Blut / Kay Scarpetta Bd.19
Ein Kay-Scarpetta-Roman
Im Hochsicherheitstrakt von Savannah geschehen rätselhafte Morde. Ist jemandem die Todesstrafe nicht grausam genug? Oder geht es um einen persönlichen Rachefeldzug? Während Kay Scarpetta fieberhaft nach einem Hinweis sucht, feilt der...
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Blut / Kay Scarpetta Bd.19 “
Im Hochsicherheitstrakt von Savannah geschehen rätselhafte Morde. Ist jemandem die Todesstrafe nicht grausam genug? Oder geht es um einen persönlichen Rachefeldzug? Während Kay Scarpetta fieberhaft nach einem Hinweis sucht, feilt der Täter schon an der nächsten Stufe seines diabolischen Plans.
Klappentext zu „Blut / Kay Scarpetta Bd.19 “
Wenn Mörderinnen zu Opfern werden ...Eine rätselhafte Mordserie versetzt die Frauen im Hochsicherheitstrakt von Savannah in Angst und Schrecken. Mehrere verurteilte Mörderinnen sterben dort auf höchst qualvolle Weise. Ist jemandem die Todesstrafe noch nicht grausam genug? Oder geht es darum, einen ganz persönlichen Rachefeldzug zu verschleiern? Die Polizei tappt im Dunkeln, und auch Dr. Kay Scarpetta, eigentlich wegen einer persönlichen Recherche in Savannah, ist zunächst ratlos. Derweil feilt der Täter schon an der nächsten Stufe eines diabolischen Plans ...
Lese-Probe zu „Blut / Kay Scarpetta Bd.19 “
Blut von Patricia Cornwell1
Eiserne Gleise, rostbraun wie getrocknetes Blut, durchschneiden eine rissige Teerstraße, die tiefer ins Land hineinführt. als ich sie überquere, schießt mir durch den Kopf, dass die Justizvollzugsanstalt für Frauen auf der falschen Seite dieser Gleise liegt, so wie die schlechteren Wohnviertel einer Stadt. Vielleicht sollte ich das als Warnung deuten und umkehren. es ist Donnerstag, der 30. Juni, kurz vor vier Uhr nachmittags, also noch genug Zeit, den letzten Flieger nach Boston zu erwischen. allerdings weiß ich, dass ich jetzt nicht kneifen darf.
an diesem Teil der Küste ist Georgias Landschaft recht abwechslungsreich. Düstere, mit Greisenbart überwucherte Wälder und von gewundenen Bächen durchzogene Sümpfe werden von lichtdurchfluteten wiesen abgelöst. Schneeweiße Silberreiher und Blaureiher fliegen tief und die Füße nachziehend über dem brackigen Wasser. Dann wird der Wald zu beiden Seiten der Teerstraße, auf der ich mich befinde, wieder dichter. Gekräuselte Kudzu-ranken wachsen im Unterholz und hüllen die Baumkronen mit ihren schuppigen grünen Blättern ein. riesige Zypressen mit dicken, knorrigen Knien erheben sich aus den Sümpfen, wie prähistorische Geschöpfe auf der Jagd nach Beute. ich habe zwar bis jetzt weder einen Alligator noch eine Schlange gesehen, bin aber sicher, dass sie dort draußen lauern und das große, weiße Ungetüm, in dem ich mich dröhnend und rumpelnd fortbewege, mit Blicken verfolgen.
... mehr
Es ist mir rätselhaft, wie ich an diese Schrottlaube geraten konnte, die die Spur nicht richtig hält und nach einer Mischung von Fastfood und Zigaretten, abgerundet von einem Hauch verfaultem Fisch, stinkt. Jedenfalls ist es nicht das Auto, das ich Bryce, meinen Verwaltungschef, zu reservieren gebeten hatte. Sein Auftrag bestand darin, eine verkehrssichere, zuverlässige, mittelgroße limousine zu mieten, vorzugsweise einen Volvo oder einen toyota camry mit vier airbags und navigationssystem. als ich vor dem Terminal von einem jungen Mann in einem weißen transporter ohne Klimaanlage erwartet wurde, in dem es nicht einmal eine Straßenkarte gibt, habe ich ihm mitgeteilt, dass da wohl ein Fehler passiert sein müsse. offenbar habe man mir versehentlich ein auto gebracht, das für jemand anderen bestimmt sei. Doch er wies mich darauf hin, dass mein name, Kate Scarpetta, auf dem Vertrag stünde. ich widersprach, ich hieße erstens Kay und fände es zweitens bedeutungslos, auf welchen Namen der Vertrag laute. ich hätte jedenfalls keinen transporter bestellt. Die Autovermietung lowcountry concierge Service bedaure sehr, meinte der junge Mann, der ziemlich braungebrannt war und ein ärmelloses T-Shirt, Shorts mit tarnmuster und wasserfeste Schuhe trug. er habe auch keine Erklärung dafür. offenbar ein Problem mit dem Computer. natürlich werde er mir gern ein anderes Auto besorgen, doch das würde im besten Fall bis zum Abend dauern, vielleicht sogar bis morgen.
Schwülwarme luft weht zum Fenster herein, und der faulige, schwefelartige Geruch von verrottenden Pflanzen, Salzmarschen und Morast steigt mir in die Nase. Der Transporter ruckelt um eine sonnenbeschienene Kurve, wo sich einige Truthahngeier gerade über einen Kadaver hermachen. Die riesigen, hässlichen Vögel mit ihren zottigen Flügeln und den nackten Hälsen flattern schwerfällig davon, während ich den starren Körper eines Waschbären umrunde. Die feuchte Luft trägt einen scharfen Verwesungsgeruch heran, den ich nur zu gut kenne. ob Mensch oder Tier, spielt keine Rolle. ich erkenne den Tod schon aus der Entfernung, und wenn ich aussteigen und mir den Kadaver aus der Nähe anschauen würde, könnte ich vermutlich den genauen Grund des Ablebens dieses Waschbären erkennen, den Zeitpunkt bestimmen und wahrscheinlich rekonstruieren, wie er niedergestreckt wurde und wovon.
Die meisten Menschen bezeichnen mich als Rechtsmedizinerin, doch einige halten mich für eine Leichenbeschauerin, und hin und wieder werde ich auch mit einer Polizeiärztin verwechselt. Doch genau genommen bin ich Medizinerin mit Fachgebiet Pathologie und Zusatzausbildungen in forensischer Pathologie und 3-D-bildgebender radiologie - das heißt dem Einsatz von ct-Geräten, um das innere einer leiche zu untersuchen, bevor ich zum Skalpell greife. außerdem bin ich studierte Juristin, habe den rang eines colonel der reserve bei der air Force inne und unterhalte deshalb besondere Beziehungen zum Verteidigungsministerium. im vergangenen Jahr bin ich zur Leiterin des Cambridge Forensic Center ernannt worden, eines Gemeinschaftsprojekts des Pentagon, des Commonwealth of Massachusetts, des Massachusetts Institute of Technology (Mit) und Harvard.
es ist mein Fachgebiet festzustellen, was einen Menschen umgebracht hat, sei es nun eine Krankheit, ein Gift, ein Kunstfehler, eine Schusswaffe oder ein selbstgebastelter Sprengsatz. in meinem Beruf muss ich mich stets streng an gesetzliche Vorgaben halten. ich habe keine andere Wahl, als objektiv zu sein und klinisch zu denken. eine persönliche Meinung oder eine emotionale Reaktion auf einen Fall darf ich mir nicht erlauben, ganz gleich, wie tragisch oder grausam die Umstände auch sein mögen. wenn ich selbst betroffen bin, wie zum Beispiel bei dem Mordanschlag vor vier Monaten, muss ich so unerschütterlich bleiben wie ein Fels. Man verlangt von mir Entschlossenheit, Gelassenheit und ruhe.
»Sie werden mir doch kein Posttraumatisches Stresssyndrom entwickeln, oder?«, fragte mich General John Briggs, der Chef der armed Forces Medical examiners, nachdem ich am 10. Februar beinahe in meiner eigenen Garage umgebracht worden wäre. »Solcher Mist passiert eben dann und wann, Kay. auf der Welt wimmelt es von Durchgeknallten.«
»Ja, John, solcher Mist passiert eben dann und wann, und es wird nicht das letzte Mal sein«, antwortete ich, als ob alles in bester Ordnung wäre und ich den Zwischenfall bereits weggesteckt hätte, wohl wissend, dass ich in Wirklichkeit nicht so empfand. nun will ich der Frage auf den Grund gehen, was in Jack Fieldings leben schiefgelaufen ist. Dawn Kincaid soll den höchstmöglichen Preis für ihre tat bezahlen: lebenslange Haft ohne Möglichkeit der Begnadigung.
ich schaue auf die Uhr, ohne die Hände vom Lenkrad dieses verdammten Transporters zu nehmen, der offenbar an einem schweren Fall von Schüttellähmung leidet. Vielleicht sollte ich umkehren. Der letzte Flug nach Boston geht in knapp zwei Stunden. ich könnte es also noch schaffen. Doch ich weiß, dass ich nicht in der Maschine sitzen werde. es mag ein Fehler sein, aber mein Ziel steht fest, als habe sich ein Autopilot meiner bemächtigt, möglicherweise ein waghalsiger oder gar einer, der auf Rache sinnt. Dass ich zornig bin, steht außer Frage. wie mein Mann Benton wesley, forensischer Psychologe beim FBI, gestern Abend sagte, als ich in unserem denkmalgeschützten Haus in cambridge das essen kochte: »Man will dich reinlegen, Kay. Möglicherweise in eine Falle locken. aber was mich am meisten besorgt, ist, dass du dir selbst ein Bein stellst. was du als deinen eigenen Wunsch wahrnimmst, proaktiv und hilfsbereit zu sein, ist in Wahrheit nur dein Bedürfnis, deine Schuldgefühle zu beschwichtigen.« »ich bin nicht schuld an Jacks Tod«, widersprach ich.
»Du hast, was ihn angeht, schon immer Schuldgefühle gehabt. Du hast sowieso wegen vieler Dinge Schuldgefühle, die eigentlich nicht dein Problem sind.«
»ich verstehe.« ich entfernte den Panzer der gekochten riesen-Shrimps mit einer chirurgenschere. »wenn ich also zu dem Schluss gelange, ich könnte an nützliche Informationen herankommen und der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen, sind das nur meine Schuldgefühle.«
»Du denkst, du müsstest alles in Ordnung bringen. Das war schon immer so. Bereits damals, als du ein kleines Mädchen warst und deinen kranken Vater gepflegt hast.«
»im Moment kann ich eindeutig nichts in Ordnung bringen.« ich warf die Panzer in den Müll und gab Salz in den edelstahltopf mit Wasser, der auf dem ceranherd, dem Mittelpunkt meiner Küche, blubberte. »Jack wurde als Junge sexuell missbraucht, und dagegen konnte ich nichts tun. ich konnte nicht verhindern, dass er sein eigenes Leben an die Wand gefahren hat. und nun wurde er ermordet, und dagegen war ich auch machtlos.« ich griff nach einem Küchenmesser. »es ist mir gerade mal gelungen, meine eigene Ermordung zu verhindern.« als ich Zwiebeln und Knoblauch hackte, fuhr die dünne Stahlklinge rasch und mit einem Klicken über das antibakteriell beschichtete Polypropylen.
»Du solltest einen riesenbogen um Savannah machen«, mahnte mich Benton erneut, worauf ich erwiderte, ich müsse hinfliegen, und ihn bat, die Weinflasche zu öffnen und uns beiden zwei Gläser einzuschenken. wir tranken und stritten weiter. Geistesabwesend stocherten wir im Ergebnis meines mangia bene, vivi felice cucina - iss gut und lebe das glückliche Kochen. Doch wir waren nicht glücklich. und das alles nur ihretwegen.
Kathleen Lawler hat ein furchtbares Leben hinter sich und verbüßt derzeit eine zwanzigjährige Haftstrafe wegen fahrlässiger Tötung in Verbindung mit Alkohol am Steuer. inzwischen hat sie mehr Jahre hinter Gittern verbracht als in Freiheit, seit sie in den Siebzigern verurteilt worden ist, weil sie einen Jungen sexuell missbraucht hat, der später mein Stellvertreter Jack Fielding wurde. nun ist er tot, in den Kopf geschossen von ihrem gemeinsamen Kind der liebe, wie die Medien Dawn Kincaid nennen. Sie wurde zur Adoption freigegeben, während ihre Mutter wegen der Tat, bei der sie gezeugt wurde, im Gefängnis saß. es ist eine sehr lange Geschichte. Bei diesem Satz ertappe ich mich in letzter Zeit ziemlich oft, und wenn ich etwas im Leben gelernt habe, dann dass eins unweigerlich zum anderen führt. Kathleen Lawler katastrophale Vita ist ein ausgezeichnetes Beispiel, um zu illustrieren, was Wissenschaftler mit dem Ausspruch meinen, das Schlagen eines Schmetterlingsflügels könne irgendwo anders auf der Erde einen Orkan auslösen.
während ich den dröhnenden und rumpelnden Mietwagen durch die zugewucherte, morastige Landschaft lenke, die vermutlich schon zur Zeit der Dinosaurier nicht viel anders ausgesehen hat, frage ich mich, welcher Flügelschlag eines Schmetterlings, welche beinahe unmerkliche Störung wohl Kathleen Lawler den Anstoß gegeben und den von ihr angerichteten Schaden ausgelöst haben mag. ich stelle sie mir in ihrer fünf Quadratmeter großen Zelle mit der blitzblanken Edelstahl Toilette, dem Bett aus grauem Metall und dem kleinen, mit Maschendraht abgedeckten Fenster vor, das den Blick auf einen Gefängnishof mit derbem Gras, Bänken aus Beton und Chemie Klos bietet. ich weiß, wie viele Garnituren Kleidung sie besitzt, keine »Sachen wie in der Freiheit«, hat sie mir in ihren E-Mails erklärt, die ich nicht beantworte. nur Gefängnisuniformen, Hosen und Oberteile, jeweils zwei Stück. Sie hat jedes Buch in der Gefängnisbibliothek mindestens fünfmal gelesen und mir mitgeteilt, dass sie schriftstellerisches Talent hat. Vor einigen Monaten hat sie mir ein Gedicht über Jack geschickt.
Schicksal
er kam als Luft zurück und ich als Erde und anfangs fanden wir einander nicht.
(in Wahrheit war es nicht falsch, nur eine Formalität, die keinen von uns störte und auf die keiner von uns hörte).
Finger, Zehen aus Feuer. Und eiskalter stahl. Das Back Rohr klafft,
Es strömt das Gas erwartungsvoll wie die Lichter eines einladenden Motels.
ich habe das Gedicht wieder und wieder gelesen, es Wort für Wort zerlegt und nach Botschaften zwischen den Zeilen gesucht. Zunächst war ich besorgt, die düstere Anspielung auf den eingeschalteten Gasherd könnte ein Hinweis darauf sein, dass Kathleen Lawler Selbstmordgedanken hat. Vielleicht ist der Tod für sie ja so anziehend wie ein einladendes Motel, meinte ich zu Benton, der erwiderte, das Gedicht zeige, dass sie eine Soziopathin sei und an einer Persönlichkeitsstörung leide. Sie glaube nicht, dass sie etwas falsch gemacht habe. Sex mit einem zwölfjährigen Jungen in dem Heim für schwererziehbare Jugendliche, wo sie als Therapeutin tätig war, sei für sie etwas Schönes, eine Vereinigung in reiner und vollendeter liebe. es sei Schicksal gewesen. ihre Bestimmung. Diese Sicht der Dinge sei wahnhaft, sagte Benton.
Vor zwei Wochen brachen die Mails dann schlagartig ab, und mein Anwalt rief mich mit einer Bitte an: Kathleen Lawler wolle mit mir über Jack Fielding sprechen, den Protegé, den ich in den anfangstagen meiner Karriere ausgebildet und mit dem ich im Laufe von zwanzig Jahren immer wieder zusammengearbeitet habe. ich war einverstanden, mich mit ihr im Georgia Prison for women zu treffen, doch nur im Rahmen eines privaten Besuchs. ich werde weder als Dr. Kay Scarpetta noch als Leiterin des Cambridge Forensic Center auftreten. Heute bin ich nur Kay, und Jack ist das einzige, was Kay und Kathleen gemeinsam haben. unser Gespräch wird nicht unter die Schweigepflicht fallen, und es werden auch keine Anwälte, Aufseher oder andere Gefängnismitarbeiter anwesend sein.
