Alyss, Band 1 - 3
"Gebiete sanfte Herrin mir", "Nehmt Herrin diesen Kranz", "Der Sünde Lohn"
Alyss, die Tochter der Begine Almut, tritt in die Fußstapfen ihrer Mutter und hat sich bereits eine große Fangemeinde erobert.
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Produktinformationen zu „Alyss, Band 1 - 3 “
Alyss, die Tochter der Begine Almut, tritt in die Fußstapfen ihrer Mutter und hat sich bereits eine große Fangemeinde erobert.
- Gebiete sanfte Herrin mir: Ein Raubmord erschüttert die handelnde Zunft Kölns. Hat das Verbrechen mit den geschmuggelten Tuchen zu tun, über die bereits seit einiger Zeit Gerüchte kursieren? Alyss beginnt, Fragen zu stellen.
- Nehmt Herrin diesen Kranz: Während Alyss Gatte Arndt auf Handelsfahrt ist, nimmt sie vorübergehend den kleinen Kilian auf. Doch dann wird der Junge entführt - und mit ihm verschwindet Alyss wertvolle Brautkrone.
- Der Sünde Lohn: Ein Mann mit Wolfsmaske schleicht durch die Gassen Kölns und stellt Frauen nach. Eines seiner Opfer spricht mit letzter Kraft "Ketzer".
Lese-Probe zu „Alyss, Band 1 - 3 “
Gebiete sanfte Herrin mir von Andrea SchachtVorwort
1402 - Köln hat eine turbulente Zeit hinter sich. Der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt über die Vorherrschaft der Patrizier ist beendet, der Verbundbrief, Kölns ständische Verfassung, unterschrieben. Die Auseinandersetzungen bis dahin verliefen teils ernst, teils sogar blutig - aber, wie von den Kölnern nicht anders zu erwarten, auch mit einigen karnevalistischen Zügen.
Immerhin, zu Beginn des neuen Jahrhunderts - demjenigen, in dem das Mittelalter sein Ende fand - hatten die Zünfte der Handwerker und die Gaffeln der Kaufleute sich das Recht erstritten, ihre Stadt zu regieren.
Der Erzbischof hatte nichts mehr zu kamellen.
Oder nur noch wenig.
Der Handel regierte die Stadt am Rhein, und der Handel blühte. Mit dem gesamten bekannten Europa tauschte man Waren, im Norden bis Russland und Skandinavien, im Osten bis ans Schwarze Meer. Venedig war das Tor zum Orient, Spanien und Frankreich eng verbundene Partner, die Häfen Belgiens und der Niederlande die Basis für den Englandhandel. Die Hanse, der große Städteverbund, dem auch Köln angehörte, sicherte die Routen und die Handelsplätze; die Hanse war es auch, die den Umtrieben der Vitalienbrüder, der Seeräuber der Nord- und Ostsee, Einhalt gebot.
Diese gewaltige Ausdehnung der Geschäfte hatte natürlich Folgen. Zum einen entstanden die ersten Konzerne mit ihren Niederlassungen an den wichtigen Orten, zum anderen begannen sich die ersten »modernen« kaufmännischen Verfahren zu entwickeln.
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Hatte man einst schon mal seine Ein- und Ausgaben, so man des Schreibens mächtig war, notiert, um den Überblick über Gewinn und Verlust zu behalten, so wurden diese Maßnahmen nun verfeinert. Man trennte beispielsweise die »Bücher« von Haushalt und Geschäft.
Die Buchführung begann.
Hatte man früher überwiegend Tauschhandel - Ware gegen Ware - betrieben, wurde mit der Vielfältigkeit der Produkte nun auch deren Bewertung durch Geld wichtiger. Es wurde nicht nur getauscht, sondern gekauft und verkauft. Was dazu führte, dass man mit prallen Münzbeuteln zu den Handelsplätzen und Messen ziehen musste. Der Kaufmann war ein gefundenes Fressen für alle Strauchdiebe und Straßenräuber.
Weshalb man flugs den bargeldlosen Zahlungsverkehr erfand. Der Wechsel, ein verbrieftes Zahlungsversprechen, trat seinen Triumphzug an.
Mitsamt dem Missbrauch, den man damit treiben konnte.
Meine Heldin Alyss geht mit der Zeit. Als Gattin eines Weinhändlers kennt sie sich mit den geschäftlichen Abwicklungen aus, denn ihr Mann bereist die Anbaugebiete, um Ware aufzukaufen, sie wiederum verkauft sie weiter. Sie führt, wie bei vielen Kölnerinnen üblich, ihr eigenes Siegel, ist somit geschäftsfähig. Daneben hat sie aber auch ihr Hauswesen zu leiten, ein eigenwilliges Geschöpf, das mit Strenge und Nachsicht gezähmt werden will.
Man gab damals seine Töchter und Söhne im Alter von etwa vierzehn Jahren in die Obhut verwandter oder befreundeter Familien, damit die jungen Leute dort gesellschaftlich Schliff erhielten und erste Grundlagen des Geschäfts oder der Haushaltsführung erlernten. Insgesamt fünf Jungfern und Jünglinge hat sie anzuleiten, was eine rechtschaffene Aufgabe für eine Vierundzwanzigjährige ist.
Doch ganz Tochter ihrer Eltern, ist sie dem gewachsen, wäre da nicht das lästige Schicksal, das ihr allerlei Knüppel zwischen die Beine wirft.
Einer davon hat die Form eines weißen Gerfalken.
Wenn's allzu dicke für sie kommt, sucht sie Zuflucht bei dem Dichter Freigedank, der ihr mit seiner weisen Mahnung manche Last leichter macht:
»Ohne Sorgen niemand mag leben einen ganzen Tag.«
1. Kapitel
Die rettenden Feuer in der sturmschwarzen Nacht erwiesen sich als bösartige Falle. Mit einem durchdringenden Knirschen lief die Kogge auf Sand. Menschen, Fässer, Tauwerk und zerberstendes Holz wurden durcheinandergeworfen, Schreie übertönten das Tosen des eisigen Windes.
Nicht nur Schreie des Entsetzens, sondern auch das Gebrüll des Triumphes.
Mit lodernden Fackeln kamen sie von Land, raue, hochgewachsene Gestalten, in deren Händen das Eisen der Äxte blutrot aufblitzte.
Die Besatzung ergab sich nicht kampflos. Ein Gemetzel begann, und mit bebenden Gliedern drückte die junge Frau sich an ihren Gatten, der versuchte, sie mit seinem eigenen Leib zu schützen. Schon war der Lagerraum im Schiffsbauch erobert, Ballen Tuch, Fässchen, Säcke und Packen warfen sich die Strandräuber zu, stapelten die Ware des Kauffahrers auf dem feuchten Watt. Andere aber setzten ihr Werk der Vernichtung fort. Schon war das Segel gefallen, krachten die Rahen auf Deck, brach der Mast. Verwundete stöhnten, blutüberströmte Leichen hingen über der zersplitterten Reling.
Sie wollte schreien vor Entsetzen, aber ihre Stimme versagte ihr den Dienst. Angstvoll klammerte sie sich an die seewassergetränkte Heuke ihres Mannes, der sie die Stiege zum Kastell hin- aufdrängte.
In der Hand hielt er einen langen Dolch.
Eine jämmerliche Waffe angesichts der Übermacht, die das Schiff erstürmt hatte.
Wie Höllendämonen wüteten die Wilden im flackerndroten Schein der Kienspäne. Es war eine Frage von wenigen Augenblicken, bis sie entdeckt würden.
Kein Ausgang blieb; mit dem Rücken zur Wand, oben auf den hohen Aufbauten konnten sie nicht entkommen. Der Sprung in die Tiefe wäre ihr Tod - so oder so.
Aus dem rauchigen Dunkel kam eine Gestalt auf sie zu, groß, barbarisch, drohend.
»Laurenz«, wisperte sie. »Laurenz.«
Ein Schluchzen nur.
Ihr Gatte hob den Dolch, bereit ihr Leben zu verteidigen, doch in dem Augenblick schwang der Riese seinen Hammer. Er traf auf den Schädel des Kaufmanns und zertrümmerte ihn. Sein Körper sackte vor ihren Füßen zusammen. Doch bevor sie sich regen konnte, hatte der Wilde sie schon an der Hand gefasst und zu sich gezerrt. Sie wurde auf die blutigen Bohlen geworfen, ihre Kleider zerrissen. Mit einem Grunzen nahm sich der Strandräuber seine Beute.
2. Kapitel
Alyss hob die linke Augenbraue, die sich wie ein schwarzes, sam
tiges Räupchen anmutig über die helle Stirn schwang.
»Nicht das Handelsgeschäft?«
»Nein, nicht das Handelsgeschäft«, erwiderte ihr Zwillingsbruder energisch.
Verständnisvoll betrachtete Alyss die magere, blasse Gestalt Marians, dessen Stimme derzeit das einzig Energische an ihm war. Er saß zwischen Polstern und Kissen in einem breiten Scherenstuhl, eine Pelzdecke über seinen Knien, obwohl der Mai schon recht warm geworden war. Im Kamin brannte zusätzlich ein Feuer, warmer Würzwein stand in Marians Griffnähe. Und zwei Krücken lehnten in Reichweite seiner Arme an einem Tisch.
Seit zwei Monaten war er wieder daheim - im Haus ihres Vaters, dem Stammsitz derer vom Spiegel am Alter Markt. Zwei lange Monate hatten sie alle um sein Leben gebangt, doch nun ging es ihm zumindest wieder so gut, dass er sich Gedanken um seine Zukunft gemacht hatte. Alyss verbarg ihre Erleichterung darüber hinter der strengen Frage: »Und was willst du stattdessen mit deinem Leben anfangen? Durch die Tavernen bummeln? Hasen auf den Gütern jagen? Den Mägden nachsteigen? Hat dich der Müßiggang der letzten Wochen zum Weichling werden lassen?«
»War ich nicht schon immer ein Schwächling?«
Unvermutet bitter kam das aus dem Mund des jungen Mannes, und Alyss schnaubte.
»Natürlich. Jeder Schwächling reist mit gebrochenen Gliedern und Wundfieber von Spanien nach Köln. Du bemitleidest dich selbst, seit wir es nicht mehr in gebührender Form tun.«
»Ich will kein Mitleid!«
»Kriegst du von mir auch nicht«, beschied ihn seine Schwester und zog die Pelzdecke, die bei Marians heftiger Geste nach unten gerutscht war, sanft wieder hoch. Dann lächelte sie ihn an, und ihr ernstes Gesicht erblühte in strahlendem Liebreiz.
Alyss lächelte selten.
Marian lächelte prompt zurück.
»Hast recht, Schwester mein. Ich bemitleide mich selbst, denn eigentlich habe ich Angst.«
»Weil du glaubst, dass unser Vater deinen Entschluss nicht gutheißen wird?«
Er nickte.
