Der Kaschmirschal
Roman
Im Nachlass ihres Großvaters findet Mair Ellis einen kostbaren Schal aus feinster Seide. Da sie weiß, dass ihre Großeltern einst als Missionare in Indien gelebt haben, reist sie nach Kaschmir, um dort nach Spuren ihrer Familie zu suchen....
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Kaschmirschal “
Im Nachlass ihres Großvaters findet Mair Ellis einen kostbaren Schal aus feinster Seide. Da sie weiß, dass ihre Großeltern einst als Missionare in Indien gelebt haben, reist sie nach Kaschmir, um dort nach Spuren ihrer Familie zu suchen. Eine Reise, die ihr Leben komplett verändern wird.
Klappentext zu „Der Kaschmirschal “
Als Mair Ellis den Nachlass ihres verstorbenen Vaters ordnet, findet sie einen kostbaren Schal. Er ist aus feinster Seide, bestickt mit den Farben von Wasser, Bergen und Himmel. Mair weiß, dass ihre Großeltern einst als Missionare in Indien gelebt haben. Sie macht sich auf die Suche nach den Spuren ihrer Familie in Kaschmir - eine Reise, die ihr Leben komplett verändern wird.
Lese-Probe zu „Der Kaschmirschal “
Der Kaschmirschal von Rosie Thomas1
Die Entdeckung machte Mair an ihrem letzten Tag daheim im alten Haus.
Alle drei waren sie oben in der Schlafstube ihres Vaters. Ehe man das Haus zum letzten Mal absperrte und dem Makler die Schlüssel übergab, hatte man sich zum melancholischen Geschäft des Aussortierens und Ausräumens der Möbel und Besitztümer der Eltern eingefunden. Es war Ende Mai, gerade erst waren die Lämmer auf den Markt gebracht worden. Draußen auf den Hügeln blökten die Schafe wild und laut - bestürzte, unablässige Schreie, die mit dem Duft des Frühlingsgrases hereingetragen wurden.
Mair hatte eine Kanne Tee aufgebrüht und ein Tablett vorbereitet, das sie zu ihrer Schwester Eirlys hinauftragen wollte. Ihr Bruder Dylan folgte ihr und duckte sich, wie seit seinem dreizehnten Jahr, um sich am niedrigen Balken des Treppenabsatzes nicht den Kopf anzustoßen.
Eirlys' Energie war verblüffend, wie immer. Auf dem Schlafzimmerfußboden stapelten sich - in rechtwinkliger Ausrichtung
- Decken und Kissen, Türme von beschrifteten Kartons und knisternde schwarze Säcke. Sie selbst stand, das Klemmbrett auf dem Bettpfosten abgestützt, am Fußende des Betts und runzelte die Stirn, während sie sich irgendwelche Anmerkungen auf eine ihrer Listen kritzelte. Hätte man sich noch einen weißen Kittel und ein Gefolge von Untergebenen dazugedacht, hätte sie sich auch ohne weiteres auf einer ihrer Stationsrunden befinden können.
»Wunderbar«, murmelte sie, als sie den Tee sah. »Aber nicht dort abstellen«, fügte sie hinzu.
... mehr
Dylan nahm sich eine Tasse und zwängte sich auf das Fensterbrett. Er stand ihr im Licht, und Eirlys zog die Braue hoch. »Trink deinen Tee«, meinte er milde. »Und gönn dir auch 'nen Keks.«
Mair setzte sich aufs Bett. Die uralte rosa Heizdecke lag noch immer darauf, und sie dachte zurück an die letzten Wochen ihres Vaters, seine letzte Krankheit, als sie ins Tal zurückgekehrt war, um ihn, so gut sie eben konnte, zu pflegen und ihm Gesellschaft zu leisten. Sie hatten lange, zuweilen auch unzusammenhängende Gespräche geführt - über die Vergangenheit und Menschen, die ihr Vater gekannt hatte.
»Habe ich dir eigentlich je von Billy Jones, dem Auktionator, erzählt?«
»Ich glaube nicht.«
»Er hat gestottert.«
»Wie kam er denn damit zurecht?«
Ihr Vater betrachtete sie über seine Brille hinweg. »Wir hatten's damals nicht so eilig, weißt du.«
In dem niedrigen Raum war ihr der alte Mann sehr nahe vorgekommen, doch gleichzeitig völlig abwesend.
