, tief durchzuatmen und sich locker zu machen, und bereitete sich darauf vor zu laufen. In seinen klobigen Händen sah die Kalaschnikow winzig aus. Er hielt sie dicht vor der Brust. Langsam wurde ihm übel. Das altvertraute Gefühl kroch in seinen Magen, wie es immer passierte. Die Nerven. Nicht so schlimm wie bei Moreno, dachte er, aber doch spürbar, jedes Mal.
Sechzig Sekunden.
Ribbons zählte sie im Kopf herunter. Das Timing war äußerst wichtig. Sie hatten strenge Anweisung, erst im exakt richtigen Moment loszugehen. Schweiß machte die Innenseite seiner Handschuhe glitschig. In Latexhandschuhen ist es schwerer, präzise zu schießen, aber er hatte den Befehl, sie bis zum Ende des Tages anzubehalten. Still wie der Buddha stand er hinter seinem Pfeiler, auch wenn der ein bisschen zu klein für ihn war. Er hatte nicht mal genug Platz, um seinen Jackenärmel hochzuziehen und auf die Uhr zu sehen. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Atmen. Ein und aus und ein und aus. Die Sekunden tickten in seinem Kopf vorüber. Wasser tröpfelte über ihm von der Betondecke.
Um Punkt sechs Uhr rollte der Transporter von Atlantic Armored über die grüne Ampel an der Ecke und bog in die Straße ein. Fahrer und Wachmann trugen braune Uniformen. Der Truck war drei Meter hoch und wog fast drei Tonnen. Er war weiß, und das Logo von Atlantic Armored war auf beide Seiten lackiert. Er fuhr in die Ladezone des Casinos und rollte unter dem »Regency«-Schild langsam aus. Ribbons atmete so schnell und laut, dass er sonst fast nichts mehr hörte.
Gepanzerte Fahrzeuge sind nie zu unterschätzen. Es sind einschüchternde Maschinen. Das liegt nicht nur an offensichtlichen Dingen wie der drei Zoll dicken, kugelsicheren Panzerung oder an den Reifen, die mit fünfundvierzig Schichten DuPont-Kevlar verstärkt sind, oder an den Fenstern aus transparentem Polykarbonat, die ein ganzes Magazin von panzerbrechenden Zehn-Millimeter-Geschossen aushalten können. Nein, das alles ist offenkundig. Weitaus gefährlicher ist vielmehr das, was sich im Inneren eines solchen gepanzerten Wagens verbirgt. Die Wachleute zum Beispiel sind Männer, die am Schießstand ausgebildet sind. Kameras zeichnen ferner alles auf, was sich im Wagen abspielt. Es gibt sechzehn Schießscharten, sodass die Männer drinnen auf Ziele außerhalb des Wagens schießen können. Und zu allem Überfluss haben die Tresorkammern magnetische Bodenplatten. Wird die Beute von diesen Platten heruntergenommen, geht ein Timer los. Wenn der Timer abgelaufen ist, explodieren kleine Tintenpäckchen zwischen den Geldpaketen und ruinieren die Beute. Aber für einen Jugmarker und ein Team mit einem Plan stellen diese lästigen Einzelheiten kein Hindernis dar. Es gibt jedoch immer einen schwachen Punkt. In diesem Fall waren es sogar zwei. Punkt eins liegt auf der Hand: Nichts bleibt für immer in einem gepanzerten Fahrzeug. Irgendwann müssen die Jungs herauskommen, und dann bringen ihnen Panzerungen und Kameras und Magnetplatten nichts mehr. Punkt zwei erfordert ein bisschen mehr Nachdenken. Und viel mehr Grausamkeit. Du bringst die Wachleute um, und die Kohle gehört dir.
Es waren zwei, und beide saßen vorn in der Kabine. Ein Fahrer, ein Geldträger, beide mit zwei Jahren Erfahrung, hatten die Recherchen ergeben. Der eine hatte Familie, der andere nicht. Als der Truck angehalten hatte, waren sie ausgestiegen. Kaum hatten sie die Türen geschlossen, kam ein Typ in einem billigen schwarzen Anzug aus dem Casinoeingang, um sie zu begrüßen. Er hatte eine beginnende Glatze und trug ein Namensschild am Revers. Der Tresormanager des Casinos. Mitte vierzig und die sauberste Vergangenheit, die man nur haben konnte. Nicht mal ein Strafzettel fürs falschparken fand sich in seiner Akte. Er nahm einen Schlüssel und reichte ihn dem Geldträger. Natürlich durfte er selbst mit seiner blitzsauberen Akte niemals in den Truck hinein. Nicht in zehn Jahren. Die Uniformen waren hier draußen zuständig, er drinnen im Käfig. Er wartete auf dem Gehweg und rieb die Handflächen aneinander.
Dreißig Sekunden.
Der Fahrer nahm einen anderen Schlüssel vom Gürtel und reichte ihn dem Träger, der die Hecktür des Trucks aufschloss und hineinkletterte. Dort hinten, in die Seitenwand des Fahrzeugs eingebaut, befand sich ein Tresor, der mit einer weiteren Lage kugelsicherer Keramikpanzerung verkleidet war. Sein Schlüssel passte in das eine der beiden Schlösser, der des Tresormanagers in das andere. Noch nie hatte jemand einen Truck von Atlantic Armored ausgeraubt. Der Service war erstklassig und richtete sich an paranoide Banker und Hotels mit einem Kontenumfang, dessen Wert unendlich viel höher war als eine ganze flotte von gepanzerten Fahrzeugen. Security war ein großes Thema in dieser Stadt. Das betreffende Objekt war ein Zwölf-Kilo-Klotz aus vakuumverpackten HundertDollar- Scheinen der neuen Art mit dem Sicherheitsstreifen aus glänzendem Metall in der Mitte. Der ganze Packen setzte sich aus Hunderter-Bündeln zusammen, die Straps genannt wurden, weil sie zur leichteren Zählbarkeit mit senffarbenen Banderolen, den »Straps«, zusammengehalten wurden. Jeder Strap war zehntausend Dollar wert. Der Zwölf-Kilo-Block enthielt 122 Straps, also 1 220 000 US-Dollar, komprimiert auf das Format eines großen Koffers. Der Träger zog das Geld von der Magnetplatte herunter. In einem Schubfach gegenüber lag eine blaue Kevlar-Tragetasche. Er schob den Geldblock in die Tasche und hängte die Tasche an einen kleinen Trolley, den er von einem Haken an der Wand nahm. Er zog eine Sonnenbrille aus der Tasche und schob dann den Trolley hinunter auf den Gehweg. Er war groß und sperrig und erforderte einiges Manövrieren.
Zehn Sekunden.
Als der Träger aus dem Truck gestiegen war, zog der Fahrer eine Glock 19 aus dem Halfter und hielt sie in Hüfthöhe. Das übliche Verfahren bei solch einer Lieferung. Er sah gelangweilt aus. Dies war die erste Lieferung des Tages, und er hatte noch zehn vor sich, hin und her zwischen verschiedenen Casinos zu verschiedenen Zeiten im Laufe seiner Schicht. Er rückte den Kolben seiner Waffe in der Hand zurecht, ließ aber den Finger vom Abzug. Der Träger schloss den Wagen ab und gab dem Tresormanager den Schlüssel des Casinos zurück, und der hakte ihn an seinen Gürtel. Der Fahrer ließ den Blick durch die Parkgarage wandern und wandte sich dann ab. Er machte zwei Schritte auf den Casinoeingang zu und winkte den beiden andern, ihm zu folgen.
Die Zeit war um. Ribbons gab das Zeichen.
Morenos Gewehr bäumte sich in seinen Armen sanft auf. Der Schuss war nicht lautlos, aber gedämpft. Er klang wie eine Nagelpistole aus der Nähe. Die Kugel traf den Fahrer hinter dem Ohr in den Kopf, fuhr glatt hindurch und trat durch die Nase wieder aus. Blut und Hirnmasse spritzten auf den Gehweg. Moreno wartete nicht ab, um den Mann fallen zu sehen. Auf diese Entfernung wusste er, wo die Kugel hingehen würde. Er zog den Hebel zurück, und die Hülse flog heraus. Innerhalb eines Sekundenbruchteils wechselte er zum nächsten Ziel, als habe er sein Leben lang nichts anderes getan. Die Distanz zum Tresormanager war die kürzeste, also war er der Nächste. Die Kugel durchschlug das Brustbein und zerriss sein Herz. Das dritte Ziel war bereits in Bewegung.
Der Träger warf sich in Richtung Truck. Er stolperte auf dem Gehweg, landete auf dem Pflaster und griff nach der Glock in seinem Halfter. Moreno verfolgte ihn durch das Visier, fixierte ihn und drückte ab. Die Kugel schlug zwei Handbreit daneben ein. Der Wachmann ging auf allen vieren in Deckung. Moreno gab Ribbons ein Handzeichen. Aus diesem Winkel würde er keinen zweiten Schuss anbringen können.
Ribbons kam hinter seinem Pfeiler hervor und hob die Kalaschnikow an die Schulter. Der Lauf pisste die Kugeln hervor, ungehemmt, vollautomatisch. Die Schüsse zerrissen die Morgenstille wie ein Presslufthammer mitten in der Nacht. Die Glastüren des Casinoeingangs zerklirrten in dem langen, 30-schüssigen Strom von Geschossen. Den dritten Mann erwischte das Gesetz der großen Zahl. Die meisten Kugeln gingen daneben, aber eine nicht. Sie traf den Träger unterhalb des Herzens ins Rückgrat. Zuckend lag er auf dem Gehweg. Im Casino fingen Leute an zu schreien.
Ribbons hüpfte über den Betonblock zwischen Parkgarage und Straße und lief auf den gepanzerten Wagen zu. Er ließ das Magazin herausfallen, riss ein zweites aus der Tasche und schob es in die Waffe. Es gab keinen Verkehr, in beiden Richtungen nicht. Zu früh. Er hielt das Gewehr mit einer Hand vor sich, für den Fall, dass jemand aus dem Casino käme, um das Geld an sich zu reißen. Er bückte sich, ohne die Tür aus dem Auge zu lassen, und hakte die Tasche mit der freien Hand von dem Trolley, an dem sie mit großen Nylonschnallen befestigt war. Aber er hatte nicht bedacht, wie schwierig es sein würde, sie einhändig mit einem Gummihandschuh und mit einem Viertelgramm Meth im Körper in der heißen Julisonne zu öffnen. Seine Hand zitterte.
Moreno beobachtete die Straße durch sein Visier. Komm schon, komm schon, komm schon.
Dann ging der Alarm los.
Es war ein schriller Hupton mit blitzenden Lichtern in der Lobby, gedacht für Brände und Erdbeben. Ribbons zuckte zusammen und feuerte eine Salve in den Eingang, damit niemand auf die Idee kam, nach draußen zu stürmen. Der Rückstoß drückte seinen Arm hoch, und Kugeln durchschlugen ein paar Fenster im Hotelturm des Casinos und rissen das »R« in der »Regency«-Neonschrift heraus. Kleine Messingteile klimperten auf den Asphalt. Er schrie, denn der Rückstoß hätte ihm fast das Handgelenk gebrochen. Als er die Kalaschnikow wieder unter Kontrolle hatte, beförderte er die Geldtasche frustriert mit einem Fußtritt auf den Boden. Scheiß drauf. Er richtete die Mündung auf die letzte Nylonschnalle und schoss das Ding weg.
Der Geldträger lag ein paar Schritte weiter gurgelnd auf dem Rücken. Sein Blick verfolgte Ribbons. Blut quoll schäumend aus seinem Mund und sammelte sich auf dem Boden wie ein Heiligenschein um sein Gesicht. Ribbons packte die Tasche an dem zerrissenen Gurt und warf sie über die Schulter. Als er an dem sterbenden Wachmann vorbeilief, schaute er auf ihn hinunter, senkte das Gewehr und feuerte eine kurze Salve in seinen Kopf.
In der Ferne hörte man Polizeisirenen, die von den Schüssen angelockt wurden. Ungefähr acht Straßen weit weg, wie es sich anhörte. Die dreißig Sekunden Reaktionszeit hatten jetzt angefangen. Ribbons rannte, so schnell er konnte, zur Parkgarage zurück. Er zitterte, obwohl er eine Handvoll Barbiturate eingefahren hatte. Sein Blick war wild wie bei einem Dschungelkrieger. Verkehr gab es immer noch nicht. Das Laufen war easy.
Moreno winkte ihm. Lauf schneller, du fettes Arschloch.
Als er in Hörweite war, schrie Ribbons: »Die Bullen kommen von Norden. Mach den verdammten Wagen auf, lass uns abhauen!«
Sie waren noch fünf Schritte weit auseinander. Auf die Kameras kam es jetzt nicht mehr an. Mit den Skimützen konnte die Security sie nicht identifizieren. Sie sprinteten zum Fluchtwagen, Ribbons setzte über die Betonsperre hinweg, und Moreno riss ihm die Beifahrertür auf. Er selbst würde fahren. Der ganze Job hatte weniger als eine halbe Minute gedauert. Sechsundzwanzig Sekunden, nach Ribbons' Rolex. So einfach war das: hinspazieren, Geld schnappen, abhauen. Auf Morenos Gesicht klebte ein idiotisches Lächeln. Alles würde perfekt laufen, dachte er. Aber kein Raubüberfall läuft perfekt. Es gibt immer ein Problem.
Zum Beispiel den Mann in dem Auto auf der anderen Seite der Parkgarage, der sie durch das Zielfernrohr seines Gewehrs beobachtete.
Was als Nächstes passierte, erlebte Ribbons nur verschwommen, wie in einem Nebel. Er wollte gerade ins Auto steigen, als er den Schuss hörte und sah, dass Moreno getroffen war. Rosaroter Dunst sprühte auf. Klümpchen von Hirnmasse und Schädelknochensplitter trafen ihn frontal wie das Schrapnell einer Granate. Zum Nachdenken hatte er keine Zeit. Er riss die Kalaschnikow hoch und ließ blindlings einen Strom von Blei in die Richtung los, aus der er den Schuss gehört hatte. Aus einem der Autos hinter ihm blitzte etwas hervor, aber Ribbons hatte keine Munition mehr. Er sprang aus dem Dodge, ließ das Magazin herausfallen und schob ein neues ein. Er hatte das Gewehr noch nicht wieder an der Schulter, als eine Kugel die Frontscheibe durchschlug. Ribbons richtete das Gewehr auf den Mündungsblitz und erwiderte das Feuer. Der nächste Schuss kam direkt auf ihn zu. Er hastete um den Wagen herum zur Fahrerseite und gab schnell hintereinander kurze Feuerstöße ab. Eine Kugel traf seine Schulter und prallte von der Schutzweste ab. Der Aufschlag war so stark, dass Ribbons herumgerissen wurde und ins Taumeln geriet, aber er spürte ihn kaum. Er fing sich wieder und schoss weiter. Eine zweite Kugel traf ihn über dem Bauch in die Brust. Es fühlte sich an wie ein scharfer Stich. Ribbons schrie. Die Kalaschnikow war leer.