Die Samträupchen zogen sich über der Nasenwurzel zusammen und glitten dann rasch wieder an ihre angestammte Position zurück.
»Er hat dich als seinen Erben erzogen, Marian. Und du hast getan, was er wünschte. Du hast den Handel mit Spezereien gelernt, dich mehrmals auf lange Reisen begeben. Ich hatte den Eindruck, es gefiele dir. Täuschte ich mich so arg?«
»Nein, es gefiel mir. Bis ...«
Sacht strich Alyss ihrem Bruder die rotbraunen Locken aus der Stirn, und er hob wieder seinen Kopf. Sie sah ihm in die Augen.
»Was willst du werden, Marian?«
»Ein Heiler!«, flüsterte er.
»Ich verstehe. Ja, ich glaube, ich verstehe dich. Hast du mit Mutter darüber schon gesprochen?«
»Nein, du bist die Erste. Alyss, ich muss es tun, auch wenn er mich dafür verachtet.«
»Wenn er das tut, bekommt er es mit mir zu tun!«
Marian lachte leise auf.
»Du bist ihm schon immer viel mutiger entgegengetreten als ich.«
»Ich bin ja auch nur ein Weib, Marian. In mich hat er lediglich seine Hoffnung auf Enkel gesetzt.«
Nun war es Alyss' Miene, die sich verdunkelte.
»Nein, Schwester mein, das darfst du dir nicht zum Vorwurf machen. Und ich glaube auch nicht, dass er es tut.«
»Gleichwie, ich will an deiner Seite stehen, wenn du ihm von deinen Plänen berichtest. Aber tu es bald, Marian.«
»Heute. Ich habe um deinen Besuch gebeten, weil ich es ihm heute sagen will. Du weißt, er kommt vor dem Vesperläuten immer auf eine Weile zu mir.«
»Dann wollen wir uns wappnen, denn schon beginnt die Sonne hinter die Dächer zu sinken.«
Alyss erhob sich, strich ihren Surkot aus feinstem blauem Tuch glatt und warf einen Blick in den gewölbten Silberspiegel, um ihren gekräuselten Schleier zurechtzuzupfen. Er bedeckte ihre schwarzen Zöpfe zwar, wie es sich für eine verheiratete Frau geziemte, doch ihr Haaransatz und die sich daraus kringelnden Löckchen verhüllte er nicht. Ein kleiner Anflug von Eitelkeit, sicher, aber entschuldbar, fand sie.
»Du wappnest dich mit deiner Schönheit, Schwesterlieb, und womit soll ich es tun?«
»Mit deinem scharfen Geist, mein Bruder. Der hat trotz aller Fährnisse nicht gelitten.«
Marians Augen funkelten.
»Dann wollen wir gemeinsam in die Schranken treten. Ich höre Fußtritte vor der Tür.«
Schon öffnete sich diese, und in den weitläufigen Saal, den besten Raum des Patrizierhauses, trat der Herr ein und füllte ihn mit seiner Präsenz.
Ivo vom Spiegel trug seine neunundsechzig Jahre mit Würde; die Aura von Macht und Autorität umgab ihn wie die Falten seines silbergrauen Gewandes. Sein Haupthaar war weiß geworden, doch die Brauen hatten noch ihre Schwärze erhalten, wie auch die zwei Strähnen in seinem kurz geschnittenen Bart, die sich an den Mundwinkeln entlangzogen.
»Herr Vater, ich grüße Euch!«, sagte Alyss und deutete eine Reverenz an.
»Du lässt dein Hauswesen im Stich, um deinen Bruder mit müßigem Geschwätz zu unterhalten, Tochter?«
»Mein Hauswesen hat die Eigenart, für sich selbst zu sorgen, wenn ich es für eine Weile verlasse, um der Nächstenliebe zu frönen. «
»Nächstenliebe nennst du es, wenn du deinem Bruder den närrischen Klatsch aus den Gassen vorbeibringst?«
Alyss reckte ihr Kinn. »›Würden keine Narren leben, würd' es keine Weisen geben‹, sagt Freigedank, der bescheidene Dichter.«
Der Blick unter den schwarzen Brauen, der Alyss durchbohrte, hätte manch schwächeres Weib zum Zittern und Zagen gebracht. Doch sie erwiderte ihres Vaters Blick, und mit großer Genugtuung bemerkte sie das feine Gekräusel in seinen Augenwinkeln.
»Du hast dich meiner Bibliothek bedient!«
»Ja, Herr Vater. Mit großem Nutzen für meine unsterbliche Seele.«
»Und du, Sohn? Hat sie auch deine Seele mit frommen Sinnsprüchen erquickt?«
»So weit lasse ich es nicht kommen, Herr Vater. Aber sie war mir alle Tage ein Halt.«
»So ernst, Junge?«
Alyss bemerkte, dass ihr Vater sehr genau zwischen den Zeilen lesen konnte. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich zu Marian.
»Ein wenig, Herr Vater. Ich möchte etwas mit Euch besprechen. «
»Wie es scheint, ein Thema von Wichtigkeit.«
Alyss schob einen Schemel näher an Marian und ließ sich darauf nieder.
»Ah, von großer Wichtigkeit«, kommentierte ihr Vater diese Geste. »Und eines, was mich nicht besonders erfreuen wird.«
»Ja, Herr Vater.«
»Sprich!«
»Es ist ... Ich enttäusche Euch wieder einmal ... Verzeiht, Herr Vater. Aber ich kann nicht anders.«
Marian rang die blassen Hände im Schoß und suchte nach Worten, stammelte und konnte nicht formulieren, was ihm am Herzen lag. Alyss räusperte sich leise, und er sah hilfesuchend zu ihr hin.
»Herr Vater, mein Bruder möchte nicht weiter als Kaufmann tätig sein, sondern als Heiler wirken.«
»Und das traust du dich nicht, mir ins Gesicht zu sagen, Sohn?«, grollte Ivo vom Spiegel.
Marian senkte die Lider.
»Ich weiß, dass es Euer größter Wunsch ist, dass ich das Geschäft übernehme. Ich bin Euer Erbe.«
»Und euer Vater ist ein Gelehrter, der selbst die großen Universitäten besucht hat«, sagte eine klare Stimme von der Tür her. Almut vom Spiegel trat ein und betrachtete die kleine Gruppe, die ihre Familie darstellte.
»Ivo, Ihr seht aus wie das personifizierte Gewitter. Entladet Donner und Blitz, aber dann wollen wir über diesen bemerkenswerten Sinneswandel unseres Sohnes in Ruhe sprechen.«
»Ich donnere und blitze nicht, Weib!«, donnerte Ivo vom Spiegel und sah seine Tochter mit blitzenden Augen an. »Oder?«
»Allmächtiger Vater. Nein, nie!«
Alyss fiel auf, dass ihre Mutter sich auf die Unterlippe biss, aber sehr schnell wieder Würde annahm. Ihr Vater hingegen nickte wohlwollend ob dieser Antwort. Dann stand er auf und wanderte zum Fenster, betrachtete eine Weile das Treiben auf dem Alter Markt und kehrte dann zu seinem Sohn zurück.
»Die medizinische Fakultät unserer Universität lässt noch ein wenig zu wünschen übrig«, grummelte er. »Ich denke, Salerno oder Paris sind geeignetere Orte, die ärztliche Kunst zu studieren. «
Marian zupfte an der Pelzdecke. Dann aber faltete er seine unruhigen Hände und erklärte mit fester Stimme: »Danke, Herr Vater. Aber ich möchte die Heilkunst nicht an den Universitäten studieren, sondern in der Praxis. Und dann, vielleicht später, will ich die Lektionen hören.«
»Wie stellst du dir diese Praxis vor?«
»Der Mann, der mir ... geholfen hat, der meine Knochen wie der gerichtet und eingerenkt hat, er wusste mehr als all die Doctores, die nachher spitzfindig über mein Befinden philosophiert haben.«
»Ich habe ihnen gutes Geld für diese Spitzfindigkeiten gezahlt. «
»›Dem Kranken tut es selten wohl, wenn ihn der Doctor erben soll‹«, flötete Alyss.
»Tochter!«
»Was erwartet Ihr, Ivo? Sie ist mein Kind.«
Almut war zu Alyss getreten und hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt.
»Wie wahr. Nun, du willst also bei den Barbieren und Knocheneinrenkern lernen?«
»Bei den Wundärzten, Zahnbrechern und Kräuterweiblein, oder auch bei einem Infirmarius oder Alchimisten. Sie waren es, die mir wirklich geholfen haben.«
»Und wer wird mein Geschäft weiterführen?«
Marian verzog qualvoll sein mageres Gesicht.
»Alyss könnte es, Herr Vater. Weit besser als ich!«
»Meine Tochter ist verheiratet und führt das Geschäft ihres Gatten und ihr eigenes.«
»Darf ich, mein Herr Gemahl, daran erinnern, dass eine ganze Schar von Vettern, Neffen und Schwägern in Eurem Handelshaus tätig sind, die recht ordentliche Fähigkeiten als Kaufleute besitzen.«
»Sind aber nicht meine Söhne«, murmelte der Herr vom Spiegel. »Also werde ich mir den Kopf zerbrechen müssen, wie ich mein Heim bestelle. Wenn du deinem Ruf folgen musst, Marian, dann bemühe dich, das so gut zu machen wie möglich. Wenn du Unterstützung brauchst, sag es mir. Ich kenne den einen oder anderen, der dir helfen könnte.«
Ivo vom Spiegel erhob sich. Hoch überragte er seinen Sohn, dessen zierliche Gestalt durch die lange Krankheit noch schmächtiger wirkte. In den strengen Zügen ihres Vaters gewahrte Alyss tiefe Sorge und - unendliche Zärtlichkeit.
Der Herr des Hauses verließ den Raum, und die Herrin nahm seinen Platz im Sessel ein.
»Er versteht es manchmal prächtig, einem ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Aber Marian, er ist so glücklich, dass es dir wieder besser geht. Ich glaube, er hat gar nicht erwartet, dass du noch einmal im Fernhandel tätig wirst.«
»Ich bin eben nicht gerade sein Wunschbild von Sohn.«
»Womit, Marian, du mir die Schuld zuschiebst, denn schließlich hätte ich mir mit dir ja wohl etwas mehr Mühe geben sollen. Oder wenigstens noch fünf weiteren strammen Söhnen das Leben schenken müssen.«
»Aber Frau Mutter ...«
»Richtig.«
Alyss mischte sich wieder ein.
»Im Augenblick, Marian, kannst du noch nicht mit deiner praktischen Ausbildung anfangen. Dafür bist du noch zu schwach. Aber was wäre, wenn wir die Bibliothek nach einigen Werken über die Medizin durchsuchten. Ich meine, ich hätte ein Werk über die Anatomia gesehen.«
»Ein guter Vorschlag!«
Marian stieß die Pelzdecke zur Seite und griff nach den Krücken. Seine Mutter wollte ihm helfen, aber Alyss hielt sie zurück.