Eirlys erklärte ihnen, welche Pakete bei Wohlfahrtseinrichtungen abzugeben seien und was genau man dem Räumungsunter- nehmen überlassen konnte. Zweifel gab es hinsichtlich der Leinenwäsche, die so lang sie denken konnten im selben Schrank aufbewahrt worden war und - wahrscheinlich gemäß eines lang zurückliegenden Erlasses ihrer Mutter - mysteriöserweise als »beste« aufgespart wurde. Doch als die Schwestern das oberste Laken auseinanderfalteten, sahen sie, dass es in der Mitte so dünn und zerschlissen war, dass das Licht hindurchschien. Eirlys schürzte die Lippen und entsorgte es resolut zusammen mit seinem Gegenstück in einem ihrer nach Größen gestaffelten Müll- säcke.
Die Sonne fiel schräg durchs Fenster und tauchte Dylans Pullover in eine goldene Fussel-Aura.
Mair hielt es nicht mehr aus, rumzusitzen und sich mit den beiden anderen von der Welle der Erinnerungen überfluten zu lassen. Sie sprang auf und trat an die geschwungene Kommode, die dem Bett vis-à-vis stand. Ihre Mutter hatte sie von ihrer eigenen Mutter geerbt - meinte sie gehört zu haben. Nach Gwen Ellis' Tod hatte man ihre Kleider darin aufbewahrt, bis der Witwer und die ältere Tochter sich genügend gefangen hatten und sie dann weggaben.
Die oberen beiden Halbschubladen waren leer. Sogar das Auslegepapier hatte Eirlys entfernt. Die mittlere hatte noch bis vor Kurzem die Westen, Hosen und gefalteten Hemden ihres Vaters beherbergt. Als er schwächer wurde, hatte Mair ihm morgens beim Ankleiden geholfen. Sie hatte ihm seine Unterwäsche vor den Elektrostrahler gehalten, ehe sie sie ihm reichte - in der vergeblichen Hoffnung, davon werde ihm vielleicht etwas wärmer. Ein Haufen dieser Sachen lag nun auf dem Boden.
»Wir werden all seine Sachen in den Recycling-Sack packen müssen.« Eirlys nickte. »Für etwas anders sind sie nicht mehr zu gebrauchen.«
Mair zog die untere Schublade auf. Sie entdeckte einige vergilbte Kopfkissenbezüge und die Tischdecke mit dem durchbrochenen Mittelteil, die unweigerlich einmal im Jahr hervorgeholt und über die weihnachtliche Speisetafel gebreitet wurde. Der weiße Stoff wies stellenweise Rostflecken auf. Als sie noch ein Stück weiter nach unten tastete, stießen ihre Finger auf Seidenpapier. Sie nahm das Tischtuch heraus, um zu sehen, was sich darunter befand.
Das Seidenpapier war sehr alt und brüchig.
Als sie es zurückschlug, war ihr erster Eindruck der wundervoller Farben. Silbrige Blau- und Grüntöne, wie aus dem Wasser eines Sees und Frühlingshimmeln destilliert, sprangen ihr ins Auge, aus deren Tiefen die Strahlenkränze lavendel- und zinnoberfarbener Blüten leuchteten. Sie schaute genauer hin und sah die Kompliziertheit des Webmusters; prächtige geschwungene Tränenformen mit gekurvten Spitzen, farnartige Wedel, verzweigte Stiele und winzige fünfblättrige Blüten. Das jämmerliche Geblöke der Schafe war der einzig hörbare Laut im Raum, während Mair die Lagen des weichen Wollgewebes aufschüttelte. Es war so leicht, dass es in der Luft zu schweben schien.
Der Schal war wirklich wunderbar, und sie hatte ihn noch nie zu Gesicht bekommen.
Ein Kuvert war aus den Schalfalten geglitten. Ein altes braunes, ganz gewöhnliches Kuvert, in der Mitte gefaltet, und der Kleber auf der Lasche war längst ausgetrocknet. Vorsichtig versuchte Mair es zu öffnen. Darin befand sich eine Haarsträhne. Eine sehr feine und seidige dunkelbraune Locke, in der einige kupferne Fäden schimmerten. Sie nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger.
