Warte auf mich
Bei einer Verlagsfeier lernen sich der Erfolgsautor Philipp Andersen und die Nachwuchsschriftstellerin Miriam Bach kennen. Sie verbringen eine Nacht miteinander, in der fast nichts passiert - und in der sich doch alles verändert. Ein paar Blicke,...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Warte auf mich “
Bei einer Verlagsfeier lernen sich der Erfolgsautor Philipp Andersen und die Nachwuchsschriftstellerin Miriam Bach kennen. Sie verbringen eine Nacht miteinander, in der fast nichts passiert - und in der sich doch alles verändert. Ein paar Blicke, Berührungen, Worte - und die zwei sind hoffnungslos ineinander verliebt. Hoffnungslos, denn Philipp lebt in einer glücklichen Ehe, und Miriam will keine Geliebte sein. Dennoch stürzen sie sich in den Rausch dieser Amour fou, kämpfen mit sich und ihrer Liebe. In ihrer Not beschließen sie, alles, was zwischen ihnen passiert, aufzuschreiben. Was wird am Ende ihrer Geschichte stehen? Trennung? Oder können sie ihre Liebe doch leben?
Lese-Probe zu „Warte auf mich “
Warte auf mich von Philipp Andersen und Miriam BachFür M.
Was wäre wenn ...
... zwei Autoren, ein Mann und eine Frau, die sich kaum kennen, sich zusammen in eine Geschichte stürzen, um darin Kopf und Kragen zu riskieren, ihr ganzes Leben aufs Spiel setzen, ihre realen Existenzen schreibend in die Fiktion entlassen, in die Fiktion einer großen, verzweifelten, wunderbaren Liebe, die es niemals gab und die darum immer sein wird?
Was wäre wenn ... Das ist das Abenteuer dieses Romans.
Ach Mirchen, wie sollen wir denn leben? Indem wir nichts anderes probieren, als mögliches Leid zu verhindern? Oder indem wir versuchen, ein bisschen glücklich zu sein, auch wenn das Scheitern dann vorprogrammiert ist? Lieber Reading Gaol als Puppenheim!
Was, Philipp, wenn ich morgen einen Unfall habe, wer sitzt dann neben mir am Krankenhausbett? Schlimmer noch: Was, wenn DU morgen einen Unfall hast? Dann KANN ich da nicht mal sitzen. Ich kann nicht bei dir sein und dich trösten, wenn du traurig bist, kann dich nicht sofort jubelnd umarmen, wenn du dich über etwas freust, kann nicht immer neben dir liegen und dich streicheln, dir sagen, dass alles nicht so schlimm ist und wir es zusammen schon schaffen werden, genauso wenig, wie du das bei mir tun kannst.
Büro des Verlegers, heute, 14:05 Uhr
... mehr
Unübersehbar lag das Päckchen da, mitten auf seinem Schreibtisch. Nur sein Name stand in großen, handgeschriebenen Druckbuchstaben darauf, sonst nichts. Keine Adresse und kein Absender. Also musste es jemand dorthin gelegt haben, irgendwann während seines zweistündigen Auswärtstermins. Er ging ins Vorzimmer seines Büros, fragte seine Assistentin, von wem die Sendung stamme, doch sie wusste es nicht. Sie sei, erklärte sie entschuldigend, nur kurz etwas essen gewesen, davor und danach habe sie niemanden gesehen.
Verwundert kehrte er zu seinem Schreibtisch zurück, nahm auf dem ledernen Bürostuhl Platz und griff nach dem Päckchen. Es wog schwer in der Hand. Vielleicht waren ein paar Buchvorschauen darin. Oder ein Manuskript. Oder war es etwas anderes? Für gewöhnlich landeten unverlangt eingesandte Arbeiten nicht bei ihm, schon gar nicht in einem Umschlag mit krakeligen Druckbuchstaben, anstelle eines korrekten Adressaufklebers. Ein kleines bisschen erregt - schließlich war die Sache einigermaßen seltsam - riss er den Umschlag auf. Als er den Inhalt sah, zuckte er enttäuscht mit den Schultern. Es war doch nur ein Manuskript, ein dicker Packen Papier, sicher dreihundert eng bedruckte Seiten. Schon wollte er es seiner Assistentin bringen, damit sie es im Lektorat auf den Stapel mit den zu prüfenden Texten legte, als ihm ein kleiner Zettel entgegengeflattert kam. Die gleichen handgeschriebenen Großbuchstaben wie auf dem Umschlag des Päckchens.
BITTE LESEN SIE DAS! PERSÖNLICH!
Mehr nicht, nur diese knappe Botschaft. Und doch reichte sie aus, um seine Neugier zu wecken. Woher kam das Manuskript? Wer hatte es auf seinen Tisch gelegt? Wie bei einem Daumenkino blätterte er durch den dicken Packen und stellte dabei fest, dass es sich um eine Art Patchworkarbeit handelte: Jemand hatte ausgeschnittene Texte auf Bogen geklebt, sie wie ein Puzzle zusammengesetzt. Der eine Teil stand auf kopierten Seiten, dem Satz nach eindeutig einem Buch entnommen, der andere schien ein normaler Computerausdruck zu sein. Seltsam, mehr als seltsam ... Was war das? Eine Komposition, bestehend aus zwei verschiedenen Manuskripten, eines davon bereits als Roman gedruckt und vielleicht sogar schon erschienen, das andere gerade erst geschrieben? Er nahm seine Brille, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und begann zu lesen.
Kapitel 1
1.
Warten. Ihr schien es, als bestünde ihr Leben seit Monaten nur noch aus Warten. Warten auf das nächste Treffen mit ihm, die wenigen gestohlenen Stunden oder Tage, die sie miteinander hatten. Warten auf die Telefonate, immer spät in der Nacht, wenn er ungestört sprechen konnte. Und schließlich warten darauf, dass sich alles eines Tages änderte. Ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, ob das jemals passieren würde.
Doch sie wartete.
Ausgerechnet sie, die immer Rastlose, der nie etwas schnell genug gehen konnte. Immer zack, zack, höher, schneller, weiter, gehetzt und ohne jede Geduld, heute hier, morgen dort. Und jetzt also das Warten, stunden-, tage-, wochenlang, das gesamte Leben abgestellt auf ein paar Momente, diese wenigen Augenblicke, wenn sie in seinen Armen lag. Aber es machte ihr nicht einmal etwas aus. Denn in Wahrheit hatte sie schon eine kleine Ewigkeit auf ihn gewartet, viele Jahre auf den einen, der ihren grenzenlosen Durst, ihren quälenden Hunger nach dem stillte, was sie lange nicht hatte benennen können. Mehr. Sie hatte nach dem »Mehr« gesucht und es in ihm gefunden.
»Himmelfahrten« nannte er ihre gemeinsamen Fluchten, ihre heimlichen Treffen, bei denen nichts zählte außer ihren Gefühlen füreinander. Und es waren tatsächlich Himmelfahrten, Momente, in denen sie den Rest der Welt vergaßen.
Aber kein Himmel ohne Hölle.
Sie kannte ihn schon einige Jahre, nur flüchtig zwar, aber sie wusste, wer er war. Zwei- oder dreimal hatte sie ihn auf der Buchmesse gesehen, als sie eine Zeit lang im selben Verlag veröffentlichten. Einmal hatte er ihr sogar einen seiner Romane signiert, den sie zu Hause ungelesen ins Regal gestellt und dann vergessen hatte. Er war ein arrivierter Autor, seine Bücher in den Bestsellerlisten, in zwei Dutzend Sprachen übersetzt. Sie selbst war auch nicht unerfolgreich, doch weit unterhalb seiner Wahrnehmungsschwelle und außerdem in einem vollkommen anderen Genre tätig; während er über die Vergangenheit schrieb, zog sie es vor, sich mit der Gegenwart, mit dem Hier und Jetzt, zu beschäftigen.
Sie mochte ihn nicht sonderlich. Arrogant und blasiert kam er ihr vor, ein selbstgerechter Schwätzer, der wie ein Pfau über die Messe stolzierte, immer umzingelt von Journalisten, Fans und Verehrerinnen. Es war wohl auch ein kleiner Stachel namens Neid, den sie in ihrer Brust verspürte, wenn dieselben Journalisten, die ihn zuvor in den Himmel gelobt hatten, ihr gegenüber eine gewisse Abfälligkeit an den Tag legten. Sie war noch ein halbes Kind gewesen, als sie ihren ersten Roman veröffentlicht hatte, und auch Jahre später musste sie darum kämpfen, dass sie als Schriftstellerin ernst genommen wurde. Und er war eben das Sinnbild dafür, der Sündenbock, auf den sie diese Ungerechtigkeit projizierte.
Dann der Abend, der alles veränderte: ein Verlagsjubiläum in München, dreihundert geladene Gäste. Darunter sie, Miriam Bach. Und natürlich auch er, Philipp Andersen, der Star des historischen Romans. Sie entdeckte ihn bereits zu Beginn der Feier, wie er im vorderen Teil des Festsaals saß, wichtig schwadronierend mit den Großen und Einflussreichen der Branche. Nicht ohne Genugtuung stellte sie fest, dass er anfing, in die Jahre zu kommen; seine dunklen Haare waren zwar voll, aber von weißen Strähnen durchzogen, und trotz seiner schlanken Statur zeichnete sich unter seinem Hemd ein deutlicher Bauchansatz ab, eine Lesebrille steckte in der Brusttasche seines Jacketts. Insgesamt war Philipp Andersen ein attraktiver Mann, keine Frage, aber eben einer, der seinen optischen Zenit vor gut und gern zehn Jahren überschritten hatte. Einer, dem Leben und Erfahrung unübersehbare Spuren ins Gesicht gezeichnet hatten, während sie selbst trotz ihrer neununddreißig Jahre immer noch mehr Mädchen als Frau zu sein schien. Nie hätte sie gedacht - niemals und nie! -, dass ausgerechnet dieser Abend eine schicksalhafte Wende in ihrem Leben bedeuten würde.