Fluchend ließ er sie fallen. Er zog einen Colt 1911 aus dem Kreuz und schoss einhändig und mit ausgestrecktem Arm, ohne ein Ziel zu sehen. Die blöde Maske war ihm über das eine Auge gerutscht. Er feuerte immer zweimal hintereinander in kurzen Abständen, um Deckung zu haben. Eine Gewehrkugel traf den Pfeiler hinter ihm und ließ Betonstaub und Putz durch die Gegend spritzen. Mit der freien Hand zerrte er Morenos Leiche vom Fahrersitz. Das Armaturenbrett war mit Hirnmasse bespritzt. Der nächste Schuss ging in den Kofferraum des Dodge, und Ribbons hörte den Aufprall am Fahrgestell. Der Motor lief noch. Ribbons legte den Rückwärtsgang ein. Er machte sich nicht die Mühe, die Tür zu schließen. Einen Moment lang hing sie weit offen, dann ließ die Fliehkraft sie zuschlagen. Er drehte sich über die Sitzlehne und feuerte durch das Rückfenster. Dann explodierten drei Handbreit neben seinem Kopf der Rückspiegel. Fahr schon, du Idiot.
Ribbons ließ die Reifen qualmen. Der Dodge setzte so schnell nach hinten, dass er die Reihe der Autos hinter ihm rammte und einen Funkenregen aufsprühen ließ. Ribbons schaltete in den Vorwärtsgang und donnerte die Rampe hinunter auf die Ausfahrt zu. So früh saß noch kein Wärter in der Kabine, und das war nur gut, denn Ribbons konnte nicht sehen, wohin er fuhr. Der ramponierte Dodge krachte über den Parkscheinautomaten weg, walzte die Wärterkabine nieder und flog schleudernd auf die Pacific Avenue hinaus, über eine rote Ampel hinweg und unkontrolliert auf der falschen Straßenseite in Richtung Park Place. Ribbons duckte sich hinter das Lenkrad und trat das Gaspedal durch. Die Felgen ließen am Randstein Funken sprühen. Er hörte Cops in einiger Entfernung herankreisen, im vollen Einsatz mit Blinklicht und Sirenen. Nur noch ein paar Straßen weit weg, nah genug, um zum Problem zu werden. Als er sich die Maske herunterriss, spritzten Schweißtropfen auf das Armaturenbrett. Er warf einen Blick nach hinten. Im Heckfenster war noch nichts zu sehen. Immer noch mit Vollgas fegte er über die breiten Boulevards von Atlantic City. Moreno, der Fahrer, hatte den Fluchtweg sekundengenau geplant. Dieser Plan war innerhalb von zehn Sekunden komplett zum Teufel gegangen.
Ribbons riss das Steuer herum, überquerte mit kreischenden Reifen einen Parkplatz und schoss durch die Gasse zwischen zwei Gebäuden.
Innerhalb von weniger als zehn Minuten würden Marke und Modell seines Wagens in jedem Streifenwagen und bei jedem Highway-Polizisten im Umkreis von fünfzig Meilen angekommen sein. Er musste das Auto, das Geld und sich selbst verschwinden lassen, bevor sie ihn einholen konnten. Aber vorher musste er Abstand gewinnen. Erst als er auf den Martin Luther King Boulevard einbog, spürte er, dass Blut durch die Kleidung unter der schusssicheren Weste drang. Er berührte die Wunde an seiner Brust. Die Kugel war durch die Weste gedrungen. Die Weste hatte das Projektil gebremst und deformiert, aber es hatte trotzdem siebenundzwanzig Schichten Kevlar und seine Haut durchschlagen. Es tat eigentlich nicht weh. Das verdankte er Morenos Speed und einem Schuss Heroin. Doch es blutete stark. Er würde die Wunde auswaschen und verbinden müssen, wenn er am Leben bleiben wollte. Eine fachgerechte Behandlung wäre erst später drin. Es ging nicht anders.
Das Telefon klingelte wieder. Der spezielle Klingelton. Der Anrufer hatte wenig Verständnis für Verspätungen, noch weniger für Inkompetenz und überhaupt keins für Versagen. Der Ruf dieses Mannes beruhte auf einer allumfassenden Angst, die FBI-Agenten einschüchterte und Mörder und Vergewaltiger in gehorsame Schulkinder verwandelte. Seine Pläne waren präzise, und er erwartete, dass man sie präzise befolgte. Die Möglichkeit des Scheiterns wurde nicht mal erörtert. Ribbons kannte keinen, der bei ihm gescheitert war. Jedenfalls keinen, der noch darüber sprechen konnte.
Ribbons schaute hinüber zu dem Telefon, das unter dem Beifahrersitz klemmte. Dann langte er hinüber und wies den Anruf mit einem Daumendruck ab.
Er versuchte sich auf den Fluchtweg zu konzentrieren, aber er konnte immer nur an sein kleines blaues Haus am Wasser denken. Durch den Drogendunst konnte er den alten viktorianischen Bau fast riechen, und er fühlte die abblätternde Farbe an seinen Fingerspitzen. Sein erstes Haus. Er bewahrte das Bild in seinem Kopf wie eine Schmusedecke, die den Schmerz der Kugel in seiner Brust umhüllte. Er konnte es schaffen. Er musste. Musste.
Zwei Minuten nach sechs in der verdammten Frühe.
Zwei Minuten nach sechs in der verdammten Frühe und die Polizei war schon in voller Stärke unterwegs und durchkämmte die Straßen nach ihm. Zwei Minuten nach sechs in der verdammten Frühe und die Meldung von dem Raubüberfall war bereits bei der Highway-Polizei und beim FBI. Vier Tote. Mehr als eine Million Dollar erbeutet. Über hundert Patronenhülsen auf dem Asphalt. Eine Sache für die Titelseiten.
Es war zwei Minuten nach sechs in der verdammten Frühe, und die Polizei hatte ihre Detectives bereits geweckt.
Noch zwei Stunden vergingen, und dann weckte jemand mich.
1
Seattle, Washington
Das hohe, schrille »Pling« einer ankommenden E-Mail klingelte wie eine Glocke in meinem Kopf. Ich schrak aus dem Schlaf, und meine Hand fuhr zu der Pistole neben mir. Mein Atem ging keuchend, während meine Augen sich an das Licht gewöhnten, das von meinen Überwachungsmonitoren kam. Ich schaute hinüber zum Fensterbrett, wo ich meine Armbanduhr hingelegt hatte. Der Himmel war noch schwarz wie Tinte.
Ich zog die Pistole unter dem Kopfkissen hervor und legte sie auf den Nachttisch. Ganz ruhig!
Als ich mich gefasst hatte, warf ich einen Blick auf die Monitore. Im Flur und im Aufzug war niemand. Niemand auf der Treppe, niemand unten im Eingangsbereich. Der einzige wache Mensch war der Nachtwächter, der viel zu sehr in ein Buch vertieft war, um etwas zu bemerken. Es war ein altes zehngeschossiges Gebäude, und ich war im siebten Stock. Bewohnt war es je nach Jahreszeit. Nur die Hälfte der Apartments wurde das ganze Jahr hindurch benutzt, und keiner dieser Bewohner stand jemals früh auf. Alle schliefen oder waren den Sommer über nicht da.
Mein Computer machte noch einmal »Pling«.
Ich lebe seit fast zwanzig Jahren von bewaffneten Raubüberfällen. Paranoia gehört zum Geschäft, genau wie ein Stapel mit falschen Pässen und Hundert-Dollar-Scheinen unter der untersten Schublade meiner Kommode. Angefangen habe ich als Teenager mit ein paar Banken, weil ich dachte, das Prickeln könnte mir gefallen. Ich hatte nie besonders viel Glück und wahrscheinlich auch nie besonders viel Verstand, aber ich bin immerhin noch nie von der Polizei erwischt oder verhört worden, und meine Fingerabdrücke sind auch nirgends gespeichert. Ich bin sehr gut in dem, was ich tue. Überlebt habe ich, weil ich äußerst vorsichtig bin. Ich lebe allein, ich schlafe allein, ich esse allein. Ich traue niemandem.
Es gibt vielleicht dreißig Menschen auf der Welt, die wissen, dass ich existiere, und ich bin nicht sicher, ob sie alle glauben, dass ich noch lebe. Ich führe notgedrungen ein sehr zurückgezogenes Dasein. Ich habe keine Telefonnummer, ich bekomme keine Post. Ich habe kein Bankkonto und keine Schulden. Ich bezahle nach Möglichkeit immer bar, und wenn das nicht geht, benutze ich eine Reihe von schwarzen Visa-Corporatecards, von denen jede mit einem Offshore-Konto verbunden ist. E-Mail ist die einzige Möglichkeit, mit mir Kontakt aufzunehmen, ohne dass es eine Garantie gibt, dass ich darauf antworte. Wenn ich in eine andere Stadt umziehe, ändere ich auch meine Mail-Adresse. Wenn Mails von Leuten kommen, die ich nicht kenne, oder wenn die Mails keine wichtigen Informationen mehr enthalten, lege ich die Festplatte in die Mikrowelle, packe meine Sachen in eine Reisetasche und fange woanders von vorn an.
Mein Computer machte wieder »Pling«.
Ich strich mir mit den Händen durch das Gesicht und nahm den Laptop von dem Schreibtisch neben meinem Bett. Im Posteingang war eine neue E-Mail. Alle meine E-Mails werden mehrfach umgeleitet, bevor sie mich erreichen. Die Daten laufen über Server in Island, Norwegen, Schweden und Thailand, bevor sie zerhackt und an Konten auf der ganzen Welt geschickt werden. Wer versuchen sollte, die IP-Adresse ausfindig zu machen, würde nicht wissen, welches die richtige ist. Diese E-Mail war vor zwei Minuten bei meiner ersten Offshore-Adresse in Reykjavik eingegangen, wo der Server sie mit meinem privaten 128-Bit-Schlüssel chiffriert hatte. Von dort war sie zu einer anderen Adresse, die unter einem anderen Namen registriert ist, weitergegangen, dann zu noch einer und noch einer. Oslo, Stockholm, Bangkok, Caracas, São Paolo. Zehnmal wurde sie weitergereicht, und in jedem Posteingang blieb eine Kopie. Kapstadt, London, New York, L.A., Tokio. Jetzt ging sie in der großen Masse völlig unter, ließ sich nirgendwohin zurückverfolgen, war anonym. Die Information war fast zweimal um die Welt gereist, bevor sie bei mir angekommen war. Sie lag in allen diesen In-Boxen, aber mein Key-code konnte nur eine davon freischalten. Ich gab mein Passwort ein und wartete darauf, dass die Nachricht entschlüsselt wurde. Die Festplatte lief an, und der Prozessor begann zu arbeiten. fünf Uhr morgens.
Der Himmel draußen war leer; nur in den Wolkenkratzern brannten ein paar Lichter, die aussahen wie Sternbilder im Nebel. Ich habe den Juli nie gemocht. Wo ich herkomme, ist es den ganzen Sommer hindurch unerträglich heiß. Die Überwachungsmonitore waren in der vergangenen Nacht für ein paar Sekunden ausgefallen, und ich hatte zwei Stunden damit zubringen müssen, sie zu überprüfen. Ich öffnete ein Fenster und stellte den Ventilator davor. Ich konnte das Dock unten riechen: alte Ladungen, Müll und Salzwasser. Hinter den Bahngleisen erstreckte sich die Bay wie ein riesiger Ölschlick. So früh am Morgen schnitt sich nur ein halbes Dutzend Autoscheinwerfer durch die Dunkelheit. Die Fischerboote streckten ihre Ausleger über die Netze, und die ersten Fähren verließen den Hafen. Von Bainbridge Island rollte der Nebel herein und durch die Stadt, wo der Regen aufhörte und der Schatten eines Güterzugs auf dem Gleis nach Osten zog. Ich nahm die Armbanduhr vom Fenstersims und legte sie an. Ich trage eine Patek Philippe. Sie sieht nicht besonders toll aus, aber sie wird noch die richtige Zeit anzeigen, wenn alle, die ich kenne, schon lange tot und begraben sind, wenn die Züge nicht mehr fahren und die Bay in den Ozean hineingeschwemmt wird.
Mein Entschlüsselungsprogramm gab ein Signal. fertig.
Die Absenderadresse war bei jeder Umleitung getarnt worden, doch ich wusste sofort, von dem die Nachricht kam. Von den potentiell dreißig Personen, die wussten, wie sie mit mir Kontakt aufnehmen können, kannten nur zwei den Namen in der Kopfzeile, und nur einer wusste mit Sicherheit, dass ich noch lebte.
Der Name war Jack Delton.
Ich heiße nicht wirklich Jack. Ich heiße auch nicht John, George, Robert, Michael oder Steven. Mein Name ist keiner von denen, die auf meinen Führerscheinen stehen, und er steht auch nicht in den Pässen und auf den Kreditkarten. Mein wirklicher Name steht nirgendwo außer vielleicht auf einem College-Diplom und einem oder zwei Schulzeugnissen in einem Schließfach. Jack Delton war ein Deckname und wird längst nicht mehr verwendet. Ich hatte ihn fünf Jahre zuvor bei einem Job benutzt und danach nie wieder. Neben den Worten blinkte ein kleines gelbes Zeichen, das bedeutete, die Nachricht sei dringend.
Ich klickte sie an.
Sie war kurz. Bitte sofort anrufen. Dann kam eine Telefonnummer mit einer Vorwahl aus der Gegend.
Ich starrte einen Moment lang auf das Display. Normalerweise würde ich bei solch einer Nachricht nicht eine Sekunde lang daran denken, die Nummer zu wählen. Die Vorwahl war dieselbe wie meine. Darüber dachte ich kurz nach und kam auf zwei mögliche Schlussfolgerungen. Entweder hatte der Absender außergewöhnliches Glück gehabt, oder er wusste, wo ich war. In Anbetracht des Absenders traf wahrscheinlich Letzteres zu. Es gab eine Handvoll Möglichkeiten, wie er es herausgefunden haben konnte, natürlich, aber keine davon dürfte einfach oder billig gewesen sein. Die bloße Möglichkeit, dass ich gefunden worden war, hätte eigentlich genügen müssen, um mich zu verjagen. Es ist mein Grundsatz, niemals eine Nummer anzurufen, die ich nicht kenne. Telefone sind gefährlich. Eine verschlüsselte Nachricht über eine Reihe von anonymen Servern hinweg zu verfolgen ist schwer. Doch jemanden über sein Mobiltelefon aufzuspüren ist einfach. Sogar die normale Polizei kann das, und die normale Polizei befasst sich nicht mit jemandem wie mir. Jemand wie ich kriegt das volle Programm: FBI, Interpol, Secret Service. Die haben haufenweise Agenten für so was.
Ich betrachte den blinkenden Namen lange und angestrengt. Jack.
Wenn die E-Mail von jemand anderem gekommen wäre, hätte ich sie jetzt schon gelöscht. Wenn die E-Mail von jemand anderem gekommen wäre, würde ich das Konto schließen und sämtliche Messages löschen. Wenn die E-Mail von jemand anderem gekommen wäre, würde ich die Computer verschmoren, meine Tasche packen und ein Ticket für den nächsten Flug nach Russland kaufen. In zwanzig Minuten wäre ich weg.
Aber sie war nicht von jemand anderem gekommen.
Nur zwei Menschen auf der Welt kannten diesen Namen.