(Text) (Text) »Das ist Grandma Watkins' Schal«, erklärte Eirlys in ihrer bestimmten Art.
»Wie schön er ist«, flüsterte Mair.
Eirlys war die einzige der drei, die die Mutter ihrer Mutter noch gekannt hatte, doch auch Eirlys besaß keine echte Erinnerung an die Großmutter, da diese bereits starb, als Eirlys noch in den Windeln lag. Nur eines wussten sie über sie: Dass sie mit ihrem sehr viel älteren Ehemann, einem Missionar, in Indien gewesen war. Die Großeltern waren schließlich nach Wales zurückgekehrt und bekamen - als Nerys bereits in ihren Vierzigern war - ihr einziges Kind. Und diese Tochter, Gwen, hatte mit nur neunzehn Jahren einen Nachbarn aus dem Tal geheiratet, den hübschen Huw Ellis. Den eigenen drei Kindern hatte sie stets erzählt, sie habe nicht gewollt, dass sie wie sie selbst bei so alten Eltern aufwüchsen.
»Wessen Locke das wohl mal war?«, fragte Mair.
»Keine Ahnung«, meinte Eirlys.
Mair grübelte. Grandma Watkins hätte ja wohl kaum das eigene Haar aufgehoben, oder? War es dann womöglich das ihres Mannes oder vielleicht eher das ihres Kindes?
Nein. Das war nicht das Haar eines älteren Missionars, und es war auch nicht das von Gwen, dessen war sie sich ziemlich sicher
- Gwens Haar war ganz anders gewesen, viel heller. Doch wessen Haar war es dann? Die Frage faszinierte sie, auch wenn sie unbeantwortbar schien. Sie presste den Schal an die Wange. Der Stoff war so fein, dass sie ihn mit zwei Fäusten umschließen konnte. Zum ersten Mal sog sie seinen feinen Gewürzduft ein.
»Wir haben noch jede Menge zu tun«, meinte Eirlys und leerte ihre Tasse.
Nachdenklich schob Mair die Haarsträhne in den Umschlag zurück.
Später, als das meiste in Kartons und Kisten verstaut war, kamen die drei in der Küche zusammen. Die Hintertür stand offen, und mit der Brise trieben auch die Mücken herein. Das Geblöke der Schafe wurde lauter und klagender, während sich unmerklich die Dämmerung herabsenkte. Dylan hatte eine Flasche Wein geöffnet, und Mair improvisierte ein picknickartiges Abendessen aus kaltem gekochten Schinken und Ofenkartoffeln aus der Mikrowelle. Die hatte Dylan seinem Vater vor zwei Jahren besorgt, und Huw hatte sich damit regelmäßig seine Einpersonen-Fertiggerichte aus dem Supermarkt aufgewärmt, die, wie er immer erklärt hatte, sehr schmackhaft seien. Eirlys hatte nichts davon gehalten und darauf hingewiesen, dass Fertigmahlzeiten Unmengen von Fett und Salz enthielten.
Piingg machte das Gerät, und Mair nahm die Kartoffeln heraus. Sie sah ihren Vater vor sich, wie er zwinkerte und leise hä-hä-hä-ä machte.
Ohne jede Vorwarnung standen ihr plötzlich die Tränen in den Augen.
Alle wussten sie, dass dies ihr letzter gemeinsamer Abend in der alten Küche war. Mair wollte ihn keinesfalls noch trauriger machen, indem sie sich jetzt ihren Tränen hingab. Stattdessen lächelte sie sie an, erst Dylan, der - Hände in den Jeanstaschen - dahockte, dann Eirlys, die die Haare hinter die Ohren zurückgestrichen hatte und deren Augen hinter den Brillengläsern verräterisch schimmerten.
»Sollen wir nicht im anderen Zimmer essen?«, fragte Mair.
Der Tisch im Wohnzimmer eignete sich von der Größe her eher für drei Personen als der in die Küchenecke gezwängte Klapptisch, an dem die Erinnerung an ihren dort allein mit seiner Tasse Tee und der Zeitung sitzenden Vater allzu gegenwärtig war.
Das Hineintragen des Essens und die Suche nach den letzten noch nicht verpackten Bestecken half ihnen über den Moment hinweg. Dylan fand einige Kerzenstummel und Eirlys stellte sie auf eine Untertasse. Ihr Schein ließ den nackten Raum wieder einladend wirken und die Staubquadrate an den Stellen, wo einmal Gemälde gehangen hatten, verschwinden.