Und als sie zu späterer Stunde an der Bar stand, ein bisschen gelangweilt mit einer Kollegin plauderte und ihren Blick dabei beinahe abwesend durch den Raum schweifen ließ; als sie plötzlich bemerkte, dass Philipp Andersen sie von seinem Platz aus unverwandt ansah und ihr mit einer kleinen Geste bedeutete, dass sie zu ihm kommen sollte - da ging sie einfach zu ihm rüber.
Hätte sie um die Folgen dieser wenigen Schritte gewusst, sie hätte sich keinen Millimeter von der Bar weggerührt.
Und wäre gleichzeitig, so schnell sie nur konnte, zu ihm gerannt.
2.
22. März
Plötzlich war sie da. Wie vom Himmel gefallen. Saß einfach neben mir, so nah, dass unsere Schenkel sich berührten, und hielt meine Hand, oder ich ihre, das ließ sich nicht unterscheiden. Wie war sie bloß auf diesen Stuhl geraten, auf dem doch eben noch mein alter Freund Christian gesessen und mir die Ohren vollgelabert hatte? Ich weiß es nicht mehr, so wenig, wie ich mich daran erinnern kann, wie wir uns begrüßt und über was wir als Erstes geredet haben. Ich weiß nur noch, dass wir uns von Anfang an duzten. Als würden wir uns seit einer Ewigkeit kennen. Und dass ich wahnsinnig gern mit ihr sprach, egal worüber, und wenn es der größte Blödsinn war.
Warum, zum Teufel, haben wir uns eigentlich geduzt? Herrgott, ich bin doch viel zu alt für so was! Das ist doch alles längst vorbei!
Wahrscheinlich waren es ihre Augen. Diese wasserhellen blauen Augen mit einem scharf konturierten, dunklen, fast schwarzen Ring um die Iris, mit denen sie mich von der Bar aus angeflirtet hatte. Huskyaugen. Noch nie hatte ich Augen gesehen, die so unglaublich traurig blicken konnten, um im nächsten Moment aufzuleuchten und zu strahlen, als hätte jemand ein Licht in ihr angeknipst. Und dann ihr Mund. Auch ihr Mund hatte diese Traurigkeit, wurde manchmal ganz klein und schmal, als wolle er sich selbst verschlucken, sogar wenn sie gerade einen Witz erzählte. Aber genauso wie die Augen konnte sich auch ihr Mund verändern, urplötzlich, von einem Moment zum anderen, wurde ganz weich und groß, blühte auf.
April, dachte ich. Eine Frau, in der Aprilwetter ist.
Bis Mittag hatte ich an meinem neuen Roman gearbeitet, und noch auf der Autobahn hatte ich mich gefragt, was ich eigentlich auf dieser Party sollte. Der Verlag, der sein hundertjähriges Jubiläum feierte, war ja gar nicht mehr mein Verlag, wir hatten uns nach meinem vorletzten Buch getrennt. Mein alter Verleger wollte immer dasselbe von mir, einen historischen Roman nach dem anderen. Aber ich bin nicht Autor geworden, um an einer Marketingstrategie entlangzuschreiben. Ich will Geschichten schreiben, die ich schreiben muss! Doch wenn der Verlag mich trotz unserer Trennung zu diesem Festtag einlud, wäre es sehr unhöflich gewesen, die Einladung auszuschlagen. Außerdem war der Abend eine gute Gelegenheit, mal wieder ein paar Leute zu treffen. Präsenz zeigen, Backen aufblasen und wichtigtun. Schließlich brauchte ich bald neue Verträge.
Und dann war sie plötzlich da, und all die wichtigen Leute, wegen derer ich gekommen war, interessierten mich nicht mehr. Ich schaute ihr in die Augen, schaute auf ihren Mund, ohne irgendetwas anderes von ihr wahrzunehmen, während unsere Hände miteinander sprachen, als würden sie uns vorauseilen, und ihr nackter Schenkel unter dem Saum ihres albernen goldenen Paillettenkleids, in dem sie zu Ehren des schwerhörigen Seniorverlegers und Sohn des Verlagsgründers »Happy birthday, Mr. Publisher« ins Mikrofon gehaucht hatte, immer höher an meinen Oberschenkel heraufrutschte und ich immer neugieriger wurde auf diese Frau, die ich nicht kannte und die mir doch so seltsam vertraut vorkam. Wie siehst du wohl aus, wenn nicht April in dir ist, sondern Mai oder August oder November?
3.
Alles, wirklich alles, was sie je über ihn gedacht hatte, war falsch. Er war witzig und charmant, ein brillanter Geist, ein Kindskopf, ein Spinner, ein vollkommen verrückter Mensch. Sie saßen da und redeten miteinander, die Minuten flogen wie Sekunden vorüber. Auf einmal - sie konnte nicht sagen, wie es dazu kam - hielt er ihre Hand, sie steckten tuschelnd ihre Köpfe zusammen und nahmen nichts mehr wahr von dem, was um sie herum geschah. Sie sah nur noch seine großen blauen Augen, die ihr wie ein Spiegel ihrer selbst erschienen, hörte sein tiefes Lachen, das wie ein Stromschlag durch ihren Körper zitterte, spürte und roch seine Nähe, genoss jedes einzelne seiner Worte. Wie er von seinen Büchern erzählte und sie nach ihren fragte, wirklich und aufrichtig interessiert wollte er alles von ihr und ihrer Arbeit wissen. Keine Spur von dem blasierten Wichtigtuer, für den sie ihn immer gehalten hatte, im Gegenteil, seine Neugier beschämte sie fast, weil sie ihm ganz offensichtlich Unrecht getan hatte. Denn jetzt saß er vor ihr und sagte ihr, dass er unbedingt mal etwas von ihr lesen wolle, er hätte Lust, in ihrer Seele herumzuspazieren, um zu sehen, was sich in ihrem Köpfchen verbarg. Genauso sagte er es, »in deiner Seele herumspazieren «, und es kam ihr nicht einmal kitschig oder überzogen vor.
Und dann waren da ihre Hände, die einander festhielten und sich gegenseitig streichelten als sei es das Natürlichste der Welt. Hier, auf diesem Fest, wo jeder es sehen konnte und es trotzdem vollkommen egal war.
»Was machen unsere Hände da?«, fragte sie irgendwann, ohne ihn auch nur eine Sekunde lang loszulassen.
»Lass sie doch«, erwiderte er lächelnd, »die spielen nur und vertragen sich schon.« Ihr Blick wanderte über seine schönen, schlanken Finger, die verästelten Adern, die leicht unter der Haut durchschimmerten, die vielen kleinen Sommersprossen, die sich vom Handgelenk aus Richtung Ellbogen ausbreiteten, und seine behaarten Unterarme, die aus den Ärmeln seines Hemds hervorlugten. Und den Ring, seinen Ehering am vierten Finger seiner linken Hand, natürlich bemerkte sie auch den.
»Bist du zum Spielen nicht viel zu verheiratet?«
Er lachte. »Viel zu verheiratet? Kann man denn weniger verheiratet sein?«
»Ich weiß nicht. Kann man?«
»Vielleicht. Dann bin ich jetzt gerade mal weniger verheiratet. «
»Und hast du eher mehr oder weniger Kinder?«, setzte sie das Spiel fort.
»Eher weniger. Eine Tochter. Aber die ist schon erwachsen.«
»Dann muss ich dich jetzt wohl fragen, wie alt du eigentlich bist.« Er zögerte, seine Hand zuckte kurz zurück, aber sie hielt sie fest. Würde er jetzt lügen? Sie schätzte ihn auf Mitte oder Ende vierzig.
»Fünfundfünfzig, fast sechsundfünfzig.«
»Oh.« Noch nie hatte sie mit einem Mann dieses Alters Händchen gehalten oder auch nur geflirtet, im Gegenteil, mit ihrem kindlichen Aussehen zog sie meist wesentlich jüngere an. Doch es war seltsam: Hatte sie zu Beginn der Feier noch mit leichter Häme gedacht, dass er langsam in die Jahre kam, schien er jetzt, während er ihr gegenübersaß, mit ihr sprach und seine Finger mit ihren verschränkt hatte, von Sekunde zu Sekunde jünger zu werden. Benjamin Button, er war ein Benjamin Button! Seine großen blauen Augen, mit denen er sie neugierig musterte, lachten, in beiden Wangen bildeten sich jungenhafte Grübchen, ständig fiel ihm eine dicke Strähne seines vollen Haars in die Stirn, die er sich wieder und wieder aus dem Gesicht pustete, und selbst auf seiner Stupsnase entdeckte sie mehrere große Sommersprossen und dann noch eine direkt links über seinen vollen Lippen. »Dein Alter macht mir nichts aus«, sagte sie und kam sich im selben Moment unglaublich dämlich vor. Wie konnte sie so etwas sagen?
Aber wieder lachte er nur. »Das freut mich. Mir macht es auch nichts, dass du fast zwanzig Jahre jünger bist.«
Dann schwiegen sie beide, sahen sich einfach nur an, ließen ihre Hände weiter miteinander spielen und reden, sich alles erzählen, was ihnen auf dem Herzen lag, durch die Berührung Geheimnisse austauschen.
Irgendwann war es Mitternacht, und sie musste gehen, am nächsten Morgen wartete ein früher Termin auf sie. Doch sie konnte nicht. Sie wollte nicht, wollte seine Hand nicht loslassen und ihn dadurch verlieren. Nicht, ohne ihm zu sagen, in welchem Hotel sie wohnte, und ihn zu bitten, ihr später zu folgen.
4.
23. März
Kaiserhof«, hatte sie mir beim Abschied ins Ohr geflüstert, »ich warte auf dich.« Fünf Minuten nachdem sie fort war, verließ auch ich die Party. Das Hotel lag nur ein paar Minuten entfernt. Einigermaßen nervös huschte ich durch die Bar, aber ich sah in dem schummrigen Raum keine Frau, die ihr im Entferntesten glich, nur ein paar Geschäftsleute, die sich gegenseitig bei einem Absacker langweilten. Halb enttäuscht, halb erleichtert gab ich es auf. Alter Trottel, was hast du hier verloren? Du bist verheiratet, seit fast dreißig Jahren, glücklich verheiratet, und streunst mitten in der Nacht durch Hotelbars wie ein ralliger Kater? Sieh zu, dass du ins Bett kommst, und zwar in dein eigenes!