Die Lichtverhältnisse ändern sich. Der dichte Nadelwald wird dünner und endet dann an einer tristen baumlosen Fläche. Das Gelände, es erinnert an ein Industriegebiet, ist mit grünen Metallschildern bestückt, die mich warnen, dass die Landstraße, auf der ich mich befinde, nun endet und dass die Zufahrt für unbefugte verboten ist. wer keine Zugangsberechtigung hat, muss jetzt umkehren. ich fahre an einem Schrottplatz vorbei, wo sich verbogene und zerbeulte Autos und Lastwagen türmen. Danach kommt eine Gärtnerei mit Gewächshäusern und riesigen Kübeln, in denen Ziergräser, Bambus und Palmen wachsen. Direkt vor mir erstreckt sich eine große Rasenfläche mit Blumenbeeten voller bunter Petunien und Ringelblumen. ich fühle mich wie in einem Stadtpark oder auf einem Golfplatz. Das Verwaltungsgebäude mit seinen weißen Säulen und roten Backsteinmauern bildet einen starken Kontrast zu den blauen Betontrakten, die ein Metalldach haben und von einem hohen Zaun umgeben sind. Doppelte rollen aus rasiermesserscharfem NATO Draht schimmern und funkeln in der Sonne wie die Klingen von Skalpellen.
Das Georgia Prison for women ist eine Modelleinrichtung und gilt als herausragendes Beispiel für eine aufgeklärte und menschenwürdige Wiedereingliederung von Straftäterinnen. Viele durchlaufen während ihrer Haft eine Ausbildung als Klempnerin, Elektrikerin, Kosmetikerin, Schreinerin, Mechanikerin, Dachdeckerin, Landschaftsgärtnern, Köchin oder Kellnerin. Gebäude und Gelände werden von den Insassinnen selbst instand gehalten. Sie kochen das essen, arbeiten in der Bibliothek und im Schönheitssalon, leisten Hilfsdienste in der Krankenstation, geben ihre eigene Zeitschrift heraus und sind angehalten, hinter Gittern zumindest ihren High-School-abschluss nachzuholen. alle hier müssen etwas zur Gemeinschaft beitragen und bekommen dafür eine neue Chance, mit Ausnahme der Gefangenen im Hochsicherheitstrakt, auch Haus Bravo genannt, wo Kathleen Lawler vor zwei Wochen einquartiert wurde, also um die Zeit, als ihre E-Mails an mich so plötzlich abbrachen.
ich stelle meinen Wagen auf dem Besucherparkplatz ab und werfe einen Blick auf mein iPhone in der Hoffnung, dass nichts wichtiges geschehen ist, was meine Aufmerksamkeit erfordert, und dass Benton mir geschrieben hat. und das hat er. »wo du bist, soll es bald gewittern. Sei vorsichtig und gib mir Bescheid, wie es gelaufen ist. ich liebe dich«, schreibt mein sachlicher, praktischer Ehemann, der mir stets den neuesten Wetterbericht oder andere nützliche Informationen zukommen lässt, wenn er an mich denkt. ich liebe ihn auch, mir geht es gut, und ich werde ihn in ein paar Stunden anrufen, antworte ich, während ich beobachte, wie einige Männer in Anzug und Krawatte, begleitet von einem Aufseher, aus dem Verwaltungsgebäude kommen. Die Männer sehen aus wie Anwälte, vielleicht auch Vertreter der Strafvollzugsbehörde, denke ich und warte, bis sie in einem Zivilfahrzeug weggefahren sind. Dabei frage ich mich, wer sie sind und was sie hierhergeführt hat. ich stecke das Telefon in meine Handtasche und schiebe sie unter den Sitz. ich werde nichts mitnehmen als meinen Führerschein, einen unbeschrifteten umschlag und den Autoschlüssel.
Die Sommersonne senkt sich auf mich wie eine schwere heiße Hand. im Südwesten haben sich Wolken gebildet und ballen sich dick zusammen, und die Luft duftet nach lavendel und Scheineller. ich folge einem Betonweg, der zwischen blühenden Büschen und gepflegten Blumenbeeten hindurchführt, und werde von unsichtbaren Augen aus den schmalen Fenstern rings um den Gefängnishof beobachtet. Häftlinge haben nichts Besseres zu tun, als in eine Welt hinauszustarren, an der sie nicht mehr teilhaben können, und dabei Informationen zu sammeln. Die cia könnte sich an ihnen ein Beispiel nehmen. ich spüre, wie ihr kollektives Bewusstsein meinen scheppernden weißen Transporter mit Nummernschildern aus South Carolina zur Kenntnis nimmt. ebenso wie meine Kleidung, heute nicht das übliche Kostüm oder eine strapazierfähige arbeitsuniform, sondern eine Khakihose, in das eine blau-weiß gestreiftes Baumwollhemd steckt, dazu Slipper aus geflochtenem Leder und ein passender Gürtel. ich trage keinen Schmuck, nur eine Titan Uhr mit schwarzem Kunststoffarmband und meinen Ehering. also ist es nicht leicht, aus meinem Äußeren auf meine Finanzen, meine Identität und meinen Beruf zu schließen. nur der Transporter stört das Bild, das ich vermitteln wollte.
eigentlich wollte ich wie eine blonde Frau mittleren Alters und mit lässiger Frisur wirken, die keine dramatisch wichtigen oder auch nur interessanten Dinge im Leben tut. und dann dieses zerschrammte, ruckelnde weiße Monstrum, dessen Heckscheiben so dunkel getönt sind, dass sie fast schwarz aussehen. all das fällt mir ein, während ich spüre, wie die Frauen mich betrachten. Den meisten werde ich nie begegnen, obwohl ich einige Namen kenne, nämlich die der Insassinnen, deren berüchtigte Fälle durch die Medien gingen und deren grausige taten auf Fachtagungen erörtert wurden. ich widerstehe der Versuchung, mich umzuschauen oder mir anmerken zu lassen, dass ich mir der Blicke bewusst bin, und frage mich, welcher der dunklen Schlitze wohl ihr Fenster ist.
Für Kathleen Lawler hat dieser Besuch sicher eine große emotionale Bedeutung. Vermutlich denkt sie in letzter Zeit an kaum etwas anderes mehr. Für Menschen wie sie bin ich die letzte Verbindung zu denen, die sie verloren oder umgebracht haben. ich bin sozusagen der Ersatz für den toten.
2
Die Leiterin der Vollzugsanstalt heißt Tara Grimm. ihr Büro am Ende eines langen blauen Flurs wurde von den Gefangenen, für die sie verantwortlich ist, möbliert und ausgestattet.
Schreibtisch, Couchtisch und Stühle bestehen aus lackierter, honiggelber eiche und haben eine gedrungene Form. Für mich besitzen sie einen gewissen Scharm, denn ich bevorzuge fast immer Handarbeit, auch wenn sie derb ausfällt. ranken mit herzförmigen bunten Blättern drängen sich in Blumenkästen auf den Fensterbrettern, schlängeln sich von selbstgezimmerten Bücherregalen herab, sind über die Seiten drapiert wie Fahnen und ergießen sich in wildem Gewirr aus Hängetöpfen. als ich Tara Grimm zu ihrem grünen Daumen beglückwünsche, teilt sie mir mit ruhiger, melodischer Stimme mit, die Insassinnen pflegten ihre Zimmerpflanzen. Sie kennt nicht einmal die Namen der Kriechgewächse, wie sie sie nennt, aber es könnte Philodendron sein.
»epipremnum pinnatum.« ich berühre eines der gelbgrün marmorierten Blätter. »Besser bekannt als efeutute.«
»Das Zeug wächst wie der Teufel, und ich erlaube ihnen nicht, es zurückzustutzen«, erwidert sie. Sie steht am Bücherregal hinter ihrem Schreibtisch, wo sie gerade eine Ausgabe von Rückfälligkeit und kriminelle Karrieren von Gewalttätern zurückstellt. »Mit einem kleinen Schössling in einem Wasserglas fing es an. nun benutze ich die Pflanzen als Anschauungsmaterial für eine wichtige Lektion, die diese Frauen auf dem weg, der sie hierhergeführt hat, missachtet haben: Passt auf alles auf, was wurzeln schlägt, sonst dominiert es
eines Tages euer Leben.« Sie stellt ein weiteres Buch ein: Die Kunst des Manipulierens. »ich weiß nicht.« Sie betrachtet die Pflanzen, die das Zimmer überwuchern. »allmählich wird es hier doch ein bisschen eng.«
ich schätze die Direktorin auf Mitte vierzig. Sie ist hoch gewachsen, hat geschmeidige Bewegungen und wirkt in ihrem schwarzen wadenlangen Kleid mit Schalkragen und der Goldmünze, die an einer Kette um ihren Hals hängt, seltsam deplatziert hier, so als hätte sie sich eigens für diesen tag feingemacht. Vielleicht ja wegen der Männer, die gerade gegangen sind. Möglicherweise sind es wichtige Leute. Tara Grimm hat dunkle Augen und hohe Wangenknochen und trägt ihr langes schwarzes Haar hochgesteckt. ihren Beruf sieht man ihr nicht an, und ich frage mich, ob auch schon andere auf diesen absurden Gedanken gekommen sind. im Buddhismus ist Tara die Mutter der Befreiung, was diese Tara eindeutig nicht ist. Grimm passt besser in ihre Welt.
als sie ihren Rock glattstreicht und sich hinter den Schreibtisch setzt, nehme ich auf dem Holzstuhl gegenüber Platz. »erst einmal muss ich mit ihnen alles durchgehen, was Sie Kathleen mitbringen wollen«, erklärt sie mir den Grund, warum ich zu ihr ins Büro geschickt worden bin. »Sie kennen den Ablauf ja sicher.«
»eigentlich besuche ich selten jemanden im Gefängnis«, entgegne ich. »Höchstens auf der Krankenstation oder noch schlimmer.« Das heißt, wenn ein Häftling forensisch untersucht werden muss oder tot ist.
»Falls Sie unterlagen oder andere Dokumente dabeihaben, um sie mit ihr durchzuarbeiten, muss ich sie zuerst genehmigen «, teilt sie mir mit, worauf ich ihr noch einmal sage, dass ich nur privat hier bin. Das ist zwar vom gesetzlichen Standpunkt her richtig, entspricht aber nicht ganz der Wahrheit. Kathleen Lawler gehört gewiss nicht zu meinem Freundeskreis, und ich werde ihr mit Bedacht und vorsichtig Informationen entlocken. ich werde sie auffordern, mir zu erzählen, was ich wissen will, ohne ihr zu verraten, wie wichtig es mir ist. Hatte sie im Laufe der Jahre Kontakt zu Jack Fielding? was geschah während der Phasen, in denen sie auf freiem Fuß war? Meinen Recherchen zufolge ist es in verschiedenen Fällen zu einer anhaltenden sexuellen Beziehung zwischen einer Täterin und ihrem jüngeren männlichen Opfer gekommen, und Kathleen war in der ganzen Zeit, die ich Jack kannte, immer wieder eine Zeitlang in Freiheit. Falls es Sexualkontakte zwischen ihm und der Frau, die ihn als Jungen missbraucht hatte, gegeben hat, würde mich interessieren, ob sie zeitlich mit seinen immer wiederkehrenden Phasen zusammenfallen, wenn er durchdrehte und einfach spurlos verschwand.
ich möchte wissen, wann er herausgefunden hat, dass Dawn Kincaid seine Tochter ist, und warum er sich vor kurzem mit ihr in Massachusetts in Verbindung gesetzt und ihr erlaubt hat, in seinem Haus in Salem zu wohnen. wie lange ging das schon so? Hat er deshalb Frau und Kinder verlassen? wusste Jack, dass er mit gefährlichen Drogen manipuliert wurde, oder gehörte das zu Dawns dunklen Geheimnissen? Hat er selbst bemerkt, dass er sich immer seltsamer verhielt? und wessen Idee war es, dass er sich während meiner Abwesenheit im Cambridge Forensic Center auf illegale Machenschaften einließ?
ich habe keine Ahnung, was Kathleen weiß und was sie antworten wird, doch ich werde so an das Gespräch herangehen, wie ich es geplant und mit Leonard Brazzo, meinem Anwalt, einstudiert habe. Von mir wird sie nichts erfahren, was später Dawn Kincaid zu Ohren kommen und ihr bei der Vorbereitung ihrer Verteidigung helfen könnte.
»nun, ich dachte mir schon, dass Sie nichts bei sich haben würden, was mit diesen Fällen in Zusammenhang steht«, meint Tara Grimm, und ich merke ihr ihre Enttäuschung an. »ich muss gestehen, dass ich zu den Vorgängen in Massachusetts eine Menge Fragen habe.«
»ich werde keine Einzelheiten aus den Ermittlungen mit ihr besprechen«, antworte ich der Direktorin.
»Mit Sicherheit wird Kathleen Sie danach fragen. Schließlich geht es um ihre hochintelligente Tochter. Dawn Kincaid soll diese Leute ermordet und versucht haben, auch Sie umzubringen? « Sie mustert mich unverwandt.
»ich werde mit Kathleen weder diese Fälle noch andere erörtern. « Von mir erfährt die Direktorin nichts. »Deshalb bin ich nicht hier«, beharre ich. »aber ich habe ein Foto dabei, das ich ihr gern geben würde.«
»wenn ich es sehen darf.« Sie streckt eine zierliche Hand mit perfekt manikürten, dunkelrosa lackierten Nägeln aus, die sie sich offenbar erst kürzlich hat machen lassen. Sie trägt viele ringe und eine goldene Uhr.
ich reiche ihr den beschrifteten umschlag. Sie holt das Foto von Jack Fielding heraus, wie er gerade, mit nacktem Oberkörper und in Joggingshorts, seinen geliebten kirschroten Mustang, Baujahr 67, wäscht. auf dem etwa fünf Jahre alten Foto, das zwischen zwei Ehen und vor seinem nieder- gang aufgenommen wurde, grinst er strahlend in die Kamera. ich habe ihn zwar nicht obduziert, aber während der vier Monate seit dem Mord sein Leben gründlich unter die Lupe genommen. Zum Teil deshalb, weil ich herausfinden wollte, was ich hätte tun können, um diesen Mord zu verhindern. allerdings glaube ich nicht, dass das möglich gewesen wäre. Schließlich bin ich stets dabei gescheitert, ihm in den Arm zu fallen, wenn er wieder einmal dabei war, sich selbst zu schaden. als ich dasitze und das Foto ansehe, flammen Zorn und Schuldgefühle in mir auf. Gefolgt von Trauer. »nun, ich denke, das ist in Ordnung«, sagt die Direktorin. »ein angenehmer Anblick, das muss man ihm lassen. offenbar einer dieser Bodybuilding-Verrückten. wie viele Stunden am Tag muss man da wohl investieren?«
ich betrachte die gerahmten Zeugnisse und Auszeichnungen an den Wänden, weil ich sie nicht beim Anschauen des Fotos beobachten will, ohne sicher zu sein, was mich daran so stört. Vielleicht ist es schwieriger, Jack mit den Augen einer Fremden zu sehen. Gefängnisdirektorin des Jahres. Herausragende Verdienste. Belobigung für beispielhafte Pflichterfüllung. Exzellenzpreis. Vorgesetzte des Monats. einige dieser Preise sind ihr mehr als einmal verliehen worden. außerdem hat sie einen B.a. cum laude von der Spalding University in Kentucky. allerdings klingt sie nicht wie eine einheimische, eher nach Louisiana, weshalb ich sie frage, woher sie kommt.
»ursprünglich aus Mississippi«, erwidert sie. »Mein Vater war dort Leiter der staatlichen Vollzugsanstalt, weshalb ich meine Kindheit in einem brettebenen, achttausend Hektar großen Stück Delta inmitten von Sojabohnen und Baumwolle verbracht habe, die die Häftlinge anbauten. Dann bekam er eine Stelle in der staatlichen Vollzugsanstalt von Louisiana in Angola. wieder Ackerland, fernab aller Zivilisation. ich habe auf dem Gefängnisgelände gewohnt, was ihnen vielleicht seltsam erscheint. aber mich hat es nicht gestört, am Arbeitsplatz meines Vaters zu leben. erstaunlich, an was man sich alles gewöhnt. es war sein Vorschlag, das GPFw hier draußen zwischen Gestrüpp und Sümpfen zu bauen, und weil die Frauen die Anlage selbst pflegen, kostet es den Steuerzahler nur ein Minimum. Man könnte wohl sagen, dass mir Gefängnisse in Fleisch und Blut übergegangen sind.«
»Hat ihr Vater irgendwann mal hier gearbeitet?«
»nein, nie.« Sie lächelt spöttisch. »ich kann mir meinen Vater nicht vorstellen, wie er zweitausend Frauen bewacht.
Das hätte ihn ein wenig gelangweilt, obwohl einige der Insassinnen viel schlimmer sind als die Männer. aber zurück zu den Fällen im Norden. ich frage mich, ob auch wirklich alle Täter dingfest gemacht wurden.«
»ich hoffe es.«
»wenigstens können wir sicher sein, dass Dawn Kincaid hinter Schloss und Riegel sitzt, und ich glaube, dass das auch so bleibt. angeblich ist ja der Stress schuld an ihren psychischen Problemen. ist das zu fassen? Denken Sie nur an den Stress, den sie verursacht hat.«
Vor einigen Monaten wurde Dawn Kincaid ins Butler State Hospital verlegt, wo Ärzte entscheiden werden, ob sie verhandlungsfähig ist. tricks. Simulantentum. lasst die Spiele beginnen.