»Wir sollten uns über die guten Sachen unterhalten«, meinte Eirlys, als sie am Tisch Platz nahmen.
Einen Moment lang dachte Mair, sie meine die glücklichen Zeiten, die sie als Familie erlebt hatten, und diese so völlig uncharakteristische Sentimentalität verblüffte sie. Dann aber wurde ihr klar, dass ihre Schwester von den zwei, drei Möbelstücken und dem alten Silber sprach, den einzigen Dingen im Haus, die von wirklichem Wert waren. Seit der Verlesung des Testaments wussten sie, dass der Erlös aus dem Verkauf des Hauses zu gleichen Teilen zwischen ihnen aufgeteilt werden sollte. Über die kleineren Dinge hatten sie im Grunde bisher kein Wort verloren.
Da war etwa die Standuhr mit dem mit Sonne und Mond bemalten Ziffernblatt, deren sonores Ticken die langen Nachmittage ihrer Kindheit vermessen hatte. Huw hatte sie während der letzten Wochen einmal erwähnt und sie dabei als »Dylans Uhr« bezeichnet. Mair hatte absichtlich darüber hinweg gehört, weil sie nicht akzeptieren wollte, was dies bedeutete.
»Du nimmst die Uhr, Dylan«, meinte Eirlys. »Mair?«
Die anderen zwei waren verheiratet und hatten Häuser mit Dielen, Alkoven, Regalen. Mair war ledig und lebte glücklich und zufrieden in einer gemieteten Eineinhalbzimmerwohnung. Die geschwungene Kommode oder silberne Teekanne ihrer Mutter brauchte, ja wollte sie nicht einmal. Bei Eirlys würden die eine bessere Heimstatt finden. Sie legte Messer und Gabel nieder und räusperte sich.
»Ich hätte gern Großmutters Schal«, sagte sie. »Wenn das für euch in Ordnung geht?«
»Natürlich«, nickte Eirlys. »Ist es dir recht, Dylan?«
Er blickte zu Mair. Er hatte zu dieser Zeit ziemlich tiefe Falten um die Augenwinkel. Er und Eirlys waren beide kurzsichtig, und Dylan kniff gern die Augen zusammen, wenn er sich konzentrieren wollte.
Die Liebe zu ihrem Bruder, die ihr in diesem Moment bewusst wurde, umhüllte Mair wie eine Decke. Ihr ganzes Leben lang war er ihr Verbündeter gewesen, während sie und Eirlys sich als Kinder andauernd gezofft hatten, hauptsächlich wohl, weil sie in allem so gegensätzlich waren. Natürlich hatten sie das in letzter Zeit nicht mehr getan. Der Verlust ihres geliebten Vaters hatte sie rücksichtsvoll, ja geradezu behutsam werden lassen.
»Hast du eine Ahnung, woher er stammen könnte?«, fragte Dylan.
»Nein«, erwiderte sie. »Aber ich könnte versuchen, es rauszufinden. «
Die Idee war ihr erst in diesem Moment gekommen. Sie war überrascht über die Neugier, die der geheimnisvolle Schal in ihr weckte.
In jener Nacht gingen Mair und Eirlys zum letzten Mal in dem Zimmer zu Bett, das sie in der Kindheit geteilt hatten. Mair spürte, dass ihre Schwester wach lag, obwohl die sich nicht zwischen den feuchten Laken drehte und wand, wie Mair es tat. Schließlich flüsterte sie: »Eirlys, kannst du auch nicht schlafen?«
»Nein.«
»Woran denkst du?«
»Wahrscheinlich an das gleiche wie du. Sobald mal beide Eltern tot sind, ist man selbst dran, nicht? Steht in der Verantwortung, weil niemand mehr vor einem ist. Weißt du, was ich meine?«
Mair wurde von einer Welle des Mitgefühls übermannt. Immer hatte ihre Schwester Verantwortung übernommen. Sie war eine preisgekrönte Medizinstudentin gewesen, erst vor Kurzem in ihrer Birminghamer Klinik auf die Stelle einer Konsiliarärztin berufen worden und hatte dennoch Zeit gefunden, zu heiraten und zwei Jungen zur Welt zu bringen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie studiert und sich um andere Menschen gekümmert, und ihre Vorstellung von dieser letzten Lebensphase war eine von noch mehr Lasten, die sie würde schultern müssen.