»Er schafft es alleine.«
»Richtig, Schwester mein. Manches schaffe sogar ich alleine.« Sprach's und schwang sich an den Stöcken aus dem Raum.
»Er ist es leid, hilflos zu sein.«
»Ich weiß. Ich bemühe mich, es zu übersehen. Darum erzähle mir nun: Wie laufen deine Geschäfte, Alyss?«
»Die meinen entwickeln sich befriedigend. Tilo ist mit dem alten Peer zu den Winzern in der Pfalz aufgebrochen. Er platzte fast vor Stolz, dass er seine erste Reise machen durfte.«
»Meine Schwester Mechtild hat es mir berichtet. Sie klagte natürlich ein wenig, weil sie um seine Sicherheit fürchtete. Aber dein Handelsknecht wird schon auf ihn aufpassen.«
»Peer ist ein knorriger alter Baum, den wenig erschüttert, und Tilo ist ein ungewöhnlich besonnener Junge. Weit ist die Reise nicht, und die Winzer kennen uns.«
»So argumentierte ich auch. Sie beruhigte sich darob.«
»Und wie steht es um deinen Gatten?«
»Von Arndt habe ich bislang noch nichts gehört. Er ist auf dem Weg nach Deventer, um Fisch zu kaufen. Wie jedes Jahr.«
Ihre Mutter nickte, und Alyss beließ es dabei, auch wenn sie wusste, dass einige Fragen damit wieder einmal unbeantwortet geblieben waren. Über ihre Ehe mochte sie nicht einmal mit ihrer Mutter sprechen.
Dafür aber gab sie ihr eine lebhafte Schilderung ihres Hauswesens in der Witschgasse, das neben dem Gesinde auch fünf junge Leute beherbergte, die bei ihr erzogen wurden. Und dass ihr Schwager Robert, der sein Kontor ebenfalls im Haus hatte, in Kürze aus London zurückerwartet wurde. Natürlich berichtete sie auch von Malefiz, dem schwarzen Kater, der sich unablässig darin vervollkommnete, seinem Namen gerecht zu werden. Er war der Sprössling einer langen ehrenvollen Ahnenreihe, deren Ursprung ihre Mutter noch gekannt hatte. Teufelchen war einst die Katze gewesen, die in dem Beginenkonvent ihr Heim fand, dem Almut in jungen Jahren angehört hatte. Luci, ihre Tochter, gebar Lilith, Herrin der Güter derer vom Spiegel, und ihr Sohn Malefiz schließlich - einer ihrer zahlreichen teuflischen Abkömmlinge - hatte sich bereit erklärt, Wohnung in der Witschgasse zu nehmen und dort sein Unwesen zu treiben.
Almut hörte mit freundlicher Anteilnahme diesen Berichten ihrer Tochter zu, gab, wo sie gefragt wurde, Rat, vermied es aber, weitere Fragen zu stellen.
Dennoch hatte Alyss das Gefühl, die eine oder andere beantwortet zu haben.
Ihre Mutter hatte einen untrüglichen Sinn für die Probleme ihrer beiden Kinder.
Was ihr ein gelegentliches Unbehagen bereitete. Aber Alyss war entschlossen, ihre Angelegenheiten selbst mit fester Hand zu regeln.
3. Kapitel
Das Haus des Weinhändlers Arndt van Doorne war lange nicht so prachtvoll wie das Patrizierhaus derer vom Spiegel. Doch es war ein ansehnliches Anwesen, das gleichzeitig als Wohn- und Geschäftshaus diente. In den kühlen Kellern lagerten die Weinfässer, neben der Hofdurchfahrt befand sich, mit Blick auf die Witschgasse, die vom Rhein hochführte, das geräumige Kontor, dahinter lag das Reich der Haushälterin - die Küche und die Vorratsräume. Auf der anderen Seite der Hofdurchfahrt schlossen sich weitere Lagerräume an, die vom Bruder des Hausherrn, Robert van Doorne, genutzt wurden. Hier stapelten sich die Ballen feinster englischer Tuche, die er an die zünftigen Schneider mit gutem Gewinn verkaufte.
Im Stockwerk darüber empfing man wichtige Gäste im Saal, dem mit aufwändig geschnitzten Schränken und Truhen eingerichteten Prunkraum. Silber und Messing schimmerten auf den Borden, der Kamin war mit Delfter Kacheln verkleidet, den Tisch deckte ein orientalischer Teppich, und das Licht, das durch die runden Gläser der Fenster fiel, zeichnete bunte Kreise auf dem glänzend gewachsten Holzboden. Auf der anderen Seite des Mittelgangs lagen die Gemächer des Hausherrn und seines Bruders. Unter dem Dach, durch die Kammer der Haushälterin und der Magd schicklich getrennt, befanden sich die Schlafräume der jungen Hausgäste. Der sechzehnjährige Tilo war der Sohn des Tuchhändlers Reinaldus Pauli, die ein Jahr jüngere Hedwigis die Tochter des Baumeisters Peter Bertolf. Leocadie, mit ihren achtzehn Lenzen die Älteste, war die Tochter Leon de Lambrays, eines burgundischen Weinhändlers, und Frieder und Lauryn, vierzehn und fünfzehn, die Kinder eines Pächters auf den Gütern derer vom Spiegel.
Neben diesen Hausbewohnern belebten noch ständige Tischgäste das Heim derer van Doorne, allen voran Merten, der Stiefsohn des Hausherrn, und Magister Hermanus, Arndts Vetter, ein Kanoniker, der als Messner von Lyskirchen sein karges Leben fristete.
Alyss herrschte trotz ihrer jugendlichen vierundzwanzig Jahre mit eiserner Hand über diesen kleinen Staat - was auch dringend vonnöten war. Ihr Gatte befand sich überwiegend auf Reisen. Die Wintermonate verbrachte er im milden Burgund, um dort die roten Weine aufzukaufen, im Frühjahr beförderte er sie an die Nordseeküste, wo sie nach England verschifft wurden. Im Gegenzug brachte er von dort den begehrten gesalzenen Fisch nach Köln zurück. Im Spätsommer suchte er die Pfalz und ihre Messen auf, und nur die Herbstmonate verbrachte er in seinem Heim.
Fünf Jahre waren er und Alyss nun verheiratet, und sie hatte sich nach und nach angewöhnt, neben der Verantwortung für den Haushalt auch alle in Köln anfallenden Geschäfte zu übernehmen. Sie führte, wie auch ihre Mutter, ihr eigenes Siegel, das es ihr erlaubte, rechtsgültige Abwicklungen vorzunehmen und auf eigene Rechnung Handel zu treiben. Arndt van Doorne kam das entgegen. Meistens zumindest.
Fünf Wochen waren seit dem Tag vergangen, an dem Marian seinen Entschluss kundgetan hatte, sich der Heilkunst zu widmen. Wie jeden Morgen saß Alyss auch an diesem Junitag im Kontor. Das Fenster zur Witschgasse hatte sie weit geöffnet, und die Sonne ergoss ihr Licht über die Seiten des großen Haushaltsbuches. In ihm nahm sie sorgfältig ihre Eintragungen vor. Jede Einnahme und Ausgabe wurde darin penibel mit Datum, Betrag und einigen erklärenden Worten verzeichnet, sei es Wachs für Kerzen, Mehl oder Graupen, eingehende Weinlieferungen und Zahlungen an verschiedene Handwerker. Nadeln für fleißige Näherinnen, Werkzeuge für den Rebschnitt und die Kelter, neue Stiefel für Magister Hermanus, ein Traktat über Heilkräuter für ihren Bruder oder die bunten Bänder, die Leocadie sich er schmeichelt hatte, wurden in gleicher Form darin aufgeführt wie die eingehenden oder noch ausstehenden Zahlungen, die die Abnehmer der Weinfässer in ihrem Keller zu leisten hatten. Und natürlich auch die Summen, die Merten immer wieder einforderte.
Auf diese Weise wusste Alyss stets auf die kleinste Münze genau, wie viel Geld in den Lederbeuteln in der schweren Eichentruhe lagerte, und konnte, wenn größere Ausgaben anstanden, frühzeitig ihre säumigen Schuldner auffordern, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Alles in allem stand das Haus recht gut da.
Nach den Eintragungen in das große Buch öffnete Alyss den Deckel der schweren Eichentruhe, um einige Münzen in eine kleine Börse abzuzählen. Hilda benötigte Geld, um die Einkäufe auf dem Markt zu tätigen, der Fleischhauer wollte bezahlt werden, ebenso der Wagner, der das Rad des Frachtkarrens repariert hatte, und der Böttcher, der neue Weinfässer anfertigen sollte.
Damit waren ihre Tätigkeiten im Kontor für diesen Tag beendet, und sie wollte sich den Haushaltspflichten zuwenden. Doch sie hatte noch nicht den Geldbeutel aufgemacht, da erschien Hilda an der Tür und kündigte einen Besucher an.
»Ein fremdländischer Mensch, Herrin. Sagt, er kennt den Herrn Robert.«
»Ein Geschäftsfreund, demnach.«
»Kann ich nicht sagen. Er spricht seltsam und ist nicht von hier. Und ich würde ihn nicht einlassen.«
»Warum nicht?«
»Sein Blick ist böse.«
Da Hilda von allerlei abergläubischen Ängsten heimgesucht wurde, maß Alyss dieser Beobachtung nicht allzu viel Bedeutung bei und verlangte wagemutig, den Mann ins Kontor zu führen.
»Dass es Euch nur nicht später gereut«, murmelte Hilda vielsagend, polterte dann aber zur Haustür zurück. Alyss legte die Börse in die Truhe und klappte den Deckel zu. Nicht jeder unangekündigte Fremde musste direkt sehen, wie viel Geld sie im Haus hatte. Gleich darauf trat der Besucher ein, und sie betrachtete ihn abwartend. Groß war er, wettergegerbt seine Züge, derb seine Kleidung, wenn auch von ordentlicher Qualität. Ein weitgereister Mann, konnte man seinen zerschrammten Stiefeln Glauben schenken. Seine Augen - von hier mochte Hilda ihren Verdacht auf den bösen Blick herleiten - wirkten unter den verhangenen Lidern sehr hell in dem von der Sonne gebräunten Gesicht. Doch Alyss entdeckte keine Gefahr in ihnen, allenfalls Neugier.
»Mistress Alyss? Ich bringe Euch einen Gruß von Robert. Mein Name ist John of Lynne.«
Sein Deutsch war fließend, doch die Melodie seiner Rede klang ungewohnt, und manche Laute mochten seiner Zunge wohl unbekömmlich sein. Dennoch war er deutlich zu verstehen. Alyss nickte ihm grüßend zu.
»Ah, Master John of Lynne. Mein Schwager sprach von Euch. Doch nicht davon, dass Ihr uns aufsuchen wolltet.«
»Die Umstände, Mistress Alyss. Sie zwingen mich. Meines Königs Tochter Blanca wird in sechs Tagen heiraten. Hier in Köln, den Ludwig von der Pfalz.«
»Und das kann sie nur mit Eurer Hilfe, nehme ich an?«
John of Lynne grinste Alyss frech an.