»Schwer vorzustellen, dass sie ganz allein so viel Unheil gestiftet und diese grausigen Morde begangen haben soll. am schlimmsten finde ich die Sache mit dem armen kleinen Jungen. « Tara redet über Dinge, die sie nichts angehen, und mir bleibt nichts anderes übrig, als sie gewähren zu lassen. »ein hilfloses Kind umzubringen, das im Garten spielt, während die Eltern ahnungslos zu Hause sitzen? einem Kind oder einem Tier Schmerz zuzufügen ist unverzeihlich«, spricht sie weiter, als wären erwachsene als Opfer noch halbwegs vertretbar.
»ich wollte nur wissen, ob Kathleen das Foto behalten darf.« ich bestätige ihre Informationen weder, noch streite ich sie ab. »ich dachte, sie möchte das vielleicht.«
»ich sehe da kein Problem.« Jetzt wirkt Tara Grimm verunsichert, und als sie mir das Foto über den Tisch reicht, erkenne ich den Grund in ihren Augen.
Warum gibst du ihr ein Foto von ihm?, denkt sie. Kathleen Lawler trägt indirekt die Schuld an Jack Fieldings Tod. Nein, nicht indirekt, schießt es mir durch den Kopf, während die Wut weiter brodelt. Sie hatte Sex mit einem Minderjährigen, und das Kind, das sie zusammen gezeugt haben, wuchs zu Dawn Kincaid, seiner Mörderin, heran. Direkter kann es wohl kaum werden.
»ich weiß nicht, ob Kathleen neuere Aufnahmen von ihm kennt«, beantworte ich Tara Grimms unausgesprochene Frage und verstaue das Foto wieder im Umschlag. »So wie auf diesem Bild möchte ich ihn in Erinnerung behalten. es ist ein Foto aus besseren tagen.«
ich hoffe, dass sich Kathleen mir beim Anblick dieses Fotos öffnen wird.
»Hat man ihnen gesagt, warum ich sie in Einzelhaft verlegt habe?«, erkundigt sich Tara.
»Mir ist nur die Tatsache bekannt«, entgegne ich absichtlich ausweichend.
»Hat Mr. Brazzo es ihnen denn nicht erklärt?« Zweifel schleichen sich in ihre Miene, als sie die Hände auf der Platte ihres ordentlichen Schreibtischs aus Eichenholz verschränkt.
Leonard Brazzo ist ein Strafverteidiger, den ich deshalb brauche, weil ich nicht vorhabe, mich der Gnade eines überarbeiteten oder unerfahrenen Staatsanwalts zu überantworten, wenn Dawn Kincaid wegen ihres Mordversuchs an mir vor Gericht kommt. ich bin nämlich überzeugt, dass das Anwalts Team, das sie kostenlos unter seine Fittiche genommen hat, ihren Überfall auf mich in meiner eigenen Garage als zu entschuldigenden Zwischenfall darstellen will. Sie werden behaupten, ich sei selbst schuld daran, dass sie mich in der Dunkelheit von hinten angegriffen hat. Dass ich noch am Leben bin, ist reine Glückssache, und als ich nun in Tara Grimms von Efeu überwucherten Büro sitze, stört es mich mehr, als ich mir eingestehen will, dass mein Überleben im Grunde genommen nicht mein eigenes Verdienst ist.
»ich habe lediglich gehört, dass sie zu ihrer eigenen Sicherheit in Einzelhaft verlegt wurde«, entgegne ich, während ich an die Schutzweste Klasse 4a mit den integrierten Kevlarplatten denke. ich erinnere mich an die starre Nylon Oberfläche der Weste und ihr Gewicht, die ich in jener Nacht in meiner dunklen, eiskalten Garage von der Rückbank des SuV genommen und mir über die Schultern gelegt habe.
»offenbar hat meine Entscheidung, Kathleen in Haus Bravo zu verlegen, Sie ins Grübeln gebracht, was Sie wohl hier in Savannah erwartet«, stellt Tara fest. »Vermutlich möchten Sie sich nach dem, was Sie durchgemacht haben, keiner gefährlichen Situation aussetzen.«
ich habe den Schneesturm aus leuchtend weißen Flecken, so winzig wie Pollen, auf der Mri-aufnahme des ersten Opfers vor Augen, das Dawn Kincaid mit einem Injektionsmesser erstochen hat. Grellweiße Partikel, die sich um eine knopflochförmige Einstichstelle ballten und wie nach einer Explosion tief in den Organen und dem Brustgewebe gestreut haben. als wäre eine Bombe im Körperinneren hochgegangen. wenn ihr Angriff auf mich mit derselben Waffe Erfolg gehabt hätte, wäre ich tot gewesen, bevor ich den Boden berührte.
»obwohl ich nicht ganz verstehe, warum Sie in ihrem eigenen Haus eine Schutzweste tragen«, bohrt die Direktorin weiter.
ich erkläre ihr nicht, dass medizinische Forschung zu meiner Tätigkeit für das Verteidigungsministerium gehört und dass General Briggs sich für meine Meinung zu der neuesten, eigens für Soldatinnen entworfenen Schutzweste interessiert hat. inzwischen weiß ich aus Erfahrung, dass diese weste eine Stahlklinge abhalten kann. Glück, einfach nur Glück. ich erinnere mich, wie ich über mein eigenes Spiegelbild erschrak, als alles vorbei war. Mein rot verschmiertes Gesicht. Mein rot verschmiertes Haar. Kurz rieche ich Metall und höre das Zischen des roten Sprühnebels, als er sich, warm und feucht, in meiner dunklen, kalte Garage über mich ergoss.
»wenn es stimmt, was in den Nachrichten kam, war der Hund bei ihnen in der Garage, als es passierte. wie geht es ihm?«, höre ich die Direktorin sagen, während ich meine Hände betrachte. Meine sauberen Hände mit den praktischen, unlackierten, kurzen Nägeln. ich hole tief Luft und konzentriere mich auf die Gerüche im raum. Kein metallischer Blutgeruch. nur ein Hauch von Tara Grimms Parfüm. estée Lauder. Youth-Dew.
»Sock schlägt sich wacker.« wieder sehe ich sie an und frage mich, ob mir wohl etwas entgangen ist. wie sind wir auf das Thema gekommen, dass ich einen Windhund gerettet habe?
»also haben Sie ihn noch?« Sie mustert mich.
»Ja.«
»Das freut mich. er ist ein sehr lieber Hund. aber das sind sie alle. einfach reizende Tiere. ich weiß noch, dass Kathleen ihn nicht an jeden x-Beliebigen abgeben wollte. Sie hofft, dass sie ihn nach Haftende zurückbekommt.«
»und wann wird sie entlassen?«, erkundige ich mich.
»Dawn hat Sock aufgenommen, weil Kathleen ihn sonst niemandem anvertrauen wollte«, fährt Tara fort. »Sie ist sehr tierlieb, das muss ich ihr lassen. ich weiß, dass all das Hinweise auf eine Verbindung zwischen Kathleen und Dawn sind, die Sie stutzig machen sollten, auch wenn Kathleen das abstreiten wird. Seit ich diese Strafanstalt leite, war Dawn ziemlich häufig hier zu Besuch. Sie hat ihre Mutter drei- bis viermal pro Jahr gesehen und Geld auf ihr Einkaufskonto eingezahlt. natürlich ist damit jetzt Schluss, obwohl es die beiden nicht daran hindert, weiter Kontakt zu halten. es gibt schließlich Briefwechsel zwischen Häftlingen. aber das wissen Sie ja wahrscheinlich.« »nein, das war mir nicht bekannt.«
»Seit Dawn in Schwierigkeiten steckt, leugnet Kathleen standhaft jeden Kontakt. Sie möchte nicht mit Dawn in Verbindung gebracht werden, insbesondere nicht, weil sie hofft, dass jemand in der Lage wäre, ihr zu helfen. Sie zum Beispiel. oder ein berühmter Anwalt. Kathleen wird immer das sagen, was das Gegenüber ihrer Ansicht nach hören will. und sie spekuliert darauf, nach Haftende den Hund wiederzubekommen. «
»was meinen Sie mit ›nach Haftende‹?«, frage ich.
»ihnen ist doch bekannt, dass sich heutzutage jeder auf einen Justizirrtum beruft«, erwidert sie.
»Mir war gar nicht klar, dass Kathleen Lawler darauf hinauswill. «
»aber sie wird Sock nicht zurückbekommen, falls er kein Methusalem unter den Hunden wird«, entgegnet Tara Grimm, als wolle sie persönlich dafür sorgen. »ich bin froh, dass Sie ihn behalten wollen. es wäre schrecklich, wenn eines der geretteten Tiere, die wir hier ausbilden, wieder in die falschen Hände geriete.«
»ich versichere ihnen, dass Sock ein gutes Zuhause gefunden hat.« noch nie hatte ich ein so anhängliches Haustier, das mir überallhin folgt wie ein liebesbedürftiger Schatten.
»Die meisten unserer Windhunde kommen wie Sock von einer Rennbahn in Birmingham«, erklärt sie. »Sie werden aus Altersgründen ausgemustert, und wir nehmen sie auf, damit man sie nicht einschläfert. es ist gut, die Insassinnen daran zu erinnern, dass das Leben ein Gottesgeschenk ist und nicht ein von Gott verliehenes recht. es wird einem gegeben und kann wieder genommen werden. als Sie Sock fanden, wussten Sie vermutlich nicht, dass er Dawn Kincaid gehörte.«
»er saß mitten im Winter in einem Hinterzimmer eines unbeheizten Hauses in Salem, und zwar ohne Futter.« Sie kann mich verhören, so viel sie will, viel wird sie von mir nicht erfahren. »ich habe ihn mitgenommen, um mir eine Lösung für ihn zu überlegen.«
»und dann erschien Dawn, um ihn sich zurückzuholen«, ergänzt die Direktorin. »Sie kam noch am selben Abend wegen ihres Hundes zu ihnen.«
»interessant, dass Sie die Geschichte so verstanden haben«, antworte ich und frage mich, woher sie nur diese absurde Idee hat.
»tja, was Sie von Kathleen wollen, ist mir rätselhaft«, spricht sie weiter. »ich glaube nicht, dass es in ihrer Situation ein kluger Schritt ist. Das habe ich auch zu Mr. Brazzo gesagt, aber natürlich hat er nicht weiter ausgeführt, warum Sie Kathleen sehen möchten. oder warum Sie so nett zu ihr waren.«
ich habe keine Ahnung, wovon sie redet.
»ich werde kein Blatt vor den Mund nehmen«, fährt die Direktorin fort. »Zu gewissen Tageszeiten dürfen Insassinnen mit E-Mail-erlaubnis den computerraum benutzen. alles, was sie ihren Brieffreunden schicken oder von ihnen empfangen, läuft über den Server unserer Anstalt, der überwacht wird und mit Filtern ausgestattet ist. Deshalb weiß ich, was sie ihnen in den letzten Monaten geschrieben hat.«
»Dann müssten Sie eigentlich auch wissen, dass ich nie geantwortet habe.«
»ich bin über alle Mitteilungen im Bilde, die die Insassinnen verschicken oder von draußen erhalten, seien es nun E-Mails oder mit der Post versandte Briefe.« Sie macht eine bedeutungsvolle Pause. »ich kann mir denken, worauf Sie aus sind und warum Sie sich Kathleen gegenüber so freundlich und zugänglich verhalten. Sie wollen Informationen. allerdings sollten Sie sich fragen, wer wirklich hinter Kathleens Einladung steckt und was diese Person im Schilde führt. Mr. Brazzo hat ihnen sicher erklärt, welche Schwierigkeiten
sie hatte.«
»ich würde es lieber aus ihrem Munde hören.«
»Kinderschänder waren im Gefängnis noch nie sehr beliebt «, erwidert Tara Grimm langsam und mit abgeschwächtem, aber noch immer gedehntem Akzent. »Kathleen hat lange bevor ich hier anfing ihre Strafe dafür verbüßt. Doch schon nach ihrer ersten Entlassung hatte sie nur noch Ärger. Seitdem hat sie insgesamt sechs Haftstrafen abgesessen, alle hier im GPFw, weil sie, wenn sie draußen ist, offenbar nie weiter kommt als bis nach Atlanta. es waren immer Drogendelikte, mit Ausnahme der letzten Verurteilung. Sie hat einen Jugendlichen getötet, der das Pech hatte, mit seinem Motorroller eine Kreuzung zu überqueren, als Kathleen ein Stoppschild ignoriert hat. Dafür hat sie zwanzig Jahre bekommen, von denen sie fünfundachtzig Prozent absitzen muss, bis sie für eine Aussetzung zur Bewährung in Frage kommt. Falls sich niemand für sie verwendet, wird sie wohl den Rest ihres Lebens hier verbringen.«
»und wer sollte sich für sie verwenden?«
»Kennen Sie Carter Roberts persönlich? Den Anwalt aus Atlanta, der ihren Anwalt angerufen hat, um Sie hierher einzuladen? «
»nein.«
»ich glaube, die anderen Gefangenen haben erst von Kathleens früherer Verurteilung wegen Kindesmissbrauchs erfahren, als die Medien über ihre Fälle in Massachusetts berichtet haben«, sagt sie.
wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, ist Kathleen Lawlers Name nie in den Nachrichten gefallen. Mir hat man ihre Verlegung in Haus Bravo damit erklärt, die anderen Insassinnen hätten sich von ihr provoziert gefühlt.
»und daraufhin haben einige beschlossen, ihr wegen der Sache, die sie ihrem ermordeten Kollegen in seiner Kindheit angetan hat, eine Lektion zu erteilen«, fügt Tara hinzu.
ich bin ziemlich sicher, dass Kathleen Lawlers verbotene Beziehung mit Jack Fielding in den Nachrichten nicht erwähnt wurde. Das müsste ich schließlich wissen. leonard Brazzo hat es auch nicht angesprochen. ich glaube, dass Tara lügt.
»und dazu noch der Junge, den sie unter Alkoholeinfluss totgefahren hat. Viele Frauen hier sind Mütter, Dr. Scarpetta. oder Großmütter. Sogar ein paar Urgroßmütter sind dabei. Die meisten Insassinnen haben Kinder. wer einem Kind Leid zugefügt hat, hat hier nichts zu lachen«, spricht sie langsam weiter. ihre ruhige Stimme ist hart wie Metall. »Mir sind Gerüchte von einem geplanten Anschlag zu Ohren gekommen. Deshalb habe ich Kathleen zu ihrem eigenen Schutz in Haus Bravo verlegt, wo sie bleiben wird, bis ich den Eindruck habe, dass die Gefahr gebannt ist.«
»Mich würde interessieren, was genau die Nachrichten gebracht haben«, versuche ich, ihr Details zu entlocken, obwohl ich sicher bin, dass alles frei erfunden ist. »offenbar habe ich die Sendung, um die es geht, nicht gesehen. ich kann mich nicht entsinnen, dass im Zusammenhang mit den Fällen in Massachusetts Kathleens Name erwähnt worden wäre.«
»anscheinend hat eine der Insassinnen, oder vielleicht war es auch jemand vom wachpersonal, im Fernsehen einen Beitrag über Kathleens Vergangenheit mitgekriegt«, weicht Tara mir aus. »und darin hieß es, sie sei eine Sexualverbrecherin. es hat sich herumgesprochen wie ein Lauffeuer. im Gefängnis macht man sich damit unbeliebt. Kindesmissbrauch verzeiht einem hier niemand.«
»Kennen Sie diese Sendung auch?«
»nein.« Sie mustert mich argwöhnisch. »ich frage mich nur, ob es vielleicht noch einen anderen Grund gibt«, ergänze ich.
»Das glauben Sie.« offenbar ist das nicht als Frage gemeint.
»Man hat sich vor zwei Wochen mit mir, oder genauer mit Leonard Brazzo, wegen dieser Sache in Verbindung gesetzt«, merke ich an. »und zwar etwa um dieselbe Zeit, als Kathleen in Einzelhaft verlegt wurde und den E-Mail-Zugang verlor. also müsste sich das Gerücht ab dem Moment verbreitet haben, als ich gebeten wurde, mich mit ihr zu treffen. Käme das ungefähr hin?«
Sie sieht mich unverwandt an. ihrem Blick ist nichts zu entnehmen.
»ich bin nicht so sicher, ob es diese Nachrichtensendung tatsächlich gegeben hat«, beschließe ich, den Stier bei den Hörnern zu packen.
3
Die Mordserie begann vor etwa acht Monaten im Nordosten von Massachusetts. Der erste tote war ein bekannter Football- Spieler einer college-Mannschaft, dessen verstümmelte Leiche im Hafenbecken von Boston unweit des Stützpunkts der Küstenwache gefunden wurde.
Drei Monate später wurde ein kleiner Junge in Salem in seinem eigenen Garten getötet. Man ging davon aus, dass er Opfer eines satanistischen Rituals geworden war, da ihm Nägel in seinen Kopf getrieben worden waren. Der nächste ermordete, Student am Mit, wurde in einem Park in Cambridge mit einem Injektionsmesser erstochen. und zu guter Letzt erschoss jemand meinen Stellvertreter Jack Fielding mit seiner eigenen Waffe. uns sollte weisgemacht werden, Jack habe die Morde verübt und sich schließlich selbst gerichtet. in Wahrheit jedoch ist seine leibliche Tochter die Täterin, und sie wäre wohl ungeschoren davongekommen, wäre ihr Mordanschlag auf mich geglückt.