Seit ich gehen und sprechen kann, dachte Mair, meide ich tunlichst den Weg, den meine Geschwister vor mir beschritten haben. Statt ihnen an eine gute Universität zu folgen, hatte sie Wales und ihr Elternhaus mit siebzehn verlassen und ein altes Versprechen erfüllt - das irgendwo zwischen Familienscherz und aufsässiger Drohung anzusiedeln war und darin bestand, dass sie abhauen und zum Zirkus gehen würde. Und in Floyd's Family Circus hatte sie dann Harriet Hayes alias Hattie der Clown kennengelernt. Gemeinsam entwickelten sie eine einfache Trapeznummer. Und obwohl die Zirkusabende inzwischen lange hinter ihnen lagen, waren sie auch im Anschluss daran enge Freundinnen geblieben. In den Jahren dazwischen war Mair mit wechselndem Erfolg, aber meistens doch einigermaßen zufrieden, als Geschäftsführerin eines Kleiderladens, Sängerin in einer Band, Rezeptionistin, PR-Frau, Kindergartenhelferin, Buchverkäuferin und mehreren anderen Berufen tätig gewesen.
Copyright © Ullstein Verlag.
Dylan nahm sich eine Tasse und zwängte sich auf das Fensterbrett. Er stand ihr im Licht, und Eirlys zog die Braue hoch. »Trink deinen Tee«, meinte er milde. »Und gönn dir auch 'nen Keks.«
Mair setzte sich aufs Bett. Die uralte rosa Heizdecke lag noch immer darauf, und sie dachte zurück an die letzten Wochen ihres Vaters, seine letzte Krankheit, als sie ins Tal zurückgekehrt war, um ihn, so gut sie eben konnte, zu pflegen und ihm Gesellschaft zu leisten. Sie hatten lange, zuweilen auch unzusammenhängende Gespräche geführt - über die Vergangenheit und Menschen, die ihr Vater gekannt hatte.
»Habe ich dir eigentlich je von Billy Jones, dem Auktionator, erzählt?«
»Ich glaube nicht.«
»Er hat gestottert.«
»Wie kam er denn damit zurecht?«
Ihr Vater betrachtete sie über seine Brille hinweg. »Wir hatten's damals nicht so eilig, weißt du.«
In dem niedrigen Raum war ihr der alte Mann sehr nahe vorgekommen, doch gleichzeitig völlig abwesend.
Eirlys erklärte ihnen, welche Pakete bei Wohlfahrtseinrichtungen abzugeben seien und was genau man dem Räumungsunter- nehmen überlassen konnte. Zweifel gab es hinsichtlich der Leinenwäsche, die so lang sie denken konnten im selben Schrank aufbewahrt worden war und - wahrscheinlich gemäß eines lang zurückliegenden Erlasses ihrer Mutter - mysteriöserweise als »beste« aufgespart wurde. Doch als die Schwestern das oberste Laken auseinanderfalteten, sahen sie, dass es in der Mitte so dünn und zerschlissen war, dass das Licht hindurchschien. Eirlys schürzte die Lippen und entsorgte es resolut zusammen mit seinem Gegenstück in einem ihrer nach Größen gestaffelten Müll- säcke.
Die Sonne fiel schräg durchs Fenster und tauchte Dylans Pullover in eine goldene Fussel-Aura.
Mair hielt es nicht mehr aus, rumzusitzen und sich mit den beiden anderen von der Welle der Erinnerungen überfluten zu lassen. Sie sprang auf und trat an die geschwungene Kommode, die dem Bett vis-à-vis stand. Ihre Mutter hatte sie von ihrer eigenen Mutter geerbt - meinte sie gehört zu haben. Nach Gwen Ellis' Tod hatte man ihre Kleider darin aufbewahrt, bis der Witwer und die ältere Tochter sich genügend gefangen hatten und sie dann weggaben.