»Suchen Sie jemanden?«, fragte der Portier, als ich wieder in die Halle kam. »Nein«, sagte ich, »das heißt - doch. Eine Frau, die angeblich hier wohnt. Sie muss gerade zurückgekommen sein.«
Der Portier zog ein sehr professionelles Gesicht. »Ihr Name?«
Verflucht, ich wusste nicht mal, wie sie hieß! Dabei war sie, so hatte mir der Verleger beim Abschied zugeraunt, in ihrem Genre eine kleine Zelebrität. Zum Glück fiel mir wenigstens ihr Vorname ein. »Miriam ...«, sagte ich und reichte dem Portier einen Geldschein. »Mitte dreißig. Blonde Locken, glaube ich ...«
Der Portier runzelte kurz irritiert die Brauen, dann schlug er im Gästebuch nach und griff zum Telefon: »Da ist ein Herr, der nach Ihnen fragt«, sprach er diskret in die Muschel. »Herr ...?« Ein fragender Blick in meine Richtung.
»Andersen.«
Ein paar Sekunden Hochspannung, während ich leise ihre Telefonstimme hörte, doch ohne etwas zu verstehen. Dann die Auskunft des Portiers: »Nr. 17.«
Das Zimmer lag im ersten Stock, doch da ich ziemlich eilig die Treppe hinaufstieg, war ich ein bisschen außer Atem, als ich an ihre Tür klopfte.
»Sofort!«
Hinter der Tür Geraschel und Schritte. Als sie öffnete, holte ich tief Luft. Sie hatte sich schon ausgezogen, trug nur noch einen schwarzen BH und ein kleines bisschen schwarze Spitze unten herum.
»Komm rein«, sagte sie, als würde ich sie schon zum hundertstenmal mitten in der Nacht in einem Hotel besuchen, und tippelte auf ihren nackten Füßen zurück ins Zimmer. Vor dem Bett blieb sie stehen und drehte sich zu mir um.
»Du bist ja gar nicht blond«, sagte ich verwirrt.
»Wie bitte?«, lachte sie. »Warum sollte ich blond sein?«
»Ach nichts«, sagte ich, ging einen Schritt auf sie zu und strich über ihr glattes, braunes Haar. »Wahrscheinlich war es dein goldenes Kleid, weshalb ich ...« Statt den Satz zu Ende zu sprechen, nahm ich ihr Gesicht zwischen die Hände.
Sie sah mich an, ein bisschen prüfend, ein bisschen spöttisch.
»Was jetzt?«
»Was wohl?«
Ich hob ihr Kinn, und dann küssten wir uns. Doch seltsam, der Kuss fiel vollkommen leidenschaftslos aus. Wir küssten uns eher pflichtgemäß, weil es sich in dieser Situation eben gehörte, sich zu küssen, so wie es sich gehört, jemandem zur Begrüßung die Hand zu geben.
»Nur damit du es weißt«, sagte sie, als wir irgendwann aufs Bett sanken, »ich werde nicht mit dir schlafen.«
»Wie kommst du darauf, dass ich mit dir schlafen will?«, erwiderte ich. Statt einer Antwort warf sie einen kurzen Blick auf meine Hose. Ihr Mund lächelte, aber ohne ihre Augen.
»Oh Gott, bin ich müde.« Tatsächlich, jetzt gähnte sie auch noch.
»Willst du schon schlafen?«, fragte ich wie ein Idiot.
Sie gab keine Antwort, sondern kuschelte sich einfach unter ihre Decke, als wäre ich gar nicht da, und es dauerte keine Minute, bis sie schlief. Was war das denn für eine Nummer? Lädt mich in ihr Zimmer ein und pennt hier einfach vor mir weg? Für einen Moment war ich beleidigt, ein Reflex meiner männlichen Eitelkeit, aber der Moment dauerte gerade einen Wimpernschlag. Tatsächlich war ich gar nicht beleidigt, nicht im Geringsten. Eher amüsiert. Eine Verrückte! Total durchgeknallt! Ihr Atem ging schon ganz gleichmäßig, und ihre Lider zuckten, als würde in ihr immer noch irgendwas kämpfen. Plötzlich, ohne jeden Grund, hatte ich das Gefühl, dass ich sie wahnsinnig gernhaben würde, wenn wir uns erst kannten ... Doch dazu würde es wohl nicht kommen. Schade. Sehr schade. Ich stand auf und suchte meine Schuhe.
»Wenn du willst, kannst du ruhig bleiben«, murmelte sie im Halbschlaf. »Du bist doch genauso müde wie ich.«
»Meinst du das im Ernst?«
»Natürlich.« Blinzelnd schlug sie die Bettdecke zurück und rückte ein Stück zur Seite. »Komm, stell dich nicht so an.«
Einen Moment zögerte ich. Meine Nacht bei Maude fiel mir ein, ein uralter Film von Truffaut, mit Jean-Louis Trintignant und Jeanne Moreau. Nein, so blöd wie Trintignant, der die ganze Nacht im Mantel und mit hochgestelltem Kragen an Maudes Bett auf seinem Stuhl hockte, war ich nicht! Also zog ich mich aus und legte mich zu ihr.
Ohne sich umzudrehen, tastete sie mit einer Hand nach mir. »Oh, du bist ja nackt«, sagte sie. »Ganz nackt.«
5.
Erst als er vor ihrer Zimmertür stand, ein bisschen schwer atmend, sie irritiert musternd, weil sie nur noch Unterwäsche trug, wurde ihr klar, was sie gerade getan hatte. Sie hatte einen fast wildfremden Mann in ihr Hotel bestellt, einen Mann, von dem sie nicht wusste, ob er harmlos war oder vielleicht gewalttätig, noch, wie er ihren offenherzigen Empfang interpretieren würde. »Verdammt, Mirchen!«, schimpfte sie lautlos mit sich selbst. »Wie soll er das wohl deuten? Schließlich hast du ihm in Unterwäsche geöffnet!« Wie schon oft in ihrem Leben hatte sie sich gar nichts dabei gedacht, hatte nur das unbequeme Kleid loswerden wollen, arglos und naiv wie ein Kind. »Auch nicht schlimmer, als wäre es ein Bikini«, beruhigte sie sich selbst, wohl wissend, dass das natürlich Unsinn war.
»Hallo, da bin ich«, sagte er lächelnd, während er noch immer auf der Türschwelle stand. Sie zögerte, was sollte sie jetzt tun? Ihn wieder wegschicken, nachdem sie ihn zu sich beordert hatte? Ihm erklären, dass es so nicht gemeint gewesen war? Dass, als sie es ihm ins Ohr geflüstert hatte, nur einer der kleinen Dämonen, die sie so oft piesackten, mit ihr durchgegangen war? Dass sie nur hatte wissen wollen, ob er ihr wirklich folgen würde, und er jetzt, nachdem er es getan hatte, gern wieder verschwinden dürfe?
»Komm rein«, sagte sie stattdessen. Denn all diese Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, kamen ihr unverschämt und verletzend vor. Beinahe musste sie kichern. »Unverschämt und verletzend«, das würde sie später auf dem Polizeirevier zu Protokoll geben, falls ihr etwas passieren sollte - »hören Sie mal, ich konnte doch nicht so unverschämt und verletzend sein!«
Doch während er eintrat und eine Sekunde später seine Verwunderung darüber äußerte, dass sie nicht blond, sondern brünett war, weil ihr goldenes Kleid ihn offenbar verwirrt hatte, da musste sie tatsächlich lachen, und alle Unsicherheit fiel von ihr ab. Absurd, es war eine absurde Situation, umso absurder, weil sie ihr überhaupt nicht so vorkam. Als sei es das Natürlichste auf der Welt, nachts in Unterwäsche einen Mann zu empfangen, mit dem sie erst wenige Stunden zuvor das erste Mal gesprochen hatte. Abgesehen von ihrer flüchtigen Begegnung vor Jahren, bei der er ihr sein Buch signiert hatte. Das ungelesene Buch, zu Hause im Regal, von dem sie nicht einmal mehr wusste, wie es hieß.
Aber auch das sagte sie nicht, sie sagte vieles nicht, während er ihr Gesicht in beide Hände nahm und sie küsste. Sagte ihm nicht, dass sie ihn zwar sehr mochte, ihn attraktiv und interessant fand, er aber in Wahrheit nur ein Opfer ihrer Eitelkeit geworden war. Hinter ihr lag eine anstrengende Zeit, ein neuer Roman von ihr war eben erst erschienen, und sie war für Lesungen kreuz und quer durchs Land gereist. Doch die noch größere Erschöpfung fühlte sie, weil erst vor Kurzem eine Beziehung gescheitert war, eine kurze Liaison, die in Verletzung und Enttäuschung geendet hatte. Ein schmerzhafter Schlag gegen ihr Ego, und sie hatte Philipp Andersen an diesem Abend dazu ausgewählt, diese Wunde ein wenig zu heilen. Ein erfolgreicher, aber älterer Mann, viel zu alt für ernsthafte Absichten - warum nicht? Ein perfekter Spielball für diesen Zweck, einzig und allein dafür. Niemand, der ihr zu nahe kommen, der ihr gefährlich werden könnte, in dessen Bewunderung sie sich einen Abend lang hatte sonnen wollen und gut. Das alles konnte sie ihm nicht sagen, das konnte sie doch nicht! Allerdings nahm sie an, dass er es in ihrem Kuss spüren würde, der distanzierter als ein flüchtiges Händeschütteln war.