»Die Medien haben zwar viel über Dawn Kincaid berichtet «, fahre ich fort, damit Tara Grimm begreift, worauf ich hinauswill. »Doch über Kathleen und ihre Vergangenheit ist mir nichts zu Ohren gekommen. auch das, was Jack in seiner Kindheit zugestoßen ist, wurde in den Nachrichten nicht erwähnt. nicht, soweit mir bekannt ist.«
»wir können uns nicht völlig gegen Einflüsse von außen abschotten«, flüchtet sich Tara in geheimnisvolle Andeutungen. »angehörige kommen und gehen. Anwälte ebenso. Manchmal sind es auch einflussreiche Leute mit zuweilen dubiosen Motiven, die etwas auslösen und damit eine Insassin in Schwierigkeiten bringen. und ehe sie sich versieht, verliert sie ihre wenigen Vergünstigungen oder sogar noch mehr. ich kann ihnen gar nicht sagen, wie oft diese liberalen Gutmenschen glauben, etwas gegen die Zustände hier unternehmen zu müssen. aber sie verursachen damit nur jede Menge Probleme und bringen andere in Gefahr. Vielleicht sollten Sie sich einmal fragen, warum jemand eigens aus New York hierherkommt und sich in alles einmischt.«
ich stehe von dem Stuhl auf, der so hart und starr ist wie die Gefängnisdirektorin, auf deren Anweisung er angefertigt wurde. Durch die offenen Fensterläden sehe ich Frauen in grauer Gefängniskleidung, die Blumenbeete jäten, Graskanten entlang der Wege und Zäune stutzen und Windhunde spazieren führen. Der Himmel wirkt inzwischen aufgewühlt und ist bleigrau. »wer war denn aus New York hier?«, frage ich die Direktorin. wovon redet sie?
»Jaime Berger. Sie beide sind doch befreundet.« Sie erhebt sich hinter ihrem Schreibtisch.
Diesen Namen habe ich seit Monaten nicht mehr gehört. er löst schmerzliche und unangenehme Erinnerungen in mir aus.
»Sie steckt in laufenden Ermittlungen. ich kenne keine Einzelheiten, und das sollte ich auch nicht«, spricht sie weiter über die bekannte Leiterin der Abteilung für Sexualdelikte bei der Staatsanwaltschaft von Manhattan. »Sie hat große Pläne und besteht darauf, dass nichts an die Medien oder sonst jemanden durchsickern darf. Deshalb hatte ich Hemmungen, ihrem Anwalt davon zu erzählen. allerdings dachte ich mir, dass Sie ohnehin über Jaime Bergers Interesse an unserer Anstalt im Bilde sind.«
»ich weiß nichts von laufenden Ermittlungen und tappe genauso im Dunkeln wie Sie«, entgegne ich mit unbewegter Miene. »offenbar sagen Sie die Wahrheit«, stellt sie mit einem Anflug von trotz und Ablehnung im Blick fest. »es scheint, als hätte ich ihnen gerade völlig neue Informationen gegeben, und das ist gut so. es wäre mir nämlich gar nicht recht, wenn ihr Besuch bei Kathleen nur ein Vorwand wäre, um zu verschleiern, dass es ihnen um eine andere Person geht, für die ich hier verantwortlich bin. und dass Sie in Wahrheit im Auftrag von Jaime Berger handeln.«
»ich habe nichts mit ihren Ermittlungen zu tun.«
»Vielleicht doch, ohne es zu ahnen.«
»ich kann mir keinen Zusammenhang zwischen meinem Besuch bei Kathleen Lawler und Jaimes Projekt vorstellen.«
»Sicher ist ihnen bekannt, dass Lola Daggette zu uns gehört «, sagt Tara. es ist eine seltsame Art, das auszudrücken, so als wäre die berüchtigtste Insassin des GPFw etwas, worauf man stolz sein sollte wie auf einen geretteten Rennhund oder eine im Gewächshaus am ende der Straße gezüchtete seltene Pflanze.
»Dr. Clarence Jordan und seine Familie, 6. Januar 2002, hier in Savannah«, fährt sie fort. »ein Einbruch mitten in der Nacht, nur dass raub nicht das Motiv war. anscheinend ging es nur um Mord um des Mordens willen. Die Familie wurde in ihren Betten erstochen und zerstückelt. einzige Ausnahme war das kleine Mädchen, einer der Zwillinge. Sie wurde die Treppe hinunter verfolgt und hat es bis zur Eingangstür geschafft.«
ich erinnere mich an den Vortrag, den Dr. Colin Dengate, der Leiter der Rechtsmedizin von Savannah, bei einer Tagung des amerikanischen Rechtsmedizinerverbands gehalten hat. Über die wahren Vorgänge in der Villa der Opfer und die Frage, wie die Täterin sich überhaupt Zutritt zum Haus verschaffen konnte, wurde viel spekuliert. wenn ich mich recht entsinne, hat sie sich sogar ein Brot gemacht, ein Bier getrunken und die Toilette benutzt, ohne abzuziehen. Damals lautete die allgemeine Auffassung, dass der Tatort mehr Fragen aufwarf, als er beantwortete, denn die Indizien schienen einander zu widersprechen.
»Lola Daggette wurde dabei ertappt, wie sie ihre blutige Kleidung wusch, und verstrickte sich dann in ihre Lügen«, erklärt Tara. »eine Süchtige, die ihre Aggressionen nicht im Griff hatte. Sie hatte eine lange Drogenkarriere hinter sich und war schon öfter mit dem Gesetz in Konflikt geraten.«
»ich glaube, es gab da eine Theorie, dass mehr als eine Person beteiligt gewesen sein könnten«, erwidere ich.
»Die Theorie hier bei uns lautet, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde und dass Lola in diesem Herbst Gelegenheit erhalten wird, sich vor Gott zu verantworten.«
»war da nicht DNA - oder waren es Fingerabdrücke? -, die nicht zugeordnet werden konnte?« allmählich fallen mir die Einzelheiten wieder ein. »und folglich auch mehrere Täter denkbar wären.«
»Das war Lolas Verteidigungsstrategie, die einzig halbwegs plausible Begründung ihres Anwaltes dafür, wie das Blut der Opfer überall auf ihre Kleider geraten konnte, obwohl sie es angeblich nicht getan hat. er hat einen nicht vorhandenen Komplizen erfunden, damit Lola jemandem die Schuld in die Schuhe schieben konnte.« Tara Grimm begleitet mich hinaus auf den Flur. »Mir gefällt die Vorstellung gar nicht, dass Lola womöglich eines Tages wieder frei draußen herumläuft. und sie könnte Gelegenheit dazu erhalten, obwohl sie sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft hat. offenbar wurden neue kriminaltechnische Untersuchungen der Beweisstücke von damals angeordnet. irgendetwas mit der DNA.«
»wenn das stimmt, müssen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte begründete Zweifel haben.« ich schaue den Flur entlang zur Kontrollschleuse, wo sich einige Wachleute unterhalten. »Die Ermittlungsbehörden von Georgia, die Polizei, die Staatsanwaltschaft und das Gericht würden sicher nicht gestatten, dass Beweisstücke ohne triftigen Grund noch einmal getestet werden.«
»wahrscheinlich ist nicht auszuschließen, dass das Urteil aufgehoben wird. auch andere könnten wegen guter Führung frühzeitig freikommen. Das gäbe einen fröhlichen Massenexodus im GPFw.« Der Blick der Direktorin ist hart, und inzwischen zeigt sich unverhohlene Wut darin.
»es ist nicht Jaime Bergers Aufgabe, Leute aus dem Gefängnis zu holen«, entgegne ich.
»offenbar hat sie die Seiten gewechselt. ihre Stippvisiten in Haus Bravo waren bestimmt keine privaten Besuche.«
»wann genau war das? wann war sie hier?«
»Soweit mir bekannt ist, hat sie in Savannah eine Zweitwohnung, aber das ist nur Hörensagen«, tut sie die Information als Gerücht ab. allerdings bin ich sicher, dass mehr dahintersteckt.
wenn Jaime im GPFw war, um eine Todeskandidaten zu befragen, hat sie zuvor sicher genau die gleiche Prozedur durchlaufen wie ich jetzt. Sie musste zuerst ein Gespräch mit Tara Grimm führen. Private Besuche, im Plural also. eine Zweitwohnung, zu welchem Zweck? Das passt so gar nicht zu der New Yorker Staatsanwältin, die ich früher kannte.
»erst war sie hier, und jetzt kreuzen Sie auf«, fährt die Direktorin fort. »ich habe den Verdacht, dass Sie kein Mensch sind, der an Zufälle glaubt. ich gebe dem wachpersonal Bescheid, dass Sie das Foto mitnehmen und Kathleen geben dürfen.«
während sie in ihr Büro zurückkehrt, folge ich dem langen blauen Flur zur Kontrollschleuse, wo ein Justizvollzugsbeamter in grauer uniform und mit Baseballkappe mich auffordert, meine Taschen zu leeren und alles in ein Plastikkörbchen zu legen. ich reiche ihm Führerschein und Autoschlüssel und erkläre ihm, das Foto sei von der Direktorin genehmigt. Der Aufseher erwidert, er sei informiert, und ich könne es mitnehmen. Dann werde ich mit einem Scanner und mit der Hand abgetastet und bekomme einen Ausweis zum anklipsen, auf dem steht, dass ich offiziell Besucher Nummer 71 bin. auf meine rechte Hand stempelt man ein geheimes Codewort, das nur unter ultraviolettem Licht sichtbar sein wird, wenn ich später die Anstalt verlasse.
»Sie kommen zwar rein, aber ohne Stempel nicht wieder raus«, verkündet der Aufseher, und ich kann nicht feststellen, ob er freundlich, witzig oder etwas ganz anderes sein will.
auf seinem Namensschild steht M. P. Macon, und er fordert die Zentrale per Funk auf, das Tor zu öffnen. ein lautes elektronisches Summen ertönt, ein schweres grünes Metalltor gleitet auf und fällt hinter uns sofort wieder ins Schloss. Danach öffnet sich ein zweites, und ein Schild mit Besucherregeln weist mich in roten Buchstaben darauf hin, dass ich eine Einrichtung betrete, in der private Beziehungen zwischen Insassen und Mitarbeitern nicht gestattet sind. Der Fliesenboden ist frisch gebohnert, sodass meine Slipper kleben bleiben, als ich officer Macon einen grauen Flur hinunter folge. Hier sind alle Türen aus Metall und abgeschlossen, und in sämtlichen ecken sowie an den Kreuzungen zwischen zwei Korridoren hängen gewölbte Überwachungsspiegel.
Mein Begleiter ist kräftig gebaut und strahlt eine Wachsamkeit aus, als befände er sich im Krieg. Ständig blicken seine braunen Augen in alle Richtungen, als wir eine Tür erreichen, die man nur per Fernbedienung öffnen kann. wir treten hinaus auf den Hof und in die Hitze. niedrig hängende Wolkenfetzen rasen über uns hinweg, als wollten sie einer herannahenden Gefahr entfliehen. in der Ferne zucken Blitze, Donner grollt, und die ersten Regentropfen hinterlassen beim Auftreffen auf dem Beton Flecken mit dem Durchmesser eines Vierteldollars. ich rieche Ozon und frisch gemähtes Gras. Der regen durchweicht mein dünnes Baumwollhemd, als wir weiterhasten.
»ich habe gedacht, dass es sich noch eine Weile hält.« Officer Macon schaut in den dunklen, aufgewühlten Himmel hinauf, der jeden Moment seine Schleusen öffnen wird. »um diese Jahreszeit passiert das jeden Tag. Morgens scheint die Sonne, der Himmel ist blau, und es sieht nach einem wunderschönen tag aus. und dann, normalerweise so gegen vier oder fünf Uhr nachmittags, kriegen wir dann ein fürchterliches Gewitter. wenigstens reinigt es die Luft. Heute Abend wird es angenehm kühl sein. Zumindest für diese Jahreszeit in unserer Gegend. im Juli oder August will man nichts wie weg hier.«
»ich habe früher in Charleston gewohnt.«
»Dann kennen Sie das ja. wenn ich im Sommer Urlaub nehmen könnte, würde ich dorthin fahren, wo Sie gerade herkommen. Sicher ist es in Boston zehn Grad kühler«, fügt er hinzu. es gefällt mir gar nicht, dass er weiß, von wo aus ich heute Morgen losgeflogen bin.
allerdings liegt dieser Schluss, wie ich mir vor Augen halte, ziemlich nah. Jeder, der möchte, kann herausfinden, dass ich in Cambridge arbeite, und Logan, der nächste Flughafen, gehört nun einmal zu Boston. Officer Macon schließt ein Tor auf und führt mich einen weg entlang, der auf beiden Seiten von hohen, mit NATO Draht gekrönten Zäunen gesäumt wird. Haus Bravo unterscheidet sich äußerlich nicht von den anderen Unterkünften, doch als die Eingangstür mit einem Klicken aufgeht und wir eintreten, spüre ich, dass hier elend und Beklemmung herrschen. Die grauen Betonsteine, der grau lackierte Boden und der dicke grüne Stahl scheinen diese Atmosphäre buchstäblich auszudünsten. Der mit einem Einwegspiegel verglaste Kontrollraum befindet sich gleich gegenüber dem Eingang. außerdem gibt es hier noch einen wäscheraum, eine Eismaschine, eine Küche und einen Kummerkasten.
ich frage mich, ob Jaime Berger bei ihrem Besuch wirklich hier war. worüber hat sie wohl mit Lola Daggette gesprochen? Hatte es etwas damit zu tun, dass Kathleen Lawler in Einzelhaft verlegt wurde? und besteht eine Verbindung zu mir? außerdem passt es gar nicht zu Jaime, irgendwohin zu gehen und jemanden absichtlich in Schwierigkeiten zu bringen. es ist unvorstellbar für mich, dass sie ein Gerücht über Kathleen Lawlers Vergangenheit in Umlauf gebracht haben könnte, das zu Feindseligkeiten seitens der anderen Gefangenen geführt hat. Jaime ist intelligent, taktisch klug und ausgesprochen vorsichtig. Manchmal übertreibt sie es sogar damit. Zumindest war das früher so. Da ich sie seit einem halben Jahr nicht gesehen habe, habe ich keine Ahnung, was sich in ihrem Leben tut. Meine Nichte Lucy spricht nicht über sie und das, was geschehen ist, und ich bohre nicht nach.
Officer Macon schließt einen kleinen Raum mit großen Fenstern aus bruchsicherem Glas zu beiden Seiten der Tür auf. er ist mit einem weißen resopaltisch und zwei blauen Plastikstühlen möbliert.
»warten Sie hier. ich hole Miss Lawler«, sagt er. »aber ich muss Sie warnen. Sie ist sehr redselig.«
»ich bin eine ziemlich gute Zuhörerin.«
»Die Gefangenen lieben Aufmerksamkeit.«
»Hat sie denn oft Besuch?«
»Das würde ihr so gefallen. Publikum rund um die Uhr. Doch das ist bei fast allen so.« er hat meine Frage nicht beantwortet.
»Spielt es eine Rolle, wo ich mich hinsetze?«
»nein, Ma'am«, erwidert er. wenn es in einem Vernehmungszimmer eine versteckte Kamera gibt, hängt sie normalerweise der Zielperson, also in diesem Fall der Gefangenen, nicht mir, diagonal gegenüber. Hier gibt es keine Kamera, da bin ich ziemlich sicher. ich setze mich und halte Ausschau nach Überwachungsmikrofonen. als ich die Decke direkt über dem Tisch betrachte, entdecke ich die Metalldüse der Sprinkleranlage und daneben ein winziges loch mit einer weißen Fassung. Mein Gespräch mit Kathleen Lawler wird also aufgenommen werden. Tara Grimm und vielleicht auch noch andere werden mich belauschen.
4
Seit Kathleen Lawler in Einzelhaft verlegt wurde, ist sie dreiundzwanzig Stunden am tag in eine Zelle von der Größe eines Werkzeug Schuppens eingesperrt. Die mit Maschendraht gesicherten Fenster bieten Aussicht auf Gras und einen Stahlzaun. Die Picknicktische aus Beton und die Blumenbeete, die sie mir in ihren E-Mails beschrieben hat, kann sie nicht mehr sehen. auch auf ihre Mitgefangenen und die geretteten Hunde kann sie nur noch ab und zu einen Blick erhaschen.
während der einen Stunde Hofgang schreitet sie »langweilige, gleichförmige Vierecke« in einem kleinen, vergitterten Bereich ab. Dabei wird sie von einem Aufseher bewacht, der auf einem Stuhl neben einer leuchtend gelben Kühlbox mit vierzig Liter Fassungsvermögen sitzt. wenn Kathleen einen Schluck Wasser möchte, wird ihr ein kleiner Pappbecher durch die Gitterstäbe gereicht. Sie sagt, sie habe vergessen, wie es ist, von einem anderen Menschen berührt zu werden, Finger auf ihrer Haut oder eine Umarmung zu spüren. Das äußert sie so theatralisch, als hätte sie den Großteil ihres Lebens in Haus Bravo verbracht, nicht nur zwei Wochen. Die Einzelhaft zu ihrem eigenen Schutz ist eine neue Situation, die sie mit einsitzen im Tode strakt vergleicht.