Ich stand auf und ging zu der Kommode am Fenster. Ich schob einen Stapel Geldscheine und einen vollgeschriebenen Notizblock zur Seite. Wenn ich nicht mit einem Job beschäftigt bin, übersetze ich die Klassiker. Ich nahm ein weißes Hemd aus der Schublade, holte einen grauen Anzug aus dem Schrank und ein ledernes Schulterhalfter aus der Kommode. Aus der Schachtel, die oben draufstand, angelte ich einen kleinen silbernen Revolver: einen Detective Special, an dem der Abzugbügel und der Schlagbolzensporn abgefeilt waren, und ich lud ihn mit einer Handvoll .38er Hohlspitzpatronen. Als ich angezogen und fertig war, holte ich ein altes internationales Handy mit Prepaid-Karte hervor, schaltete es ein und wählte die Nummer.
Am anderen Ende klingelte es nicht mal. Sofort war jemand dran.
»Ich bin's«, sagte ich.
»Du bist schwer zu finden, Jack.«
»Was willst du?«
»Ich will, dass du in mein Clubhaus kommst«, sagte Marcus. »Und bevor du fragst: Du bist mir noch was schuldig.«
2
Sogar über die Straße hinweg roch der Five Star Diner nach Zigaretten und Aftershave. Er klemmte wie eine Mülltonne zwischen der Zuliefergasse eines Restaurants und einem Pornoladen in der Trinkerhälfte von Belltown, einen Block weit von der Space Needle entfernt. Unter der Straßenlaterne parkte ein Rudel Motorräder. Das Innere war von mattem Neon und einer Jukebox voll glänzender CDs beleuchtet. Die Tür stand offen. Selbst um diese Zeit hatte die Hitze noch nicht nachgelassen.
Der Fahrer ließ das Taxi vor dem Eingang ausrollen. Verglichen mit den Orten, an denen ich schon gearbeitet habe, wie Vegas oder São Paolo, gibt es in Seattle nur wenige schlechte Gegenden. Verglichen mit anderen Städten ist es praktisch makellos. Das Viertel hier war eine Ausnahme. Die Gasse zwischen den Gebäuden sah aus wie eine Obdachlosenunterkunft; sie war voll von Decken und leeren Flaschen und stank nach schalem Bier und Motoröl. Ich zahlte den Fahrpreis durch die Cash-Öffnung in der Plexiglastrennwand, und der Fahrer wartete nicht länger als nötig. Er fuhr weg, sowie meine Füße auf dem Asphalt standen und meine Hand den Türgriff losgelassen hatte.
Ich ging in die Gasse hinein und betrat den Laden durch die Küche. Das Five Star war ein öffentliches Lokal, dachte ich. Wo jeder, der Augen und Ohren hatte, Zeuge sein konnte. Hier drinnen wäre es schwerer, etwas wirklich Schlimmes zu tun. Marcus wollte mir signalisieren, dass er nicht vorhatte, mich umzubringen. Wenn er das gewollt hätte, hätte er mir auch keine E-Mail geschickt. Er hätte mich selbst aufgestöbert, mir ein Kissen auf das Gesicht gedrückt und eine Kugel hindurchgejagt, wie er es damals immer getan hatte. Wer sich hier traf, konnte sich genauso gut vor ein Polizeirevier stellen. Ich wurde nicht schlau daraus. Ein Grund mehr zur Beruhigung.
Marcus hatte noch nie jemanden in seinem eigenen Diner umgebracht.
Trotzdem, er hatte viele Gründe, mich auszuschalten. Ein Job, an dem wir zusammengearbeitet hatten, war in die Binsen gegangen, und sein Ruf hatte schwer darunter gelitten. Aus dem internationalen Mastermind war über Nacht ein abgefuckter Drogenlord geworden. Er hatte unter den besten Akteuren der Welt wählen können. Jetzt musste er den Abschaum der Straße engagieren, um sich schützen zu lassen. Nach diesem Job hatte ich gedacht, er würde mich nie wiedersehen wollen. Ich hatte gedacht, er würde mich erschießen, bevor er mir eine E-Mail schickte. Aber irgendwie hatte ich gewusst, dass der Tag kommen würde. Ich war ihm was schuldig.
Der Wachtposten hinten hatte mich erwartet. Ein massiger Typ in Jeans, der sich mein neues Gesicht ausführlich anschaute, bevor er mich durchließ. Er nickte, als ob er mich erkannt hätte, aber das hatte er nicht, da war ich sicher. Ich habe mich so oft verändert, dass ich selber vergessen habe, wie ich aussehe. Meine jüngste Inkarnation hatte hellblondes Haar, nussbraune Augen und eine Haut, die käseweiß war, weil ich so gut wie nie nach draußen ging. Nicht alles ist plastische Chirurgie. Kontaktlinsen, Gewichtsabnahme und Haarfarbe können einen Mann stärker verändern als Skalpellarbeit für fünfzig Riesen, doch das ist nicht mal die halbe Miete. Wenn man lernt, seine Stimme und seinen Gang zu verändern, kann man innerhalb von zehn Sekunden sein, wer immer man sein will. Das Einzige, was man nicht ändern kann, ist der Geruch, habe ich erfahren. Man kann ihn maskieren, mit Whiskey, Parfüm und teuren Cremes, aber man riecht, wie man riecht. Das hat die Frau mir beigebracht, von der ich mein Handwerk gelernt habe. Ich werde immer nach schwarzem Pfeffer und Koriander riechen.
Ich kam an einem Koch vorbei, der auf einem umgedrehten Eimer Hühnerbrühextrakt hockte und eine filterlose Zigarette rauchte. Ich schob mich hinter der Arbeitsplatte entlang durch die Küche bis dahin, wo der mexikanische Bratkoch arbeitete. Er warf mir einen kurzen Blick zu und schaute gleich wieder weg. In der Küche roch es nach Speck, Chorizo, Spiegeleiern und gesalzener Butter. Durch die Kellnertür kam ich in den hinteren Teil des Lokals. Marcus erwartete mich in der achten Sitznische unter einer »Bud Light«-Neonschrift. Er saß vor einem unberührten Teller mit Eiern und Speck und einer Tasse Kaffee.
Er sprach erst, als ich ganz nah herangekommen war.
»Jack.«
»Ich dachte, ich sehe dich nie wieder.«
Marcus Hayes war groß und drahtig und sah aus wie der Chef eines Computerunternehmens. Dünn wie eine Bohnenstange, und irgendwie wirkte er immer, als sei ihm nicht wohl in seiner eigenen Haut. Die meisten erfolgreichen Verbrecher sehen nicht aus wie das, was sie sind. Er trug ein dunkelblaues Oxford-Hemd und eine Trifokalbrille mit Gläsern so dick wie der Boden einer Cola fasche. Er hatte sechs Monate in einem Arbeitslager in Snake River, Oregon, abgesessen, und seitdem war sein Augenlicht nicht mehr das Beste. Die Iris seiner Augen war von einem stumpfen Blau und um die Pupillen herum verblasst. Er hatte nur zehn Jahre mehr auf dem Buckel als ich, sah aber viel älter aus. Seine Handflächen waren wie Leder, doch sein Äußeres täuschte mich nicht.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Wilhelm Goldmann Verlag, München
Bei der zweiten Methode nimmt man sich die Chips vor. Du fährst mit dem Aufzug von den Suiten nach unten, gehst an den Roulettetisch, wo die großen Einsätze gemacht werden, und jagst eine Kugel durch die Double Zero. Sobald der Schuss knallt, rennen alle weg, besonders der Croupier. Reiche Leute sind nicht mutig, und Angestellte sind es noch weniger. Wenn sie weg sind, harkst du alle Chips in einen Sack. Du feuerst noch zwei Kugeln in die Decke, damit sie wissen, dass du es ernst meinst, und dann läufst du raus, als wäre der Teufel dir auf den Fersen. Klingt blöd, funktioniert aber. Du lässt die Käfige in Ruhe, und deshalb ist die Reaktionszeit länger, und draußen wartet nicht die Security wie im ersten Szenario. Du könntest es tatsächlich zum Parkplatz und von da auf den Highway schaffen. Aber dann hast du immer noch das Problem, was du mit den Chips anfangen sollst. Wenn du genug erwischt hast, sagen wir, für eine Million oder mehr, wird das Casino sämtliche Chips auf dem Parkett gegen neue mit einem anderen Design auswechseln, und dann hast du einen Sack voll wertloser Tonscherben. Schlimmer noch, die Technologie macht diese Methode obsolet. Manche Casinos setzen zu Zählzwecken Mikrochips ein und können damit die, die du mitgenommen hast, nachverfolgen. Innerhalb von sechs Wochen stehst du auf allen Fahndungslisten zwischen Vegas und Monaco, und die Chips sind schon wieder wertlos. Wenn aus irgendeinem Grund beides nicht zutrifft, kannst du im besten Fall darauf hoffen, sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, aber das geht nur zum halben Nennwert oder noch billiger, denn niemand wird dieses Risiko eingehen, wenn er sein Geld nicht verdoppeln kann. Langer Rede kurzer Sinn: Chips bringen's nicht.
Die dritte Methode, ein Casino auszurauben, besteht darin, das Geld im Transit zu stehlen. Man schnappt sich einen der gepanzerten Transporter. Casinos bewegen eine Menge Bargeld. Sogar mehr als Banken. Die meisten bewahren keine Riesenpaletten mit Hundertern im Keller auf wie im Kino. Sie haben überall verteilt kleinere Bargeldkäfige, keine massigen Tresore mit Hunderten von Millionen. Und statt das gestapelte Geld zu behalten, tun sie das, was jede Einrichtung dieser Größe tut. Wenn sie zu viel Bargeld haben, schicken sie es mit einem gepanzerten Transporter zur Bank. Wenn sie nicht genug haben, läuft das Gleiche umgekehrt. Alles in allem zwei oder drei Lieferungen am Tag.
Aber einen Geldtransporter auszuräumen ist eigentlich nicht zu machen. Ein modernes Fahrzeug ist wie ein Panzer. Sich die Bank vorzunehmen, von der das Geld kommt, ist eigentlich auch keine Option, denn Banken haben eine noch bessere Security als Casinos. Entscheidend ist, dass man mitten in der Transaktion zuschlägt, wenn die Leute das Geld ein- oder ausladen. Da machen sie es dir sogar leicht. Die meisten Casinos haben kein spezielles Geldtransporter-Depot, denn das ist ihnen zu unpraktisch. Stattdessen parkt der Truck vor einem der Seiten- oder Hintereingänge, jedes Mal vor einem anderen. Die Wachleute machen die Hecktür auf, und dann tragen sie das Geld einfach durch die Glastüren. Das ist der ideale Moment, um zuzuschlagen. Zweimal am Tag sechzig Sekunden lang wird mehr Geld von einer Hand zur nächsten gereicht, als zwei Mann aus einem Dutzend Banken holen könnten. Unter freiem Himmel, vor aller Augen. Ein Profi-Team muss nichts weiter tun, als zwei oder drei Typen mit Bürstenhaarschnitten und Pistolen auszuschalten und die fliege zu machen, bevor die Cops eintreffen. Ganz einfach. Natürlich muss man wissen, wann die Lieferungen stattfinden und wie viel Geld im Spiel ist und welchen Eingang die Trucks benutzen werden, aber an solche Details zu kommen ist nicht unmöglich. Das ist der leichtere Teil. Schwierig ist es wegzukommen. Wenn du es schaffst, dir das Geld zu schnappen und in zwei Minuten weg zu sein, bist du reich.
Jerome Ribbons schaute auf seine goldene Rolex. Es war halb sechs in der Früh.
Bis zur ersten Lieferung noch eine halbe Stunde.
Ein Casino auszurauben erfordert monatelange Planung. Ein Glück für sie war, dass Ribbons so was nicht zum ersten Mal machte. Er war ein zweimal verurteilter Straftäter aus North Philadelphia. Das war nichts Rühmliches, nicht mal bei einem, der solche Jobs organisierte, aber es bedeutete, dass er einen guten Grund hatte, sich nicht erwischen zu lassen. Seine Haut hatte die Farbe von Holzkohle, und die blauen Tattoos, die unter seiner Kleidung hervorschauten, hatte er aus dem Knast in Rockview. Er hatte fünf Jahre für den Überfall auf eine Citibank in Northern Liberties in den Neunzigern gesessen und war seit seiner Entlassung an vier oder fünf Bank-Jobs beteiligt gewesen. Ribbons war ein massiger Mann, über eins neunzig groß und mit mehr als dem entsprechenden Gewicht. fettrollen quollen über seinen Gürtel, und sein Gesicht war rund und glatt wie das eines Kindes. An guten Tagen stemmte er vierhundert Pfund, und sechshundert nach zwei Lines Koks. Er war gut in dem, was er tat, was immer in seinem Vorstrafenregister stehen mochte.
Hector Moreno war eher der Soldatentyp. Eins fünfundsechzig groß, mit einem Viertel des Gewichts, das Ribbons auf die Waage brachte, Haaren so kurz wie Wüstengras und Knochen, die durch die kaffeebraune Haut schimmerten. Er war beim Militär zu einem guten Schützen geworden, und er zuckte nur mit der Wimper, wenn er zuckte. Er hatte eine unehrenhafte Entlassung in den Papieren, aber keine Haftstrafe. Als er nach Hause gekommen war, hatte er ein Jahr lang in Boston Koteletts zugeschnitten und ein weiteres damit verbracht, bei Dope-Dealern in Vegas Schutzgeld zu kassieren. Das hier war sein erster großer Job, und darum war er nervös. Er hatte eine ganze Apotheke hier bei sich im Dodge, nur um die Rübe oben zu behalten. Pillen, Popper und Pülverchen sowie Zeug zum Rauchen. Mit einer Faustvoll Speed wollte er seine Hektik wegbrennen. Drogen bekam er nie genug. In der Vorbereitungszeit hatten sie den ganzen Plan immer und immer wieder durchgesprochen, aber Moreno brauchte mehr als das. Schlürfend verbrannte er einen dicken Klumpen Crystal Meth. Seine Augen fingen an zu tränen. Ein Freund von ihm hatte den Stoff in einem Trailer westlich des Schuynkill River gekocht. Es war Strawberry Quick von schlechter Qualität, doch das war ihm egal. Er wollte ein wenig runterkommen, aber sich nicht vor der eigentlichen Show mit Meth und Farbverdünner die Schädeldecke wegsprengen.
Ribbons schaute wieder auf die Uhr. Vierundzwanzig Minuten.
Keiner der beiden sprach. Es war nicht nötig.
Moreno zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an, und dann reichte er Ribbons die Folie hinüber. Er stieß zweimal kurz hintereinander paffend den Rauch aus.
Ribbons betäubte seinen Mund mit einem Schluck aus der Bourbon-flasche. Meth zu rauchen ist ein heißes und bitteres Erlebnis. Er ließ sich Zeit, als er den Tropfen über die Folie in seinen schwieligen Fingern verfolgte. Es war nicht das erste Mal für ihn. Das Meth gab ihm ein gutes Gefühl, aber nicht annähernd so gut wie der Kick, den er kriegen würde, wenn er die Maske auf und die Pistole in der Hand hätte. Er war gern mitten im dicksten Getümmel.