Und trotzdem - da war etwas in dieser aseptischen Berührung, das in ihr den Wunsch weckte, dass er bei ihr blieb. Sie konnte nicht benennen, was es war, aber als er nach kurzer Zeit - und wie sie meinte, deutlich missgelaunt - Anstalten machte, wieder zu gehen, fragte sie ihn, ob er nicht bei ihr schlafen wollte. Bei ihr, nicht mit ihr, harmlos aneinandergekuschelt wie Freund und Freundin, ein kleines bisschen Nähe in der Nacht. Und er tat es. Zu ihrer überaus großen Überraschung legte er sich neben sie ins Bett. Allerdings nicht ganz so harmlos wie gedacht, denn bevor sie müde wegdämmerte, bemerkte sie noch, dass er sich komplett ausgezogen hatte. Gähnend drehte sie sich zu ihm um, rutschte ganz dicht an ihn heran, verschränkte ihren Körper mit seinem, schmiegte ihren Kopf an seine warme, behaarte Brust - und schlief dann einfach ein.
6.
23. März Was hatte ich in diesem Hotel verloren? In diesem Zimmer? In diesem Bett? Wie eine Katze hatte sie sich in meine Umarmung hineingerollt, als wollte sie darin verschwinden, so wie sie in ihrem Schlaf verschwunden war. Und ich lag wach und starrte in der Dunkelheit an die Decke und wusste nicht, wohin mit meiner Lust, die diese fremde Frau immer wieder in mir weckte, wenn sie sich im Schlaf bewegte, ab und zu flüchtig meine Erektion streifte, ohne es zu merken, mal mit der Hand, mal mit dem Schenkel, mal mit dem Bauch. Wie sollte ich da ein Auge zutun? Gerade die Absichtslosigkeit ihrer Berührungen erregte mich, sodass ich, statt zu schlafen, die ganze Zeit mit angehaltenem Atem darauf hoffte, dass es wieder geschah.
»Du bist ja noch wach«, flüsterte sie irgendwann und räkelte sich in meinem Arm.
Ein Tierchen, das sprechen kann, dachte ich. Ein unglaublich sympathisches, liebenswertes Tierchen, das sich da in meine Arme kuschelt ... Ich kraulte ein wenig ihren Rücken. Wieder streifte sie mich mit ihrer Hand. War das eine Aufforderung? Angespannt lauschte ich in die Dunkelheit. An ihrem Atem hörte ich, dass sie noch nicht wieder eingeschlafen war - also war die Berührung kein Zufall gewesen. Vorsichtig tastete ich nach ihrem Höschen.
»Darf ich?«
Statt einer Antwort lüftete sie den Po, damit ich das bisschen Spitze entfernen konnte, und streifte dann auch ihren BH ab. Mein Gott, jetzt war sie nackt, genauso nackt wie ich! Mit sanftem Druck schob ich ihre Schenkel auseinander, und als ich spürte, dass sie nachgab, ja mir sogar ein wenig half, ihr näher zu kommen, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. Ich hatte schon einmal an ihre Tür geklopft, und sie hatte aufgemacht. Vielleicht würde sie jetzt ein zweites Mal ...
So behutsam ich konnte, versuchte ich es und berührte sie. Aber diesmal blieb die Tür verschlossen.
»Es geht nicht«, sagte sie leise und zog sich wieder zurück. »Nicht, weil ich nicht will. Aber es geht nicht.«
Sie sagte das ganz ruhig, ohne jeden Vorwurf, aber doch so klar und entschieden, dass ich keinen zweiten Versuch unternahm. Die Art, wie sie mich zurückwies, war auf brutale Weise ehrlich, so ehrlich wie ihr Körper, der sich mir verschloss. Ich hatte es ja selber gespürt, dass es nicht ging, dass sie nicht bereit war. Trotzdem hatte ihre Zurückweisung nichts Verletzendes. Weil ich spürte, dass sie nicht mich verletzen, sondern nur sich selber schützen wollte. Auch wenn ich nicht wusste, wovor.
Um meiner Anwesenheit in ihrem Bett irgendeinen Sinn zu geben, beschloss ich, für diese Nacht der Hüter ihres Schlafs zu sein. Sie war natürlich schon längst wieder weggeschlummert, und während sie in meinem Arm ganz leise vor sich hin schnorchelte, gab meine Lust endlich klein bei. Wieder konnte ich nicht sagen, ob ich erleichtert war oder enttäuscht. Aber war das nicht vollkommen egal? Aus welchem Grund auch immer fand ich es auf einmal unglaublich schön, hier mit dieser fremden Frau in der Dunkelheit eines Hotelzimmers zu liegen, in dem schon Tausende anderer Menschen vor uns gelegen hatten. Einfach so, ohne dass wir miteinander schliefen, ihren warmen Körper an meinem Körper zu spüren, diesen Körper, der nicht lügen konnte und meine Nähe suchte und sich an mich schmiegte, auch wenn er mich nicht in sich haben wollte. Ohne physische Erregung genoss ich diese wortlose und gleichzeitig so intensive Intimität, die ich nie erfahren hätte, hätten wir in dieser Nacht miteinander geschlafen.
»Miriam«, sprach ich leise ihren Namen aus, zum allerersten Mal in ihrer Gegenwart, so wie man sich kneift, um sich zu vergewissern, dass man nicht träumt. »Miriam ...«
Ob es wohl jemanden gab, der sie Mirchen nannte?
Die Vorstellung versetzte mir einen kleinen Stich, und um ihn nicht zu spüren, küsste ich sie auf ihre unablässig zuckenden Lider. In welchem Monat war sie wohl gerade, tief drinnen in der Einsamkeit ihres Schlafes? Immer noch im April? Ich schlug die Decke zurück und stützte mich im Bett auf, um sie in dem schwachen Lichtschein, der durch die angelehnte Badezimmertür zu uns drang, zu betrachten. Ich hatte noch nie im Leben mit einer Frau im Bett gelegen, die so hübsch und trotzdem so wenig mein Typ war. Sie hatte ein sehr niedliches Gesicht, mit einer noch niedlicheren Stupsnase, die unter ihren verwuschelten Haaren neugierig hervorlugte, doch ihr Körper war eher der eines Jungen. Frauen, die mir gefielen, hatten fast immer etwas Bauch und auch sonst deutliche Rundungen. Doch sie war so schlank, dass die Silhouette ihres nackten Körpers sich in kaum erkennbaren Kurven auf dem weißen Laken abzeichnete, und ihr Busen war so klein und fest wie ein Pfirsich, den man noch nicht pflücken darf. Ich musste lächeln. Seltsam, die großen, dunklen Aureolen ihrer Brüste waren genauso scharf konturiert wie die schwarzblauen Ringe um die helle Iris ihrer Augen.
Ich warf einen Blick auf den Radiowecker. Schon vier Uhr. Warum wurde ich eigentlich nicht müde?
Ich hörte ein leises Stöhnen und drehte mich wieder zu ihr um. Ihr Gesicht, das eben noch so entspannt gewesen war, wirkte jetzt gequält, irgendetwas suchte sie im Schlaf heim, unruhig tastete sie mit der Hand nach der Stelle, wo ich gelegen hatte. Plötzlich hatte ich Angst, dass grauer November in ihr war, und ich beugte mich über sie, um ihren schlafenden Körper zu küssen. Ich streifte mit den Lippen ihren halb geöffneten Mund, fuhr an ihrem Hals entlang, umkreiste ihre Brüste und küsste ihren flachen Bauch. Durfte ich das? Oder war das schon etwas, wofür man mich vor Gericht belangen konnte? Vielleicht, ich hatte keine Ahnung. Aber ich hatte kein schlechtes Gewissen dabei. Ich tat das ja nicht für mich, sondern für sie. Weil ich wollte, dass in ihrem Traum oder in ihrer Seele oder wo immer sie gerade steckte, Mai oder Juni war. Selbst wenn dann an diesem Ort jemand sie küsste, der sie Mirchen nannte.
Irgendwann bin auch ich eingeschlafen.
Als ich aufwachte, lag sie auf dem Rücken, die Arme und Beine von sich gestreckt. Und ich - ich lag mit dem Kopf auf ihrem Bauch, wie ein erschöpfter Liebhaber, mit ihrer rechten Hand auf meiner Brust, genauso nackt und preisgegeben wie sie. Während von draußen das erste Licht des Tages durch die Ritzen der Jalousie drang und die Vögel laut brüllten, merkte ich, wie wenig ich geschlafen hatte.
Zwanzig nach sechs. Um Gottes willen! Zum ersten Mal in dieser Nacht dachte ich an meine Frau. Ich hatte ihr gesagt, dass ich bei Martin schlafen würde, meinem Münchner Freund. Wenn sie ihn jetzt dort anrief, bevor ich bei ihm war ...
Plötzlich war das schlechte Gewissen da. Was hatte ich getan? Hatte ich überhaupt etwas getan? Eigentlich nicht, versuchte ich mir einzureden, abgesehen von den wenigen, leidenschaftslosen Küssen, die wir miteinander getauscht hatten, war ja gar nichts passiert, und solche Küsse waren lässliche Sünden, für die ich auf Vergebung hoffen durfte. Aber ich wusste, dass das nicht die Wahrheit war. Wenn ich mit dieser fremden Frau geschlafen hätte, hätte ich mich nicht halb so schuldig gefühlt, wie ich es jetzt tat.
Ja, ich hatte meine Frau betrogen. Weil diese seltsame Nacht eine der schönsten Nächte gewesen war, die ich je mit einer Frau verbracht hatte.
7.
Als sie Stunden später wieder aufwachte, lag er nicht mehr neben ihr, sondern stolperte angezogen durchs dämmrige Zimmer.
»Was machst du?«, fragte sie und setzte sich auf.
»Ich muss gehen«, sagte er. »Ich wollte nicht einfach so verschwinden, sondern dir einen Zettel schreiben, aber ich finde kein Papier.« Er blieb vor dem Bett stehen und sah sie unsicher an, sein Körper in zögerlicher Haltung, wie auf dem Sprung und gleichzeitig auch nicht. »Sonst habe ich nur die hier«, sagte er und hielt eine Visitenkarte hoch. »Ist gut, die reicht doch.«
»Tja.«
»Tja.«
Plötzlich geschah dasselbe wie am Abend zuvor, sein Gesicht begann sich zu verändern, wurde jünger, sein zaghaftes Lächeln ließ in jeder Wange ein tiefes Grübchen entstehen. Mitte fünfzig? Nein, er sah aus wie Anfang dreißig. Er machte ein paar Schritte rüber zum Sekretär neben dem Schrank, legte dort seine Karte ab und wandte sich dann, ihr zunickend, Richtung Zimmertür.