Die oberen beiden Halbschubladen waren leer. Sogar das Auslegepapier hatte Eirlys entfernt. Die mittlere hatte noch bis vor Kurzem die Westen, Hosen und gefalteten Hemden ihres Vaters beherbergt. Als er schwächer wurde, hatte Mair ihm morgens beim Ankleiden geholfen. Sie hatte ihm seine Unterwäsche vor den Elektrostrahler gehalten, ehe sie sie ihm reichte - in der vergeblichen Hoffnung, davon werde ihm vielleicht etwas wärmer. Ein Haufen dieser Sachen lag nun auf dem Boden.
»Wir werden all seine Sachen in den Recycling-Sack packen müssen.« Eirlys nickte. »Für etwas anders sind sie nicht mehr zu gebrauchen.«
Mair zog die untere Schublade auf. Sie entdeckte einige vergilbte Kopfkissenbezüge und die Tischdecke mit dem durchbrochenen Mittelteil, die unweigerlich einmal im Jahr hervorgeholt und über die weihnachtliche Speisetafel gebreitet wurde. Der weiße Stoff wies stellenweise Rostflecken auf. Als sie noch ein Stück weiter nach unten tastete, stießen ihre Finger auf Seidenpapier. Sie nahm das Tischtuch heraus, um zu sehen, was sich darunter befand.
Das Seidenpapier war sehr alt und brüchig.
Als sie es zurückschlug, war ihr erster Eindruck der wundervoller Farben. Silbrige Blau- und Grüntöne, wie aus dem Wasser eines Sees und Frühlingshimmeln destilliert, sprangen ihr ins Auge, aus deren Tiefen die Strahlenkränze lavendel- und zinnoberfarbener Blüten leuchteten. Sie schaute genauer hin und sah die Kompliziertheit des Webmusters; prächtige geschwungene Tränenformen mit gekurvten Spitzen, farnartige Wedel, verzweigte Stiele und winzige fünfblättrige Blüten. Das jämmerliche Geblöke der Schafe war der einzig hörbare Laut im Raum, während Mair die Lagen des weichen Wollgewebes aufschüttelte. Es war so leicht, dass es in der Luft zu schweben schien.
Der Schal war wirklich wunderbar, und sie hatte ihn noch nie zu Gesicht bekommen.
Ein Kuvert war aus den Schalfalten geglitten. Ein altes braunes, ganz gewöhnliches Kuvert, in der Mitte gefaltet, und der Kleber auf der Lasche war längst ausgetrocknet. Vorsichtig versuchte Mair es zu öffnen. Darin befand sich eine Haarsträhne. Eine sehr feine und seidige dunkelbraune Locke, in der einige kupferne Fäden schimmerten. Sie nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger.
(Text) (Text) »Das ist Grandma Watkins' Schal«, erklärte Eirlys in ihrer bestimmten Art.
»Wie schön er ist«, flüsterte Mair.
Eirlys war die einzige der drei, die die Mutter ihrer Mutter noch gekannt hatte, doch auch Eirlys besaß keine echte Erinnerung an die Großmutter, da diese bereits starb, als Eirlys noch in den Windeln lag. Nur eines wussten sie über sie: Dass sie mit ihrem sehr viel älteren Ehemann, einem Missionar, in Indien gewesen war. Die Großeltern waren schließlich nach Wales zurückgekehrt und bekamen - als Nerys bereits in ihren Vierzigern war - ihr einziges Kind. Und diese Tochter, Gwen, hatte mit nur neunzehn Jahren einen Nachbarn aus dem Tal geheiratet, den hübschen Huw Ellis. Den eigenen drei Kindern hatte sie stets erzählt, sie habe nicht gewollt, dass sie wie sie selbst bei so alten Eltern aufwüchsen.
»Wessen Locke das wohl mal war?«, fragte Mair.
»Keine Ahnung«, meinte Eirlys.
Mair grübelte. Grandma Watkins hätte ja wohl kaum das eigene Haar aufgehoben, oder? War es dann womöglich das ihres Mannes oder vielleicht eher das ihres Kindes?
Nein. Das war nicht das Haar eines älteren Missionars, und es war auch nicht das von Gwen, dessen war sie sich ziemlich sicher
- Gwens Haar war ganz anders gewesen, viel heller. Doch wessen Haar war es dann? Die Frage faszinierte sie, auch wenn sie unbeantwortbar schien. Sie presste den Schal an die Wange. Der Stoff war so fein, dass sie ihn mit zwei Fäusten umschließen konnte. Zum ersten Mal sog sie seinen feinen Gewürzduft ein.