Moreno beobachtete ihn, rauchte seine Zigarette und nahm verstohlen ein paar Schluck aus der Flasche mit dem Hustensirup. Sein Herz setzte einmal aus. Viele Leute in seinem alten Viertel hätten ordentlich etwas dafür hingelegt, derart erstklassig high zu sein, aber keiner von denen nahm mehr Hustensirup. Nur er. Man sah dann Sachen wie in einem Fieber, das so hoch war, dass man am Rande des Todes stand. Man sah Gott am Ende des Tunnels warten. Niemand sonst erzählte ihm von der endlosen Atemnot, dem Herzklopfen oder dem Zeug, das man halluzinierte, wenn der Hustenstiller in den Blutkreislauf gelangte wie eine Ladung Ketamin. Er hörte dem Radio zu und wartete.
Moreno schnippte seine Zigarette aus dem Fenster und fragte: »Hast du dir dein Haus schon ausgesucht?«
»Ja. Ein blaues viktorianisches. Superlage unten am Wasser. Virginia.«
»Was hat die Lady gesagt?«
»Dass wir einen Käufermarkt haben. Mit unserem Deal gibt's kein Problem.«
Sie saßen eine Weile schweigend da und hörten die morgendlichen Verkehrshinweise im Radio. Es gab auch nicht viel zu sagen - nichts, was sie nicht schon tausendmal bei Kaffee und Blaupausen vor leuchtenden Computermonitoren gesagt hatten. Es gab nichts mehr zu tun, außer sich die Verkehrshinweise anzuhören.
Sie hatten diesen Job weit im Voraus geplant, auch wenn es vielleicht falsch ist, wenn man sagt, sie hätten ihn überhaupt geplant. Der Mann mit der Idee saß dreitausend Meilen weiter westlich an seinem Telefon in Seattle und wartete darauf, dass er einen Anruf tätigen würde. Er war der »Jugmarker« - der Mann, der alles ausgekundschaftet hatte. Die meisten Raubüberfälle sind Operationen von einsamen Wölfen, aus denen nie etwas wird. Zwei Crackheads, die versuchen, eine Bank auszunehmen, landen schnell im Knast. Aber ein Job mit einem Jugmarker ist etwas anderes. Das ist ein Job, von dem man einmal in den Abendnachrichten hört und dann nie wieder. Einer, der von Anfang an gut läuft. Dies war ein Job mit einem strengen Plan, mit Timing und Endspiel. Eine Jugmarker-Operation von Anfang bis Ende. Der Mann mit dem Plan wusste alles, und er gab die Kommandos. Ribbons und Moreno sprachen seinen Namen nicht gern aus. Niemand tat das.
Es brachte Unglück.
Aber Ribbons und Moreno waren nicht dumm. Sie kannten die Anordnung der Sicherheitskameras. Sie kannten den Transporter innen und außen. Sie wussten, wie die Fahrer und die Casino-Manager hießen, sie kannten ihre Gewohnheiten, ihre Akten, ihre Telefonnummern, ihre Freundinnen. Sie wussten Sachen, die sie niemals brauchen würden; das alles war Teil der Vorbereitung. Es gab tausenderlei Möglichkeiten, dass etwas schieflief. Also ging es darum, das Chaos im Griff zu haben. Jetzt blieben allerdings nur noch die Verkehrsmeldungen, auf die sie sich konzentrieren konnten.
Nach zwanzig Minuten klingelte Ribbons' Telefon. Ein schrilles Geräusch, zweimal. Ein spezieller Klingelton für eine spezielle Nummer. Er brauchte sich nicht zu melden. Beide Männer wussten, was es bedeutete. Sie wechselten einen Blick. Ribbons leitete den Anruf auf die Voicemail um, packte die Drogen ins Handschuhfach und schaute ein drittes und letztes Mal auf die Uhr. Zwei Minuten vor sechs Uhr früh.
Der Zwei-Minuten-Countdown hatte begonnen.
Ribbons nahm eine Skimaske aus feinfaseriger Baumwolle aus dem Handschuhfach, setzte sie auf und zog sie zurecht, bis der Stoff glatt auf seinem Gesicht lag. Moreno tat langsam das Gleiche mit seiner eigenen Maske. Ribbons hielt die Drähte unter dem Armaturenbrett aneinander und startete den Motor. Auf dem Boden lag eine KDH-Weste mit Kugelschutzplatten der Klasse 4, die die Projektile aus Aufständischengewehren auf eine Distanz von fünfzehn Metern stoppen konnten. Ribbons musste sie anziehen. Er war der Frontmann. Unter einer Decke auf dem Rücksitz lag ein Remington-Jagdgewehr Model 700 mit fünf Patronen, ausgestattet mit einer Laserzielvorrichtung und einem achteinhalbzölligen Schalldämpfer vom Typ AWC Thundertrap - Morenos Waffe. Daneben lag eine vollautomatische Kalaschnikow Type 56 mit drei Magazinen 120-Grain-Vollmantel-Torpedoheck-Geschossen. Ribbons nahm die Kalaschnikow, schob ein Magazin hinein, zog den Spannhebel zurück, drehte sich zu Moreno um und fragte: »Bist du so weit?«
»Ich bin so weit.«
Sie schwiegen wieder. Die Lichter in der Parkgarage flackerten und gingen dann aus. Nach Sonnenaufgang waren sie nicht mehr nötig. Der Dodge Spirit war übersät von faulig braunen Rostflecken. Geradeaus vor ihnen auf der anderen Straßenseite sah man den Seiteneingang des Casinos, wo der Transporter anhalten würde. Die Regenstreifen auf der Frontscheibe erinnerten Ribbons an ein Kaleidoskop.
Neunzig Sekunden vor der planmäßigen Ankunft des Trucks stieg Moreno aus und ging vor der Straße hinter einer Absperrung in Stellung. Die Salzluft hatte den Beton bis auf die Moniereisen zerfressen. Moreno schaute zu den Überwachungskameras hinauf. Sie waren weggedreht. Das Timing war perfekt. Die Sicherheitsmaßnahmen des Casinos waren so streng, dass sie Kameras selbst in der Parkgarage hatten - aber eben nicht streng genug. Moreno hatte die blinden Flecken der Kameras ausfindig gemacht und schon vor sechs Wochen getestet. Eigentlich interessierte es niemanden, was morgens um sechs in der Parkgarage los war. Moreno legte den Gewehrlauf auf den Betonblock. Er nahm den Objektivdeckel vom Visier, zog den Hebel zurück und lud die erste Patrone in die Kammer.
Dann stieg Ribbons aus. Er beeilte sich, solange die Kameras noch weggedreht waren, und versteckte sich hinter dem nächsten Pfeiler an einem weiteren blinden Fleck. Er fing an, tief durchzuatmen und sich locker zu machen, und bereitete sich darauf vor zu laufen. In seinen klobigen Händen sah die Kalaschnikow winzig aus. Er hielt sie dicht vor der Brust. Langsam wurde ihm übel. Das altvertraute Gefühl kroch in seinen Magen, wie es immer passierte. Die Nerven. Nicht so schlimm wie bei Moreno, dachte er, aber doch spürbar, jedes Mal.
Sechzig Sekunden.
Ribbons zählte sie im Kopf herunter. Das Timing war äußerst wichtig. Sie hatten strenge Anweisung, erst im exakt richtigen Moment loszugehen. Schweiß machte die Innenseite seiner Handschuhe glitschig. In Latexhandschuhen ist es schwerer, präzise zu schießen, aber er hatte den Befehl, sie bis zum Ende des Tages anzubehalten. Still wie der Buddha stand er hinter seinem Pfeiler, auch wenn der ein bisschen zu klein für ihn war. Er hatte nicht mal genug Platz, um seinen Jackenärmel hochzuziehen und auf die Uhr zu sehen. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Atmen. Ein und aus und ein und aus. Die Sekunden tickten in seinem Kopf vorüber. Wasser tröpfelte über ihm von der Betondecke.
Um Punkt sechs Uhr rollte der Transporter von Atlantic Armored über die grüne Ampel an der Ecke und bog in die Straße ein. Fahrer und Wachmann trugen braune Uniformen. Der Truck war drei Meter hoch und wog fast drei Tonnen. Er war weiß, und das Logo von Atlantic Armored war auf beide Seiten lackiert. Er fuhr in die Ladezone des Casinos und rollte unter dem »Regency«-Schild langsam aus. Ribbons atmete so schnell und laut, dass er sonst fast nichts mehr hörte.
Gepanzerte Fahrzeuge sind nie zu unterschätzen. Es sind einschüchternde Maschinen. Das liegt nicht nur an offensichtlichen Dingen wie der drei Zoll dicken, kugelsicheren Panzerung oder an den Reifen, die mit fünfundvierzig Schichten DuPont-Kevlar verstärkt sind, oder an den Fenstern aus transparentem Polykarbonat, die ein ganzes Magazin von panzerbrechenden Zehn-Millimeter-Geschossen aushalten können. Nein, das alles ist offenkundig. Weitaus gefährlicher ist vielmehr das, was sich im Inneren eines solchen gepanzerten Wagens verbirgt. Die Wachleute zum Beispiel sind Männer, die am Schießstand ausgebildet sind. Kameras zeichnen ferner alles auf, was sich im Wagen abspielt. Es gibt sechzehn Schießscharten, sodass die Männer drinnen auf Ziele außerhalb des Wagens schießen können. Und zu allem Überfluss haben die Tresorkammern magnetische Bodenplatten. Wird die Beute von diesen Platten heruntergenommen, geht ein Timer los. Wenn der Timer abgelaufen ist, explodieren kleine Tintenpäckchen zwischen den Geldpaketen und ruinieren die Beute. Aber für einen Jugmarker und ein Team mit einem Plan stellen diese lästigen Einzelheiten kein Hindernis dar. Es gibt jedoch immer einen schwachen Punkt. In diesem Fall waren es sogar zwei. Punkt eins liegt auf der Hand: Nichts bleibt für immer in einem gepanzerten Fahrzeug. Irgendwann müssen die Jungs herauskommen, und dann bringen ihnen Panzerungen und Kameras und Magnetplatten nichts mehr. Punkt zwei erfordert ein bisschen mehr Nachdenken. Und viel mehr Grausamkeit. Du bringst die Wachleute um, und die Kohle gehört dir.
Es waren zwei, und beide saßen vorn in der Kabine. Ein Fahrer, ein Geldträger, beide mit zwei Jahren Erfahrung, hatten die Recherchen ergeben. Der eine hatte Familie, der andere nicht. Als der Truck angehalten hatte, waren sie ausgestiegen. Kaum hatten sie die Türen geschlossen, kam ein Typ in einem billigen schwarzen Anzug aus dem Casinoeingang, um sie zu begrüßen. Er hatte eine beginnende Glatze und trug ein Namensschild am Revers. Der Tresormanager des Casinos. Mitte vierzig und die sauberste Vergangenheit, die man nur haben konnte. Nicht mal ein Strafzettel fürs falschparken fand sich in seiner Akte. Er nahm einen Schlüssel und reichte ihn dem Geldträger. Natürlich durfte er selbst mit seiner blitzsauberen Akte niemals in den Truck hinein. Nicht in zehn Jahren. Die Uniformen waren hier draußen zuständig, er drinnen im Käfig. Er wartete auf dem Gehweg und rieb die Handflächen aneinander.
Dreißig Sekunden.
Der Fahrer nahm einen anderen Schlüssel vom Gürtel und reichte ihn dem Träger, der die Hecktür des Trucks aufschloss und hineinkletterte. Dort hinten, in die Seitenwand des Fahrzeugs eingebaut, befand sich ein Tresor, der mit einer weiteren Lage kugelsicherer Keramikpanzerung verkleidet war. Sein Schlüssel passte in das eine der beiden Schlösser, der des Tresormanagers in das andere. Noch nie hatte jemand einen Truck von Atlantic Armored ausgeraubt. Der Service war erstklassig und richtete sich an paranoide Banker und Hotels mit einem Kontenumfang, dessen Wert unendlich viel höher war als eine ganze flotte von gepanzerten Fahrzeugen. Security war ein großes Thema in dieser Stadt. Das betreffende Objekt war ein Zwölf-Kilo-Klotz aus vakuumverpackten HundertDollar- Scheinen der neuen Art mit dem Sicherheitsstreifen aus glänzendem Metall in der Mitte. Der ganze Packen setzte sich aus Hunderter-Bündeln zusammen, die Straps genannt wurden, weil sie zur leichteren Zählbarkeit mit senffarbenen Banderolen, den »Straps«, zusammengehalten wurden. Jeder Strap war zehntausend Dollar wert. Der Zwölf-Kilo-Block enthielt 122 Straps, also 1 220 000 US-Dollar, komprimiert auf das Format eines großen Koffers. Der Träger zog das Geld von der Magnetplatte herunter. In einem Schubfach gegenüber lag eine blaue Kevlar-Tragetasche. Er schob den Geldblock in die Tasche und hängte die Tasche an einen kleinen Trolley, den er von einem Haken an der Wand nahm. Er zog eine Sonnenbrille aus der Tasche und schob dann den Trolley hinunter auf den Gehweg. Er war groß und sperrig und erforderte einiges Manövrieren.
Zehn Sekunden.
Als der Träger aus dem Truck gestiegen war, zog der Fahrer eine Glock 19 aus dem Halfter und hielt sie in Hüfthöhe. Das übliche Verfahren bei solch einer Lieferung. Er sah gelangweilt aus. Dies war die erste Lieferung des Tages, und er hatte noch zehn vor sich, hin und her zwischen verschiedenen Casinos zu verschiedenen Zeiten im Laufe seiner Schicht. Er rückte den Kolben seiner Waffe in der Hand zurecht, ließ aber den Finger vom Abzug. Der Träger schloss den Wagen ab und gab dem Tresormanager den Schlüssel des Casinos zurück, und der hakte ihn an seinen Gürtel. Der Fahrer ließ den Blick durch die Parkgarage wandern und wandte sich dann ab. Er machte zwei Schritte auf den Casinoeingang zu und winkte den beiden andern, ihm zu folgen.
Die Zeit war um. Ribbons gab das Zeichen.
Morenos Gewehr bäumte sich in seinen Armen sanft auf. Der Schuss war nicht lautlos, aber gedämpft. Er klang wie eine Nagelpistole aus der Nähe. Die Kugel traf den Fahrer hinter dem Ohr in den Kopf, fuhr glatt hindurch und trat durch die Nase wieder aus. Blut und Hirnmasse spritzten auf den Gehweg. Moreno wartete nicht ab, um den Mann fallen zu sehen. Auf diese Entfernung wusste er, wo die Kugel hingehen würde. Er zog den Hebel zurück, und die Hülse flog heraus. Innerhalb eines Sekundenbruchteils wechselte er zum nächsten Ziel, als habe er sein Leben lang nichts anderes getan. Die Distanz zum Tresormanager war die kürzeste, also war er der Nächste. Die Kugel durchschlug das Brustbein und zerriss sein Herz. Das dritte Ziel war bereits in Bewegung.