»Mich findest du im Internet, ich habe eine Homepage«, rief sie ihm eilig hinterher, bevor er verschwunden war. »Du kannst mir ja schreiben.«
Er drehte sich wieder zu ihr um. Jetzt Anfang zwanzig. Fast ein bisschen ungelenk schien er von einem Fuß auf den anderen zu treten. In diesem Moment konnte sie nicht anders, sie streckte ihm beide Arme entgegen. Sie wollte nicht so eine Verabschiedung, gehetzt, eilig und peinlich, beinahe schuldbewusst, nicht nach so einem seltsamen Abend und einer so nahen Nacht. Er zögerte nicht, sondern kam sofort zu ihr zurück, setzte sich zu ihr aufs Bett, umarmte sie und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Danach sahen sie sich schweigend an, das Blau seiner Augen leuchtete trotz des dämmrigen Lichts, und sie hatte den Eindruck, als würde er leicht zittern.
»Ich melde mich«, sagte er, als er wieder aufstand und dann endgültig ihr Zimmer verließ.
Eine Weile starrte sie noch auf die verschlossene Tür, rutschte dann wieder zurück unter die Decke und zog sie sich hoch bis über den Kopf, versteckte sich in der Dunkelheit darunter, wie Kinder es tun, wenn sie nicht gesehen werden wollen. Was hatte sie da nur wieder angezettelt? Warum war das alles passiert? War sie nicht langsam alt genug, um so einen Unfug bleiben zu lassen, um sich selbst und ihre Teufelchen besser im Griff zu haben? Sie war doch eine erwachsene Frau, eine, die mitten im Leben stand! Beruflich zumindest, privat war sie nicht viel weiter als ein Teenager.
Auf eine gescheiterte Ehe blickte sie zurück - und auf zig verkorkste Beziehungen. Und dann noch ... Nein, darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken, das hier war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Sie schloss die Augen, atmete tief ein und aus und versuchte, sich auf ihren Termin zu konzentrieren, der in wenigen Stunden anstand. Doch immer wieder funkten die Gedanken an Philipp Andersen dazwischen, bis sie schließlich genervt die Bettdecke zurückschlug, unter die Dusche stieg und sich selbst, während warmes Wasser über ihren Körper lief, immer wieder sagte, dass diese eigenartige Nacht ohne weitere Folgen bleiben würde. Eine kleine Anekdote, eine unwichtige Randnotiz, die am nächsten Tag schon wieder vergessen sein würde.
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Unübersehbar lag das Päckchen da, mitten auf seinem Schreibtisch. Nur sein Name stand in großen, handgeschriebenen Druckbuchstaben darauf, sonst nichts. Keine Adresse und kein Absender. Also musste es jemand dorthin gelegt haben, irgendwann während seines zweistündigen Auswärtstermins. Er ging ins Vorzimmer seines Büros, fragte seine Assistentin, von wem die Sendung stamme, doch sie wusste es nicht. Sie sei, erklärte sie entschuldigend, nur kurz etwas essen gewesen, davor und danach habe sie niemanden gesehen.
Verwundert kehrte er zu seinem Schreibtisch zurück, nahm auf dem ledernen Bürostuhl Platz und griff nach dem Päckchen. Es wog schwer in der Hand. Vielleicht waren ein paar Buchvorschauen darin. Oder ein Manuskript. Oder war es etwas anderes? Für gewöhnlich landeten unverlangt eingesandte Arbeiten nicht bei ihm, schon gar nicht in einem Umschlag mit krakeligen Druckbuchstaben, anstelle eines korrekten Adressaufklebers. Ein kleines bisschen erregt - schließlich war die Sache einigermaßen seltsam - riss er den Umschlag auf. Als er den Inhalt sah, zuckte er enttäuscht mit den Schultern. Es war doch nur ein Manuskript, ein dicker Packen Papier, sicher dreihundert eng bedruckte Seiten. Schon wollte er es seiner Assistentin bringen, damit sie es im Lektorat auf den Stapel mit den zu prüfenden Texten legte, als ihm ein kleiner Zettel entgegengeflattert kam. Die gleichen handgeschriebenen Großbuchstaben wie auf dem Umschlag des Päckchens.
BITTE LESEN SIE DAS! PERSÖNLICH!
Mehr nicht, nur diese knappe Botschaft. Und doch reichte sie aus, um seine Neugier zu wecken. Woher kam das Manuskript? Wer hatte es auf seinen Tisch gelegt? Wie bei einem Daumenkino blätterte er durch den dicken Packen und stellte dabei fest, dass es sich um eine Art Patchworkarbeit handelte: Jemand hatte ausgeschnittene Texte auf Bogen geklebt, sie wie ein Puzzle zusammengesetzt. Der eine Teil stand auf kopierten Seiten, dem Satz nach eindeutig einem Buch entnommen, der andere schien ein normaler Computerausdruck zu sein. Seltsam, mehr als seltsam ... Was war das? Eine Komposition, bestehend aus zwei verschiedenen Manuskripten, eines davon bereits als Roman gedruckt und vielleicht sogar schon erschienen, das andere gerade erst geschrieben? Er nahm seine Brille, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und begann zu lesen.
Kapitel 1
1.
Warten. Ihr schien es, als bestünde ihr Leben seit Monaten nur noch aus Warten. Warten auf das nächste Treffen mit ihm, die wenigen gestohlenen Stunden oder Tage, die sie miteinander hatten. Warten auf die Telefonate, immer spät in der Nacht, wenn er ungestört sprechen konnte. Und schließlich warten darauf, dass sich alles eines Tages änderte. Ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, ob das jemals passieren würde.
Doch sie wartete.
Ausgerechnet sie, die immer Rastlose, der nie etwas schnell genug gehen konnte. Immer zack, zack, höher, schneller, weiter, gehetzt und ohne jede Geduld, heute hier, morgen dort. Und jetzt also das Warten, stunden-, tage-, wochenlang, das gesamte Leben abgestellt auf ein paar Momente, diese wenigen Augenblicke, wenn sie in seinen Armen lag. Aber es machte ihr nicht einmal etwas aus. Denn in Wahrheit hatte sie schon eine kleine Ewigkeit auf ihn gewartet, viele Jahre auf den einen, der ihren grenzenlosen Durst, ihren quälenden Hunger nach dem stillte, was sie lange nicht hatte benennen können. Mehr. Sie hatte nach dem »Mehr« gesucht und es in ihm gefunden.
»Himmelfahrten« nannte er ihre gemeinsamen Fluchten, ihre heimlichen Treffen, bei denen nichts zählte außer ihren Gefühlen füreinander. Und es waren tatsächlich Himmelfahrten, Momente, in denen sie den Rest der Welt vergaßen.
Aber kein Himmel ohne Hölle.
Sie kannte ihn schon einige Jahre, nur flüchtig zwar, aber sie wusste, wer er war. Zwei- oder dreimal hatte sie ihn auf der Buchmesse gesehen, als sie eine Zeit lang im selben Verlag veröffentlichten. Einmal hatte er ihr sogar einen seiner Romane signiert, den sie zu Hause ungelesen ins Regal gestellt und dann vergessen hatte. Er war ein arrivierter Autor, seine Bücher in den Bestsellerlisten, in zwei Dutzend Sprachen übersetzt. Sie selbst war auch nicht unerfolgreich, doch weit unterhalb seiner Wahrnehmungsschwelle und außerdem in einem vollkommen anderen Genre tätig; während er über die Vergangenheit schrieb, zog sie es vor, sich mit der Gegenwart, mit dem Hier und Jetzt, zu beschäftigen.
Sie mochte ihn nicht sonderlich. Arrogant und blasiert kam er ihr vor, ein selbstgerechter Schwätzer, der wie ein Pfau über die Messe stolzierte, immer umzingelt von Journalisten, Fans und Verehrerinnen. Es war wohl auch ein kleiner Stachel namens Neid, den sie in ihrer Brust verspürte, wenn dieselben Journalisten, die ihn zuvor in den Himmel gelobt hatten, ihr gegenüber eine gewisse Abfälligkeit an den Tag legten. Sie war noch ein halbes Kind gewesen, als sie ihren ersten Roman veröffentlicht hatte, und auch Jahre später musste sie darum kämpfen, dass sie als Schriftstellerin ernst genommen wurde. Und er war eben das Sinnbild dafür, der Sündenbock, auf den sie diese Ungerechtigkeit projizierte.
Dann der Abend, der alles veränderte: ein Verlagsjubiläum in München, dreihundert geladene Gäste. Darunter sie, Miriam Bach. Und natürlich auch er, Philipp Andersen, der Star des historischen Romans. Sie entdeckte ihn bereits zu Beginn der Feier, wie er im vorderen Teil des Festsaals saß, wichtig schwadronierend mit den Großen und Einflussreichen der Branche. Nicht ohne Genugtuung stellte sie fest, dass er anfing, in die Jahre zu kommen; seine dunklen Haare waren zwar voll, aber von weißen Strähnen durchzogen, und trotz seiner schlanken Statur zeichnete sich unter seinem Hemd ein deutlicher Bauchansatz ab, eine Lesebrille steckte in der Brusttasche seines Jacketts. Insgesamt war Philipp Andersen ein attraktiver Mann, keine Frage, aber eben einer, der seinen optischen Zenit vor gut und gern zehn Jahren überschritten hatte. Einer, dem Leben und Erfahrung unübersehbare Spuren ins Gesicht gezeichnet hatten, während sie selbst trotz ihrer neununddreißig Jahre immer noch mehr Mädchen als Frau zu sein schien. Nie hätte sie gedacht - niemals und nie! -, dass ausgerechnet dieser Abend eine schicksalhafte Wende in ihrem Leben bedeuten würde.