Sie erklärt, dass sie keinen Zugang zu E-Mails und auch keinen Kontakt zu ihren Mitgefangenen mehr hat, außer sie rufen von Zelle zu Zelle oder schieben heimlich gefaltete Zettel, sogenannte Kassiber, unter den Zellentüren durch, eine Methode, die Gerissenheit und Geschicklichkeit voraussetzt. Zwar darf sie jeden Tag eine begrenzte Anzahl von Briefen
© Goldmann, 2013
Es ist mir rätselhaft, wie ich an diese Schrottlaube geraten konnte, die die Spur nicht richtig hält und nach einer Mischung von Fastfood und Zigaretten, abgerundet von einem Hauch verfaultem Fisch, stinkt. Jedenfalls ist es nicht das Auto, das ich Bryce, meinen Verwaltungschef, zu reservieren gebeten hatte. Sein Auftrag bestand darin, eine verkehrssichere, zuverlässige, mittelgroße limousine zu mieten, vorzugsweise einen Volvo oder einen toyota camry mit vier airbags und navigationssystem. als ich vor dem Terminal von einem jungen Mann in einem weißen transporter ohne Klimaanlage erwartet wurde, in dem es nicht einmal eine Straßenkarte gibt, habe ich ihm mitgeteilt, dass da wohl ein Fehler passiert sein müsse. offenbar habe man mir versehentlich ein auto gebracht, das für jemand anderen bestimmt sei. Doch er wies mich darauf hin, dass mein name, Kate Scarpetta, auf dem Vertrag stünde. ich widersprach, ich hieße erstens Kay und fände es zweitens bedeutungslos, auf welchen Namen der Vertrag laute. ich hätte jedenfalls keinen transporter bestellt. Die Autovermietung lowcountry concierge Service bedaure sehr, meinte der junge Mann, der ziemlich braungebrannt war und ein ärmelloses T-Shirt, Shorts mit tarnmuster und wasserfeste Schuhe trug. er habe auch keine Erklärung dafür. offenbar ein Problem mit dem Computer. natürlich werde er mir gern ein anderes Auto besorgen, doch das würde im besten Fall bis zum Abend dauern, vielleicht sogar bis morgen.
Schwülwarme luft weht zum Fenster herein, und der faulige, schwefelartige Geruch von verrottenden Pflanzen, Salzmarschen und Morast steigt mir in die Nase. Der Transporter ruckelt um eine sonnenbeschienene Kurve, wo sich einige Truthahngeier gerade über einen Kadaver hermachen. Die riesigen, hässlichen Vögel mit ihren zottigen Flügeln und den nackten Hälsen flattern schwerfällig davon, während ich den starren Körper eines Waschbären umrunde. Die feuchte Luft trägt einen scharfen Verwesungsgeruch heran, den ich nur zu gut kenne. ob Mensch oder Tier, spielt keine Rolle. ich erkenne den Tod schon aus der Entfernung, und wenn ich aussteigen und mir den Kadaver aus der Nähe anschauen würde, könnte ich vermutlich den genauen Grund des Ablebens dieses Waschbären erkennen, den Zeitpunkt bestimmen und wahrscheinlich rekonstruieren, wie er niedergestreckt wurde und wovon.
Die meisten Menschen bezeichnen mich als Rechtsmedizinerin, doch einige halten mich für eine Leichenbeschauerin, und hin und wieder werde ich auch mit einer Polizeiärztin verwechselt. Doch genau genommen bin ich Medizinerin mit Fachgebiet Pathologie und Zusatzausbildungen in forensischer Pathologie und 3-D-bildgebender radiologie - das heißt dem Einsatz von ct-Geräten, um das innere einer leiche zu untersuchen, bevor ich zum Skalpell greife. außerdem bin ich studierte Juristin, habe den rang eines colonel der reserve bei der air Force inne und unterhalte deshalb besondere Beziehungen zum Verteidigungsministerium. im vergangenen Jahr bin ich zur Leiterin des Cambridge Forensic Center ernannt worden, eines Gemeinschaftsprojekts des Pentagon, des Commonwealth of Massachusetts, des Massachusetts Institute of Technology (Mit) und Harvard.
es ist mein Fachgebiet festzustellen, was einen Menschen umgebracht hat, sei es nun eine Krankheit, ein Gift, ein Kunstfehler, eine Schusswaffe oder ein selbstgebastelter Sprengsatz. in meinem Beruf muss ich mich stets streng an gesetzliche Vorgaben halten. ich habe keine andere Wahl, als objektiv zu sein und klinisch zu denken. eine persönliche Meinung oder eine emotionale Reaktion auf einen Fall darf ich mir nicht erlauben, ganz gleich, wie tragisch oder grausam die Umstände auch sein mögen. wenn ich selbst betroffen bin, wie zum Beispiel bei dem Mordanschlag vor vier Monaten, muss ich so unerschütterlich bleiben wie ein Fels. Man verlangt von mir Entschlossenheit, Gelassenheit und ruhe.
»Sie werden mir doch kein Posttraumatisches Stresssyndrom entwickeln, oder?«, fragte mich General John Briggs, der Chef der armed Forces Medical examiners, nachdem ich am 10. Februar beinahe in meiner eigenen Garage umgebracht worden wäre. »Solcher Mist passiert eben dann und wann, Kay. auf der Welt wimmelt es von Durchgeknallten.«
»Ja, John, solcher Mist passiert eben dann und wann, und es wird nicht das letzte Mal sein«, antwortete ich, als ob alles in bester Ordnung wäre und ich den Zwischenfall bereits weggesteckt hätte, wohl wissend, dass ich in Wirklichkeit nicht so empfand. nun will ich der Frage auf den Grund gehen, was in Jack Fieldings leben schiefgelaufen ist. Dawn Kincaid soll den höchstmöglichen Preis für ihre tat bezahlen: lebenslange Haft ohne Möglichkeit der Begnadigung.
ich schaue auf die Uhr, ohne die Hände vom Lenkrad dieses verdammten Transporters zu nehmen, der offenbar an einem schweren Fall von Schüttellähmung leidet. Vielleicht sollte ich umkehren. Der letzte Flug nach Boston geht in knapp zwei Stunden. ich könnte es also noch schaffen. Doch ich weiß, dass ich nicht in der Maschine sitzen werde. es mag ein Fehler sein, aber mein Ziel steht fest, als habe sich ein Autopilot meiner bemächtigt, möglicherweise ein waghalsiger oder gar einer, der auf Rache sinnt. Dass ich zornig bin, steht außer Frage. wie mein Mann Benton wesley, forensischer Psychologe beim FBI, gestern Abend sagte, als ich in unserem denkmalgeschützten Haus in cambridge das essen kochte: »Man will dich reinlegen, Kay. Möglicherweise in eine Falle locken. aber was mich am meisten besorgt, ist, dass du dir selbst ein Bein stellst. was du als deinen eigenen Wunsch wahrnimmst, proaktiv und hilfsbereit zu sein, ist in Wahrheit nur dein Bedürfnis, deine Schuldgefühle zu beschwichtigen.« »ich bin nicht schuld an Jacks Tod«, widersprach ich.
»Du hast, was ihn angeht, schon immer Schuldgefühle gehabt. Du hast sowieso wegen vieler Dinge Schuldgefühle, die eigentlich nicht dein Problem sind.«
»ich verstehe.« ich entfernte den Panzer der gekochten riesen-Shrimps mit einer chirurgenschere. »wenn ich also zu dem Schluss gelange, ich könnte an nützliche Informationen herankommen und der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen, sind das nur meine Schuldgefühle.«
»Du denkst, du müsstest alles in Ordnung bringen. Das war schon immer so. Bereits damals, als du ein kleines Mädchen warst und deinen kranken Vater gepflegt hast.«
»im Moment kann ich eindeutig nichts in Ordnung bringen.« ich warf die Panzer in den Müll und gab Salz in den edelstahltopf mit Wasser, der auf dem ceranherd, dem Mittelpunkt meiner Küche, blubberte. »Jack wurde als Junge sexuell missbraucht, und dagegen konnte ich nichts tun. ich konnte nicht verhindern, dass er sein eigenes Leben an die Wand gefahren hat. und nun wurde er ermordet, und dagegen war ich auch machtlos.« ich griff nach einem Küchenmesser. »es ist mir gerade mal gelungen, meine eigene Ermordung zu verhindern.« als ich Zwiebeln und Knoblauch hackte, fuhr die dünne Stahlklinge rasch und mit einem Klicken über das antibakteriell beschichtete Polypropylen.
»Du solltest einen riesenbogen um Savannah machen«, mahnte mich Benton erneut, worauf ich erwiderte, ich müsse hinfliegen, und ihn bat, die Weinflasche zu öffnen und uns beiden zwei Gläser einzuschenken. wir tranken und stritten weiter. Geistesabwesend stocherten wir im Ergebnis meines mangia bene, vivi felice cucina - iss gut und lebe das glückliche Kochen. Doch wir waren nicht glücklich. und das alles nur ihretwegen.
Kathleen Lawler hat ein furchtbares Leben hinter sich und verbüßt derzeit eine zwanzigjährige Haftstrafe wegen fahrlässiger Tötung in Verbindung mit Alkohol am Steuer. inzwischen hat sie mehr Jahre hinter Gittern verbracht als in Freiheit, seit sie in den Siebzigern verurteilt worden ist, weil sie einen Jungen sexuell missbraucht hat, der später mein Stellvertreter Jack Fielding wurde. nun ist er tot, in den Kopf geschossen von ihrem gemeinsamen Kind der liebe, wie die Medien Dawn Kincaid nennen. Sie wurde zur Adoption freigegeben, während ihre Mutter wegen der Tat, bei der sie gezeugt wurde, im Gefängnis saß. es ist eine sehr lange Geschichte. Bei diesem Satz ertappe ich mich in letzter Zeit ziemlich oft, und wenn ich etwas im Leben gelernt habe, dann dass eins unweigerlich zum anderen führt. Kathleen Lawler katastrophale Vita ist ein ausgezeichnetes Beispiel, um zu illustrieren, was Wissenschaftler mit dem Ausspruch meinen, das Schlagen eines Schmetterlingsflügels könne irgendwo anders auf der Erde einen Orkan auslösen.
während ich den dröhnenden und rumpelnden Mietwagen durch die zugewucherte, morastige Landschaft lenke, die vermutlich schon zur Zeit der Dinosaurier nicht viel anders ausgesehen hat, frage ich mich, welcher Flügelschlag eines Schmetterlings, welche beinahe unmerkliche Störung wohl Kathleen Lawler den Anstoß gegeben und den von ihr angerichteten Schaden ausgelöst haben mag. ich stelle sie mir in ihrer fünf Quadratmeter großen Zelle mit der blitzblanken Edelstahl Toilette, dem Bett aus grauem Metall und dem kleinen, mit Maschendraht abgedeckten Fenster vor, das den Blick auf einen Gefängnishof mit derbem Gras, Bänken aus Beton und Chemie Klos bietet. ich weiß, wie viele Garnituren Kleidung sie besitzt, keine »Sachen wie in der Freiheit«, hat sie mir in ihren E-Mails erklärt, die ich nicht beantworte. nur Gefängnisuniformen, Hosen und Oberteile, jeweils zwei Stück. Sie hat jedes Buch in der Gefängnisbibliothek mindestens fünfmal gelesen und mir mitgeteilt, dass sie schriftstellerisches Talent hat. Vor einigen Monaten hat sie mir ein Gedicht über Jack geschickt.
Schicksal
er kam als Luft zurück und ich als Erde und anfangs fanden wir einander nicht.
(in Wahrheit war es nicht falsch, nur eine Formalität, die keinen von uns störte und auf die keiner von uns hörte).
Finger, Zehen aus Feuer. Und eiskalter stahl. Das Back Rohr klafft,
Es strömt das Gas erwartungsvoll wie die Lichter eines einladenden Motels.
ich habe das Gedicht wieder und wieder gelesen, es Wort für Wort zerlegt und nach Botschaften zwischen den Zeilen gesucht. Zunächst war ich besorgt, die düstere Anspielung auf den eingeschalteten Gasherd könnte ein Hinweis darauf sein, dass Kathleen Lawler Selbstmordgedanken hat. Vielleicht ist der Tod für sie ja so anziehend wie ein einladendes Motel, meinte ich zu Benton, der erwiderte, das Gedicht zeige, dass sie eine Soziopathin sei und an einer Persönlichkeitsstörung leide. Sie glaube nicht, dass sie etwas falsch gemacht habe. Sex mit einem zwölfjährigen Jungen in dem Heim für schwererziehbare Jugendliche, wo sie als Therapeutin tätig war, sei für sie etwas Schönes, eine Vereinigung in reiner und vollendeter liebe. es sei Schicksal gewesen. ihre Bestimmung. Diese Sicht der Dinge sei wahnhaft, sagte Benton.
Vor zwei Wochen brachen die Mails dann schlagartig ab, und mein Anwalt rief mich mit einer Bitte an: Kathleen Lawler wolle mit mir über Jack Fielding sprechen, den Protegé, den ich in den anfangstagen meiner Karriere ausgebildet und mit dem ich im Laufe von zwanzig Jahren immer wieder zusammengearbeitet habe. ich war einverstanden, mich mit ihr im Georgia Prison for women zu treffen, doch nur im Rahmen eines privaten Besuchs. ich werde weder als Dr. Kay Scarpetta noch als Leiterin des Cambridge Forensic Center auftreten. Heute bin ich nur Kay, und Jack ist das einzige, was Kay und Kathleen gemeinsam haben. unser Gespräch wird nicht unter die Schweigepflicht fallen, und es werden auch keine Anwälte, Aufseher oder andere Gefängnismitarbeiter anwesend sein.
Die Lichtverhältnisse ändern sich. Der dichte Nadelwald wird dünner und endet dann an einer tristen baumlosen Fläche. Das Gelände, es erinnert an ein Industriegebiet, ist mit grünen Metallschildern bestückt, die mich warnen, dass die Landstraße, auf der ich mich befinde, nun endet und dass die Zufahrt für unbefugte verboten ist. wer keine Zugangsberechtigung hat, muss jetzt umkehren. ich fahre an einem Schrottplatz vorbei, wo sich verbogene und zerbeulte Autos und Lastwagen türmen. Danach kommt eine Gärtnerei mit Gewächshäusern und riesigen Kübeln, in denen Ziergräser, Bambus und Palmen wachsen. Direkt vor mir erstreckt sich eine große Rasenfläche mit Blumenbeeten voller bunter Petunien und Ringelblumen. ich fühle mich wie in einem Stadtpark oder auf einem Golfplatz. Das Verwaltungsgebäude mit seinen weißen Säulen und roten Backsteinmauern bildet einen starken Kontrast zu den blauen Betontrakten, die ein Metalldach haben und von einem hohen Zaun umgeben sind. Doppelte rollen aus rasiermesserscharfem NATO Draht schimmern und funkeln in der Sonne wie die Klingen von Skalpellen.
Das Georgia Prison for women ist eine Modelleinrichtung und gilt als herausragendes Beispiel für eine aufgeklärte und menschenwürdige Wiedereingliederung von Straftäterinnen. Viele durchlaufen während ihrer Haft eine Ausbildung als Klempnerin, Elektrikerin, Kosmetikerin, Schreinerin, Mechanikerin, Dachdeckerin, Landschaftsgärtnern, Köchin oder Kellnerin. Gebäude und Gelände werden von den Insassinnen selbst instand gehalten. Sie kochen das essen, arbeiten in der Bibliothek und im Schönheitssalon, leisten Hilfsdienste in der Krankenstation, geben ihre eigene Zeitschrift heraus und sind angehalten, hinter Gittern zumindest ihren High-School-abschluss nachzuholen. alle hier müssen etwas zur Gemeinschaft beitragen und bekommen dafür eine neue Chance, mit Ausnahme der Gefangenen im Hochsicherheitstrakt, auch Haus Bravo genannt, wo Kathleen Lawler vor zwei Wochen einquartiert wurde, also um die Zeit, als ihre E-Mails an mich so plötzlich abbrachen.
ich stelle meinen Wagen auf dem Besucherparkplatz ab und werfe einen Blick auf mein iPhone in der Hoffnung, dass nichts wichtiges geschehen ist, was meine Aufmerksamkeit erfordert, und dass Benton mir geschrieben hat. und das hat er. »wo du bist, soll es bald gewittern. Sei vorsichtig und gib mir Bescheid, wie es gelaufen ist. ich liebe dich«, schreibt mein sachlicher, praktischer Ehemann, der mir stets den neuesten Wetterbericht oder andere nützliche Informationen zukommen lässt, wenn er an mich denkt. ich liebe ihn auch, mir geht es gut, und ich werde ihn in ein paar Stunden anrufen, antworte ich, während ich beobachte, wie einige Männer in Anzug und Krawatte, begleitet von einem Aufseher, aus dem Verwaltungsgebäude kommen. Die Männer sehen aus wie Anwälte, vielleicht auch Vertreter der Strafvollzugsbehörde, denke ich und warte, bis sie in einem Zivilfahrzeug weggefahren sind. Dabei frage ich mich, wer sie sind und was sie hierhergeführt hat. ich stecke das Telefon in meine Handtasche und schiebe sie unter den Sitz. ich werde nichts mitnehmen als meinen Führerschein, einen unbeschrifteten umschlag und den Autoschlüssel.