Der Träger warf sich in Richtung Truck. Er stolperte auf dem Gehweg, landete auf dem Pflaster und griff nach der Glock in seinem Halfter. Moreno verfolgte ihn durch das Visier, fixierte ihn und drückte ab. Die Kugel schlug zwei Handbreit daneben ein. Der Wachmann ging auf allen vieren in Deckung. Moreno gab Ribbons ein Handzeichen. Aus diesem Winkel würde er keinen zweiten Schuss anbringen können.
Ribbons kam hinter seinem Pfeiler hervor und hob die Kalaschnikow an die Schulter. Der Lauf pisste die Kugeln hervor, ungehemmt, vollautomatisch. Die Schüsse zerrissen die Morgenstille wie ein Presslufthammer mitten in der Nacht. Die Glastüren des Casinoeingangs zerklirrten in dem langen, 30-schüssigen Strom von Geschossen. Den dritten Mann erwischte das Gesetz der großen Zahl. Die meisten Kugeln gingen daneben, aber eine nicht. Sie traf den Träger unterhalb des Herzens ins Rückgrat. Zuckend lag er auf dem Gehweg. Im Casino fingen Leute an zu schreien.
Ribbons hüpfte über den Betonblock zwischen Parkgarage und Straße und lief auf den gepanzerten Wagen zu. Er ließ das Magazin herausfallen, riss ein zweites aus der Tasche und schob es in die Waffe. Es gab keinen Verkehr, in beiden Richtungen nicht. Zu früh. Er hielt das Gewehr mit einer Hand vor sich, für den Fall, dass jemand aus dem Casino käme, um das Geld an sich zu reißen. Er bückte sich, ohne die Tür aus dem Auge zu lassen, und hakte die Tasche mit der freien Hand von dem Trolley, an dem sie mit großen Nylonschnallen befestigt war. Aber er hatte nicht bedacht, wie schwierig es sein würde, sie einhändig mit einem Gummihandschuh und mit einem Viertelgramm Meth im Körper in der heißen Julisonne zu öffnen. Seine Hand zitterte.
Moreno beobachtete die Straße durch sein Visier. Komm schon, komm schon, komm schon.
Dann ging der Alarm los.
Es war ein schriller Hupton mit blitzenden Lichtern in der Lobby, gedacht für Brände und Erdbeben. Ribbons zuckte zusammen und feuerte eine Salve in den Eingang, damit niemand auf die Idee kam, nach draußen zu stürmen. Der Rückstoß drückte seinen Arm hoch, und Kugeln durchschlugen ein paar Fenster im Hotelturm des Casinos und rissen das »R« in der »Regency«-Neonschrift heraus. Kleine Messingteile klimperten auf den Asphalt. Er schrie, denn der Rückstoß hätte ihm fast das Handgelenk gebrochen. Als er die Kalaschnikow wieder unter Kontrolle hatte, beförderte er die Geldtasche frustriert mit einem Fußtritt auf den Boden. Scheiß drauf. Er richtete die Mündung auf die letzte Nylonschnalle und schoss das Ding weg.
Der Geldträger lag ein paar Schritte weiter gurgelnd auf dem Rücken. Sein Blick verfolgte Ribbons. Blut quoll schäumend aus seinem Mund und sammelte sich auf dem Boden wie ein Heiligenschein um sein Gesicht. Ribbons packte die Tasche an dem zerrissenen Gurt und warf sie über die Schulter. Als er an dem sterbenden Wachmann vorbeilief, schaute er auf ihn hinunter, senkte das Gewehr und feuerte eine kurze Salve in seinen Kopf.
In der Ferne hörte man Polizeisirenen, die von den Schüssen angelockt wurden. Ungefähr acht Straßen weit weg, wie es sich anhörte. Die dreißig Sekunden Reaktionszeit hatten jetzt angefangen. Ribbons rannte, so schnell er konnte, zur Parkgarage zurück. Er zitterte, obwohl er eine Handvoll Barbiturate eingefahren hatte. Sein Blick war wild wie bei einem Dschungelkrieger. Verkehr gab es immer noch nicht. Das Laufen war easy.
Moreno winkte ihm. Lauf schneller, du fettes Arschloch.
Als er in Hörweite war, schrie Ribbons: »Die Bullen kommen von Norden. Mach den verdammten Wagen auf, lass uns abhauen!«
Sie waren noch fünf Schritte weit auseinander. Auf die Kameras kam es jetzt nicht mehr an. Mit den Skimützen konnte die Security sie nicht identifizieren. Sie sprinteten zum Fluchtwagen, Ribbons setzte über die Betonsperre hinweg, und Moreno riss ihm die Beifahrertür auf. Er selbst würde fahren. Der ganze Job hatte weniger als eine halbe Minute gedauert. Sechsundzwanzig Sekunden, nach Ribbons' Rolex. So einfach war das: hinspazieren, Geld schnappen, abhauen. Auf Morenos Gesicht klebte ein idiotisches Lächeln. Alles würde perfekt laufen, dachte er. Aber kein Raubüberfall läuft perfekt. Es gibt immer ein Problem.
Zum Beispiel den Mann in dem Auto auf der anderen Seite der Parkgarage, der sie durch das Zielfernrohr seines Gewehrs beobachtete.
Was als Nächstes passierte, erlebte Ribbons nur verschwommen, wie in einem Nebel. Er wollte gerade ins Auto steigen, als er den Schuss hörte und sah, dass Moreno getroffen war. Rosaroter Dunst sprühte auf. Klümpchen von Hirnmasse und Schädelknochensplitter trafen ihn frontal wie das Schrapnell einer Granate. Zum Nachdenken hatte er keine Zeit. Er riss die Kalaschnikow hoch und ließ blindlings einen Strom von Blei in die Richtung los, aus der er den Schuss gehört hatte. Aus einem der Autos hinter ihm blitzte etwas hervor, aber Ribbons hatte keine Munition mehr. Er sprang aus dem Dodge, ließ das Magazin herausfallen und schob ein neues ein. Er hatte das Gewehr noch nicht wieder an der Schulter, als eine Kugel die Frontscheibe durchschlug. Ribbons richtete das Gewehr auf den Mündungsblitz und erwiderte das Feuer. Der nächste Schuss kam direkt auf ihn zu. Er hastete um den Wagen herum zur Fahrerseite und gab schnell hintereinander kurze Feuerstöße ab. Eine Kugel traf seine Schulter und prallte von der Schutzweste ab. Der Aufschlag war so stark, dass Ribbons herumgerissen wurde und ins Taumeln geriet, aber er spürte ihn kaum. Er fing sich wieder und schoss weiter. Eine zweite Kugel traf ihn über dem Bauch in die Brust. Es fühlte sich an wie ein scharfer Stich. Ribbons schrie. Die Kalaschnikow war leer.
Fluchend ließ er sie fallen. Er zog einen Colt 1911 aus dem Kreuz und schoss einhändig und mit ausgestrecktem Arm, ohne ein Ziel zu sehen. Die blöde Maske war ihm über das eine Auge gerutscht. Er feuerte immer zweimal hintereinander in kurzen Abständen, um Deckung zu haben. Eine Gewehrkugel traf den Pfeiler hinter ihm und ließ Betonstaub und Putz durch die Gegend spritzen. Mit der freien Hand zerrte er Morenos Leiche vom Fahrersitz. Das Armaturenbrett war mit Hirnmasse bespritzt. Der nächste Schuss ging in den Kofferraum des Dodge, und Ribbons hörte den Aufprall am Fahrgestell. Der Motor lief noch. Ribbons legte den Rückwärtsgang ein. Er machte sich nicht die Mühe, die Tür zu schließen. Einen Moment lang hing sie weit offen, dann ließ die Fliehkraft sie zuschlagen. Er drehte sich über die Sitzlehne und feuerte durch das Rückfenster. Dann explodierten drei Handbreit neben seinem Kopf der Rückspiegel. Fahr schon, du Idiot.
Ribbons ließ die Reifen qualmen. Der Dodge setzte so schnell nach hinten, dass er die Reihe der Autos hinter ihm rammte und einen Funkenregen aufsprühen ließ. Ribbons schaltete in den Vorwärtsgang und donnerte die Rampe hinunter auf die Ausfahrt zu. So früh saß noch kein Wärter in der Kabine, und das war nur gut, denn Ribbons konnte nicht sehen, wohin er fuhr. Der ramponierte Dodge krachte über den Parkscheinautomaten weg, walzte die Wärterkabine nieder und flog schleudernd auf die Pacific Avenue hinaus, über eine rote Ampel hinweg und unkontrolliert auf der falschen Straßenseite in Richtung Park Place. Ribbons duckte sich hinter das Lenkrad und trat das Gaspedal durch. Die Felgen ließen am Randstein Funken sprühen. Er hörte Cops in einiger Entfernung herankreisen, im vollen Einsatz mit Blinklicht und Sirenen. Nur noch ein paar Straßen weit weg, nah genug, um zum Problem zu werden. Als er sich die Maske herunterriss, spritzten Schweißtropfen auf das Armaturenbrett. Er warf einen Blick nach hinten. Im Heckfenster war noch nichts zu sehen. Immer noch mit Vollgas fegte er über die breiten Boulevards von Atlantic City. Moreno, der Fahrer, hatte den Fluchtweg sekundengenau geplant. Dieser Plan war innerhalb von zehn Sekunden komplett zum Teufel gegangen.
Ribbons riss das Steuer herum, überquerte mit kreischenden Reifen einen Parkplatz und schoss durch die Gasse zwischen zwei Gebäuden.
Innerhalb von weniger als zehn Minuten würden Marke und Modell seines Wagens in jedem Streifenwagen und bei jedem Highway-Polizisten im Umkreis von fünfzig Meilen angekommen sein. Er musste das Auto, das Geld und sich selbst verschwinden lassen, bevor sie ihn einholen konnten. Aber vorher musste er Abstand gewinnen. Erst als er auf den Martin Luther King Boulevard einbog, spürte er, dass Blut durch die Kleidung unter der schusssicheren Weste drang. Er berührte die Wunde an seiner Brust. Die Kugel war durch die Weste gedrungen. Die Weste hatte das Projektil gebremst und deformiert, aber es hatte trotzdem siebenundzwanzig Schichten Kevlar und seine Haut durchschlagen. Es tat eigentlich nicht weh. Das verdankte er Morenos Speed und einem Schuss Heroin. Doch es blutete stark. Er würde die Wunde auswaschen und verbinden müssen, wenn er am Leben bleiben wollte. Eine fachgerechte Behandlung wäre erst später drin. Es ging nicht anders.
Das Telefon klingelte wieder. Der spezielle Klingelton. Der Anrufer hatte wenig Verständnis für Verspätungen, noch weniger für Inkompetenz und überhaupt keins für Versagen. Der Ruf dieses Mannes beruhte auf einer allumfassenden Angst, die FBI-Agenten einschüchterte und Mörder und Vergewaltiger in gehorsame Schulkinder verwandelte. Seine Pläne waren präzise, und er erwartete, dass man sie präzise befolgte. Die Möglichkeit des Scheiterns wurde nicht mal erörtert. Ribbons kannte keinen, der bei ihm gescheitert war. Jedenfalls keinen, der noch darüber sprechen konnte.
Ribbons schaute hinüber zu dem Telefon, das unter dem Beifahrersitz klemmte. Dann langte er hinüber und wies den Anruf mit einem Daumendruck ab.
Er versuchte sich auf den Fluchtweg zu konzentrieren, aber er konnte immer nur an sein kleines blaues Haus am Wasser denken. Durch den Drogendunst konnte er den alten viktorianischen Bau fast riechen, und er fühlte die abblätternde Farbe an seinen Fingerspitzen. Sein erstes Haus. Er bewahrte das Bild in seinem Kopf wie eine Schmusedecke, die den Schmerz der Kugel in seiner Brust umhüllte. Er konnte es schaffen. Er musste. Musste.
Zwei Minuten nach sechs in der verdammten Frühe.
Zwei Minuten nach sechs in der verdammten Frühe und die Polizei war schon in voller Stärke unterwegs und durchkämmte die Straßen nach ihm. Zwei Minuten nach sechs in der verdammten Frühe und die Meldung von dem Raubüberfall war bereits bei der Highway-Polizei und beim FBI. Vier Tote. Mehr als eine Million Dollar erbeutet. Über hundert Patronenhülsen auf dem Asphalt. Eine Sache für die Titelseiten.
Es war zwei Minuten nach sechs in der verdammten Frühe, und die Polizei hatte ihre Detectives bereits geweckt.
Noch zwei Stunden vergingen, und dann weckte jemand mich.
1
Seattle, Washington
Das hohe, schrille »Pling« einer ankommenden E-Mail klingelte wie eine Glocke in meinem Kopf. Ich schrak aus dem Schlaf, und meine Hand fuhr zu der Pistole neben mir. Mein Atem ging keuchend, während meine Augen sich an das Licht gewöhnten, das von meinen Überwachungsmonitoren kam. Ich schaute hinüber zum Fensterbrett, wo ich meine Armbanduhr hingelegt hatte. Der Himmel war noch schwarz wie Tinte.
Ich zog die Pistole unter dem Kopfkissen hervor und legte sie auf den Nachttisch. Ganz ruhig!
Als ich mich gefasst hatte, warf ich einen Blick auf die Monitore. Im Flur und im Aufzug war niemand. Niemand auf der Treppe, niemand unten im Eingangsbereich. Der einzige wache Mensch war der Nachtwächter, der viel zu sehr in ein Buch vertieft war, um etwas zu bemerken. Es war ein altes zehngeschossiges Gebäude, und ich war im siebten Stock. Bewohnt war es je nach Jahreszeit. Nur die Hälfte der Apartments wurde das ganze Jahr hindurch benutzt, und keiner dieser Bewohner stand jemals früh auf. Alle schliefen oder waren den Sommer über nicht da.
Mein Computer machte noch einmal »Pling«.
Ich lebe seit fast zwanzig Jahren von bewaffneten Raubüberfällen. Paranoia gehört zum Geschäft, genau wie ein Stapel mit falschen Pässen und Hundert-Dollar-Scheinen unter der untersten Schublade meiner Kommode. Angefangen habe ich als Teenager mit ein paar Banken, weil ich dachte, das Prickeln könnte mir gefallen. Ich hatte nie besonders viel Glück und wahrscheinlich auch nie besonders viel Verstand, aber ich bin immerhin noch nie von der Polizei erwischt oder verhört worden, und meine Fingerabdrücke sind auch nirgends gespeichert. Ich bin sehr gut in dem, was ich tue. Überlebt habe ich, weil ich äußerst vorsichtig bin. Ich lebe allein, ich schlafe allein, ich esse allein. Ich traue niemandem.
Es gibt vielleicht dreißig Menschen auf der Welt, die wissen, dass ich existiere, und ich bin nicht sicher, ob sie alle glauben, dass ich noch lebe. Ich führe notgedrungen ein sehr zurückgezogenes Dasein. Ich habe keine Telefonnummer, ich bekomme keine Post. Ich habe kein Bankkonto und keine Schulden. Ich bezahle nach Möglichkeit immer bar, und wenn das nicht geht, benutze ich eine Reihe von schwarzen Visa-Corporatecards, von denen jede mit einem Offshore-Konto verbunden ist. E-Mail ist die einzige Möglichkeit, mit mir Kontakt aufzunehmen, ohne dass es eine Garantie gibt, dass ich darauf antworte. Wenn ich in eine andere Stadt umziehe, ändere ich auch meine Mail-Adresse. Wenn Mails von Leuten kommen, die ich nicht kenne, oder wenn die Mails keine wichtigen Informationen mehr enthalten, lege ich die Festplatte in die Mikrowelle, packe meine Sachen in eine Reisetasche und fange woanders von vorn an.