Und als sie zu späterer Stunde an der Bar stand, ein bisschen gelangweilt mit einer Kollegin plauderte und ihren Blick dabei beinahe abwesend durch den Raum schweifen ließ; als sie plötzlich bemerkte, dass Philipp Andersen sie von seinem Platz aus unverwandt ansah und ihr mit einer kleinen Geste bedeutete, dass sie zu ihm kommen sollte - da ging sie einfach zu ihm rüber.
Hätte sie um die Folgen dieser wenigen Schritte gewusst, sie hätte sich keinen Millimeter von der Bar weggerührt.
Und wäre gleichzeitig, so schnell sie nur konnte, zu ihm gerannt.
2.
22. März
Plötzlich war sie da. Wie vom Himmel gefallen. Saß einfach neben mir, so nah, dass unsere Schenkel sich berührten, und hielt meine Hand, oder ich ihre, das ließ sich nicht unterscheiden. Wie war sie bloß auf diesen Stuhl geraten, auf dem doch eben noch mein alter Freund Christian gesessen und mir die Ohren vollgelabert hatte? Ich weiß es nicht mehr, so wenig, wie ich mich daran erinnern kann, wie wir uns begrüßt und über was wir als Erstes geredet haben. Ich weiß nur noch, dass wir uns von Anfang an duzten. Als würden wir uns seit einer Ewigkeit kennen. Und dass ich wahnsinnig gern mit ihr sprach, egal worüber, und wenn es der größte Blödsinn war.
Warum, zum Teufel, haben wir uns eigentlich geduzt? Herrgott, ich bin doch viel zu alt für so was! Das ist doch alles längst vorbei!
Wahrscheinlich waren es ihre Augen. Diese wasserhellen blauen Augen mit einem scharf konturierten, dunklen, fast schwarzen Ring um die Iris, mit denen sie mich von der Bar aus angeflirtet hatte. Huskyaugen. Noch nie hatte ich Augen gesehen, die so unglaublich traurig blicken konnten, um im nächsten Moment aufzuleuchten und zu strahlen, als hätte jemand ein Licht in ihr angeknipst. Und dann ihr Mund. Auch ihr Mund hatte diese Traurigkeit, wurde manchmal ganz klein und schmal, als wolle er sich selbst verschlucken, sogar wenn sie gerade einen Witz erzählte. Aber genauso wie die Augen konnte sich auch ihr Mund verändern, urplötzlich, von einem Moment zum anderen, wurde ganz weich und groß, blühte auf.
April, dachte ich. Eine Frau, in der Aprilwetter ist.
Bis Mittag hatte ich an meinem neuen Roman gearbeitet, und noch auf der Autobahn hatte ich mich gefragt, was ich eigentlich auf dieser Party sollte. Der Verlag, der sein hundertjähriges Jubiläum feierte, war ja gar nicht mehr mein Verlag, wir hatten uns nach meinem vorletzten Buch getrennt. Mein alter Verleger wollte immer dasselbe von mir, einen historischen Roman nach dem anderen. Aber ich bin nicht Autor geworden, um an einer Marketingstrategie entlangzuschreiben. Ich will Geschichten schreiben, die ich schreiben muss! Doch wenn der Verlag mich trotz unserer Trennung zu diesem Festtag einlud, wäre es sehr unhöflich gewesen, die Einladung auszuschlagen. Außerdem war der Abend eine gute Gelegenheit, mal wieder ein paar Leute zu treffen. Präsenz zeigen, Backen aufblasen und wichtigtun. Schließlich brauchte ich bald neue Verträge.
Und dann war sie plötzlich da, und all die wichtigen Leute, wegen derer ich gekommen war, interessierten mich nicht mehr. Ich schaute ihr in die Augen, schaute auf ihren Mund, ohne irgendetwas anderes von ihr wahrzunehmen, während unsere Hände miteinander sprachen, als würden sie uns vorauseilen, und ihr nackter Schenkel unter dem Saum ihres albernen goldenen Paillettenkleids, in dem sie zu Ehren des schwerhörigen Seniorverlegers und Sohn des Verlagsgründers »Happy birthday, Mr. Publisher« ins Mikrofon gehaucht hatte, immer höher an meinen Oberschenkel heraufrutschte und ich immer neugieriger wurde auf diese Frau, die ich nicht kannte und die mir doch so seltsam vertraut vorkam. Wie siehst du wohl aus, wenn nicht April in dir ist, sondern Mai oder August oder November?
3.
Alles, wirklich alles, was sie je über ihn gedacht hatte, war falsch. Er war witzig und charmant, ein brillanter Geist, ein Kindskopf, ein Spinner, ein vollkommen verrückter Mensch. Sie saßen da und redeten miteinander, die Minuten flogen wie Sekunden vorüber. Auf einmal - sie konnte nicht sagen, wie es dazu kam - hielt er ihre Hand, sie steckten tuschelnd ihre Köpfe zusammen und nahmen nichts mehr wahr von dem, was um sie herum geschah. Sie sah nur noch seine großen blauen Augen, die ihr wie ein Spiegel ihrer selbst erschienen, hörte sein tiefes Lachen, das wie ein Stromschlag durch ihren Körper zitterte, spürte und roch seine Nähe, genoss jedes einzelne seiner Worte. Wie er von seinen Büchern erzählte und sie nach ihren fragte, wirklich und aufrichtig interessiert wollte er alles von ihr und ihrer Arbeit wissen. Keine Spur von dem blasierten Wichtigtuer, für den sie ihn immer gehalten hatte, im Gegenteil, seine Neugier beschämte sie fast, weil sie ihm ganz offensichtlich Unrecht getan hatte. Denn jetzt saß er vor ihr und sagte ihr, dass er unbedingt mal etwas von ihr lesen wolle, er hätte Lust, in ihrer Seele herumzuspazieren, um zu sehen, was sich in ihrem Köpfchen verbarg. Genauso sagte er es, »in deiner Seele herumspazieren «, und es kam ihr nicht einmal kitschig oder überzogen vor.
Und dann waren da ihre Hände, die einander festhielten und sich gegenseitig streichelten als sei es das Natürlichste der Welt. Hier, auf diesem Fest, wo jeder es sehen konnte und es trotzdem vollkommen egal war.
»Was machen unsere Hände da?«, fragte sie irgendwann, ohne ihn auch nur eine Sekunde lang loszulassen.
»Lass sie doch«, erwiderte er lächelnd, »die spielen nur und vertragen sich schon.« Ihr Blick wanderte über seine schönen, schlanken Finger, die verästelten Adern, die leicht unter der Haut durchschimmerten, die vielen kleinen Sommersprossen, die sich vom Handgelenk aus Richtung Ellbogen ausbreiteten, und seine behaarten Unterarme, die aus den Ärmeln seines Hemds hervorlugten. Und den Ring, seinen Ehering am vierten Finger seiner linken Hand, natürlich bemerkte sie auch den.
»Bist du zum Spielen nicht viel zu verheiratet?«
Er lachte. »Viel zu verheiratet? Kann man denn weniger verheiratet sein?«
»Ich weiß nicht. Kann man?«
»Vielleicht. Dann bin ich jetzt gerade mal weniger verheiratet. «
»Und hast du eher mehr oder weniger Kinder?«, setzte sie das Spiel fort.
»Eher weniger. Eine Tochter. Aber die ist schon erwachsen.«
»Dann muss ich dich jetzt wohl fragen, wie alt du eigentlich bist.« Er zögerte, seine Hand zuckte kurz zurück, aber sie hielt sie fest. Würde er jetzt lügen? Sie schätzte ihn auf Mitte oder Ende vierzig.
»Fünfundfünfzig, fast sechsundfünfzig.«
»Oh.« Noch nie hatte sie mit einem Mann dieses Alters Händchen gehalten oder auch nur geflirtet, im Gegenteil, mit ihrem kindlichen Aussehen zog sie meist wesentlich jüngere an. Doch es war seltsam: Hatte sie zu Beginn der Feier noch mit leichter Häme gedacht, dass er langsam in die Jahre kam, schien er jetzt, während er ihr gegenübersaß, mit ihr sprach und seine Finger mit ihren verschränkt hatte, von Sekunde zu Sekunde jünger zu werden. Benjamin Button, er war ein Benjamin Button! Seine großen blauen Augen, mit denen er sie neugierig musterte, lachten, in beiden Wangen bildeten sich jungenhafte Grübchen, ständig fiel ihm eine dicke Strähne seines vollen Haars in die Stirn, die er sich wieder und wieder aus dem Gesicht pustete, und selbst auf seiner Stupsnase entdeckte sie mehrere große Sommersprossen und dann noch eine direkt links über seinen vollen Lippen. »Dein Alter macht mir nichts aus«, sagte sie und kam sich im selben Moment unglaublich dämlich vor. Wie konnte sie so etwas sagen?
Aber wieder lachte er nur. »Das freut mich. Mir macht es auch nichts, dass du fast zwanzig Jahre jünger bist.«
Dann schwiegen sie beide, sahen sich einfach nur an, ließen ihre Hände weiter miteinander spielen und reden, sich alles erzählen, was ihnen auf dem Herzen lag, durch die Berührung Geheimnisse austauschen.
Irgendwann war es Mitternacht, und sie musste gehen, am nächsten Morgen wartete ein früher Termin auf sie. Doch sie konnte nicht. Sie wollte nicht, wollte seine Hand nicht loslassen und ihn dadurch verlieren. Nicht, ohne ihm zu sagen, in welchem Hotel sie wohnte, und ihn zu bitten, ihr später zu folgen.
4.
23. März
Kaiserhof«, hatte sie mir beim Abschied ins Ohr geflüstert, »ich warte auf dich.« Fünf Minuten nachdem sie fort war, verließ auch ich die Party. Das Hotel lag nur ein paar Minuten entfernt. Einigermaßen nervös huschte ich durch die Bar, aber ich sah in dem schummrigen Raum keine Frau, die ihr im Entferntesten glich, nur ein paar Geschäftsleute, die sich gegenseitig bei einem Absacker langweilten. Halb enttäuscht, halb erleichtert gab ich es auf. Alter Trottel, was hast du hier verloren? Du bist verheiratet, seit fast dreißig Jahren, glücklich verheiratet, und streunst mitten in der Nacht durch Hotelbars wie ein ralliger Kater? Sieh zu, dass du ins Bett kommst, und zwar in dein eigenes!