»Ich hoffe, Ludwig wird genug Mann für sie sein. Ich bringe nur das Geschenk für den Grafen und den Erzbischof.«
»Ihr macht dem Grafen und dem Erzbischof also Geschenke. Großmütig von Euch.«
»Geschenke meines Königs, Mistress. Weiße Gerfalken. Und ich habe auch einen für Euch mitgebracht.«
»Einen Falken?« Alyss' schwarze Augenbraue zuckte in die Höhe.
»Einen Falken, Mistress Alyss.«
»Aus England. Wie einfallsreich. Wenn Ihr einmal Euren Blick aus diesem Fenster schweifen lassen würdet, Master John of Lynne, was werdet Ihr dort wohl erkennen?«
»Einen Kirchturm, Mistress.«
»Was glaubt Ihr wohl, wer auf diesem Kirchturm haust?«
»Der Läuter von den Glocken?«
Alyss schnaubte verächtlich.
»Schaut genau hin mit Euren Falkenaugen.«
»Ah, ich verstehe. Ein Pärchen Falken.«
»Weshalb Ihr mein Befremden vermutlich versteht. Falken, Master John, haben wir auch hier in Köln. Auf jedem Kirchturm. «
»Nun, aber meine Falken sind besonders, Mistress. Nicht wild.«
»Nein? Können sie sprechen?«
Jetzt erlaubte sich John of Lynne ein leises Auflachen.
»So weit haben wir sie nicht ... erzogen? Ausgebildet. Sie jagen. Mit Menschen.«
Er beugte mit einer sprechenden Bewegung den Arm, zog einem imaginären Falken das Häubchen vom Kopf und warf ihn in die Luft.
Trotz dieser kleinen Vorführung war Alyss' Miene noch immer streng.
»Falkenjagd, Master John, ist ein Vergnügen des Adels. Und die Patrizier unserer Stadt haben derzeit andere Sorgen.«
»Aber Euch würde es gut anstehen, Mistress. Nehmt ihn an, als mein Geschenk. Ein weißer Gerfalke ist würdig für eine Königin. «
»Ich bin Sieglerin, nicht Königin.«
»Ich verstehe. Ich bringe das nächste Mal den Adler für die Kaiserin mit, ja?«
Der Blick aus Alyss' grauen Augen sprach Bände.
»Nicht? Nein? Soll ich Euch wohl ein Ei vom Vogel Roch bringen oder die Asche vom Phoenix oder ...?
»Oder ein paar Schwanzfedern der Harpyien. John of Lynne, wirklich nützlich wären ein paar Hühner, die regelmäßig Eier legen. «
»Mistress, Ihr seid so bewundernswert vernünftig.«
»So vernünftig, dass ich Euch jetzt ohne Umschweife nach Eurem Begehr frage, denn ich habe heute Morgen noch Aufgaben zu erledigen.«
»Natürlich. Robert, er lud mich ein, für die Tage, die ich hier verbringe, in seinem Haus zu wohnen. Er ist noch unterwegs. Er wird wohl am Ende der Woche eintreffen.«
Nun gehörte das Haus tatsächlich den Brüdern van Doorne, und es war nicht unüblich, dass ihre Gäste ein Bett einforderten. Alyss nickte.
»Ihr könnt Roberts Gemach beziehen. Folgt mir, ich zeige Euch den Weg.«
Während sie voranging, wies sie ihn noch auf die Küche hin, wo die Mahlzeiten eingenommen wurden, und fragte nach seinem Gepäck.
»Ein Bündel nur, Mistress, und natürlich Euer Falke. Habt Ihr ein Obdach für ihn?«
»Reicht ihm der freie Himmel nicht?«
»Stellt Ihr Euren Geldbeutel unter freiem Himmel ab?«
»Mhm. Was, im Namen der Heiligen Jungfrau, soll ich nur mit einem wertvollen Falken beginnen? - Frieder!«
»Frieder ist im Stall«, kam die Antwort einer Mädchenstimme aus der Küche, und Lauryn trat an die Tür.
»Hol ihn, Lauryn, er soll sich um den Falken kümmern. Master John wird ihm zeigen, was dazu notwendig ist.«
»Ja, Frau Alyss. Wirklich ein Falke?«
»Ein weißer Gerfalke«, ergänzte John und lächelte die vierzehnjährige Jungfer an. Lauryn, gewöhnlich unempfindlich den Aufmerksamkeiten des männlichen Geschlechts gegenüber, bekam rosa Wangen.
Alyss seufzte.
Nicht nur der Falke bereitete ihr Sorgen.
Nachdem der Gast versorgt war, kehrte sie in das Kontor zurück, um sich wieder der Börse zu widmen. Diesmal konnte sie ihre Tätigkeit zwar beenden, doch das Kontor zu verlassen, war ihr wiederum verwehrt. Reinaldus Pauli klopfte mit einem freund
lichen Gruß an die Tür.
Sie nickte dem Tuchhändler gemessen zu.
»Ihr seht wohl aus, Frau Alyss. Hörtet Ihr jüngst von Eurem Gatten?«
»Nein, Meister Pauli, doch das besorgt mich nicht. Er wird zu gegebener Zeit eintreffen. Es wird Euch aber freuen zu erfahren, dass mein Schwager Robert Ende der Woche zurückkehrt.«
»Mit englischen Tuchen, hoffe ich. Das trifft sich außerordentlich, denn dann wird er gewiss an unserem Gaffelessen am Sonntag teilnehmen.«
»Ich werde es ihm ausrichten.«
»Seid so gut, Frau Alyss. Es findet anlässlich der englischen Hochzeit statt.«
»Die Eheschließung scheint für nicht unbeträchtliche Aufregung zu sorgen, Meister Pauli. Ein Geschäftsfreund von Robert ist soeben bei uns eingetroffen. Ein John of Lynne, der mit - mhm - Falken handelt.«
Reinaldus Pauli lachte auf.
»Wohl nicht ausschließlich. Aber wie man hört, ist es ein diffiziles Geschäft, diese Vögel gesund zu transportieren. Richtet dem englischen Händler auch die Einladung zum Essen aus. Er ist uns herzlich willkommen.«
»Lasst Euch nur nicht auch noch einen Falken andrehen.«
»Auch? Hat er Euch etwa einen mitgebracht?«
»Ja, und ich weiß noch nicht mal ein Rezept, wie man ihn genießbar zubereiten kann.«
»Frau Alyss, das Tier ist mit Gold aufzuwiegen.«
»Und wer, Meister Pauli, gibt mir das Gold für den lästigen Vogel? Wer, Meister Pauli, geht in unseren Kreisen zur Falkenjagd? «
»Je nun, eine berechtigte Frage. Aber es wird sich eine Antwort finden. Doch nun zum Geschäft, Frau Alyss. Wie steht es mit Euren Vorräten an Rheinwein?«
»Derzeit bescheiden, doch ich erwarte eine Lieferung aus der Pfalz. Der alte Peer und Euer Sohn Tilo müssten dieser Tage eintreffen. «
»Das freut mich zu hören. Dann nehmt meine Bestellung für das Gaffelessen entgegen.«
Alyss und der Tuchhändler einigten sich recht schnell über Menge, Qualität und Preis des Weins, und Alyss setzte ihr Siegel unter den Vertrag. Dieser Teil des Weinhandels lag gänzlich in ihrer Hand.
»Wie geht es Frau Mechtild?«, wollte sie dann wissen, als sie die geschäftlichen Abwicklungen beendet hatten. Die Gattin des Tuchhändlers war ihre Tante - zumindest im weitesten Sinne. Sie war die jüngere Halbschwester ihrer Mutter aus der zweiten Ehe ihres Großvaters, des Baumeisters Conrad Bertholf.
»Sie klagt über das Beschwernis ihres Leibes, wie üblich.«
»Die Geburt sollte kurz bevorstehen.«
»Das steht zu hoffen an. Aber auch wenn sie klagt, ist sie doch guter Stimmung. Besucht sie, wenn Ihr ein wenig Zeit erübrigen könnt. Es ist ihr zu anstrengend, das Haus zu verlassen.«
»In den nächsten Tagen, Meister Pauli. Sowie die Lieferung eingetroffen ist.«
Er nickte und schob dann auf dem Schreibpult etwas verlegen das Tintenfass hin und her.
»Ich weiß, Ihr seid eine rege Frau und kümmert Euch um viele Dinge. Darf ich Euch dennoch um einen weiteren Rat bitten?«
»Einen Rat oder einen Gefallen?«
Reinaldus Paulis breitflächiges Gesicht verzog sich entschuldigend.
»Welchen Gefallen?«, hakte Alyss nach.
»Ein Händler aus Friesland traf vorgestern bei uns ein. In seiner Begleitung hatte er ein junges Weib. Nicht das seine, um das klarzustellen. Ein verstörtes Geschöpfchen, hochschwanger und schreckhaft. Sie ist eines Nachts in ihrem Lager aufgetaucht und hat um Hilfe gebeten. Viel haben die Kaufleute nicht aus ihr herausbekommen. Nur dass sie mit Laurenz Stalen verheiratet war, der mit Venedig Handel trieb und bei einem Schiffbruch um kam. Stalen kannte ich flüchtig, wir sind uns in unserer Jugend dann und wann begegnet. Ich würde gerne etwas für seine Frau tun, aber derzeit kann ich Mechtild nicht zumuten, sich auch noch um eine Kranke zu kümmern.«
»Krank?«
»Eher an der Seele als am Körper. Sie schreit nachts in den Träumen, liegt zitternd und zähneklappernd in den Decken. Sie braucht weiblichen Trost, denke ich. Männer schrecken sie.«
»Ich will nicht ungefällig erscheinen, aber in diesem Haus wimmelt es mehr von Männern als von Frauen, vor allem, wenn Tilo, Robert und auch Arndt zurückkommen. Aber ...« Alyss tupfte mit ihrem Zeigefinger an ihre Nase. »Ich wüsste eine Möglichkeit, Meister Pauli. Was haltet Ihr davon, die junge Witwe zu den Beginen am Eigelstein zu bringen? Sendet Catrin von Stave meine Grüße; sie wird sich um sie kümmern, bis sich eine bessere Lösung für sie findet.«
»Aber natürlich, Frau Alyss. Das ist eine gute Idee. Ich werde die frommen Frauen sogleich aufsuchen.«
»Wendet Euch an die Meisterin Clara, sollte Catrin nicht anwesend sein. Sie wird murren und stöhnen, aber sie ist eine herzensgute Frau, die keinem Leidenden die Hilfe versagt.«
Nach einigen weiteren, in Alyss' Augen reichlich überflüssigen Plaudereien verabschiedete der Tuchhändler sich endlich, und sie konnte die Küche aufsuchen. Hilda wartete darauf, die Börse zu erhalten, damit sie die Einkäufe tätigen konnte.