Mein Computer machte wieder »Pling«.
Ich strich mir mit den Händen durch das Gesicht und nahm den Laptop von dem Schreibtisch neben meinem Bett. Im Posteingang war eine neue E-Mail. Alle meine E-Mails werden mehrfach umgeleitet, bevor sie mich erreichen. Die Daten laufen über Server in Island, Norwegen, Schweden und Thailand, bevor sie zerhackt und an Konten auf der ganzen Welt geschickt werden. Wer versuchen sollte, die IP-Adresse ausfindig zu machen, würde nicht wissen, welches die richtige ist. Diese E-Mail war vor zwei Minuten bei meiner ersten Offshore-Adresse in Reykjavik eingegangen, wo der Server sie mit meinem privaten 128-Bit-Schlüssel chiffriert hatte. Von dort war sie zu einer anderen Adresse, die unter einem anderen Namen registriert ist, weitergegangen, dann zu noch einer und noch einer. Oslo, Stockholm, Bangkok, Caracas, São Paolo. Zehnmal wurde sie weitergereicht, und in jedem Posteingang blieb eine Kopie. Kapstadt, London, New York, L.A., Tokio. Jetzt ging sie in der großen Masse völlig unter, ließ sich nirgendwohin zurückverfolgen, war anonym. Die Information war fast zweimal um die Welt gereist, bevor sie bei mir angekommen war. Sie lag in allen diesen In-Boxen, aber mein Key-code konnte nur eine davon freischalten. Ich gab mein Passwort ein und wartete darauf, dass die Nachricht entschlüsselt wurde. Die Festplatte lief an, und der Prozessor begann zu arbeiten. fünf Uhr morgens.
Der Himmel draußen war leer; nur in den Wolkenkratzern brannten ein paar Lichter, die aussahen wie Sternbilder im Nebel. Ich habe den Juli nie gemocht. Wo ich herkomme, ist es den ganzen Sommer hindurch unerträglich heiß. Die Überwachungsmonitore waren in der vergangenen Nacht für ein paar Sekunden ausgefallen, und ich hatte zwei Stunden damit zubringen müssen, sie zu überprüfen. Ich öffnete ein Fenster und stellte den Ventilator davor. Ich konnte das Dock unten riechen: alte Ladungen, Müll und Salzwasser. Hinter den Bahngleisen erstreckte sich die Bay wie ein riesiger Ölschlick. So früh am Morgen schnitt sich nur ein halbes Dutzend Autoscheinwerfer durch die Dunkelheit. Die Fischerboote streckten ihre Ausleger über die Netze, und die ersten Fähren verließen den Hafen. Von Bainbridge Island rollte der Nebel herein und durch die Stadt, wo der Regen aufhörte und der Schatten eines Güterzugs auf dem Gleis nach Osten zog. Ich nahm die Armbanduhr vom Fenstersims und legte sie an. Ich trage eine Patek Philippe. Sie sieht nicht besonders toll aus, aber sie wird noch die richtige Zeit anzeigen, wenn alle, die ich kenne, schon lange tot und begraben sind, wenn die Züge nicht mehr fahren und die Bay in den Ozean hineingeschwemmt wird.
Mein Entschlüsselungsprogramm gab ein Signal. fertig.
Die Absenderadresse war bei jeder Umleitung getarnt worden, doch ich wusste sofort, von dem die Nachricht kam. Von den potentiell dreißig Personen, die wussten, wie sie mit mir Kontakt aufnehmen können, kannten nur zwei den Namen in der Kopfzeile, und nur einer wusste mit Sicherheit, dass ich noch lebte.
Der Name war Jack Delton.
Ich heiße nicht wirklich Jack. Ich heiße auch nicht John, George, Robert, Michael oder Steven. Mein Name ist keiner von denen, die auf meinen Führerscheinen stehen, und er steht auch nicht in den Pässen und auf den Kreditkarten. Mein wirklicher Name steht nirgendwo außer vielleicht auf einem College-Diplom und einem oder zwei Schulzeugnissen in einem Schließfach. Jack Delton war ein Deckname und wird längst nicht mehr verwendet. Ich hatte ihn fünf Jahre zuvor bei einem Job benutzt und danach nie wieder. Neben den Worten blinkte ein kleines gelbes Zeichen, das bedeutete, die Nachricht sei dringend.
Ich klickte sie an.
Sie war kurz. Bitte sofort anrufen. Dann kam eine Telefonnummer mit einer Vorwahl aus der Gegend.
Ich starrte einen Moment lang auf das Display. Normalerweise würde ich bei solch einer Nachricht nicht eine Sekunde lang daran denken, die Nummer zu wählen. Die Vorwahl war dieselbe wie meine. Darüber dachte ich kurz nach und kam auf zwei mögliche Schlussfolgerungen. Entweder hatte der Absender außergewöhnliches Glück gehabt, oder er wusste, wo ich war. In Anbetracht des Absenders traf wahrscheinlich Letzteres zu. Es gab eine Handvoll Möglichkeiten, wie er es herausgefunden haben konnte, natürlich, aber keine davon dürfte einfach oder billig gewesen sein. Die bloße Möglichkeit, dass ich gefunden worden war, hätte eigentlich genügen müssen, um mich zu verjagen. Es ist mein Grundsatz, niemals eine Nummer anzurufen, die ich nicht kenne. Telefone sind gefährlich. Eine verschlüsselte Nachricht über eine Reihe von anonymen Servern hinweg zu verfolgen ist schwer. Doch jemanden über sein Mobiltelefon aufzuspüren ist einfach. Sogar die normale Polizei kann das, und die normale Polizei befasst sich nicht mit jemandem wie mir. Jemand wie ich kriegt das volle Programm: FBI, Interpol, Secret Service. Die haben haufenweise Agenten für so was.
Ich betrachte den blinkenden Namen lange und angestrengt. Jack.
Wenn die E-Mail von jemand anderem gekommen wäre, hätte ich sie jetzt schon gelöscht. Wenn die E-Mail von jemand anderem gekommen wäre, würde ich das Konto schließen und sämtliche Messages löschen. Wenn die E-Mail von jemand anderem gekommen wäre, würde ich die Computer verschmoren, meine Tasche packen und ein Ticket für den nächsten Flug nach Russland kaufen. In zwanzig Minuten wäre ich weg.
Aber sie war nicht von jemand anderem gekommen.
Nur zwei Menschen auf der Welt kannten diesen Namen.
Ich stand auf und ging zu der Kommode am Fenster. Ich schob einen Stapel Geldscheine und einen vollgeschriebenen Notizblock zur Seite. Wenn ich nicht mit einem Job beschäftigt bin, übersetze ich die Klassiker. Ich nahm ein weißes Hemd aus der Schublade, holte einen grauen Anzug aus dem Schrank und ein ledernes Schulterhalfter aus der Kommode. Aus der Schachtel, die oben draufstand, angelte ich einen kleinen silbernen Revolver: einen Detective Special, an dem der Abzugbügel und der Schlagbolzensporn abgefeilt waren, und ich lud ihn mit einer Handvoll .38er Hohlspitzpatronen. Als ich angezogen und fertig war, holte ich ein altes internationales Handy mit Prepaid-Karte hervor, schaltete es ein und wählte die Nummer.
Am anderen Ende klingelte es nicht mal. Sofort war jemand dran.
»Ich bin's«, sagte ich.
»Du bist schwer zu finden, Jack.«
»Was willst du?«
»Ich will, dass du in mein Clubhaus kommst«, sagte Marcus. »Und bevor du fragst: Du bist mir noch was schuldig.«
2
Sogar über die Straße hinweg roch der Five Star Diner nach Zigaretten und Aftershave. Er klemmte wie eine Mülltonne zwischen der Zuliefergasse eines Restaurants und einem Pornoladen in der Trinkerhälfte von Belltown, einen Block weit von der Space Needle entfernt. Unter der Straßenlaterne parkte ein Rudel Motorräder. Das Innere war von mattem Neon und einer Jukebox voll glänzender CDs beleuchtet. Die Tür stand offen. Selbst um diese Zeit hatte die Hitze noch nicht nachgelassen.
Der Fahrer ließ das Taxi vor dem Eingang ausrollen. Verglichen mit den Orten, an denen ich schon gearbeitet habe, wie Vegas oder São Paolo, gibt es in Seattle nur wenige schlechte Gegenden. Verglichen mit anderen Städten ist es praktisch makellos. Das Viertel hier war eine Ausnahme. Die Gasse zwischen den Gebäuden sah aus wie eine Obdachlosenunterkunft; sie war voll von Decken und leeren Flaschen und stank nach schalem Bier und Motoröl. Ich zahlte den Fahrpreis durch die Cash-Öffnung in der Plexiglastrennwand, und der Fahrer wartete nicht länger als nötig. Er fuhr weg, sowie meine Füße auf dem Asphalt standen und meine Hand den Türgriff losgelassen hatte.
Ich ging in die Gasse hinein und betrat den Laden durch die Küche. Das Five Star war ein öffentliches Lokal, dachte ich. Wo jeder, der Augen und Ohren hatte, Zeuge sein konnte. Hier drinnen wäre es schwerer, etwas wirklich Schlimmes zu tun. Marcus wollte mir signalisieren, dass er nicht vorhatte, mich umzubringen. Wenn er das gewollt hätte, hätte er mir auch keine E-Mail geschickt. Er hätte mich selbst aufgestöbert, mir ein Kissen auf das Gesicht gedrückt und eine Kugel hindurchgejagt, wie er es damals immer getan hatte. Wer sich hier traf, konnte sich genauso gut vor ein Polizeirevier stellen. Ich wurde nicht schlau daraus. Ein Grund mehr zur Beruhigung.
Marcus hatte noch nie jemanden in seinem eigenen Diner umgebracht.
Trotzdem, er hatte viele Gründe, mich auszuschalten. Ein Job, an dem wir zusammengearbeitet hatten, war in die Binsen gegangen, und sein Ruf hatte schwer darunter gelitten. Aus dem internationalen Mastermind war über Nacht ein abgefuckter Drogenlord geworden. Er hatte unter den besten Akteuren der Welt wählen können. Jetzt musste er den Abschaum der Straße engagieren, um sich schützen zu lassen. Nach diesem Job hatte ich gedacht, er würde mich nie wiedersehen wollen. Ich hatte gedacht, er würde mich erschießen, bevor er mir eine E-Mail schickte. Aber irgendwie hatte ich gewusst, dass der Tag kommen würde. Ich war ihm was schuldig.
Der Wachtposten hinten hatte mich erwartet. Ein massiger Typ in Jeans, der sich mein neues Gesicht ausführlich anschaute, bevor er mich durchließ. Er nickte, als ob er mich erkannt hätte, aber das hatte er nicht, da war ich sicher. Ich habe mich so oft verändert, dass ich selber vergessen habe, wie ich aussehe. Meine jüngste Inkarnation hatte hellblondes Haar, nussbraune Augen und eine Haut, die käseweiß war, weil ich so gut wie nie nach draußen ging. Nicht alles ist plastische Chirurgie. Kontaktlinsen, Gewichtsabnahme und Haarfarbe können einen Mann stärker verändern als Skalpellarbeit für fünfzig Riesen, doch das ist nicht mal die halbe Miete. Wenn man lernt, seine Stimme und seinen Gang zu verändern, kann man innerhalb von zehn Sekunden sein, wer immer man sein will. Das Einzige, was man nicht ändern kann, ist der Geruch, habe ich erfahren. Man kann ihn maskieren, mit Whiskey, Parfüm und teuren Cremes, aber man riecht, wie man riecht. Das hat die Frau mir beigebracht, von der ich mein Handwerk gelernt habe. Ich werde immer nach schwarzem Pfeffer und Koriander riechen.
Ich kam an einem Koch vorbei, der auf einem umgedrehten Eimer Hühnerbrühextrakt hockte und eine filterlose Zigarette rauchte. Ich schob mich hinter der Arbeitsplatte entlang durch die Küche bis dahin, wo der mexikanische Bratkoch arbeitete. Er warf mir einen kurzen Blick zu und schaute gleich wieder weg. In der Küche roch es nach Speck, Chorizo, Spiegeleiern und gesalzener Butter. Durch die Kellnertür kam ich in den hinteren Teil des Lokals. Marcus erwartete mich in der achten Sitznische unter einer »Bud Light«-Neonschrift. Er saß vor einem unberührten Teller mit Eiern und Speck und einer Tasse Kaffee.
Er sprach erst, als ich ganz nah herangekommen war.
»Jack.«
»Ich dachte, ich sehe dich nie wieder.«
Marcus Hayes war groß und drahtig und sah aus wie der Chef eines Computerunternehmens. Dünn wie eine Bohnenstange, und irgendwie wirkte er immer, als sei ihm nicht wohl in seiner eigenen Haut. Die meisten erfolgreichen Verbrecher sehen nicht aus wie das, was sie sind. Er trug ein dunkelblaues Oxford-Hemd und eine Trifokalbrille mit Gläsern so dick wie der Boden einer Cola fasche. Er hatte sechs Monate in einem Arbeitslager in Snake River, Oregon, abgesessen, und seitdem war sein Augenlicht nicht mehr das Beste. Die Iris seiner Augen war von einem stumpfen Blau und um die Pupillen herum verblasst. Er hatte nur zehn Jahre mehr auf dem Buckel als ich, sah aber viel älter aus. Seine Handflächen waren wie Leder, doch sein Äußeres täuschte mich nicht.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Wilhelm Goldmann Verlag, München
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Autoren-Porträt von Roger Hobbs
Roger Hobbs hat die Rohfassung seines ersten Romans bereits fertiggestellt, als er noch zum College ging. 2011 schloss er sein Studium am Reed College erfolgreich ab. Derzeit schreibt er an einem weiteren Roman. Außerdem hat ihn Warner Bros. für ein weiteres Projekt als Drehbuchautor verpflichtet. Roger Hobbs lebt in Portland, Oregon.
Autoren-Interview mit Roger Hobbs
2011 reichten Sie am Tag Ihres Collegeabschlusses im Alter von 22 Jahren das Manuskript für „Ghostman" ein. Es sorgte auf Anhieb für Furore: Allein auf Grundlage der ersten 50 Seiten erwarben drei internationale Verlage die Rechte zur Veröffentlichung. Mittlerweile wurde „Ghostman" in 20 Länder verkauft, Warner Brothers erwarb die Filmrechte, und „Ghostman" avancierte zum New-York-Times-Bestseller. Wie haben sich durch diesen Erfolg Ihr Leben und Ihre Arbeit als Autor verändert?Roger Hobbs: Die größte Veränderung bestand darin, dass ich meinen Lebensunterhalt plötzlich selbst finanzieren konnte. Ich hatte meinen Collegeabschluss gerade gemacht, als Amerika mitten in der größten Rezession der letzten achtzig Jahre steckte. Es gab nirgends Jobs für Collegeabgänger. Anfangs, als das Manuskript von „Ghostman" verkauft wurde, übernachtete ich auf einem kleinen Zweiersofa in der Einzimmerwohnung eines Freundes. Ich teilte meinen Schlafplatz mit seiner Katze, und mein Erspartes reichte genau für drei Monatsmieten, vorausgesetzt, ich ernährte mich in dieser Zeit ausschließlich von Fertiggerichten und Hundefutter und würde nicht krank. Der Verkauf von „Ghostman" ermöglichte es mir, mich mit anderen Dingen zu beschäftigen als dem bloßen Überleben - ich konnte meine Zeit nun dem Schreiben widmen.