»Suchen Sie jemanden?«, fragte der Portier, als ich wieder in die Halle kam. »Nein«, sagte ich, »das heißt - doch. Eine Frau, die angeblich hier wohnt. Sie muss gerade zurückgekommen sein.«
Der Portier zog ein sehr professionelles Gesicht. »Ihr Name?«
Verflucht, ich wusste nicht mal, wie sie hieß! Dabei war sie, so hatte mir der Verleger beim Abschied zugeraunt, in ihrem Genre eine kleine Zelebrität. Zum Glück fiel mir wenigstens ihr Vorname ein. »Miriam ...«, sagte ich und reichte dem Portier einen Geldschein. »Mitte dreißig. Blonde Locken, glaube ich ...«
Der Portier runzelte kurz irritiert die Brauen, dann schlug er im Gästebuch nach und griff zum Telefon: »Da ist ein Herr, der nach Ihnen fragt«, sprach er diskret in die Muschel. »Herr ...?« Ein fragender Blick in meine Richtung.
»Andersen.«
Ein paar Sekunden Hochspannung, während ich leise ihre Telefonstimme hörte, doch ohne etwas zu verstehen. Dann die Auskunft des Portiers: »Nr. 17.«
Das Zimmer lag im ersten Stock, doch da ich ziemlich eilig die Treppe hinaufstieg, war ich ein bisschen außer Atem, als ich an ihre Tür klopfte.
»Sofort!«
Hinter der Tür Geraschel und Schritte. Als sie öffnete, holte ich tief Luft. Sie hatte sich schon ausgezogen, trug nur noch einen schwarzen BH und ein kleines bisschen schwarze Spitze unten herum.
»Komm rein«, sagte sie, als würde ich sie schon zum hundertstenmal mitten in der Nacht in einem Hotel besuchen, und tippelte auf ihren nackten Füßen zurück ins Zimmer. Vor dem Bett blieb sie stehen und drehte sich zu mir um.
»Du bist ja gar nicht blond«, sagte ich verwirrt.
»Wie bitte?«, lachte sie. »Warum sollte ich blond sein?«
»Ach nichts«, sagte ich, ging einen Schritt auf sie zu und strich über ihr glattes, braunes Haar. »Wahrscheinlich war es dein goldenes Kleid, weshalb ich ...« Statt den Satz zu Ende zu sprechen, nahm ich ihr Gesicht zwischen die Hände.
Sie sah mich an, ein bisschen prüfend, ein bisschen spöttisch.
»Was jetzt?«
»Was wohl?«
Ich hob ihr Kinn, und dann küssten wir uns. Doch seltsam, der Kuss fiel vollkommen leidenschaftslos aus. Wir küssten uns eher pflichtgemäß, weil es sich in dieser Situation eben gehörte, sich zu küssen, so wie es sich gehört, jemandem zur Begrüßung die Hand zu geben.
»Nur damit du es weißt«, sagte sie, als wir irgendwann aufs Bett sanken, »ich werde nicht mit dir schlafen.«
»Wie kommst du darauf, dass ich mit dir schlafen will?«, erwiderte ich. Statt einer Antwort warf sie einen kurzen Blick auf meine Hose. Ihr Mund lächelte, aber ohne ihre Augen.
»Oh Gott, bin ich müde.« Tatsächlich, jetzt gähnte sie auch noch.
»Willst du schon schlafen?«, fragte ich wie ein Idiot.
Sie gab keine Antwort, sondern kuschelte sich einfach unter ihre Decke, als wäre ich gar nicht da, und es dauerte keine Minute, bis sie schlief. Was war das denn für eine Nummer? Lädt mich in ihr Zimmer ein und pennt hier einfach vor mir weg? Für einen Moment war ich beleidigt, ein Reflex meiner männlichen Eitelkeit, aber der Moment dauerte gerade einen Wimpernschlag. Tatsächlich war ich gar nicht beleidigt, nicht im Geringsten. Eher amüsiert. Eine Verrückte! Total durchgeknallt! Ihr Atem ging schon ganz gleichmäßig, und ihre Lider zuckten, als würde in ihr immer noch irgendwas kämpfen. Plötzlich, ohne jeden Grund, hatte ich das Gefühl, dass ich sie wahnsinnig gernhaben würde, wenn wir uns erst kannten ... Doch dazu würde es wohl nicht kommen. Schade. Sehr schade. Ich stand auf und suchte meine Schuhe.
»Wenn du willst, kannst du ruhig bleiben«, murmelte sie im Halbschlaf. »Du bist doch genauso müde wie ich.«
»Meinst du das im Ernst?«
»Natürlich.« Blinzelnd schlug sie die Bettdecke zurück und rückte ein Stück zur Seite. »Komm, stell dich nicht so an.«
Einen Moment zögerte ich. Meine Nacht bei Maude fiel mir ein, ein uralter Film von Truffaut, mit Jean-Louis Trintignant und Jeanne Moreau. Nein, so blöd wie Trintignant, der die ganze Nacht im Mantel und mit hochgestelltem Kragen an Maudes Bett auf seinem Stuhl hockte, war ich nicht! Also zog ich mich aus und legte mich zu ihr.
Ohne sich umzudrehen, tastete sie mit einer Hand nach mir. »Oh, du bist ja nackt«, sagte sie. »Ganz nackt.«
5.
Erst als er vor ihrer Zimmertür stand, ein bisschen schwer atmend, sie irritiert musternd, weil sie nur noch Unterwäsche trug, wurde ihr klar, was sie gerade getan hatte. Sie hatte einen fast wildfremden Mann in ihr Hotel bestellt, einen Mann, von dem sie nicht wusste, ob er harmlos war oder vielleicht gewalttätig, noch, wie er ihren offenherzigen Empfang interpretieren würde. »Verdammt, Mirchen!«, schimpfte sie lautlos mit sich selbst. »Wie soll er das wohl deuten? Schließlich hast du ihm in Unterwäsche geöffnet!« Wie schon oft in ihrem Leben hatte sie sich gar nichts dabei gedacht, hatte nur das unbequeme Kleid loswerden wollen, arglos und naiv wie ein Kind. »Auch nicht schlimmer, als wäre es ein Bikini«, beruhigte sie sich selbst, wohl wissend, dass das natürlich Unsinn war.
»Hallo, da bin ich«, sagte er lächelnd, während er noch immer auf der Türschwelle stand. Sie zögerte, was sollte sie jetzt tun? Ihn wieder wegschicken, nachdem sie ihn zu sich beordert hatte? Ihm erklären, dass es so nicht gemeint gewesen war? Dass, als sie es ihm ins Ohr geflüstert hatte, nur einer der kleinen Dämonen, die sie so oft piesackten, mit ihr durchgegangen war? Dass sie nur hatte wissen wollen, ob er ihr wirklich folgen würde, und er jetzt, nachdem er es getan hatte, gern wieder verschwinden dürfe?
»Komm rein«, sagte sie stattdessen. Denn all diese Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, kamen ihr unverschämt und verletzend vor. Beinahe musste sie kichern. »Unverschämt und verletzend«, das würde sie später auf dem Polizeirevier zu Protokoll geben, falls ihr etwas passieren sollte - »hören Sie mal, ich konnte doch nicht so unverschämt und verletzend sein!«
Doch während er eintrat und eine Sekunde später seine Verwunderung darüber äußerte, dass sie nicht blond, sondern brünett war, weil ihr goldenes Kleid ihn offenbar verwirrt hatte, da musste sie tatsächlich lachen, und alle Unsicherheit fiel von ihr ab. Absurd, es war eine absurde Situation, umso absurder, weil sie ihr überhaupt nicht so vorkam. Als sei es das Natürlichste auf der Welt, nachts in Unterwäsche einen Mann zu empfangen, mit dem sie erst wenige Stunden zuvor das erste Mal gesprochen hatte. Abgesehen von ihrer flüchtigen Begegnung vor Jahren, bei der er ihr sein Buch signiert hatte. Das ungelesene Buch, zu Hause im Regal, von dem sie nicht einmal mehr wusste, wie es hieß.
Aber auch das sagte sie nicht, sie sagte vieles nicht, während er ihr Gesicht in beide Hände nahm und sie küsste. Sagte ihm nicht, dass sie ihn zwar sehr mochte, ihn attraktiv und interessant fand, er aber in Wahrheit nur ein Opfer ihrer Eitelkeit geworden war. Hinter ihr lag eine anstrengende Zeit, ein neuer Roman von ihr war eben erst erschienen, und sie war für Lesungen kreuz und quer durchs Land gereist. Doch die noch größere Erschöpfung fühlte sie, weil erst vor Kurzem eine Beziehung gescheitert war, eine kurze Liaison, die in Verletzung und Enttäuschung geendet hatte. Ein schmerzhafter Schlag gegen ihr Ego, und sie hatte Philipp Andersen an diesem Abend dazu ausgewählt, diese Wunde ein wenig zu heilen. Ein erfolgreicher, aber älterer Mann, viel zu alt für ernsthafte Absichten - warum nicht? Ein perfekter Spielball für diesen Zweck, einzig und allein dafür. Niemand, der ihr zu nahe kommen, der ihr gefährlich werden könnte, in dessen Bewunderung sie sich einen Abend lang hatte sonnen wollen und gut. Das alles konnte sie ihm nicht sagen, das konnte sie doch nicht! Allerdings nahm sie an, dass er es in ihrem Kuss spüren würde, der distanzierter als ein flüchtiges Händeschütteln war.