Die Haushälterin war ungnädig gestimmt. Weniger wegen der Verzögerungen, die sich im Tagesablauf ergeben hatten, als über den neuen Logiergast.
»Es macht mir ja nichts aus, noch ein gefräßiges Maul mehr zu stopfen, Herrin, aber der Mann hat einen seltsamen Blick. Und er ist ein Verführer der Jugend.«
»Wen hat er in dieser kurzen Zeit bereits zu unsittlichem Tun verleitet?«
»Dazu nicht, aber der Frieder ist ganz aus dem Häuschen. Wegen des Vogels. Der Mann hat ihn fliegen lassen. Und dieses böse
Tier hat den Storch vom Dach verscheucht. Und Ihr wisst doch, was das bedeutet.«
»Für Kindersegen braucht's mehr als einen Storch auf dem Dach«, knurrte Alyss.
»Ja, einen Mann im Haus und einen Gatten im Bett!«, schnaubte Hilda. »Und deswegen ist es ein schlimmes Omen. Denkt an meine Worte, Herrin. Ein ganz schlimmes Omen.«
»Ach, pah!«
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Hatte man einst schon mal seine Ein- und Ausgaben, so man des Schreibens mächtig war, notiert, um den Überblick über Gewinn und Verlust zu behalten, so wurden diese Maßnahmen nun verfeinert. Man trennte beispielsweise die »Bücher« von Haushalt und Geschäft.
Die Buchführung begann.
Hatte man früher überwiegend Tauschhandel - Ware gegen Ware - betrieben, wurde mit der Vielfältigkeit der Produkte nun auch deren Bewertung durch Geld wichtiger. Es wurde nicht nur getauscht, sondern gekauft und verkauft. Was dazu führte, dass man mit prallen Münzbeuteln zu den Handelsplätzen und Messen ziehen musste. Der Kaufmann war ein gefundenes Fressen für alle Strauchdiebe und Straßenräuber.
Weshalb man flugs den bargeldlosen Zahlungsverkehr erfand. Der Wechsel, ein verbrieftes Zahlungsversprechen, trat seinen Triumphzug an.
Mitsamt dem Missbrauch, den man damit treiben konnte.
Meine Heldin Alyss geht mit der Zeit. Als Gattin eines Weinhändlers kennt sie sich mit den geschäftlichen Abwicklungen aus, denn ihr Mann bereist die Anbaugebiete, um Ware aufzukaufen, sie wiederum verkauft sie weiter. Sie führt, wie bei vielen Kölnerinnen üblich, ihr eigenes Siegel, ist somit geschäftsfähig. Daneben hat sie aber auch ihr Hauswesen zu leiten, ein eigenwilliges Geschöpf, das mit Strenge und Nachsicht gezähmt werden will.
Man gab damals seine Töchter und Söhne im Alter von etwa vierzehn Jahren in die Obhut verwandter oder befreundeter Familien, damit die jungen Leute dort gesellschaftlich Schliff erhielten und erste Grundlagen des Geschäfts oder der Haushaltsführung erlernten. Insgesamt fünf Jungfern und Jünglinge hat sie anzuleiten, was eine rechtschaffene Aufgabe für eine Vierundzwanzigjährige ist.
Doch ganz Tochter ihrer Eltern, ist sie dem gewachsen, wäre da nicht das lästige Schicksal, das ihr allerlei Knüppel zwischen die Beine wirft.
Einer davon hat die Form eines weißen Gerfalken.
Wenn's allzu dicke für sie kommt, sucht sie Zuflucht bei dem Dichter Freigedank, der ihr mit seiner weisen Mahnung manche Last leichter macht:
»Ohne Sorgen niemand mag leben einen ganzen Tag.«
1. Kapitel
Die rettenden Feuer in der sturmschwarzen Nacht erwiesen sich als bösartige Falle. Mit einem durchdringenden Knirschen lief die Kogge auf Sand. Menschen, Fässer, Tauwerk und zerberstendes Holz wurden durcheinandergeworfen, Schreie übertönten das Tosen des eisigen Windes.
Nicht nur Schreie des Entsetzens, sondern auch das Gebrüll des Triumphes.
Mit lodernden Fackeln kamen sie von Land, raue, hochgewachsene Gestalten, in deren Händen das Eisen der Äxte blutrot aufblitzte.
Die Besatzung ergab sich nicht kampflos. Ein Gemetzel begann, und mit bebenden Gliedern drückte die junge Frau sich an ihren Gatten, der versuchte, sie mit seinem eigenen Leib zu schützen. Schon war der Lagerraum im Schiffsbauch erobert, Ballen Tuch, Fässchen, Säcke und Packen warfen sich die Strandräuber zu, stapelten die Ware des Kauffahrers auf dem feuchten Watt. Andere aber setzten ihr Werk der Vernichtung fort. Schon war das Segel gefallen, krachten die Rahen auf Deck, brach der Mast. Verwundete stöhnten, blutüberströmte Leichen hingen über der zersplitterten Reling.
Sie wollte schreien vor Entsetzen, aber ihre Stimme versagte ihr den Dienst. Angstvoll klammerte sie sich an die seewassergetränkte Heuke ihres Mannes, der sie die Stiege zum Kastell hin- aufdrängte.
In der Hand hielt er einen langen Dolch.
Eine jämmerliche Waffe angesichts der Übermacht, die das Schiff erstürmt hatte.
Wie Höllendämonen wüteten die Wilden im flackerndroten Schein der Kienspäne. Es war eine Frage von wenigen Augenblicken, bis sie entdeckt würden.
Kein Ausgang blieb; mit dem Rücken zur Wand, oben auf den hohen Aufbauten konnten sie nicht entkommen. Der Sprung in die Tiefe wäre ihr Tod - so oder so.
Aus dem rauchigen Dunkel kam eine Gestalt auf sie zu, groß, barbarisch, drohend.
»Laurenz«, wisperte sie. »Laurenz.«
Ein Schluchzen nur.
Ihr Gatte hob den Dolch, bereit ihr Leben zu verteidigen, doch in dem Augenblick schwang der Riese seinen Hammer. Er traf auf den Schädel des Kaufmanns und zertrümmerte ihn. Sein Körper sackte vor ihren Füßen zusammen. Doch bevor sie sich regen konnte, hatte der Wilde sie schon an der Hand gefasst und zu sich gezerrt. Sie wurde auf die blutigen Bohlen geworfen, ihre Kleider zerrissen. Mit einem Grunzen nahm sich der Strandräuber seine Beute.
2. Kapitel
Alyss hob die linke Augenbraue, die sich wie ein schwarzes, sam
tiges Räupchen anmutig über die helle Stirn schwang.
»Nicht das Handelsgeschäft?«
»Nein, nicht das Handelsgeschäft«, erwiderte ihr Zwillingsbruder energisch.
Verständnisvoll betrachtete Alyss die magere, blasse Gestalt Marians, dessen Stimme derzeit das einzig Energische an ihm war. Er saß zwischen Polstern und Kissen in einem breiten Scherenstuhl, eine Pelzdecke über seinen Knien, obwohl der Mai schon recht warm geworden war. Im Kamin brannte zusätzlich ein Feuer, warmer Würzwein stand in Marians Griffnähe. Und zwei Krücken lehnten in Reichweite seiner Arme an einem Tisch.
Seit zwei Monaten war er wieder daheim - im Haus ihres Vaters, dem Stammsitz derer vom Spiegel am Alter Markt. Zwei lange Monate hatten sie alle um sein Leben gebangt, doch nun ging es ihm zumindest wieder so gut, dass er sich Gedanken um seine Zukunft gemacht hatte. Alyss verbarg ihre Erleichterung darüber hinter der strengen Frage: »Und was willst du stattdessen mit deinem Leben anfangen? Durch die Tavernen bummeln? Hasen auf den Gütern jagen? Den Mägden nachsteigen? Hat dich der Müßiggang der letzten Wochen zum Weichling werden lassen?«
»War ich nicht schon immer ein Schwächling?«
Unvermutet bitter kam das aus dem Mund des jungen Mannes, und Alyss schnaubte.
»Natürlich. Jeder Schwächling reist mit gebrochenen Gliedern und Wundfieber von Spanien nach Köln. Du bemitleidest dich selbst, seit wir es nicht mehr in gebührender Form tun.«
»Ich will kein Mitleid!«
»Kriegst du von mir auch nicht«, beschied ihn seine Schwester und zog die Pelzdecke, die bei Marians heftiger Geste nach unten gerutscht war, sanft wieder hoch. Dann lächelte sie ihn an, und ihr ernstes Gesicht erblühte in strahlendem Liebreiz.
Alyss lächelte selten.
Marian lächelte prompt zurück.
»Hast recht, Schwester mein. Ich bemitleide mich selbst, denn eigentlich habe ich Angst.«
»Weil du glaubst, dass unser Vater deinen Entschluss nicht gutheißen wird?«
Er nickte.
Die Samträupchen zogen sich über der Nasenwurzel zusammen und glitten dann rasch wieder an ihre angestammte Position zurück.
»Er hat dich als seinen Erben erzogen, Marian. Und du hast getan, was er wünschte. Du hast den Handel mit Spezereien gelernt, dich mehrmals auf lange Reisen begeben. Ich hatte den Eindruck, es gefiele dir. Täuschte ich mich so arg?«
»Nein, es gefiel mir. Bis ...«
Sacht strich Alyss ihrem Bruder die rotbraunen Locken aus der Stirn, und er hob wieder seinen Kopf. Sie sah ihm in die Augen.
»Was willst du werden, Marian?«
»Ein Heiler!«, flüsterte er.
»Ich verstehe. Ja, ich glaube, ich verstehe dich. Hast du mit Mutter darüber schon gesprochen?«
»Nein, du bist die Erste. Alyss, ich muss es tun, auch wenn er mich dafür verachtet.«
»Wenn er das tut, bekommt er es mit mir zu tun!«
Marian lachte leise auf.
»Du bist ihm schon immer viel mutiger entgegengetreten als ich.«
»Ich bin ja auch nur ein Weib, Marian. In mich hat er lediglich seine Hoffnung auf Enkel gesetzt.«
Nun war es Alyss' Miene, die sich verdunkelte.
»Nein, Schwester mein, das darfst du dir nicht zum Vorwurf machen. Und ich glaube auch nicht, dass er es tut.«
»Gleichwie, ich will an deiner Seite stehen, wenn du ihm von deinen Plänen berichtest. Aber tu es bald, Marian.«
»Heute. Ich habe um deinen Besuch gebeten, weil ich es ihm heute sagen will. Du weißt, er kommt vor dem Vesperläuten immer auf eine Weile zu mir.«
»Dann wollen wir uns wappnen, denn schon beginnt die Sonne hinter die Dächer zu sinken.«
Alyss erhob sich, strich ihren Surkot aus feinstem blauem Tuch glatt und warf einen Blick in den gewölbten Silberspiegel, um ihren gekräuselten Schleier zurechtzuzupfen. Er bedeckte ihre schwarzen Zöpfe zwar, wie es sich für eine verheiratete Frau geziemte, doch ihr Haaransatz und die sich daraus kringelnden Löckchen verhüllte er nicht. Ein kleiner Anflug von Eitelkeit, sicher, aber entschuldbar, fand sie.