Die Sommersonne senkt sich auf mich wie eine schwere heiße Hand. im Südwesten haben sich Wolken gebildet und ballen sich dick zusammen, und die Luft duftet nach lavendel und Scheineller. ich folge einem Betonweg, der zwischen blühenden Büschen und gepflegten Blumenbeeten hindurchführt, und werde von unsichtbaren Augen aus den schmalen Fenstern rings um den Gefängnishof beobachtet. Häftlinge haben nichts Besseres zu tun, als in eine Welt hinauszustarren, an der sie nicht mehr teilhaben können, und dabei Informationen zu sammeln. Die cia könnte sich an ihnen ein Beispiel nehmen. ich spüre, wie ihr kollektives Bewusstsein meinen scheppernden weißen Transporter mit Nummernschildern aus South Carolina zur Kenntnis nimmt. ebenso wie meine Kleidung, heute nicht das übliche Kostüm oder eine strapazierfähige arbeitsuniform, sondern eine Khakihose, in das eine blau-weiß gestreiftes Baumwollhemd steckt, dazu Slipper aus geflochtenem Leder und ein passender Gürtel. ich trage keinen Schmuck, nur eine Titan Uhr mit schwarzem Kunststoffarmband und meinen Ehering. also ist es nicht leicht, aus meinem Äußeren auf meine Finanzen, meine Identität und meinen Beruf zu schließen. nur der Transporter stört das Bild, das ich vermitteln wollte.
eigentlich wollte ich wie eine blonde Frau mittleren Alters und mit lässiger Frisur wirken, die keine dramatisch wichtigen oder auch nur interessanten Dinge im Leben tut. und dann dieses zerschrammte, ruckelnde weiße Monstrum, dessen Heckscheiben so dunkel getönt sind, dass sie fast schwarz aussehen. all das fällt mir ein, während ich spüre, wie die Frauen mich betrachten. Den meisten werde ich nie begegnen, obwohl ich einige Namen kenne, nämlich die der Insassinnen, deren berüchtigte Fälle durch die Medien gingen und deren grausige taten auf Fachtagungen erörtert wurden. ich widerstehe der Versuchung, mich umzuschauen oder mir anmerken zu lassen, dass ich mir der Blicke bewusst bin, und frage mich, welcher der dunklen Schlitze wohl ihr Fenster ist.
Für Kathleen Lawler hat dieser Besuch sicher eine große emotionale Bedeutung. Vermutlich denkt sie in letzter Zeit an kaum etwas anderes mehr. Für Menschen wie sie bin ich die letzte Verbindung zu denen, die sie verloren oder umgebracht haben. ich bin sozusagen der Ersatz für den toten.
2
Die Leiterin der Vollzugsanstalt heißt Tara Grimm. ihr Büro am Ende eines langen blauen Flurs wurde von den Gefangenen, für die sie verantwortlich ist, möbliert und ausgestattet.
Schreibtisch, Couchtisch und Stühle bestehen aus lackierter, honiggelber eiche und haben eine gedrungene Form. Für mich besitzen sie einen gewissen Scharm, denn ich bevorzuge fast immer Handarbeit, auch wenn sie derb ausfällt. ranken mit herzförmigen bunten Blättern drängen sich in Blumenkästen auf den Fensterbrettern, schlängeln sich von selbstgezimmerten Bücherregalen herab, sind über die Seiten drapiert wie Fahnen und ergießen sich in wildem Gewirr aus Hängetöpfen. als ich Tara Grimm zu ihrem grünen Daumen beglückwünsche, teilt sie mir mit ruhiger, melodischer Stimme mit, die Insassinnen pflegten ihre Zimmerpflanzen. Sie kennt nicht einmal die Namen der Kriechgewächse, wie sie sie nennt, aber es könnte Philodendron sein.
»epipremnum pinnatum.« ich berühre eines der gelbgrün marmorierten Blätter. »Besser bekannt als efeutute.«
»Das Zeug wächst wie der Teufel, und ich erlaube ihnen nicht, es zurückzustutzen«, erwidert sie. Sie steht am Bücherregal hinter ihrem Schreibtisch, wo sie gerade eine Ausgabe von Rückfälligkeit und kriminelle Karrieren von Gewalttätern zurückstellt. »Mit einem kleinen Schössling in einem Wasserglas fing es an. nun benutze ich die Pflanzen als Anschauungsmaterial für eine wichtige Lektion, die diese Frauen auf dem weg, der sie hierhergeführt hat, missachtet haben: Passt auf alles auf, was wurzeln schlägt, sonst dominiert es
eines Tages euer Leben.« Sie stellt ein weiteres Buch ein: Die Kunst des Manipulierens. »ich weiß nicht.« Sie betrachtet die Pflanzen, die das Zimmer überwuchern. »allmählich wird es hier doch ein bisschen eng.«
ich schätze die Direktorin auf Mitte vierzig. Sie ist hoch gewachsen, hat geschmeidige Bewegungen und wirkt in ihrem schwarzen wadenlangen Kleid mit Schalkragen und der Goldmünze, die an einer Kette um ihren Hals hängt, seltsam deplatziert hier, so als hätte sie sich eigens für diesen tag feingemacht. Vielleicht ja wegen der Männer, die gerade gegangen sind. Möglicherweise sind es wichtige Leute. Tara Grimm hat dunkle Augen und hohe Wangenknochen und trägt ihr langes schwarzes Haar hochgesteckt. ihren Beruf sieht man ihr nicht an, und ich frage mich, ob auch schon andere auf diesen absurden Gedanken gekommen sind. im Buddhismus ist Tara die Mutter der Befreiung, was diese Tara eindeutig nicht ist. Grimm passt besser in ihre Welt.
als sie ihren Rock glattstreicht und sich hinter den Schreibtisch setzt, nehme ich auf dem Holzstuhl gegenüber Platz. »erst einmal muss ich mit ihnen alles durchgehen, was Sie Kathleen mitbringen wollen«, erklärt sie mir den Grund, warum ich zu ihr ins Büro geschickt worden bin. »Sie kennen den Ablauf ja sicher.«
»eigentlich besuche ich selten jemanden im Gefängnis«, entgegne ich. »Höchstens auf der Krankenstation oder noch schlimmer.« Das heißt, wenn ein Häftling forensisch untersucht werden muss oder tot ist.
»Falls Sie unterlagen oder andere Dokumente dabeihaben, um sie mit ihr durchzuarbeiten, muss ich sie zuerst genehmigen «, teilt sie mir mit, worauf ich ihr noch einmal sage, dass ich nur privat hier bin. Das ist zwar vom gesetzlichen Standpunkt her richtig, entspricht aber nicht ganz der Wahrheit. Kathleen Lawler gehört gewiss nicht zu meinem Freundeskreis, und ich werde ihr mit Bedacht und vorsichtig Informationen entlocken. ich werde sie auffordern, mir zu erzählen, was ich wissen will, ohne ihr zu verraten, wie wichtig es mir ist. Hatte sie im Laufe der Jahre Kontakt zu Jack Fielding? was geschah während der Phasen, in denen sie auf freiem Fuß war? Meinen Recherchen zufolge ist es in verschiedenen Fällen zu einer anhaltenden sexuellen Beziehung zwischen einer Täterin und ihrem jüngeren männlichen Opfer gekommen, und Kathleen war in der ganzen Zeit, die ich Jack kannte, immer wieder eine Zeitlang in Freiheit. Falls es Sexualkontakte zwischen ihm und der Frau, die ihn als Jungen missbraucht hatte, gegeben hat, würde mich interessieren, ob sie zeitlich mit seinen immer wiederkehrenden Phasen zusammenfallen, wenn er durchdrehte und einfach spurlos verschwand.
ich möchte wissen, wann er herausgefunden hat, dass Dawn Kincaid seine Tochter ist, und warum er sich vor kurzem mit ihr in Massachusetts in Verbindung gesetzt und ihr erlaubt hat, in seinem Haus in Salem zu wohnen. wie lange ging das schon so? Hat er deshalb Frau und Kinder verlassen? wusste Jack, dass er mit gefährlichen Drogen manipuliert wurde, oder gehörte das zu Dawns dunklen Geheimnissen? Hat er selbst bemerkt, dass er sich immer seltsamer verhielt? und wessen Idee war es, dass er sich während meiner Abwesenheit im Cambridge Forensic Center auf illegale Machenschaften einließ?
ich habe keine Ahnung, was Kathleen weiß und was sie antworten wird, doch ich werde so an das Gespräch herangehen, wie ich es geplant und mit Leonard Brazzo, meinem Anwalt, einstudiert habe. Von mir wird sie nichts erfahren, was später Dawn Kincaid zu Ohren kommen und ihr bei der Vorbereitung ihrer Verteidigung helfen könnte.
»nun, ich dachte mir schon, dass Sie nichts bei sich haben würden, was mit diesen Fällen in Zusammenhang steht«, meint Tara Grimm, und ich merke ihr ihre Enttäuschung an. »ich muss gestehen, dass ich zu den Vorgängen in Massachusetts eine Menge Fragen habe.«
»ich werde keine Einzelheiten aus den Ermittlungen mit ihr besprechen«, antworte ich der Direktorin.
»Mit Sicherheit wird Kathleen Sie danach fragen. Schließlich geht es um ihre hochintelligente Tochter. Dawn Kincaid soll diese Leute ermordet und versucht haben, auch Sie umzubringen? « Sie mustert mich unverwandt.
»ich werde mit Kathleen weder diese Fälle noch andere erörtern. « Von mir erfährt die Direktorin nichts. »Deshalb bin ich nicht hier«, beharre ich. »aber ich habe ein Foto dabei, das ich ihr gern geben würde.«
»wenn ich es sehen darf.« Sie streckt eine zierliche Hand mit perfekt manikürten, dunkelrosa lackierten Nägeln aus, die sie sich offenbar erst kürzlich hat machen lassen. Sie trägt viele ringe und eine goldene Uhr.
ich reiche ihr den beschrifteten umschlag. Sie holt das Foto von Jack Fielding heraus, wie er gerade, mit nacktem Oberkörper und in Joggingshorts, seinen geliebten kirschroten Mustang, Baujahr 67, wäscht. auf dem etwa fünf Jahre alten Foto, das zwischen zwei Ehen und vor seinem nieder- gang aufgenommen wurde, grinst er strahlend in die Kamera. ich habe ihn zwar nicht obduziert, aber während der vier Monate seit dem Mord sein Leben gründlich unter die Lupe genommen. Zum Teil deshalb, weil ich herausfinden wollte, was ich hätte tun können, um diesen Mord zu verhindern. allerdings glaube ich nicht, dass das möglich gewesen wäre. Schließlich bin ich stets dabei gescheitert, ihm in den Arm zu fallen, wenn er wieder einmal dabei war, sich selbst zu schaden. als ich dasitze und das Foto ansehe, flammen Zorn und Schuldgefühle in mir auf. Gefolgt von Trauer. »nun, ich denke, das ist in Ordnung«, sagt die Direktorin. »ein angenehmer Anblick, das muss man ihm lassen. offenbar einer dieser Bodybuilding-Verrückten. wie viele Stunden am Tag muss man da wohl investieren?«
ich betrachte die gerahmten Zeugnisse und Auszeichnungen an den Wänden, weil ich sie nicht beim Anschauen des Fotos beobachten will, ohne sicher zu sein, was mich daran so stört. Vielleicht ist es schwieriger, Jack mit den Augen einer Fremden zu sehen. Gefängnisdirektorin des Jahres. Herausragende Verdienste. Belobigung für beispielhafte Pflichterfüllung. Exzellenzpreis. Vorgesetzte des Monats. einige dieser Preise sind ihr mehr als einmal verliehen worden. außerdem hat sie einen B.a. cum laude von der Spalding University in Kentucky. allerdings klingt sie nicht wie eine einheimische, eher nach Louisiana, weshalb ich sie frage, woher sie kommt.
»ursprünglich aus Mississippi«, erwidert sie. »Mein Vater war dort Leiter der staatlichen Vollzugsanstalt, weshalb ich meine Kindheit in einem brettebenen, achttausend Hektar großen Stück Delta inmitten von Sojabohnen und Baumwolle verbracht habe, die die Häftlinge anbauten. Dann bekam er eine Stelle in der staatlichen Vollzugsanstalt von Louisiana in Angola. wieder Ackerland, fernab aller Zivilisation. ich habe auf dem Gefängnisgelände gewohnt, was ihnen vielleicht seltsam erscheint. aber mich hat es nicht gestört, am Arbeitsplatz meines Vaters zu leben. erstaunlich, an was man sich alles gewöhnt. es war sein Vorschlag, das GPFw hier draußen zwischen Gestrüpp und Sümpfen zu bauen, und weil die Frauen die Anlage selbst pflegen, kostet es den Steuerzahler nur ein Minimum. Man könnte wohl sagen, dass mir Gefängnisse in Fleisch und Blut übergegangen sind.«
»Hat ihr Vater irgendwann mal hier gearbeitet?«
»nein, nie.« Sie lächelt spöttisch. »ich kann mir meinen Vater nicht vorstellen, wie er zweitausend Frauen bewacht.
Das hätte ihn ein wenig gelangweilt, obwohl einige der Insassinnen viel schlimmer sind als die Männer. aber zurück zu den Fällen im Norden. ich frage mich, ob auch wirklich alle Täter dingfest gemacht wurden.«
»ich hoffe es.«
»wenigstens können wir sicher sein, dass Dawn Kincaid hinter Schloss und Riegel sitzt, und ich glaube, dass das auch so bleibt. angeblich ist ja der Stress schuld an ihren psychischen Problemen. ist das zu fassen? Denken Sie nur an den Stress, den sie verursacht hat.«
Vor einigen Monaten wurde Dawn Kincaid ins Butler State Hospital verlegt, wo Ärzte entscheiden werden, ob sie verhandlungsfähig ist. tricks. Simulantentum. lasst die Spiele beginnen.
»Schwer vorzustellen, dass sie ganz allein so viel Unheil gestiftet und diese grausigen Morde begangen haben soll. am schlimmsten finde ich die Sache mit dem armen kleinen Jungen. « Tara redet über Dinge, die sie nichts angehen, und mir bleibt nichts anderes übrig, als sie gewähren zu lassen. »ein hilfloses Kind umzubringen, das im Garten spielt, während die Eltern ahnungslos zu Hause sitzen? einem Kind oder einem Tier Schmerz zuzufügen ist unverzeihlich«, spricht sie weiter, als wären erwachsene als Opfer noch halbwegs vertretbar.
»ich wollte nur wissen, ob Kathleen das Foto behalten darf.« ich bestätige ihre Informationen weder, noch streite ich sie ab. »ich dachte, sie möchte das vielleicht.«
»ich sehe da kein Problem.« Jetzt wirkt Tara Grimm verunsichert, und als sie mir das Foto über den Tisch reicht, erkenne ich den Grund in ihren Augen.
Warum gibst du ihr ein Foto von ihm?, denkt sie. Kathleen Lawler trägt indirekt die Schuld an Jack Fieldings Tod. Nein, nicht indirekt, schießt es mir durch den Kopf, während die Wut weiter brodelt. Sie hatte Sex mit einem Minderjährigen, und das Kind, das sie zusammen gezeugt haben, wuchs zu Dawn Kincaid, seiner Mörderin, heran. Direkter kann es wohl kaum werden.
»ich weiß nicht, ob Kathleen neuere Aufnahmen von ihm kennt«, beantworte ich Tara Grimms unausgesprochene Frage und verstaue das Foto wieder im Umschlag. »So wie auf diesem Bild möchte ich ihn in Erinnerung behalten. es ist ein Foto aus besseren tagen.«
ich hoffe, dass sich Kathleen mir beim Anblick dieses Fotos öffnen wird.
»Hat man ihnen gesagt, warum ich sie in Einzelhaft verlegt habe?«, erkundigt sich Tara.
»Mir ist nur die Tatsache bekannt«, entgegne ich absichtlich ausweichend.
»Hat Mr. Brazzo es ihnen denn nicht erklärt?« Zweifel schleichen sich in ihre Miene, als sie die Hände auf der Platte ihres ordentlichen Schreibtischs aus Eichenholz verschränkt.