Sie begannen mit zwölf Jahren zu schreiben und haben seither sieben Romane, zwei Theaterstücke und mehrere Drehbücher für Film und Fernsehen verfasst. Geriet das Schreiben für Sie nicht in Konflikt mit Schule, Studium und Freundschaften?
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Roger Hobbs: Das Schreiben stand der Schule oder dem Privatleben nie im Weg. Für mich boten Schulzeit und Studium großartige Gelegenheiten zum Schreiben, denn als Schüler und Student musste ich mir einige Jahre lang keine Sorgen um meinen Lebensunterhalt machen. Ich konnte schreiben, wozu ich Lust hatte, und trotzdem meine anderen Aufgaben erledigen. Schriftsteller vergessen zu oft, dass Schreiben, verglichen mit anderen Jobs, eigentlich sehr leicht ist. Ich konnte ohne Einschränkungen für mein übriges Leben täglich eine Stunde lang in der Badewanne liegen und schreiben. Das ist wesentlich einfacher als, sagen wir mal, zwölf Stunden täglich für einen Hungerlohn Gräben auszuheben. Ich finde, das sollte man sich immer vor Augen halten. Was würde ich lieber tun: in einem Sweatshop sitzen oder an einer Tastatur? Ganz klar, an einer Tastatur.
Sie haben „literary theory" am Reed College in Portland studiert und Ihre Abschlussarbeit über Erzähltheorie am Beispiel von Edgar Allan Poe verfasst. Welchen Einfluss hatte die akademische Auseinandersetzung mit Spannung in der Literatur auf Ihre Arbeit an „Ghostman"?
Roger Hobbs: Ganz sicher hat mein Studium meine Art zu schreiben beeinflusst. Meine Abschlussarbeit am Reed College untersucht, wie das komplexe Wechselspiel der Perspektive in Edgar Allan Poes „The Purloined Letter" (dt.: „Der entwendete Brief") die Erzählweise der Geschichte lenkt und letztendlich die Grundlage für die Detektivgeschichte bildet. Ich wollte ganz genau wissen, was diese Geschichte so unglaublich spannend macht. Was unterscheidet Spannungsliteratur von anderen Erzählformen? Ich brachte ein ganzes Jahr damit zu, unterschiedliche Theorien zu untersuchen und stellte schließlich selbst ein paar auf. Das sind für einen Schriftsteller wertvolle Erkenntnisse!
Hatten Sie schon immer ein Faible für Thriller?
Roger Hobbs: Als ich jünger war, mochte ich keine Thriller. Am Anfang schrieb ich ein paar Science-Fiction-Romane, weil mir dieses Genre damals gefiel. Mit Thrillern konnte ich nichts anfangen. Erst als ich in einem örtlichen Buchladen auf Robert Crais´ „The Monkey´s Raincoat" (dt: „Die gefährlichen Wege des Elvis Cole") stieß, begann ich, mich für das Genre zu interessieren. Dieses Buch veränderte mein Leben. „The Monkey´s Raincoat" wird in einer überzeugenden, witzigen und persönlichen Sprache erzählt, die mich sofort in die Geschichte hineinzog. Von der ersten Seite an war ich gefesselt, und das war mir zuvor noch nie passiert. Von da an wusste ich, dass ich Thriller-Autor werden wollte.
Im Zentrum von „Ghostman" steht ein versierter Berufsverbrecher, der damit beauftragt wird, 1,2 Millionen Dollar aufzuspüren, die bei einem missglückten Raubüberfall auf ein Casino in Atlantic City verschwunden sind. Wie sind Sie auf diesen Einfall gekommen?
Roger Hobbs: Das war einfach eine Eingebung.
Was ist eigentlich ein „Ghostman", und welche Idee steckt dahinter?
Roger Hobbs: Wenn sich Kriminelle zu einer Gang zusammentun, um einen Raub in großem Stil durchzuziehen, hat jeder in der Bande eine bestimmte Aufgabe. Von den meisten hat man wahrscheinlich schon einmal gehört. Der „Wheelman" fährt den Fluchtwagen. Der „Boxman" knackt den Safe. Der „Buttonman" hält die Zeugen in Schach. Der „Jugmarker" erarbeitet den Plan und schwört jeden darauf ein. Der „Ghostman" hat eine Zusatzaufgabe: Er muss dafür sorgen, dass jedes Bandenmitglied unbehelligt entkommen kann. Er verkörpert den Identitätsdieb in Reinkultur - er kann sich von einem Moment auf den anderen in jede beliebige Person verwandeln.
Der „Ghostman" ist ein skrupelloser Profikrimineller. Woran liegt es, dass man beim Lesen trotzdem Sympathie für ihn empfindet?
Roger Hobbs: Natürlich ist der Ghostman ein Verbrecher, aber er hat viele Eigenschaften, die die Leser hoffentlich mögen werden. Zum Beispiel ist er erfrischend amoralisch. Er tut etwas nicht deshalb, weil er es für richtig oder falsch hält, sondern weil es für ihn praktisch oder interessant ist. Ich glaube, dass die Leser diese Weltsicht faszinieren wird. Er wird weder von der Sucht nach Reichtümern noch von Mordlust oder der Hörigkeit gegenüber einem Anführer getrieben, sondern von seiner Einsamkeit, Langeweile und seinem ganz persönlichen Verhaltenskodex. Er lechzt nach Spannung. Allerdings ist seine größte Stärke zugleich auch seine größte Schwäche - denn wie kann er den Sinn seines Lebens erkennen, wenn er sich in jede beliebige Person verwandeln kann? Er versucht herauszufinden, wer er ist und welche Bedeutung sein Dasein hat. Möchte das nicht jeder andere auch?
Gab es Kriminelle in der Geschichte oder in Literatur und Film, die Sie zu Ihren Romanfiguren inspiriert haben?
Roger Hobbs: Es gibt viele reale Verbrecher, die mich inspirierten. Ribbons und Moreno gehen auf Emil Matasareanu und Larry Phillips zurück, ein amerikanisches Räuberduo, das berühmt dafür war, bei Überfällen Panzerwesten, Drogen und schwere Sturmgewehre einzusetzen. Die Anregungen für meinen Antagonisten, den „Wolf", erhielt ich zum Teil von der wilden, gewalttätigen Persönlichkeit, die Pablo Escobar entwickelt hatte, Kolumbiens mächtigster Drogenbaron. Zu Jack ließ ich mich von einer Schar unterschiedlicher Gangster inspirieren: Äußerlich ähnelt er dem legendären amerikanischen Bankräuber John Dillinger, wohingegen seine Vorgehensweise an Willie Sutton, genannt „Willie the Actor", erinnert, der seine Banküberfälle in vielfältigen Verkleidungen beging. Ich wollte ein Buch aus der Perspektive eines Verbrechers schreiben, der sich mit ihnen auf Augenhöhe befindet.
In Ihrem Thriller geben Sie erstaunlich detailliert Hintergrundwissen über die Planung von Verbrechen preis. Sie gehen dabei weit über das hinaus, was Leser in einem Thriller für gewöhnlich erwarten würden. Beispielsweise schildern Sie nicht nur, wie ein gepanzerter Geldtransporter von innen aussieht oder welche Wirkung ein Schalldämpfer tatsächlich hat. Sie beschreiben auch, wie eine Farbspraydose zum Mordwerkzeug werden kann, was beim Entsorgen von Leichenteilen in Müllsäcken zu beachten ist, warum ein Containerplatz ein besseres Versteck als ein Hotelzimmer sein kann und wie man dieses Containergelände betritt, wenn man den Sicherheitscode des Tores nicht kennt... Wie haben Sie derartiges Insiderwissen erworben?
Roger Hobbs: Ich habe sehr umfangreich auf zwei Ebenen recherchiert: theoretisch sowie vor Ort durch unmittelbare Begegnungen. Zugegeben, den größten Teil der Nachforschungen erledigte ich ganz bequem vom Schreibtisch aus. Es gibt Berge an Literatur über diese Themen, im Internet und anderswo. Was ich in Büchern nicht finden konnte, darauf stieß ich in Chatrooms. Tief verborgen gibt es Internetseiten, auf denen aktive Kriminelle miteinander kommunizieren und Geheimnisse austauschen. Sie würden nicht im Traum darauf kommen, wie viel man da draußen findet. Allein übers Internet brachte ich mir vier verschiedene Wege bei, ein Auto zu stehlen, zwei Techniken, um Schlösser zu knacken, und man erfährt sogar, wie man allein aus Küchenutensilien eine funktionsfähige Schusswaffe mit Schalldämpfer herstellen kann. Natürlich bin ich durch Onlinerecherchen und Bücherlesen nicht über einen bestimmten Punkt hinausgelangt. Alles Weitere musste ich vor Ort erledigen. Ich schnallte mir ein Messern in den Stiefel, kaufte ein paar Packungen Zigaretten als Tauschwährung und zog durch die Straßen. Ich ging in die heruntergekommensten Viertel und fragte mich so lange durch, bis ich jemanden fand, der mir Informationen geben konnte. Das war großartig - ich erfuhr nicht nur, wie man ungeschoren davonkommen kann, wenn man ein paar ziemlich schwere Verbrechen begangen hat, sondern ich lernte auch, wie Gangster Geschichten erzählen. Diesen Slang wollte ich in Ghostman aufgreifen.
Gab es bei Ihren Recherchen skurrile Begegnungen oder brenzlige Situationen?
Roger Hobbs: Allerdings. Um den Versammlungsraum einer bestimmten Gang in Seattle betreten zu dürfen, musste ich mir einen Revolver an den Kopf halten und abdrücken. Natürlich bestand keine wirkliche Gefahr - die Waffe war offenkundig nicht geladen - aber die Absicht dieses Rituals war eindeutig. Wenn man mit einer Gruppe von Verbrechern in einem Raum steckt, ist immer der am mächtigsten, der am wenigsten zu verlieren hat. Deshalb musste man seine Furchtlosigkeit beweisen, um in den Club aufgenommen zu werden.
Manchmal hatte ich auch einfach nur Glück. So entkam ich an einigen Orten nur knapp einer Schlägerei. Aber meistens hatte ich überhaupt keinen Ärger. Viele Kriminelle sind Egomanen. Ich brauchte nur erwähnen, dass ich Schriftsteller sei, und schon redeten sie stundenlang auf mich ein und erzählten mir den ganzen verrückten Mist, den sie verbrochen hatten. Dabei war mir egal, ob es tatsächlich stimmte oder sich um Hirngespinste handelte - mir kam es auf den Geist der Geschichte an, nicht auf den Inhalt.
Was hat Sie an Atlantic City als Romanschauplatz fasziniert?
Roger Hobbs: Als ich anfing, "Ghostman" zu schreiben, lebte ich in Philadelphia, das sehr nahe bei Atlantic City liegt. Ich war begeistert von der ungeheuren Schönheit und grotesken Hässlichkeit dieser Stadt. Der Boardwalk ist mit milliardenschweren Casinos gesäumt, aber nur einige Blocks weiter weg gibt es derart schauderhafte, dreckige Slums, dass man kaum für möglich hält, dass sie zu ein und derselben Stadt gehören. Atlantic City ist schön und schäbig zugleich. Es ist der perfekte Ort für Gangster und Wirtschaftsverbrecher gleichermaßen.
„Ghostman" dreht sich neben dem aktuellen Casinoraub auch um einen spektakulären Bankraub, der fünf Jahre zurückliegt. Was hat Sie dazu bewogen, ausgerechnet Raubüberfälle zu schildern. Gibt es für intelligente Berufsverbrecher nicht wesentlich risikoärmere und lukrativere Methoden, an richtig viel Geld zu kommen?
Roger Hobbs: Einem Räuber geht es nicht allein um Geld. Die allermeisten werden nicht deshalb zu Verbrechern, weil sie davon träumen, Millionäre zu sein - sie begehen ihre Taten aus anderen Motiven. Wenn man durch harte Arbeit reich werden möchte, gibt es legale Wege. Und selbst wenn einem (aus verschiedenen Gründen) der Zugang dazu verwehrt ist, wäre Drogentransport ein Job, den nahezu jeder übernehmen kann und der auf lange Sicht fast immer einträglicher ist als bewaffnete Raubüberfälle. Damit kann man Geld machen. Nein, einen Bankraub begehen Kriminelle nicht, um reich zu werden, sondern weil es schnell geht. Fast immer sind Räuber entweder abhängig oder sie haben Schulden und brauchen auf die Schnelle viel Geld. Wer es nicht aus Verzweiflung tut, verfolgt dennoch einen ähnlichen Zweck: Ein Raubüberfall ist der einzige Job, bei dem man alle halbe Jahre zwei Minuten in Aktion tritt und die übrige Zeit wie Gott in Frankreich leben kann. Wie sonst könnte man an einem Nachmittag zwanzig Riesen verdienen? Für sie ist Raub ein Weg, dem Teufelskreis aus Armut und Hoffnungslosigkeit zu entkommen, in dem sie aufgewachsen sind, und dem Establishment eines auszuwischen. Ein Raub ist die perfekte Methode, um sich schnell mit Geld zu versorgen.
Seine Arbeit zwingt den „Ghostman", im Verborgenen zu leben und auf enge Bindungen zu verzichten. Dennoch gibt es einen Menschen, der in seinem Leben über Jahre hinweg eine außerordentlich wichtige Rolle für ihn spielt: seine Mentorin Angela. Können Sie uns etwas mehr über diese Beziehung erzählen?
Roger Hobbs: Was Jack und Angela zusammenschweißt, ist ihre Einsamkeit. Denn es kann einen unglaublich isolieren, wenn man keine feste Identität oder Persönlichkeit hat. All ihre anderen Beziehungen sind von vornherein nur vorübergehend, aber ihr Verhältnis verleiht Jacks und Angelas Leben ein Gefühl von Beständigkeit. Die Flüchtigkeit des Lebens empfindet ein „Ghostman" unter Umständen verschärft. Natürlich besteht keine Beziehung ewig, aber für Jack und Angela enden Beziehungen bereits, kaum dass sie begonnen haben. Angela ist die einzige, die weiß, wer Jack früher einmal war. Sie ist sein Richtmaß. In seiner Wahrnehmung ist sie die einzige, die ihn daran erinnert, dass hinter all seinen Tarnungen immer noch ein richtiger Mensch steckt. Angela wiederum hat Jack gern, weil er der einzige ist, der sie mag, egal wie sie aussieht, welchen Ton sie anschlägt, wie sie sich verhält und was sie sagt. Er mag sie so, wie sie ist, auch wenn dieses „wie" sich täglich ändert.