»Du wappnest dich mit deiner Schönheit, Schwesterlieb, und womit soll ich es tun?«
»Mit deinem scharfen Geist, mein Bruder. Der hat trotz aller Fährnisse nicht gelitten.«
Marians Augen funkelten.
»Dann wollen wir gemeinsam in die Schranken treten. Ich höre Fußtritte vor der Tür.«
Schon öffnete sich diese, und in den weitläufigen Saal, den besten Raum des Patrizierhauses, trat der Herr ein und füllte ihn mit seiner Präsenz.
Ivo vom Spiegel trug seine neunundsechzig Jahre mit Würde; die Aura von Macht und Autorität umgab ihn wie die Falten seines silbergrauen Gewandes. Sein Haupthaar war weiß geworden, doch die Brauen hatten noch ihre Schwärze erhalten, wie auch die zwei Strähnen in seinem kurz geschnittenen Bart, die sich an den Mundwinkeln entlangzogen.
»Herr Vater, ich grüße Euch!«, sagte Alyss und deutete eine Reverenz an.
»Du lässt dein Hauswesen im Stich, um deinen Bruder mit müßigem Geschwätz zu unterhalten, Tochter?«
»Mein Hauswesen hat die Eigenart, für sich selbst zu sorgen, wenn ich es für eine Weile verlasse, um der Nächstenliebe zu frönen. «
»Nächstenliebe nennst du es, wenn du deinem Bruder den närrischen Klatsch aus den Gassen vorbeibringst?«
Alyss reckte ihr Kinn. »›Würden keine Narren leben, würd' es keine Weisen geben‹, sagt Freigedank, der bescheidene Dichter.«
Der Blick unter den schwarzen Brauen, der Alyss durchbohrte, hätte manch schwächeres Weib zum Zittern und Zagen gebracht. Doch sie erwiderte ihres Vaters Blick, und mit großer Genugtuung bemerkte sie das feine Gekräusel in seinen Augenwinkeln.
»Du hast dich meiner Bibliothek bedient!«
»Ja, Herr Vater. Mit großem Nutzen für meine unsterbliche Seele.«
»Und du, Sohn? Hat sie auch deine Seele mit frommen Sinnsprüchen erquickt?«
»So weit lasse ich es nicht kommen, Herr Vater. Aber sie war mir alle Tage ein Halt.«
»So ernst, Junge?«
Alyss bemerkte, dass ihr Vater sehr genau zwischen den Zeilen lesen konnte. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich zu Marian.
»Ein wenig, Herr Vater. Ich möchte etwas mit Euch besprechen. «
»Wie es scheint, ein Thema von Wichtigkeit.«
Alyss schob einen Schemel näher an Marian und ließ sich darauf nieder.
»Ah, von großer Wichtigkeit«, kommentierte ihr Vater diese Geste. »Und eines, was mich nicht besonders erfreuen wird.«
»Ja, Herr Vater.«
»Sprich!«
»Es ist ... Ich enttäusche Euch wieder einmal ... Verzeiht, Herr Vater. Aber ich kann nicht anders.«
Marian rang die blassen Hände im Schoß und suchte nach Worten, stammelte und konnte nicht formulieren, was ihm am Herzen lag. Alyss räusperte sich leise, und er sah hilfesuchend zu ihr hin.
»Herr Vater, mein Bruder möchte nicht weiter als Kaufmann tätig sein, sondern als Heiler wirken.«
»Und das traust du dich nicht, mir ins Gesicht zu sagen, Sohn?«, grollte Ivo vom Spiegel.
Marian senkte die Lider.
»Ich weiß, dass es Euer größter Wunsch ist, dass ich das Geschäft übernehme. Ich bin Euer Erbe.«
»Und euer Vater ist ein Gelehrter, der selbst die großen Universitäten besucht hat«, sagte eine klare Stimme von der Tür her. Almut vom Spiegel trat ein und betrachtete die kleine Gruppe, die ihre Familie darstellte.
»Ivo, Ihr seht aus wie das personifizierte Gewitter. Entladet Donner und Blitz, aber dann wollen wir über diesen bemerkenswerten Sinneswandel unseres Sohnes in Ruhe sprechen.«
»Ich donnere und blitze nicht, Weib!«, donnerte Ivo vom Spiegel und sah seine Tochter mit blitzenden Augen an. »Oder?«
»Allmächtiger Vater. Nein, nie!«
Alyss fiel auf, dass ihre Mutter sich auf die Unterlippe biss, aber sehr schnell wieder Würde annahm. Ihr Vater hingegen nickte wohlwollend ob dieser Antwort. Dann stand er auf und wanderte zum Fenster, betrachtete eine Weile das Treiben auf dem Alter Markt und kehrte dann zu seinem Sohn zurück.
»Die medizinische Fakultät unserer Universität lässt noch ein wenig zu wünschen übrig«, grummelte er. »Ich denke, Salerno oder Paris sind geeignetere Orte, die ärztliche Kunst zu studieren. «
Marian zupfte an der Pelzdecke. Dann aber faltete er seine unruhigen Hände und erklärte mit fester Stimme: »Danke, Herr Vater. Aber ich möchte die Heilkunst nicht an den Universitäten studieren, sondern in der Praxis. Und dann, vielleicht später, will ich die Lektionen hören.«
»Wie stellst du dir diese Praxis vor?«
»Der Mann, der mir ... geholfen hat, der meine Knochen wie der gerichtet und eingerenkt hat, er wusste mehr als all die Doctores, die nachher spitzfindig über mein Befinden philosophiert haben.«
»Ich habe ihnen gutes Geld für diese Spitzfindigkeiten gezahlt. «
»›Dem Kranken tut es selten wohl, wenn ihn der Doctor erben soll‹«, flötete Alyss.
»Tochter!«
»Was erwartet Ihr, Ivo? Sie ist mein Kind.«
Almut war zu Alyss getreten und hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt.
»Wie wahr. Nun, du willst also bei den Barbieren und Knocheneinrenkern lernen?«
»Bei den Wundärzten, Zahnbrechern und Kräuterweiblein, oder auch bei einem Infirmarius oder Alchimisten. Sie waren es, die mir wirklich geholfen haben.«
»Und wer wird mein Geschäft weiterführen?«
Marian verzog qualvoll sein mageres Gesicht.
»Alyss könnte es, Herr Vater. Weit besser als ich!«
»Meine Tochter ist verheiratet und führt das Geschäft ihres Gatten und ihr eigenes.«
»Darf ich, mein Herr Gemahl, daran erinnern, dass eine ganze Schar von Vettern, Neffen und Schwägern in Eurem Handelshaus tätig sind, die recht ordentliche Fähigkeiten als Kaufleute besitzen.«
»Sind aber nicht meine Söhne«, murmelte der Herr vom Spiegel. »Also werde ich mir den Kopf zerbrechen müssen, wie ich mein Heim bestelle. Wenn du deinem Ruf folgen musst, Marian, dann bemühe dich, das so gut zu machen wie möglich. Wenn du Unterstützung brauchst, sag es mir. Ich kenne den einen oder anderen, der dir helfen könnte.«
Ivo vom Spiegel erhob sich. Hoch überragte er seinen Sohn, dessen zierliche Gestalt durch die lange Krankheit noch schmächtiger wirkte. In den strengen Zügen ihres Vaters gewahrte Alyss tiefe Sorge und - unendliche Zärtlichkeit.
Der Herr des Hauses verließ den Raum, und die Herrin nahm seinen Platz im Sessel ein.
»Er versteht es manchmal prächtig, einem ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Aber Marian, er ist so glücklich, dass es dir wieder besser geht. Ich glaube, er hat gar nicht erwartet, dass du noch einmal im Fernhandel tätig wirst.«
»Ich bin eben nicht gerade sein Wunschbild von Sohn.«
»Womit, Marian, du mir die Schuld zuschiebst, denn schließlich hätte ich mir mit dir ja wohl etwas mehr Mühe geben sollen. Oder wenigstens noch fünf weiteren strammen Söhnen das Leben schenken müssen.«
»Aber Frau Mutter ...«
»Richtig.«
Alyss mischte sich wieder ein.
»Im Augenblick, Marian, kannst du noch nicht mit deiner praktischen Ausbildung anfangen. Dafür bist du noch zu schwach. Aber was wäre, wenn wir die Bibliothek nach einigen Werken über die Medizin durchsuchten. Ich meine, ich hätte ein Werk über die Anatomia gesehen.«
»Ein guter Vorschlag!«
Marian stieß die Pelzdecke zur Seite und griff nach den Krücken. Seine Mutter wollte ihm helfen, aber Alyss hielt sie zurück.
»Er schafft es alleine.«
»Richtig, Schwester mein. Manches schaffe sogar ich alleine.« Sprach's und schwang sich an den Stöcken aus dem Raum.
»Er ist es leid, hilflos zu sein.«
»Ich weiß. Ich bemühe mich, es zu übersehen. Darum erzähle mir nun: Wie laufen deine Geschäfte, Alyss?«
»Die meinen entwickeln sich befriedigend. Tilo ist mit dem alten Peer zu den Winzern in der Pfalz aufgebrochen. Er platzte fast vor Stolz, dass er seine erste Reise machen durfte.«
»Meine Schwester Mechtild hat es mir berichtet. Sie klagte natürlich ein wenig, weil sie um seine Sicherheit fürchtete. Aber dein Handelsknecht wird schon auf ihn aufpassen.«
»Peer ist ein knorriger alter Baum, den wenig erschüttert, und Tilo ist ein ungewöhnlich besonnener Junge. Weit ist die Reise nicht, und die Winzer kennen uns.«
»So argumentierte ich auch. Sie beruhigte sich darob.«
»Und wie steht es um deinen Gatten?«
»Von Arndt habe ich bislang noch nichts gehört. Er ist auf dem Weg nach Deventer, um Fisch zu kaufen. Wie jedes Jahr.«
Ihre Mutter nickte, und Alyss beließ es dabei, auch wenn sie wusste, dass einige Fragen damit wieder einmal unbeantwortet geblieben waren. Über ihre Ehe mochte sie nicht einmal mit ihrer Mutter sprechen.