Leonard Brazzo ist ein Strafverteidiger, den ich deshalb brauche, weil ich nicht vorhabe, mich der Gnade eines überarbeiteten oder unerfahrenen Staatsanwalts zu überantworten, wenn Dawn Kincaid wegen ihres Mordversuchs an mir vor Gericht kommt. ich bin nämlich überzeugt, dass das Anwalts Team, das sie kostenlos unter seine Fittiche genommen hat, ihren Überfall auf mich in meiner eigenen Garage als zu entschuldigenden Zwischenfall darstellen will. Sie werden behaupten, ich sei selbst schuld daran, dass sie mich in der Dunkelheit von hinten angegriffen hat. Dass ich noch am Leben bin, ist reine Glückssache, und als ich nun in Tara Grimms von Efeu überwucherten Büro sitze, stört es mich mehr, als ich mir eingestehen will, dass mein Überleben im Grunde genommen nicht mein eigenes Verdienst ist.
»ich habe lediglich gehört, dass sie zu ihrer eigenen Sicherheit in Einzelhaft verlegt wurde«, entgegne ich, während ich an die Schutzweste Klasse 4a mit den integrierten Kevlarplatten denke. ich erinnere mich an die starre Nylon Oberfläche der Weste und ihr Gewicht, die ich in jener Nacht in meiner dunklen, eiskalten Garage von der Rückbank des SuV genommen und mir über die Schultern gelegt habe.
»offenbar hat meine Entscheidung, Kathleen in Haus Bravo zu verlegen, Sie ins Grübeln gebracht, was Sie wohl hier in Savannah erwartet«, stellt Tara fest. »Vermutlich möchten Sie sich nach dem, was Sie durchgemacht haben, keiner gefährlichen Situation aussetzen.«
ich habe den Schneesturm aus leuchtend weißen Flecken, so winzig wie Pollen, auf der Mri-aufnahme des ersten Opfers vor Augen, das Dawn Kincaid mit einem Injektionsmesser erstochen hat. Grellweiße Partikel, die sich um eine knopflochförmige Einstichstelle ballten und wie nach einer Explosion tief in den Organen und dem Brustgewebe gestreut haben. als wäre eine Bombe im Körperinneren hochgegangen. wenn ihr Angriff auf mich mit derselben Waffe Erfolg gehabt hätte, wäre ich tot gewesen, bevor ich den Boden berührte.
»obwohl ich nicht ganz verstehe, warum Sie in ihrem eigenen Haus eine Schutzweste tragen«, bohrt die Direktorin weiter.
ich erkläre ihr nicht, dass medizinische Forschung zu meiner Tätigkeit für das Verteidigungsministerium gehört und dass General Briggs sich für meine Meinung zu der neuesten, eigens für Soldatinnen entworfenen Schutzweste interessiert hat. inzwischen weiß ich aus Erfahrung, dass diese weste eine Stahlklinge abhalten kann. Glück, einfach nur Glück. ich erinnere mich, wie ich über mein eigenes Spiegelbild erschrak, als alles vorbei war. Mein rot verschmiertes Gesicht. Mein rot verschmiertes Haar. Kurz rieche ich Metall und höre das Zischen des roten Sprühnebels, als er sich, warm und feucht, in meiner dunklen, kalte Garage über mich ergoss.
»wenn es stimmt, was in den Nachrichten kam, war der Hund bei ihnen in der Garage, als es passierte. wie geht es ihm?«, höre ich die Direktorin sagen, während ich meine Hände betrachte. Meine sauberen Hände mit den praktischen, unlackierten, kurzen Nägeln. ich hole tief Luft und konzentriere mich auf die Gerüche im raum. Kein metallischer Blutgeruch. nur ein Hauch von Tara Grimms Parfüm. estée Lauder. Youth-Dew.
»Sock schlägt sich wacker.« wieder sehe ich sie an und frage mich, ob mir wohl etwas entgangen ist. wie sind wir auf das Thema gekommen, dass ich einen Windhund gerettet habe?
»also haben Sie ihn noch?« Sie mustert mich.
»Ja.«
»Das freut mich. er ist ein sehr lieber Hund. aber das sind sie alle. einfach reizende Tiere. ich weiß noch, dass Kathleen ihn nicht an jeden x-Beliebigen abgeben wollte. Sie hofft, dass sie ihn nach Haftende zurückbekommt.«
»und wann wird sie entlassen?«, erkundige ich mich.
»Dawn hat Sock aufgenommen, weil Kathleen ihn sonst niemandem anvertrauen wollte«, fährt Tara fort. »Sie ist sehr tierlieb, das muss ich ihr lassen. ich weiß, dass all das Hinweise auf eine Verbindung zwischen Kathleen und Dawn sind, die Sie stutzig machen sollten, auch wenn Kathleen das abstreiten wird. Seit ich diese Strafanstalt leite, war Dawn ziemlich häufig hier zu Besuch. Sie hat ihre Mutter drei- bis viermal pro Jahr gesehen und Geld auf ihr Einkaufskonto eingezahlt. natürlich ist damit jetzt Schluss, obwohl es die beiden nicht daran hindert, weiter Kontakt zu halten. es gibt schließlich Briefwechsel zwischen Häftlingen. aber das wissen Sie ja wahrscheinlich.« »nein, das war mir nicht bekannt.«
»Seit Dawn in Schwierigkeiten steckt, leugnet Kathleen standhaft jeden Kontakt. Sie möchte nicht mit Dawn in Verbindung gebracht werden, insbesondere nicht, weil sie hofft, dass jemand in der Lage wäre, ihr zu helfen. Sie zum Beispiel. oder ein berühmter Anwalt. Kathleen wird immer das sagen, was das Gegenüber ihrer Ansicht nach hören will. und sie spekuliert darauf, nach Haftende den Hund wiederzubekommen. «
»was meinen Sie mit ›nach Haftende‹?«, frage ich.
»ihnen ist doch bekannt, dass sich heutzutage jeder auf einen Justizirrtum beruft«, erwidert sie.
»Mir war gar nicht klar, dass Kathleen Lawler darauf hinauswill. «
»aber sie wird Sock nicht zurückbekommen, falls er kein Methusalem unter den Hunden wird«, entgegnet Tara Grimm, als wolle sie persönlich dafür sorgen. »ich bin froh, dass Sie ihn behalten wollen. es wäre schrecklich, wenn eines der geretteten Tiere, die wir hier ausbilden, wieder in die falschen Hände geriete.«
»ich versichere ihnen, dass Sock ein gutes Zuhause gefunden hat.« noch nie hatte ich ein so anhängliches Haustier, das mir überallhin folgt wie ein liebesbedürftiger Schatten.
»Die meisten unserer Windhunde kommen wie Sock von einer Rennbahn in Birmingham«, erklärt sie. »Sie werden aus Altersgründen ausgemustert, und wir nehmen sie auf, damit man sie nicht einschläfert. es ist gut, die Insassinnen daran zu erinnern, dass das Leben ein Gottesgeschenk ist und nicht ein von Gott verliehenes recht. es wird einem gegeben und kann wieder genommen werden. als Sie Sock fanden, wussten Sie vermutlich nicht, dass er Dawn Kincaid gehörte.«
»er saß mitten im Winter in einem Hinterzimmer eines unbeheizten Hauses in Salem, und zwar ohne Futter.« Sie kann mich verhören, so viel sie will, viel wird sie von mir nicht erfahren. »ich habe ihn mitgenommen, um mir eine Lösung für ihn zu überlegen.«
»und dann erschien Dawn, um ihn sich zurückzuholen«, ergänzt die Direktorin. »Sie kam noch am selben Abend wegen ihres Hundes zu ihnen.«
»interessant, dass Sie die Geschichte so verstanden haben«, antworte ich und frage mich, woher sie nur diese absurde Idee hat.
»tja, was Sie von Kathleen wollen, ist mir rätselhaft«, spricht sie weiter. »ich glaube nicht, dass es in ihrer Situation ein kluger Schritt ist. Das habe ich auch zu Mr. Brazzo gesagt, aber natürlich hat er nicht weiter ausgeführt, warum Sie Kathleen sehen möchten. oder warum Sie so nett zu ihr waren.«
ich habe keine Ahnung, wovon sie redet.
»ich werde kein Blatt vor den Mund nehmen«, fährt die Direktorin fort. »Zu gewissen Tageszeiten dürfen Insassinnen mit E-Mail-erlaubnis den computerraum benutzen. alles, was sie ihren Brieffreunden schicken oder von ihnen empfangen, läuft über den Server unserer Anstalt, der überwacht wird und mit Filtern ausgestattet ist. Deshalb weiß ich, was sie ihnen in den letzten Monaten geschrieben hat.«
»Dann müssten Sie eigentlich auch wissen, dass ich nie geantwortet habe.«
»ich bin über alle Mitteilungen im Bilde, die die Insassinnen verschicken oder von draußen erhalten, seien es nun E-Mails oder mit der Post versandte Briefe.« Sie macht eine bedeutungsvolle Pause. »ich kann mir denken, worauf Sie aus sind und warum Sie sich Kathleen gegenüber so freundlich und zugänglich verhalten. Sie wollen Informationen. allerdings sollten Sie sich fragen, wer wirklich hinter Kathleens Einladung steckt und was diese Person im Schilde führt. Mr. Brazzo hat ihnen sicher erklärt, welche Schwierigkeiten
sie hatte.«
»ich würde es lieber aus ihrem Munde hören.«
»Kinderschänder waren im Gefängnis noch nie sehr beliebt «, erwidert Tara Grimm langsam und mit abgeschwächtem, aber noch immer gedehntem Akzent. »Kathleen hat lange bevor ich hier anfing ihre Strafe dafür verbüßt. Doch schon nach ihrer ersten Entlassung hatte sie nur noch Ärger. Seitdem hat sie insgesamt sechs Haftstrafen abgesessen, alle hier im GPFw, weil sie, wenn sie draußen ist, offenbar nie weiter kommt als bis nach Atlanta. es waren immer Drogendelikte, mit Ausnahme der letzten Verurteilung. Sie hat einen Jugendlichen getötet, der das Pech hatte, mit seinem Motorroller eine Kreuzung zu überqueren, als Kathleen ein Stoppschild ignoriert hat. Dafür hat sie zwanzig Jahre bekommen, von denen sie fünfundachtzig Prozent absitzen muss, bis sie für eine Aussetzung zur Bewährung in Frage kommt. Falls sich niemand für sie verwendet, wird sie wohl den Rest ihres Lebens hier verbringen.«
»und wer sollte sich für sie verwenden?«
»Kennen Sie Carter Roberts persönlich? Den Anwalt aus Atlanta, der ihren Anwalt angerufen hat, um Sie hierher einzuladen? «
»nein.«
»ich glaube, die anderen Gefangenen haben erst von Kathleens früherer Verurteilung wegen Kindesmissbrauchs erfahren, als die Medien über ihre Fälle in Massachusetts berichtet haben«, sagt sie.
wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, ist Kathleen Lawlers Name nie in den Nachrichten gefallen. Mir hat man ihre Verlegung in Haus Bravo damit erklärt, die anderen Insassinnen hätten sich von ihr provoziert gefühlt.
»und daraufhin haben einige beschlossen, ihr wegen der Sache, die sie ihrem ermordeten Kollegen in seiner Kindheit angetan hat, eine Lektion zu erteilen«, fügt Tara hinzu.
ich bin ziemlich sicher, dass Kathleen Lawlers verbotene Beziehung mit Jack Fielding in den Nachrichten nicht erwähnt wurde. Das müsste ich schließlich wissen. leonard Brazzo hat es auch nicht angesprochen. ich glaube, dass Tara lügt.
»und dazu noch der Junge, den sie unter Alkoholeinfluss totgefahren hat. Viele Frauen hier sind Mütter, Dr. Scarpetta. oder Großmütter. Sogar ein paar Urgroßmütter sind dabei. Die meisten Insassinnen haben Kinder. wer einem Kind Leid zugefügt hat, hat hier nichts zu lachen«, spricht sie langsam weiter. ihre ruhige Stimme ist hart wie Metall. »Mir sind Gerüchte von einem geplanten Anschlag zu Ohren gekommen. Deshalb habe ich Kathleen zu ihrem eigenen Schutz in Haus Bravo verlegt, wo sie bleiben wird, bis ich den Eindruck habe, dass die Gefahr gebannt ist.«
»Mich würde interessieren, was genau die Nachrichten gebracht haben«, versuche ich, ihr Details zu entlocken, obwohl ich sicher bin, dass alles frei erfunden ist. »offenbar habe ich die Sendung, um die es geht, nicht gesehen. ich kann mich nicht entsinnen, dass im Zusammenhang mit den Fällen in Massachusetts Kathleens Name erwähnt worden wäre.«
»anscheinend hat eine der Insassinnen, oder vielleicht war es auch jemand vom wachpersonal, im Fernsehen einen Beitrag über Kathleens Vergangenheit mitgekriegt«, weicht Tara mir aus. »und darin hieß es, sie sei eine Sexualverbrecherin. es hat sich herumgesprochen wie ein Lauffeuer. im Gefängnis macht man sich damit unbeliebt. Kindesmissbrauch verzeiht einem hier niemand.«
»Kennen Sie diese Sendung auch?«
»nein.« Sie mustert mich argwöhnisch. »ich frage mich nur, ob es vielleicht noch einen anderen Grund gibt«, ergänze ich.
»Das glauben Sie.« offenbar ist das nicht als Frage gemeint.
»Man hat sich vor zwei Wochen mit mir, oder genauer mit Leonard Brazzo, wegen dieser Sache in Verbindung gesetzt«, merke ich an. »und zwar etwa um dieselbe Zeit, als Kathleen in Einzelhaft verlegt wurde und den E-Mail-Zugang verlor. also müsste sich das Gerücht ab dem Moment verbreitet haben, als ich gebeten wurde, mich mit ihr zu treffen. Käme das ungefähr hin?«
Sie sieht mich unverwandt an. ihrem Blick ist nichts zu entnehmen.
»ich bin nicht so sicher, ob es diese Nachrichtensendung tatsächlich gegeben hat«, beschließe ich, den Stier bei den Hörnern zu packen.
3
Die Mordserie begann vor etwa acht Monaten im Nordosten von Massachusetts. Der erste tote war ein bekannter Football- Spieler einer college-Mannschaft, dessen verstümmelte Leiche im Hafenbecken von Boston unweit des Stützpunkts der Küstenwache gefunden wurde.
Drei Monate später wurde ein kleiner Junge in Salem in seinem eigenen Garten getötet. Man ging davon aus, dass er Opfer eines satanistischen Rituals geworden war, da ihm Nägel in seinen Kopf getrieben worden waren. Der nächste ermordete, Student am Mit, wurde in einem Park in Cambridge mit einem Injektionsmesser erstochen. und zu guter Letzt erschoss jemand meinen Stellvertreter Jack Fielding mit seiner eigenen Waffe. uns sollte weisgemacht werden, Jack habe die Morde verübt und sich schließlich selbst gerichtet. in Wahrheit jedoch ist seine leibliche Tochter die Täterin, und sie wäre wohl ungeschoren davongekommen, wäre ihr Mordanschlag auf mich geglückt.
»Die Medien haben zwar viel über Dawn Kincaid berichtet «, fahre ich fort, damit Tara Grimm begreift, worauf ich hinauswill. »Doch über Kathleen und ihre Vergangenheit ist mir nichts zu Ohren gekommen. auch das, was Jack in seiner Kindheit zugestoßen ist, wurde in den Nachrichten nicht erwähnt. nicht, soweit mir bekannt ist.«
»wir können uns nicht völlig gegen Einflüsse von außen abschotten«, flüchtet sich Tara in geheimnisvolle Andeutungen. »angehörige kommen und gehen. Anwälte ebenso. Manchmal sind es auch einflussreiche Leute mit zuweilen dubiosen Motiven, die etwas auslösen und damit eine Insassin in Schwierigkeiten bringen. und ehe sie sich versieht, verliert sie ihre wenigen Vergünstigungen oder sogar noch mehr. ich kann ihnen gar nicht sagen, wie oft diese liberalen Gutmenschen glauben, etwas gegen die Zustände hier unternehmen zu müssen. aber sie verursachen damit nur jede Menge Probleme und bringen andere in Gefahr. Vielleicht sollten Sie sich einmal fragen, warum jemand eigens aus New York hierherkommt und sich in alles einmischt.«
ich stehe von dem Stuhl auf, der so hart und starr ist wie die Gefängnisdirektorin, auf deren Anweisung er angefertigt wurde. Durch die offenen Fensterläden sehe ich Frauen in grauer Gefängniskleidung, die Blumenbeete jäten, Graskanten entlang der Wege und Zäune stutzen und Windhunde spazieren führen. Der Himmel wirkt inzwischen aufgewühlt und ist bleigrau. »wer war denn aus New York hier?«, frage ich die Direktorin. wovon redet sie?
»Jaime Berger. Sie beide sind doch befreundet.« Sie erhebt sich hinter ihrem Schreibtisch.