Sie schreiben gerade an einer Fortsetzung des Thrillers. Können Sie schon etwas über den neuen Roman oder das Konzept der Reihe verraten?
Roger Hobbs: Es tut mir Leid, aber da muss ich Sie noch eine Weile auf die Folter spannen.
Roger Hobbs: Das Schreiben stand der Schule oder dem Privatleben nie im Weg. Für mich boten Schulzeit und Studium großartige Gelegenheiten zum Schreiben, denn als Schüler und Student musste ich mir einige Jahre lang keine Sorgen um meinen Lebensunterhalt machen. Ich konnte schreiben, wozu ich Lust hatte, und trotzdem meine anderen Aufgaben erledigen. Schriftsteller vergessen zu oft, dass Schreiben, verglichen mit anderen Jobs, eigentlich sehr leicht ist. Ich konnte ohne Einschränkungen für mein übriges Leben täglich eine Stunde lang in der Badewanne liegen und schreiben. Das ist wesentlich einfacher als, sagen wir mal, zwölf Stunden täglich für einen Hungerlohn Gräben auszuheben. Ich finde, das sollte man sich immer vor Augen halten. Was würde ich lieber tun: in einem Sweatshop sitzen oder an einer Tastatur? Ganz klar, an einer Tastatur.
Sie haben „literary theory" am Reed College in Portland studiert und Ihre Abschlussarbeit über Erzähltheorie am Beispiel von Edgar Allan Poe verfasst. Welchen Einfluss hatte die akademische Auseinandersetzung mit Spannung in der Literatur auf Ihre Arbeit an „Ghostman"?
Roger Hobbs: Ganz sicher hat mein Studium meine Art zu schreiben beeinflusst. Meine Abschlussarbeit am Reed College untersucht, wie das komplexe Wechselspiel der Perspektive in Edgar Allan Poes „The Purloined Letter" (dt.: „Der entwendete Brief") die Erzählweise der Geschichte lenkt und letztendlich die Grundlage für die Detektivgeschichte bildet. Ich wollte ganz genau wissen, was diese Geschichte so unglaublich spannend macht. Was unterscheidet Spannungsliteratur von anderen Erzählformen? Ich brachte ein ganzes Jahr damit zu, unterschiedliche Theorien zu untersuchen und stellte schließlich selbst ein paar auf. Das sind für einen Schriftsteller wertvolle Erkenntnisse!
Hatten Sie schon immer ein Faible für Thriller?
Roger Hobbs: Als ich jünger war, mochte ich keine Thriller. Am Anfang schrieb ich ein paar Science-Fiction-Romane, weil mir dieses Genre damals gefiel. Mit Thrillern konnte ich nichts anfangen. Erst als ich in einem örtlichen Buchladen auf Robert Crais´ „The Monkey´s Raincoat" (dt: „Die gefährlichen Wege des Elvis Cole") stieß, begann ich, mich für das Genre zu interessieren. Dieses Buch veränderte mein Leben. „The Monkey´s Raincoat" wird in einer überzeugenden, witzigen und persönlichen Sprache erzählt, die mich sofort in die Geschichte hineinzog. Von der ersten Seite an war ich gefesselt, und das war mir zuvor noch nie passiert. Von da an wusste ich, dass ich Thriller-Autor werden wollte.
Im Zentrum von „Ghostman" steht ein versierter Berufsverbrecher, der damit beauftragt wird, 1,2 Millionen Dollar aufzuspüren, die bei einem missglückten Raubüberfall auf ein Casino in Atlantic City verschwunden sind. Wie sind Sie auf diesen Einfall gekommen?
Roger Hobbs: Das war einfach eine Eingebung.
Was ist eigentlich ein „Ghostman", und welche Idee steckt dahinter?
Roger Hobbs: Wenn sich Kriminelle zu einer Gang zusammentun, um einen Raub in großem Stil durchzuziehen, hat jeder in der Bande eine bestimmte Aufgabe. Von den meisten hat man wahrscheinlich schon einmal gehört. Der „Wheelman" fährt den Fluchtwagen. Der „Boxman" knackt den Safe. Der „Buttonman" hält die Zeugen in Schach. Der „Jugmarker" erarbeitet den Plan und schwört jeden darauf ein. Der „Ghostman" hat eine Zusatzaufgabe: Er muss dafür sorgen, dass jedes Bandenmitglied unbehelligt entkommen kann. Er verkörpert den Identitätsdieb in Reinkultur - er kann sich von einem Moment auf den anderen in jede beliebige Person verwandeln.
Der „Ghostman" ist ein skrupelloser Profikrimineller. Woran liegt es, dass man beim Lesen trotzdem Sympathie für ihn empfindet?
Roger Hobbs: Natürlich ist der Ghostman ein Verbrecher, aber er hat viele Eigenschaften, die die Leser hoffentlich mögen werden. Zum Beispiel ist er erfrischend amoralisch. Er tut etwas nicht deshalb, weil er es für richtig oder falsch hält, sondern weil es für ihn praktisch oder interessant ist. Ich glaube, dass die Leser diese Weltsicht faszinieren wird. Er wird weder von der Sucht nach Reichtümern noch von Mordlust oder der Hörigkeit gegenüber einem Anführer getrieben, sondern von seiner Einsamkeit, Langeweile und seinem ganz persönlichen Verhaltenskodex. Er lechzt nach Spannung. Allerdings ist seine größte Stärke zugleich auch seine größte Schwäche - denn wie kann er den Sinn seines Lebens erkennen, wenn er sich in jede beliebige Person verwandeln kann? Er versucht herauszufinden, wer er ist und welche Bedeutung sein Dasein hat. Möchte das nicht jeder andere auch?
Gab es Kriminelle in der Geschichte oder in Literatur und Film, die Sie zu Ihren Romanfiguren inspiriert haben?
Roger Hobbs: Es gibt viele reale Verbrecher, die mich inspirierten. Ribbons und Moreno gehen auf Emil Matasareanu und Larry Phillips zurück, ein amerikanisches Räuberduo, das berühmt dafür war, bei Überfällen Panzerwesten, Drogen und schwere Sturmgewehre einzusetzen. Die Anregungen für meinen Antagonisten, den „Wolf", erhielt ich zum Teil von der wilden, gewalttätigen Persönlichkeit, die Pablo Escobar entwickelt hatte, Kolumbiens mächtigster Drogenbaron. Zu Jack ließ ich mich von einer Schar unterschiedlicher Gangster inspirieren: Äußerlich ähnelt er dem legendären amerikanischen Bankräuber John Dillinger, wohingegen seine Vorgehensweise an Willie Sutton, genannt „Willie the Actor", erinnert, der seine Banküberfälle in vielfältigen Verkleidungen beging. Ich wollte ein Buch aus der Perspektive eines Verbrechers schreiben, der sich mit ihnen auf Augenhöhe befindet.
In Ihrem Thriller geben Sie erstaunlich detailliert Hintergrundwissen über die Planung von Verbrechen preis. Sie gehen dabei weit über das hinaus, was Leser in einem Thriller für gewöhnlich erwarten würden. Beispielsweise schildern Sie nicht nur, wie ein gepanzerter Geldtransporter von innen aussieht oder welche Wirkung ein Schalldämpfer tatsächlich hat. Sie beschreiben auch, wie eine Farbspraydose zum Mordwerkzeug werden kann, was beim Entsorgen von Leichenteilen in Müllsäcken zu beachten ist, warum ein Containerplatz ein besseres Versteck als ein Hotelzimmer sein kann und wie man dieses Containergelände betritt, wenn man den Sicherheitscode des Tores nicht kennt... Wie haben Sie derartiges Insiderwissen erworben?
Roger Hobbs: Ich habe sehr umfangreich auf zwei Ebenen recherchiert: theoretisch sowie vor Ort durch unmittelbare Begegnungen. Zugegeben, den größten Teil der Nachforschungen erledigte ich ganz bequem vom Schreibtisch aus. Es gibt Berge an Literatur über diese Themen, im Internet und anderswo. Was ich in Büchern nicht finden konnte, darauf stieß ich in Chatrooms. Tief verborgen gibt es Internetseiten, auf denen aktive Kriminelle miteinander kommunizieren und Geheimnisse austauschen. Sie würden nicht im Traum darauf kommen, wie viel man da draußen findet. Allein übers Internet brachte ich mir vier verschiedene Wege bei, ein Auto zu stehlen, zwei Techniken, um Schlösser zu knacken, und man erfährt sogar, wie man allein aus Küchenutensilien eine funktionsfähige Schusswaffe mit Schalldämpfer herstellen kann. Natürlich bin ich durch Onlinerecherchen und Bücherlesen nicht über einen bestimmten Punkt hinausgelangt. Alles Weitere musste ich vor Ort erledigen. Ich schnallte mir ein Messern in den Stiefel, kaufte ein paar Packungen Zigaretten als Tauschwährung und zog durch die Straßen. Ich ging in die heruntergekommensten Viertel und fragte mich so lange durch, bis ich jemanden fand, der mir Informationen geben konnte. Das war großartig - ich erfuhr nicht nur, wie man ungeschoren davonkommen kann, wenn man ein paar ziemlich schwere Verbrechen begangen hat, sondern ich lernte auch, wie Gangster Geschichten erzählen. Diesen Slang wollte ich in Ghostman aufgreifen.
Gab es bei Ihren Recherchen skurrile Begegnungen oder brenzlige Situationen?
Roger Hobbs: Allerdings. Um den Versammlungsraum einer bestimmten Gang in Seattle betreten zu dürfen, musste ich mir einen Revolver an den Kopf halten und abdrücken. Natürlich bestand keine wirkliche Gefahr - die Waffe war offenkundig nicht geladen - aber die Absicht dieses Rituals war eindeutig. Wenn man mit einer Gruppe von Verbrechern in einem Raum steckt, ist immer der am mächtigsten, der am wenigsten zu verlieren hat. Deshalb musste man seine Furchtlosigkeit beweisen, um in den Club aufgenommen zu werden.
Manchmal hatte ich auch einfach nur Glück. So entkam ich an einigen Orten nur knapp einer Schlägerei. Aber meistens hatte ich überhaupt keinen Ärger. Viele Kriminelle sind Egomanen. Ich brauchte nur erwähnen, dass ich Schriftsteller sei, und schon redeten sie stundenlang auf mich ein und erzählten mir den ganzen verrückten Mist, den sie verbrochen hatten. Dabei war mir egal, ob es tatsächlich stimmte oder sich um Hirngespinste handelte - mir kam es auf den Geist der Geschichte an, nicht auf den Inhalt.
Was hat Sie an Atlantic City als Romanschauplatz fasziniert?
Roger Hobbs: Als ich anfing, "Ghostman" zu schreiben, lebte ich in Philadelphia, das sehr nahe bei Atlantic City liegt. Ich war begeistert von der ungeheuren Schönheit und grotesken Hässlichkeit dieser Stadt. Der Boardwalk ist mit milliardenschweren Casinos gesäumt, aber nur einige Blocks weiter weg gibt es derart schauderhafte, dreckige Slums, dass man kaum für möglich hält, dass sie zu ein und derselben Stadt gehören. Atlantic City ist schön und schäbig zugleich. Es ist der perfekte Ort für Gangster und Wirtschaftsverbrecher gleichermaßen.
„Ghostman" dreht sich neben dem aktuellen Casinoraub auch um einen spektakulären Bankraub, der fünf Jahre zurückliegt. Was hat Sie dazu bewogen, ausgerechnet Raubüberfälle zu schildern. Gibt es für intelligente Berufsverbrecher nicht wesentlich risikoärmere und lukrativere Methoden, an richtig viel Geld zu kommen?
Roger Hobbs: Einem Räuber geht es nicht allein um Geld. Die allermeisten werden nicht deshalb zu Verbrechern, weil sie davon träumen, Millionäre zu sein - sie begehen ihre Taten aus anderen Motiven. Wenn man durch harte Arbeit reich werden möchte, gibt es legale Wege. Und selbst wenn einem (aus verschiedenen Gründen) der Zugang dazu verwehrt ist, wäre Drogentransport ein Job, den nahezu jeder übernehmen kann und der auf lange Sicht fast immer einträglicher ist als bewaffnete Raubüberfälle. Damit kann man Geld machen. Nein, einen Bankraub begehen Kriminelle nicht, um reich zu werden, sondern weil es schnell geht. Fast immer sind Räuber entweder abhängig oder sie haben Schulden und brauchen auf die Schnelle viel Geld. Wer es nicht aus Verzweiflung tut, verfolgt dennoch einen ähnlichen Zweck: Ein Raubüberfall ist der einzige Job, bei dem man alle halbe Jahre zwei Minuten in Aktion tritt und die übrige Zeit wie Gott in Frankreich leben kann. Wie sonst könnte man an einem Nachmittag zwanzig Riesen verdienen? Für sie ist Raub ein Weg, dem Teufelskreis aus Armut und Hoffnungslosigkeit zu entkommen, in dem sie aufgewachsen sind, und dem Establishment eines auszuwischen. Ein Raub ist die perfekte Methode, um sich schnell mit Geld zu versorgen.
Seine Arbeit zwingt den „Ghostman", im Verborgenen zu leben und auf enge Bindungen zu verzichten. Dennoch gibt es einen Menschen, der in seinem Leben über Jahre hinweg eine außerordentlich wichtige Rolle für ihn spielt: seine Mentorin Angela. Können Sie uns etwas mehr über diese Beziehung erzählen?
Roger Hobbs: Was Jack und Angela zusammenschweißt, ist ihre Einsamkeit. Denn es kann einen unglaublich isolieren, wenn man keine feste Identität oder Persönlichkeit hat. All ihre anderen Beziehungen sind von vornherein nur vorübergehend, aber ihr Verhältnis verleiht Jacks und Angelas Leben ein Gefühl von Beständigkeit. Die Flüchtigkeit des Lebens empfindet ein „Ghostman" unter Umständen verschärft. Natürlich besteht keine Beziehung ewig, aber für Jack und Angela enden Beziehungen bereits, kaum dass sie begonnen haben. Angela ist die einzige, die weiß, wer Jack früher einmal war. Sie ist sein Richtmaß. In seiner Wahrnehmung ist sie die einzige, die ihn daran erinnert, dass hinter all seinen Tarnungen immer noch ein richtiger Mensch steckt. Angela wiederum hat Jack gern, weil er der einzige ist, der sie mag, egal wie sie aussieht, welchen Ton sie anschlägt, wie sie sich verhält und was sie sagt. Er mag sie so, wie sie ist, auch wenn dieses „wie" sich täglich ändert.
Sie schreiben gerade an einer Fortsetzung des Thrillers. Können Sie schon etwas über den neuen Roman oder das Konzept der Reihe verraten?
Roger Hobbs: Es tut mir Leid, aber da muss ich Sie noch eine Weile auf die Folter spannen.
(Interview: Elke Kreil)
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Bibliographische Angaben
- Autor: Roger Hobbs
- 2013, 1, 384 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Rainer
- Übersetzer: Rainer Schmidt
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442313376
- ISBN-13: 9783442313372
- Erscheinungsdatum: 22.07.2013
Rezension zu „Ghostman “
"Mit 'Ghostman' glückt Roger Hobbs ein brillantes Krimi-Debüt"
Kommentar zu "Ghostman"
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