Dafür aber gab sie ihr eine lebhafte Schilderung ihres Hauswesens in der Witschgasse, das neben dem Gesinde auch fünf junge Leute beherbergte, die bei ihr erzogen wurden. Und dass ihr Schwager Robert, der sein Kontor ebenfalls im Haus hatte, in Kürze aus London zurückerwartet wurde. Natürlich berichtete sie auch von Malefiz, dem schwarzen Kater, der sich unablässig darin vervollkommnete, seinem Namen gerecht zu werden. Er war der Sprössling einer langen ehrenvollen Ahnenreihe, deren Ursprung ihre Mutter noch gekannt hatte. Teufelchen war einst die Katze gewesen, die in dem Beginenkonvent ihr Heim fand, dem Almut in jungen Jahren angehört hatte. Luci, ihre Tochter, gebar Lilith, Herrin der Güter derer vom Spiegel, und ihr Sohn Malefiz schließlich - einer ihrer zahlreichen teuflischen Abkömmlinge - hatte sich bereit erklärt, Wohnung in der Witschgasse zu nehmen und dort sein Unwesen zu treiben.
Almut hörte mit freundlicher Anteilnahme diesen Berichten ihrer Tochter zu, gab, wo sie gefragt wurde, Rat, vermied es aber, weitere Fragen zu stellen.
Dennoch hatte Alyss das Gefühl, die eine oder andere beantwortet zu haben.
Ihre Mutter hatte einen untrüglichen Sinn für die Probleme ihrer beiden Kinder.
Was ihr ein gelegentliches Unbehagen bereitete. Aber Alyss war entschlossen, ihre Angelegenheiten selbst mit fester Hand zu regeln.
3. Kapitel
Das Haus des Weinhändlers Arndt van Doorne war lange nicht so prachtvoll wie das Patrizierhaus derer vom Spiegel. Doch es war ein ansehnliches Anwesen, das gleichzeitig als Wohn- und Geschäftshaus diente. In den kühlen Kellern lagerten die Weinfässer, neben der Hofdurchfahrt befand sich, mit Blick auf die Witschgasse, die vom Rhein hochführte, das geräumige Kontor, dahinter lag das Reich der Haushälterin - die Küche und die Vorratsräume. Auf der anderen Seite der Hofdurchfahrt schlossen sich weitere Lagerräume an, die vom Bruder des Hausherrn, Robert van Doorne, genutzt wurden. Hier stapelten sich die Ballen feinster englischer Tuche, die er an die zünftigen Schneider mit gutem Gewinn verkaufte.
Im Stockwerk darüber empfing man wichtige Gäste im Saal, dem mit aufwändig geschnitzten Schränken und Truhen eingerichteten Prunkraum. Silber und Messing schimmerten auf den Borden, der Kamin war mit Delfter Kacheln verkleidet, den Tisch deckte ein orientalischer Teppich, und das Licht, das durch die runden Gläser der Fenster fiel, zeichnete bunte Kreise auf dem glänzend gewachsten Holzboden. Auf der anderen Seite des Mittelgangs lagen die Gemächer des Hausherrn und seines Bruders. Unter dem Dach, durch die Kammer der Haushälterin und der Magd schicklich getrennt, befanden sich die Schlafräume der jungen Hausgäste. Der sechzehnjährige Tilo war der Sohn des Tuchhändlers Reinaldus Pauli, die ein Jahr jüngere Hedwigis die Tochter des Baumeisters Peter Bertolf. Leocadie, mit ihren achtzehn Lenzen die Älteste, war die Tochter Leon de Lambrays, eines burgundischen Weinhändlers, und Frieder und Lauryn, vierzehn und fünfzehn, die Kinder eines Pächters auf den Gütern derer vom Spiegel.
Neben diesen Hausbewohnern belebten noch ständige Tischgäste das Heim derer van Doorne, allen voran Merten, der Stiefsohn des Hausherrn, und Magister Hermanus, Arndts Vetter, ein Kanoniker, der als Messner von Lyskirchen sein karges Leben fristete.
Alyss herrschte trotz ihrer jugendlichen vierundzwanzig Jahre mit eiserner Hand über diesen kleinen Staat - was auch dringend vonnöten war. Ihr Gatte befand sich überwiegend auf Reisen. Die Wintermonate verbrachte er im milden Burgund, um dort die roten Weine aufzukaufen, im Frühjahr beförderte er sie an die Nordseeküste, wo sie nach England verschifft wurden. Im Gegenzug brachte er von dort den begehrten gesalzenen Fisch nach Köln zurück. Im Spätsommer suchte er die Pfalz und ihre Messen auf, und nur die Herbstmonate verbrachte er in seinem Heim.
Fünf Jahre waren er und Alyss nun verheiratet, und sie hatte sich nach und nach angewöhnt, neben der Verantwortung für den Haushalt auch alle in Köln anfallenden Geschäfte zu übernehmen. Sie führte, wie auch ihre Mutter, ihr eigenes Siegel, das es ihr erlaubte, rechtsgültige Abwicklungen vorzunehmen und auf eigene Rechnung Handel zu treiben. Arndt van Doorne kam das entgegen. Meistens zumindest.
Fünf Wochen waren seit dem Tag vergangen, an dem Marian seinen Entschluss kundgetan hatte, sich der Heilkunst zu widmen. Wie jeden Morgen saß Alyss auch an diesem Junitag im Kontor. Das Fenster zur Witschgasse hatte sie weit geöffnet, und die Sonne ergoss ihr Licht über die Seiten des großen Haushaltsbuches. In ihm nahm sie sorgfältig ihre Eintragungen vor. Jede Einnahme und Ausgabe wurde darin penibel mit Datum, Betrag und einigen erklärenden Worten verzeichnet, sei es Wachs für Kerzen, Mehl oder Graupen, eingehende Weinlieferungen und Zahlungen an verschiedene Handwerker. Nadeln für fleißige Näherinnen, Werkzeuge für den Rebschnitt und die Kelter, neue Stiefel für Magister Hermanus, ein Traktat über Heilkräuter für ihren Bruder oder die bunten Bänder, die Leocadie sich er schmeichelt hatte, wurden in gleicher Form darin aufgeführt wie die eingehenden oder noch ausstehenden Zahlungen, die die Abnehmer der Weinfässer in ihrem Keller zu leisten hatten. Und natürlich auch die Summen, die Merten immer wieder einforderte.
Auf diese Weise wusste Alyss stets auf die kleinste Münze genau, wie viel Geld in den Lederbeuteln in der schweren Eichentruhe lagerte, und konnte, wenn größere Ausgaben anstanden, frühzeitig ihre säumigen Schuldner auffordern, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Alles in allem stand das Haus recht gut da.
Nach den Eintragungen in das große Buch öffnete Alyss den Deckel der schweren Eichentruhe, um einige Münzen in eine kleine Börse abzuzählen. Hilda benötigte Geld, um die Einkäufe auf dem Markt zu tätigen, der Fleischhauer wollte bezahlt werden, ebenso der Wagner, der das Rad des Frachtkarrens repariert hatte, und der Böttcher, der neue Weinfässer anfertigen sollte.
Damit waren ihre Tätigkeiten im Kontor für diesen Tag beendet, und sie wollte sich den Haushaltspflichten zuwenden. Doch sie hatte noch nicht den Geldbeutel aufgemacht, da erschien Hilda an der Tür und kündigte einen Besucher an.
»Ein fremdländischer Mensch, Herrin. Sagt, er kennt den Herrn Robert.«
»Ein Geschäftsfreund, demnach.«
»Kann ich nicht sagen. Er spricht seltsam und ist nicht von hier. Und ich würde ihn nicht einlassen.«
»Warum nicht?«
»Sein Blick ist böse.«
Da Hilda von allerlei abergläubischen Ängsten heimgesucht wurde, maß Alyss dieser Beobachtung nicht allzu viel Bedeutung bei und verlangte wagemutig, den Mann ins Kontor zu führen.
»Dass es Euch nur nicht später gereut«, murmelte Hilda vielsagend, polterte dann aber zur Haustür zurück. Alyss legte die Börse in die Truhe und klappte den Deckel zu. Nicht jeder unangekündigte Fremde musste direkt sehen, wie viel Geld sie im Haus hatte. Gleich darauf trat der Besucher ein, und sie betrachtete ihn abwartend. Groß war er, wettergegerbt seine Züge, derb seine Kleidung, wenn auch von ordentlicher Qualität. Ein weitgereister Mann, konnte man seinen zerschrammten Stiefeln Glauben schenken. Seine Augen - von hier mochte Hilda ihren Verdacht auf den bösen Blick herleiten - wirkten unter den verhangenen Lidern sehr hell in dem von der Sonne gebräunten Gesicht. Doch Alyss entdeckte keine Gefahr in ihnen, allenfalls Neugier.
»Mistress Alyss? Ich bringe Euch einen Gruß von Robert. Mein Name ist John of Lynne.«
Sein Deutsch war fließend, doch die Melodie seiner Rede klang ungewohnt, und manche Laute mochten seiner Zunge wohl unbekömmlich sein. Dennoch war er deutlich zu verstehen. Alyss nickte ihm grüßend zu.
»Ah, Master John of Lynne. Mein Schwager sprach von Euch. Doch nicht davon, dass Ihr uns aufsuchen wolltet.«
»Die Umstände, Mistress Alyss. Sie zwingen mich. Meines Königs Tochter Blanca wird in sechs Tagen heiraten. Hier in Köln, den Ludwig von der Pfalz.«
»Und das kann sie nur mit Eurer Hilfe, nehme ich an?«
John of Lynne grinste Alyss frech an.
»Ich hoffe, Ludwig wird genug Mann für sie sein. Ich bringe nur das Geschenk für den Grafen und den Erzbischof.«
»Ihr macht dem Grafen und dem Erzbischof also Geschenke. Großmütig von Euch.«
»Geschenke meines Königs, Mistress. Weiße Gerfalken. Und ich habe auch einen für Euch mitgebracht.«
»Einen Falken?« Alyss' schwarze Augenbraue zuckte in die Höhe.
»Einen Falken, Mistress Alyss.«
»Aus England. Wie einfallsreich. Wenn Ihr einmal Euren Blick aus diesem Fenster schweifen lassen würdet, Master John of Lynne, was werdet Ihr dort wohl erkennen?«
»Einen Kirchturm, Mistress.«
»Was glaubt Ihr wohl, wer auf diesem Kirchturm haust?«
»Der Läuter von den Glocken?«
Alyss schnaubte verächtlich.
»Schaut genau hin mit Euren Falkenaugen.«
»Ah, ich verstehe. Ein Pärchen Falken.«
»Weshalb Ihr mein Befremden vermutlich versteht. Falken, Master John, haben wir auch hier in Köln. Auf jedem Kirchturm. «
»Nun, aber meine Falken sind besonders, Mistress. Nicht wild.«
»Nein? Können sie sprechen?«
Jetzt erlaubte sich John of Lynne ein leises Auflachen.
»So weit haben wir sie nicht ... erzogen? Ausgebildet. Sie jagen. Mit Menschen.«
Er beugte mit einer sprechenden Bewegung den Arm, zog einem imaginären Falken das Häubchen vom Kopf und warf ihn in die Luft.
Trotz dieser kleinen Vorführung war Alyss' Miene noch immer streng.