Diesen Namen habe ich seit Monaten nicht mehr gehört. er löst schmerzliche und unangenehme Erinnerungen in mir aus.
»Sie steckt in laufenden Ermittlungen. ich kenne keine Einzelheiten, und das sollte ich auch nicht«, spricht sie weiter über die bekannte Leiterin der Abteilung für Sexualdelikte bei der Staatsanwaltschaft von Manhattan. »Sie hat große Pläne und besteht darauf, dass nichts an die Medien oder sonst jemanden durchsickern darf. Deshalb hatte ich Hemmungen, ihrem Anwalt davon zu erzählen. allerdings dachte ich mir, dass Sie ohnehin über Jaime Bergers Interesse an unserer Anstalt im Bilde sind.«
»ich weiß nichts von laufenden Ermittlungen und tappe genauso im Dunkeln wie Sie«, entgegne ich mit unbewegter Miene. »offenbar sagen Sie die Wahrheit«, stellt sie mit einem Anflug von trotz und Ablehnung im Blick fest. »es scheint, als hätte ich ihnen gerade völlig neue Informationen gegeben, und das ist gut so. es wäre mir nämlich gar nicht recht, wenn ihr Besuch bei Kathleen nur ein Vorwand wäre, um zu verschleiern, dass es ihnen um eine andere Person geht, für die ich hier verantwortlich bin. und dass Sie in Wahrheit im Auftrag von Jaime Berger handeln.«
»ich habe nichts mit ihren Ermittlungen zu tun.«
»Vielleicht doch, ohne es zu ahnen.«
»ich kann mir keinen Zusammenhang zwischen meinem Besuch bei Kathleen Lawler und Jaimes Projekt vorstellen.«
»Sicher ist ihnen bekannt, dass Lola Daggette zu uns gehört «, sagt Tara. es ist eine seltsame Art, das auszudrücken, so als wäre die berüchtigtste Insassin des GPFw etwas, worauf man stolz sein sollte wie auf einen geretteten Rennhund oder eine im Gewächshaus am ende der Straße gezüchtete seltene Pflanze.
»Dr. Clarence Jordan und seine Familie, 6. Januar 2002, hier in Savannah«, fährt sie fort. »ein Einbruch mitten in der Nacht, nur dass raub nicht das Motiv war. anscheinend ging es nur um Mord um des Mordens willen. Die Familie wurde in ihren Betten erstochen und zerstückelt. einzige Ausnahme war das kleine Mädchen, einer der Zwillinge. Sie wurde die Treppe hinunter verfolgt und hat es bis zur Eingangstür geschafft.«
ich erinnere mich an den Vortrag, den Dr. Colin Dengate, der Leiter der Rechtsmedizin von Savannah, bei einer Tagung des amerikanischen Rechtsmedizinerverbands gehalten hat. Über die wahren Vorgänge in der Villa der Opfer und die Frage, wie die Täterin sich überhaupt Zutritt zum Haus verschaffen konnte, wurde viel spekuliert. wenn ich mich recht entsinne, hat sie sich sogar ein Brot gemacht, ein Bier getrunken und die Toilette benutzt, ohne abzuziehen. Damals lautete die allgemeine Auffassung, dass der Tatort mehr Fragen aufwarf, als er beantwortete, denn die Indizien schienen einander zu widersprechen.
»Lola Daggette wurde dabei ertappt, wie sie ihre blutige Kleidung wusch, und verstrickte sich dann in ihre Lügen«, erklärt Tara. »eine Süchtige, die ihre Aggressionen nicht im Griff hatte. Sie hatte eine lange Drogenkarriere hinter sich und war schon öfter mit dem Gesetz in Konflikt geraten.«
»ich glaube, es gab da eine Theorie, dass mehr als eine Person beteiligt gewesen sein könnten«, erwidere ich.
»Die Theorie hier bei uns lautet, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde und dass Lola in diesem Herbst Gelegenheit erhalten wird, sich vor Gott zu verantworten.«
»war da nicht DNA - oder waren es Fingerabdrücke? -, die nicht zugeordnet werden konnte?« allmählich fallen mir die Einzelheiten wieder ein. »und folglich auch mehrere Täter denkbar wären.«
»Das war Lolas Verteidigungsstrategie, die einzig halbwegs plausible Begründung ihres Anwaltes dafür, wie das Blut der Opfer überall auf ihre Kleider geraten konnte, obwohl sie es angeblich nicht getan hat. er hat einen nicht vorhandenen Komplizen erfunden, damit Lola jemandem die Schuld in die Schuhe schieben konnte.« Tara Grimm begleitet mich hinaus auf den Flur. »Mir gefällt die Vorstellung gar nicht, dass Lola womöglich eines Tages wieder frei draußen herumläuft. und sie könnte Gelegenheit dazu erhalten, obwohl sie sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft hat. offenbar wurden neue kriminaltechnische Untersuchungen der Beweisstücke von damals angeordnet. irgendetwas mit der DNA.«
»wenn das stimmt, müssen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte begründete Zweifel haben.« ich schaue den Flur entlang zur Kontrollschleuse, wo sich einige Wachleute unterhalten. »Die Ermittlungsbehörden von Georgia, die Polizei, die Staatsanwaltschaft und das Gericht würden sicher nicht gestatten, dass Beweisstücke ohne triftigen Grund noch einmal getestet werden.«
»wahrscheinlich ist nicht auszuschließen, dass das Urteil aufgehoben wird. auch andere könnten wegen guter Führung frühzeitig freikommen. Das gäbe einen fröhlichen Massenexodus im GPFw.« Der Blick der Direktorin ist hart, und inzwischen zeigt sich unverhohlene Wut darin.
»es ist nicht Jaime Bergers Aufgabe, Leute aus dem Gefängnis zu holen«, entgegne ich.
»offenbar hat sie die Seiten gewechselt. ihre Stippvisiten in Haus Bravo waren bestimmt keine privaten Besuche.«
»wann genau war das? wann war sie hier?«
»Soweit mir bekannt ist, hat sie in Savannah eine Zweitwohnung, aber das ist nur Hörensagen«, tut sie die Information als Gerücht ab. allerdings bin ich sicher, dass mehr dahintersteckt.
wenn Jaime im GPFw war, um eine Todeskandidaten zu befragen, hat sie zuvor sicher genau die gleiche Prozedur durchlaufen wie ich jetzt. Sie musste zuerst ein Gespräch mit Tara Grimm führen. Private Besuche, im Plural also. eine Zweitwohnung, zu welchem Zweck? Das passt so gar nicht zu der New Yorker Staatsanwältin, die ich früher kannte.
»erst war sie hier, und jetzt kreuzen Sie auf«, fährt die Direktorin fort. »ich habe den Verdacht, dass Sie kein Mensch sind, der an Zufälle glaubt. ich gebe dem wachpersonal Bescheid, dass Sie das Foto mitnehmen und Kathleen geben dürfen.«
während sie in ihr Büro zurückkehrt, folge ich dem langen blauen Flur zur Kontrollschleuse, wo ein Justizvollzugsbeamter in grauer uniform und mit Baseballkappe mich auffordert, meine Taschen zu leeren und alles in ein Plastikkörbchen zu legen. ich reiche ihm Führerschein und Autoschlüssel und erkläre ihm, das Foto sei von der Direktorin genehmigt. Der Aufseher erwidert, er sei informiert, und ich könne es mitnehmen. Dann werde ich mit einem Scanner und mit der Hand abgetastet und bekomme einen Ausweis zum anklipsen, auf dem steht, dass ich offiziell Besucher Nummer 71 bin. auf meine rechte Hand stempelt man ein geheimes Codewort, das nur unter ultraviolettem Licht sichtbar sein wird, wenn ich später die Anstalt verlasse.
»Sie kommen zwar rein, aber ohne Stempel nicht wieder raus«, verkündet der Aufseher, und ich kann nicht feststellen, ob er freundlich, witzig oder etwas ganz anderes sein will.
auf seinem Namensschild steht M. P. Macon, und er fordert die Zentrale per Funk auf, das Tor zu öffnen. ein lautes elektronisches Summen ertönt, ein schweres grünes Metalltor gleitet auf und fällt hinter uns sofort wieder ins Schloss. Danach öffnet sich ein zweites, und ein Schild mit Besucherregeln weist mich in roten Buchstaben darauf hin, dass ich eine Einrichtung betrete, in der private Beziehungen zwischen Insassen und Mitarbeitern nicht gestattet sind. Der Fliesenboden ist frisch gebohnert, sodass meine Slipper kleben bleiben, als ich officer Macon einen grauen Flur hinunter folge. Hier sind alle Türen aus Metall und abgeschlossen, und in sämtlichen ecken sowie an den Kreuzungen zwischen zwei Korridoren hängen gewölbte Überwachungsspiegel.
Mein Begleiter ist kräftig gebaut und strahlt eine Wachsamkeit aus, als befände er sich im Krieg. Ständig blicken seine braunen Augen in alle Richtungen, als wir eine Tür erreichen, die man nur per Fernbedienung öffnen kann. wir treten hinaus auf den Hof und in die Hitze. niedrig hängende Wolkenfetzen rasen über uns hinweg, als wollten sie einer herannahenden Gefahr entfliehen. in der Ferne zucken Blitze, Donner grollt, und die ersten Regentropfen hinterlassen beim Auftreffen auf dem Beton Flecken mit dem Durchmesser eines Vierteldollars. ich rieche Ozon und frisch gemähtes Gras. Der regen durchweicht mein dünnes Baumwollhemd, als wir weiterhasten.
»ich habe gedacht, dass es sich noch eine Weile hält.« Officer Macon schaut in den dunklen, aufgewühlten Himmel hinauf, der jeden Moment seine Schleusen öffnen wird. »um diese Jahreszeit passiert das jeden Tag. Morgens scheint die Sonne, der Himmel ist blau, und es sieht nach einem wunderschönen tag aus. und dann, normalerweise so gegen vier oder fünf Uhr nachmittags, kriegen wir dann ein fürchterliches Gewitter. wenigstens reinigt es die Luft. Heute Abend wird es angenehm kühl sein. Zumindest für diese Jahreszeit in unserer Gegend. im Juli oder August will man nichts wie weg hier.«
»ich habe früher in Charleston gewohnt.«
»Dann kennen Sie das ja. wenn ich im Sommer Urlaub nehmen könnte, würde ich dorthin fahren, wo Sie gerade herkommen. Sicher ist es in Boston zehn Grad kühler«, fügt er hinzu. es gefällt mir gar nicht, dass er weiß, von wo aus ich heute Morgen losgeflogen bin.
allerdings liegt dieser Schluss, wie ich mir vor Augen halte, ziemlich nah. Jeder, der möchte, kann herausfinden, dass ich in Cambridge arbeite, und Logan, der nächste Flughafen, gehört nun einmal zu Boston. Officer Macon schließt ein Tor auf und führt mich einen weg entlang, der auf beiden Seiten von hohen, mit NATO Draht gekrönten Zäunen gesäumt wird. Haus Bravo unterscheidet sich äußerlich nicht von den anderen Unterkünften, doch als die Eingangstür mit einem Klicken aufgeht und wir eintreten, spüre ich, dass hier elend und Beklemmung herrschen. Die grauen Betonsteine, der grau lackierte Boden und der dicke grüne Stahl scheinen diese Atmosphäre buchstäblich auszudünsten. Der mit einem Einwegspiegel verglaste Kontrollraum befindet sich gleich gegenüber dem Eingang. außerdem gibt es hier noch einen wäscheraum, eine Eismaschine, eine Küche und einen Kummerkasten.
ich frage mich, ob Jaime Berger bei ihrem Besuch wirklich hier war. worüber hat sie wohl mit Lola Daggette gesprochen? Hatte es etwas damit zu tun, dass Kathleen Lawler in Einzelhaft verlegt wurde? und besteht eine Verbindung zu mir? außerdem passt es gar nicht zu Jaime, irgendwohin zu gehen und jemanden absichtlich in Schwierigkeiten zu bringen. es ist unvorstellbar für mich, dass sie ein Gerücht über Kathleen Lawlers Vergangenheit in Umlauf gebracht haben könnte, das zu Feindseligkeiten seitens der anderen Gefangenen geführt hat. Jaime ist intelligent, taktisch klug und ausgesprochen vorsichtig. Manchmal übertreibt sie es sogar damit. Zumindest war das früher so. Da ich sie seit einem halben Jahr nicht gesehen habe, habe ich keine Ahnung, was sich in ihrem Leben tut. Meine Nichte Lucy spricht nicht über sie und das, was geschehen ist, und ich bohre nicht nach.
Officer Macon schließt einen kleinen Raum mit großen Fenstern aus bruchsicherem Glas zu beiden Seiten der Tür auf. er ist mit einem weißen resopaltisch und zwei blauen Plastikstühlen möbliert.
»warten Sie hier. ich hole Miss Lawler«, sagt er. »aber ich muss Sie warnen. Sie ist sehr redselig.«
»ich bin eine ziemlich gute Zuhörerin.«
»Die Gefangenen lieben Aufmerksamkeit.«
»Hat sie denn oft Besuch?«
»Das würde ihr so gefallen. Publikum rund um die Uhr. Doch das ist bei fast allen so.« er hat meine Frage nicht beantwortet.
»Spielt es eine Rolle, wo ich mich hinsetze?«
»nein, Ma'am«, erwidert er. wenn es in einem Vernehmungszimmer eine versteckte Kamera gibt, hängt sie normalerweise der Zielperson, also in diesem Fall der Gefangenen, nicht mir, diagonal gegenüber. Hier gibt es keine Kamera, da bin ich ziemlich sicher. ich setze mich und halte Ausschau nach Überwachungsmikrofonen. als ich die Decke direkt über dem Tisch betrachte, entdecke ich die Metalldüse der Sprinkleranlage und daneben ein winziges loch mit einer weißen Fassung. Mein Gespräch mit Kathleen Lawler wird also aufgenommen werden. Tara Grimm und vielleicht auch noch andere werden mich belauschen.
4
Seit Kathleen Lawler in Einzelhaft verlegt wurde, ist sie dreiundzwanzig Stunden am tag in eine Zelle von der Größe eines Werkzeug Schuppens eingesperrt. Die mit Maschendraht gesicherten Fenster bieten Aussicht auf Gras und einen Stahlzaun. Die Picknicktische aus Beton und die Blumenbeete, die sie mir in ihren E-Mails beschrieben hat, kann sie nicht mehr sehen. auch auf ihre Mitgefangenen und die geretteten Hunde kann sie nur noch ab und zu einen Blick erhaschen.
während der einen Stunde Hofgang schreitet sie »langweilige, gleichförmige Vierecke« in einem kleinen, vergitterten Bereich ab. Dabei wird sie von einem Aufseher bewacht, der auf einem Stuhl neben einer leuchtend gelben Kühlbox mit vierzig Liter Fassungsvermögen sitzt. wenn Kathleen einen Schluck Wasser möchte, wird ihr ein kleiner Pappbecher durch die Gitterstäbe gereicht. Sie sagt, sie habe vergessen, wie es ist, von einem anderen Menschen berührt zu werden, Finger auf ihrer Haut oder eine Umarmung zu spüren. Das äußert sie so theatralisch, als hätte sie den Großteil ihres Lebens in Haus Bravo verbracht, nicht nur zwei Wochen. Die Einzelhaft zu ihrem eigenen Schutz ist eine neue Situation, die sie mit einsitzen im Tode strakt vergleicht.
Sie erklärt, dass sie keinen Zugang zu E-Mails und auch keinen Kontakt zu ihren Mitgefangenen mehr hat, außer sie rufen von Zelle zu Zelle oder schieben heimlich gefaltete Zettel, sogenannte Kassiber, unter den Zellentüren durch, eine Methode, die Gerissenheit und Geschicklichkeit voraussetzt. Zwar darf sie jeden Tag eine begrenzte Anzahl von Briefen
© Goldmann, 2013
... weniger
Autoren-Porträt von Patricia Cornwell
Patricia Cornwell, 1956 in Miami, Florida, geboren, arbeitete als Polizeireporterin und in der Rechtsmedizin, bevor sie mit ihren bahnbrechenden Thrillern um die Gerichtsmedizinerin Dr. Kay Scarpetta begann. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin war sie Leiterin der Abteilung für Angewandte Forensik an der National Forensic Academy der University of Tennessee. Patricia Cornwells Bücher wurden mit allen renommierten Preisen ausgezeichnet und erobern regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten. Zuletzt erschienen die Kay-Scarpetta-Romane "Bastard" und "Blut". "Knochenbett" ist der zwanzigste Scarpetta-Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Patricia Cornwell
- 2013, 480 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Dufner, Karin
- Übersetzer: Karin Dufner
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442475791
- ISBN-13: 9783442475797
- Erscheinungsdatum: 18.11.2013
Kommentare zu "Blut / Kay Scarpetta Bd.19"
0 Gebrauchte Artikel zu „Blut / Kay Scarpetta Bd.19“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
5 von 5 Sternen
5 Sterne 2Schreiben Sie einen Kommentar zu "Blut / Kay Scarpetta Bd.19".
Kommentar verfassen