»Wir haben noch jede Menge zu tun«, meinte Eirlys und leerte ihre Tasse.
Nachdenklich schob Mair die Haarsträhne in den Umschlag zurück.
Später, als das meiste in Kartons und Kisten verstaut war, kamen die drei in der Küche zusammen. Die Hintertür stand offen, und mit der Brise trieben auch die Mücken herein. Das Geblöke der Schafe wurde lauter und klagender, während sich unmerklich die Dämmerung herabsenkte. Dylan hatte eine Flasche Wein geöffnet, und Mair improvisierte ein picknickartiges Abendessen aus kaltem gekochten Schinken und Ofenkartoffeln aus der Mikrowelle. Die hatte Dylan seinem Vater vor zwei Jahren besorgt, und Huw hatte sich damit regelmäßig seine Einpersonen-Fertiggerichte aus dem Supermarkt aufgewärmt, die, wie er immer erklärt hatte, sehr schmackhaft seien. Eirlys hatte nichts davon gehalten und darauf hingewiesen, dass Fertigmahlzeiten Unmengen von Fett und Salz enthielten.
Piingg machte das Gerät, und Mair nahm die Kartoffeln heraus. Sie sah ihren Vater vor sich, wie er zwinkerte und leise hä-hä-hä-ä machte.
Ohne jede Vorwarnung standen ihr plötzlich die Tränen in den Augen.
Alle wussten sie, dass dies ihr letzter gemeinsamer Abend in der alten Küche war. Mair wollte ihn keinesfalls noch trauriger machen, indem sie sich jetzt ihren Tränen hingab. Stattdessen lächelte sie sie an, erst Dylan, der - Hände in den Jeanstaschen - dahockte, dann Eirlys, die die Haare hinter die Ohren zurückgestrichen hatte und deren Augen hinter den Brillengläsern verräterisch schimmerten.
»Sollen wir nicht im anderen Zimmer essen?«, fragte Mair.
Der Tisch im Wohnzimmer eignete sich von der Größe her eher für drei Personen als der in die Küchenecke gezwängte Klapptisch, an dem die Erinnerung an ihren dort allein mit seiner Tasse Tee und der Zeitung sitzenden Vater allzu gegenwärtig war.
Das Hineintragen des Essens und die Suche nach den letzten noch nicht verpackten Bestecken half ihnen über den Moment hinweg. Dylan fand einige Kerzenstummel und Eirlys stellte sie auf eine Untertasse. Ihr Schein ließ den nackten Raum wieder einladend wirken und die Staubquadrate an den Stellen, wo einmal Gemälde gehangen hatten, verschwinden.
»Wir sollten uns über die guten Sachen unterhalten«, meinte Eirlys, als sie am Tisch Platz nahmen.
Einen Moment lang dachte Mair, sie meine die glücklichen Zeiten, die sie als Familie erlebt hatten, und diese so völlig uncharakteristische Sentimentalität verblüffte sie. Dann aber wurde ihr klar, dass ihre Schwester von den zwei, drei Möbelstücken und dem alten Silber sprach, den einzigen Dingen im Haus, die von wirklichem Wert waren. Seit der Verlesung des Testaments wussten sie, dass der Erlös aus dem Verkauf des Hauses zu gleichen Teilen zwischen ihnen aufgeteilt werden sollte. Über die kleineren Dinge hatten sie im Grunde bisher kein Wort verloren.
Da war etwa die Standuhr mit dem mit Sonne und Mond bemalten Ziffernblatt, deren sonores Ticken die langen Nachmittage ihrer Kindheit vermessen hatte. Huw hatte sie während der letzten Wochen einmal erwähnt und sie dabei als »Dylans Uhr« bezeichnet. Mair hatte absichtlich darüber hinweg gehört, weil sie nicht akzeptieren wollte, was dies bedeutete.
»Du nimmst die Uhr, Dylan«, meinte Eirlys. »Mair?«
Die anderen zwei waren verheiratet und hatten Häuser mit Dielen, Alkoven, Regalen. Mair war ledig und lebte glücklich und zufrieden in einer gemieteten Eineinhalbzimmerwohnung. Die geschwungene Kommode oder silberne Teekanne ihrer Mutter brauchte, ja wollte sie nicht einmal. Bei Eirlys würden die eine bessere Heimstatt finden. Sie legte Messer und Gabel nieder und räusperte sich.