»Falkenjagd, Master John, ist ein Vergnügen des Adels. Und die Patrizier unserer Stadt haben derzeit andere Sorgen.«
»Aber Euch würde es gut anstehen, Mistress. Nehmt ihn an, als mein Geschenk. Ein weißer Gerfalke ist würdig für eine Königin. «
»Ich bin Sieglerin, nicht Königin.«
»Ich verstehe. Ich bringe das nächste Mal den Adler für die Kaiserin mit, ja?«
Der Blick aus Alyss' grauen Augen sprach Bände.
»Nicht? Nein? Soll ich Euch wohl ein Ei vom Vogel Roch bringen oder die Asche vom Phoenix oder ...?
»Oder ein paar Schwanzfedern der Harpyien. John of Lynne, wirklich nützlich wären ein paar Hühner, die regelmäßig Eier legen. «
»Mistress, Ihr seid so bewundernswert vernünftig.«
»So vernünftig, dass ich Euch jetzt ohne Umschweife nach Eurem Begehr frage, denn ich habe heute Morgen noch Aufgaben zu erledigen.«
»Natürlich. Robert, er lud mich ein, für die Tage, die ich hier verbringe, in seinem Haus zu wohnen. Er ist noch unterwegs. Er wird wohl am Ende der Woche eintreffen.«
Nun gehörte das Haus tatsächlich den Brüdern van Doorne, und es war nicht unüblich, dass ihre Gäste ein Bett einforderten. Alyss nickte.
»Ihr könnt Roberts Gemach beziehen. Folgt mir, ich zeige Euch den Weg.«
Während sie voranging, wies sie ihn noch auf die Küche hin, wo die Mahlzeiten eingenommen wurden, und fragte nach seinem Gepäck.
»Ein Bündel nur, Mistress, und natürlich Euer Falke. Habt Ihr ein Obdach für ihn?«
»Reicht ihm der freie Himmel nicht?«
»Stellt Ihr Euren Geldbeutel unter freiem Himmel ab?«
»Mhm. Was, im Namen der Heiligen Jungfrau, soll ich nur mit einem wertvollen Falken beginnen? - Frieder!«
»Frieder ist im Stall«, kam die Antwort einer Mädchenstimme aus der Küche, und Lauryn trat an die Tür.
»Hol ihn, Lauryn, er soll sich um den Falken kümmern. Master John wird ihm zeigen, was dazu notwendig ist.«
»Ja, Frau Alyss. Wirklich ein Falke?«
»Ein weißer Gerfalke«, ergänzte John und lächelte die vierzehnjährige Jungfer an. Lauryn, gewöhnlich unempfindlich den Aufmerksamkeiten des männlichen Geschlechts gegenüber, bekam rosa Wangen.
Alyss seufzte.
Nicht nur der Falke bereitete ihr Sorgen.
Nachdem der Gast versorgt war, kehrte sie in das Kontor zurück, um sich wieder der Börse zu widmen. Diesmal konnte sie ihre Tätigkeit zwar beenden, doch das Kontor zu verlassen, war ihr wiederum verwehrt. Reinaldus Pauli klopfte mit einem freund
lichen Gruß an die Tür.
Sie nickte dem Tuchhändler gemessen zu.
»Ihr seht wohl aus, Frau Alyss. Hörtet Ihr jüngst von Eurem Gatten?«
»Nein, Meister Pauli, doch das besorgt mich nicht. Er wird zu gegebener Zeit eintreffen. Es wird Euch aber freuen zu erfahren, dass mein Schwager Robert Ende der Woche zurückkehrt.«
»Mit englischen Tuchen, hoffe ich. Das trifft sich außerordentlich, denn dann wird er gewiss an unserem Gaffelessen am Sonntag teilnehmen.«
»Ich werde es ihm ausrichten.«
»Seid so gut, Frau Alyss. Es findet anlässlich der englischen Hochzeit statt.«
»Die Eheschließung scheint für nicht unbeträchtliche Aufregung zu sorgen, Meister Pauli. Ein Geschäftsfreund von Robert ist soeben bei uns eingetroffen. Ein John of Lynne, der mit - mhm - Falken handelt.«
Reinaldus Pauli lachte auf.
»Wohl nicht ausschließlich. Aber wie man hört, ist es ein diffiziles Geschäft, diese Vögel gesund zu transportieren. Richtet dem englischen Händler auch die Einladung zum Essen aus. Er ist uns herzlich willkommen.«
»Lasst Euch nur nicht auch noch einen Falken andrehen.«
»Auch? Hat er Euch etwa einen mitgebracht?«
»Ja, und ich weiß noch nicht mal ein Rezept, wie man ihn genießbar zubereiten kann.«
»Frau Alyss, das Tier ist mit Gold aufzuwiegen.«
»Und wer, Meister Pauli, gibt mir das Gold für den lästigen Vogel? Wer, Meister Pauli, geht in unseren Kreisen zur Falkenjagd? «
»Je nun, eine berechtigte Frage. Aber es wird sich eine Antwort finden. Doch nun zum Geschäft, Frau Alyss. Wie steht es mit Euren Vorräten an Rheinwein?«
»Derzeit bescheiden, doch ich erwarte eine Lieferung aus der Pfalz. Der alte Peer und Euer Sohn Tilo müssten dieser Tage eintreffen. «
»Das freut mich zu hören. Dann nehmt meine Bestellung für das Gaffelessen entgegen.«
Alyss und der Tuchhändler einigten sich recht schnell über Menge, Qualität und Preis des Weins, und Alyss setzte ihr Siegel unter den Vertrag. Dieser Teil des Weinhandels lag gänzlich in ihrer Hand.
»Wie geht es Frau Mechtild?«, wollte sie dann wissen, als sie die geschäftlichen Abwicklungen beendet hatten. Die Gattin des Tuchhändlers war ihre Tante - zumindest im weitesten Sinne. Sie war die jüngere Halbschwester ihrer Mutter aus der zweiten Ehe ihres Großvaters, des Baumeisters Conrad Bertholf.
»Sie klagt über das Beschwernis ihres Leibes, wie üblich.«
»Die Geburt sollte kurz bevorstehen.«
»Das steht zu hoffen an. Aber auch wenn sie klagt, ist sie doch guter Stimmung. Besucht sie, wenn Ihr ein wenig Zeit erübrigen könnt. Es ist ihr zu anstrengend, das Haus zu verlassen.«
»In den nächsten Tagen, Meister Pauli. Sowie die Lieferung eingetroffen ist.«
Er nickte und schob dann auf dem Schreibpult etwas verlegen das Tintenfass hin und her.
»Ich weiß, Ihr seid eine rege Frau und kümmert Euch um viele Dinge. Darf ich Euch dennoch um einen weiteren Rat bitten?«
»Einen Rat oder einen Gefallen?«
Reinaldus Paulis breitflächiges Gesicht verzog sich entschuldigend.
»Welchen Gefallen?«, hakte Alyss nach.
»Ein Händler aus Friesland traf vorgestern bei uns ein. In seiner Begleitung hatte er ein junges Weib. Nicht das seine, um das klarzustellen. Ein verstörtes Geschöpfchen, hochschwanger und schreckhaft. Sie ist eines Nachts in ihrem Lager aufgetaucht und hat um Hilfe gebeten. Viel haben die Kaufleute nicht aus ihr herausbekommen. Nur dass sie mit Laurenz Stalen verheiratet war, der mit Venedig Handel trieb und bei einem Schiffbruch um kam. Stalen kannte ich flüchtig, wir sind uns in unserer Jugend dann und wann begegnet. Ich würde gerne etwas für seine Frau tun, aber derzeit kann ich Mechtild nicht zumuten, sich auch noch um eine Kranke zu kümmern.«
»Krank?«
»Eher an der Seele als am Körper. Sie schreit nachts in den Träumen, liegt zitternd und zähneklappernd in den Decken. Sie braucht weiblichen Trost, denke ich. Männer schrecken sie.«
»Ich will nicht ungefällig erscheinen, aber in diesem Haus wimmelt es mehr von Männern als von Frauen, vor allem, wenn Tilo, Robert und auch Arndt zurückkommen. Aber ...« Alyss tupfte mit ihrem Zeigefinger an ihre Nase. »Ich wüsste eine Möglichkeit, Meister Pauli. Was haltet Ihr davon, die junge Witwe zu den Beginen am Eigelstein zu bringen? Sendet Catrin von Stave meine Grüße; sie wird sich um sie kümmern, bis sich eine bessere Lösung für sie findet.«
»Aber natürlich, Frau Alyss. Das ist eine gute Idee. Ich werde die frommen Frauen sogleich aufsuchen.«
»Wendet Euch an die Meisterin Clara, sollte Catrin nicht anwesend sein. Sie wird murren und stöhnen, aber sie ist eine herzensgute Frau, die keinem Leidenden die Hilfe versagt.«
Nach einigen weiteren, in Alyss' Augen reichlich überflüssigen Plaudereien verabschiedete der Tuchhändler sich endlich, und sie konnte die Küche aufsuchen. Hilda wartete darauf, die Börse zu erhalten, damit sie die Einkäufe tätigen konnte.
Die Haushälterin war ungnädig gestimmt. Weniger wegen der Verzögerungen, die sich im Tagesablauf ergeben hatten, als über den neuen Logiergast.
»Es macht mir ja nichts aus, noch ein gefräßiges Maul mehr zu stopfen, Herrin, aber der Mann hat einen seltsamen Blick. Und er ist ein Verführer der Jugend.«
»Wen hat er in dieser kurzen Zeit bereits zu unsittlichem Tun verleitet?«
»Dazu nicht, aber der Frieder ist ganz aus dem Häuschen. Wegen des Vogels. Der Mann hat ihn fliegen lassen. Und dieses böse
Tier hat den Storch vom Dach verscheucht. Und Ihr wisst doch, was das bedeutet.«
»Für Kindersegen braucht's mehr als einen Storch auf dem Dach«, knurrte Alyss.
»Ja, einen Mann im Haus und einen Gatten im Bett!«, schnaubte Hilda. »Und deswegen ist es ein schlimmes Omen. Denkt an meine Worte, Herrin. Ein ganz schlimmes Omen.«
»Ach, pah!«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Andrea Schacht
Andrea Schacht war lange Jahre als Wirtschaftsingenieurin und Unternehmensberaterin tätig, hat dann jedoch ihren seit Jugendtagen gehegten Traum verwirklicht, Schriftstellerin zu werden. Ihre historischen Romane um die aufmüpfige Begine Almut Bossart haben auf Anhieb die Herzen von Lesern, Buchhändlern und Journalisten erobert. Nun lässt sie Almuts Tochter Alyss in deren Fußstapfen treten.Andrea Schacht lebt mit ihrem Mann und zwei anspruchsvollen Katzen in der Nähe von Bonn.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrea Schacht
- 1104 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386365899X
- ISBN-13: 9783863658991
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