»Ich hätte gern Großmutters Schal«, sagte sie. »Wenn das für euch in Ordnung geht?«
»Natürlich«, nickte Eirlys. »Ist es dir recht, Dylan?«
Er blickte zu Mair. Er hatte zu dieser Zeit ziemlich tiefe Falten um die Augenwinkel. Er und Eirlys waren beide kurzsichtig, und Dylan kniff gern die Augen zusammen, wenn er sich konzentrieren wollte.
Die Liebe zu ihrem Bruder, die ihr in diesem Moment bewusst wurde, umhüllte Mair wie eine Decke. Ihr ganzes Leben lang war er ihr Verbündeter gewesen, während sie und Eirlys sich als Kinder andauernd gezofft hatten, hauptsächlich wohl, weil sie in allem so gegensätzlich waren. Natürlich hatten sie das in letzter Zeit nicht mehr getan. Der Verlust ihres geliebten Vaters hatte sie rücksichtsvoll, ja geradezu behutsam werden lassen.
»Hast du eine Ahnung, woher er stammen könnte?«, fragte Dylan.
»Nein«, erwiderte sie. »Aber ich könnte versuchen, es rauszufinden. «
Die Idee war ihr erst in diesem Moment gekommen. Sie war überrascht über die Neugier, die der geheimnisvolle Schal in ihr weckte.
In jener Nacht gingen Mair und Eirlys zum letzten Mal in dem Zimmer zu Bett, das sie in der Kindheit geteilt hatten. Mair spürte, dass ihre Schwester wach lag, obwohl die sich nicht zwischen den feuchten Laken drehte und wand, wie Mair es tat. Schließlich flüsterte sie: »Eirlys, kannst du auch nicht schlafen?«
»Nein.«
»Woran denkst du?«
»Wahrscheinlich an das gleiche wie du. Sobald mal beide Eltern tot sind, ist man selbst dran, nicht? Steht in der Verantwortung, weil niemand mehr vor einem ist. Weißt du, was ich meine?«
Mair wurde von einer Welle des Mitgefühls übermannt. Immer hatte ihre Schwester Verantwortung übernommen. Sie war eine preisgekrönte Medizinstudentin gewesen, erst vor Kurzem in ihrer Birminghamer Klinik auf die Stelle einer Konsiliarärztin berufen worden und hatte dennoch Zeit gefunden, zu heiraten und zwei Jungen zur Welt zu bringen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie studiert und sich um andere Menschen gekümmert, und ihre Vorstellung von dieser letzten Lebensphase war eine von noch mehr Lasten, die sie würde schultern müssen.
Seit ich gehen und sprechen kann, dachte Mair, meide ich tunlichst den Weg, den meine Geschwister vor mir beschritten haben. Statt ihnen an eine gute Universität zu folgen, hatte sie Wales und ihr Elternhaus mit siebzehn verlassen und ein altes Versprechen erfüllt - das irgendwo zwischen Familienscherz und aufsässiger Drohung anzusiedeln war und darin bestand, dass sie abhauen und zum Zirkus gehen würde. Und in Floyd's Family Circus hatte sie dann Harriet Hayes alias Hattie der Clown kennengelernt. Gemeinsam entwickelten sie eine einfache Trapeznummer. Und obwohl die Zirkusabende inzwischen lange hinter ihnen lagen, waren sie auch im Anschluss daran enge Freundinnen geblieben. In den Jahren dazwischen war Mair mit wechselndem Erfolg, aber meistens doch einigermaßen zufrieden, als Geschäftsführerin eines Kleiderladens, Sängerin in einer Band, Rezeptionistin, PR-Frau, Kindergartenhelferin, Buchverkäuferin und mehreren anderen Berufen tätig gewesen.
Copyright © Ullstein Verlag.
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Autoren-Porträt von Rosie Thomas
Thomas, RosieRosie Thomas ist Bestsellerautorin in England und passionierte Bergsteigerin. Wenn einmal nicht unterwegs ist, lebt sie in London.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rosie Thomas
- 2013, 560 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Mill, Maria
- Übersetzer: Maria Mill
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548285961
- ISBN-13: 9783548285962
- Erscheinungsdatum: 11.11.2013
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