Und trotzdem - da war etwas in dieser aseptischen Berührung, das in ihr den Wunsch weckte, dass er bei ihr blieb. Sie konnte nicht benennen, was es war, aber als er nach kurzer Zeit - und wie sie meinte, deutlich missgelaunt - Anstalten machte, wieder zu gehen, fragte sie ihn, ob er nicht bei ihr schlafen wollte. Bei ihr, nicht mit ihr, harmlos aneinandergekuschelt wie Freund und Freundin, ein kleines bisschen Nähe in der Nacht. Und er tat es. Zu ihrer überaus großen Überraschung legte er sich neben sie ins Bett. Allerdings nicht ganz so harmlos wie gedacht, denn bevor sie müde wegdämmerte, bemerkte sie noch, dass er sich komplett ausgezogen hatte. Gähnend drehte sie sich zu ihm um, rutschte ganz dicht an ihn heran, verschränkte ihren Körper mit seinem, schmiegte ihren Kopf an seine warme, behaarte Brust - und schlief dann einfach ein.
6.
23. März Was hatte ich in diesem Hotel verloren? In diesem Zimmer? In diesem Bett? Wie eine Katze hatte sie sich in meine Umarmung hineingerollt, als wollte sie darin verschwinden, so wie sie in ihrem Schlaf verschwunden war. Und ich lag wach und starrte in der Dunkelheit an die Decke und wusste nicht, wohin mit meiner Lust, die diese fremde Frau immer wieder in mir weckte, wenn sie sich im Schlaf bewegte, ab und zu flüchtig meine Erektion streifte, ohne es zu merken, mal mit der Hand, mal mit dem Schenkel, mal mit dem Bauch. Wie sollte ich da ein Auge zutun? Gerade die Absichtslosigkeit ihrer Berührungen erregte mich, sodass ich, statt zu schlafen, die ganze Zeit mit angehaltenem Atem darauf hoffte, dass es wieder geschah.
»Du bist ja noch wach«, flüsterte sie irgendwann und räkelte sich in meinem Arm.
Ein Tierchen, das sprechen kann, dachte ich. Ein unglaublich sympathisches, liebenswertes Tierchen, das sich da in meine Arme kuschelt ... Ich kraulte ein wenig ihren Rücken. Wieder streifte sie mich mit ihrer Hand. War das eine Aufforderung? Angespannt lauschte ich in die Dunkelheit. An ihrem Atem hörte ich, dass sie noch nicht wieder eingeschlafen war - also war die Berührung kein Zufall gewesen. Vorsichtig tastete ich nach ihrem Höschen.
»Darf ich?«
Statt einer Antwort lüftete sie den Po, damit ich das bisschen Spitze entfernen konnte, und streifte dann auch ihren BH ab. Mein Gott, jetzt war sie nackt, genauso nackt wie ich! Mit sanftem Druck schob ich ihre Schenkel auseinander, und als ich spürte, dass sie nachgab, ja mir sogar ein wenig half, ihr näher zu kommen, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. Ich hatte schon einmal an ihre Tür geklopft, und sie hatte aufgemacht. Vielleicht würde sie jetzt ein zweites Mal ...
So behutsam ich konnte, versuchte ich es und berührte sie. Aber diesmal blieb die Tür verschlossen.
»Es geht nicht«, sagte sie leise und zog sich wieder zurück. »Nicht, weil ich nicht will. Aber es geht nicht.«
Sie sagte das ganz ruhig, ohne jeden Vorwurf, aber doch so klar und entschieden, dass ich keinen zweiten Versuch unternahm. Die Art, wie sie mich zurückwies, war auf brutale Weise ehrlich, so ehrlich wie ihr Körper, der sich mir verschloss. Ich hatte es ja selber gespürt, dass es nicht ging, dass sie nicht bereit war. Trotzdem hatte ihre Zurückweisung nichts Verletzendes. Weil ich spürte, dass sie nicht mich verletzen, sondern nur sich selber schützen wollte. Auch wenn ich nicht wusste, wovor.
Um meiner Anwesenheit in ihrem Bett irgendeinen Sinn zu geben, beschloss ich, für diese Nacht der Hüter ihres Schlafs zu sein. Sie war natürlich schon längst wieder weggeschlummert, und während sie in meinem Arm ganz leise vor sich hin schnorchelte, gab meine Lust endlich klein bei. Wieder konnte ich nicht sagen, ob ich erleichtert war oder enttäuscht. Aber war das nicht vollkommen egal? Aus welchem Grund auch immer fand ich es auf einmal unglaublich schön, hier mit dieser fremden Frau in der Dunkelheit eines Hotelzimmers zu liegen, in dem schon Tausende anderer Menschen vor uns gelegen hatten. Einfach so, ohne dass wir miteinander schliefen, ihren warmen Körper an meinem Körper zu spüren, diesen Körper, der nicht lügen konnte und meine Nähe suchte und sich an mich schmiegte, auch wenn er mich nicht in sich haben wollte. Ohne physische Erregung genoss ich diese wortlose und gleichzeitig so intensive Intimität, die ich nie erfahren hätte, hätten wir in dieser Nacht miteinander geschlafen.
»Miriam«, sprach ich leise ihren Namen aus, zum allerersten Mal in ihrer Gegenwart, so wie man sich kneift, um sich zu vergewissern, dass man nicht träumt. »Miriam ...«
Ob es wohl jemanden gab, der sie Mirchen nannte?
Die Vorstellung versetzte mir einen kleinen Stich, und um ihn nicht zu spüren, küsste ich sie auf ihre unablässig zuckenden Lider. In welchem Monat war sie wohl gerade, tief drinnen in der Einsamkeit ihres Schlafes? Immer noch im April? Ich schlug die Decke zurück und stützte mich im Bett auf, um sie in dem schwachen Lichtschein, der durch die angelehnte Badezimmertür zu uns drang, zu betrachten. Ich hatte noch nie im Leben mit einer Frau im Bett gelegen, die so hübsch und trotzdem so wenig mein Typ war. Sie hatte ein sehr niedliches Gesicht, mit einer noch niedlicheren Stupsnase, die unter ihren verwuschelten Haaren neugierig hervorlugte, doch ihr Körper war eher der eines Jungen. Frauen, die mir gefielen, hatten fast immer etwas Bauch und auch sonst deutliche Rundungen. Doch sie war so schlank, dass die Silhouette ihres nackten Körpers sich in kaum erkennbaren Kurven auf dem weißen Laken abzeichnete, und ihr Busen war so klein und fest wie ein Pfirsich, den man noch nicht pflücken darf. Ich musste lächeln. Seltsam, die großen, dunklen Aureolen ihrer Brüste waren genauso scharf konturiert wie die schwarzblauen Ringe um die helle Iris ihrer Augen.
Ich warf einen Blick auf den Radiowecker. Schon vier Uhr. Warum wurde ich eigentlich nicht müde?
Ich hörte ein leises Stöhnen und drehte mich wieder zu ihr um. Ihr Gesicht, das eben noch so entspannt gewesen war, wirkte jetzt gequält, irgendetwas suchte sie im Schlaf heim, unruhig tastete sie mit der Hand nach der Stelle, wo ich gelegen hatte. Plötzlich hatte ich Angst, dass grauer November in ihr war, und ich beugte mich über sie, um ihren schlafenden Körper zu küssen. Ich streifte mit den Lippen ihren halb geöffneten Mund, fuhr an ihrem Hals entlang, umkreiste ihre Brüste und küsste ihren flachen Bauch. Durfte ich das? Oder war das schon etwas, wofür man mich vor Gericht belangen konnte? Vielleicht, ich hatte keine Ahnung. Aber ich hatte kein schlechtes Gewissen dabei. Ich tat das ja nicht für mich, sondern für sie. Weil ich wollte, dass in ihrem Traum oder in ihrer Seele oder wo immer sie gerade steckte, Mai oder Juni war. Selbst wenn dann an diesem Ort jemand sie küsste, der sie Mirchen nannte.
Irgendwann bin auch ich eingeschlafen.
Als ich aufwachte, lag sie auf dem Rücken, die Arme und Beine von sich gestreckt. Und ich - ich lag mit dem Kopf auf ihrem Bauch, wie ein erschöpfter Liebhaber, mit ihrer rechten Hand auf meiner Brust, genauso nackt und preisgegeben wie sie. Während von draußen das erste Licht des Tages durch die Ritzen der Jalousie drang und die Vögel laut brüllten, merkte ich, wie wenig ich geschlafen hatte.
Zwanzig nach sechs. Um Gottes willen! Zum ersten Mal in dieser Nacht dachte ich an meine Frau. Ich hatte ihr gesagt, dass ich bei Martin schlafen würde, meinem Münchner Freund. Wenn sie ihn jetzt dort anrief, bevor ich bei ihm war ...
Plötzlich war das schlechte Gewissen da. Was hatte ich getan? Hatte ich überhaupt etwas getan? Eigentlich nicht, versuchte ich mir einzureden, abgesehen von den wenigen, leidenschaftslosen Küssen, die wir miteinander getauscht hatten, war ja gar nichts passiert, und solche Küsse waren lässliche Sünden, für die ich auf Vergebung hoffen durfte. Aber ich wusste, dass das nicht die Wahrheit war. Wenn ich mit dieser fremden Frau geschlafen hätte, hätte ich mich nicht halb so schuldig gefühlt, wie ich es jetzt tat.
Ja, ich hatte meine Frau betrogen. Weil diese seltsame Nacht eine der schönsten Nächte gewesen war, die ich je mit einer Frau verbracht hatte.
7.
Als sie Stunden später wieder aufwachte, lag er nicht mehr neben ihr, sondern stolperte angezogen durchs dämmrige Zimmer.
»Was machst du?«, fragte sie und setzte sich auf.
»Ich muss gehen«, sagte er. »Ich wollte nicht einfach so verschwinden, sondern dir einen Zettel schreiben, aber ich finde kein Papier.« Er blieb vor dem Bett stehen und sah sie unsicher an, sein Körper in zögerlicher Haltung, wie auf dem Sprung und gleichzeitig auch nicht. »Sonst habe ich nur die hier«, sagte er und hielt eine Visitenkarte hoch. »Ist gut, die reicht doch.«
»Tja.«
»Tja.«
Plötzlich geschah dasselbe wie am Abend zuvor, sein Gesicht begann sich zu verändern, wurde jünger, sein zaghaftes Lächeln ließ in jeder Wange ein tiefes Grübchen entstehen. Mitte fünfzig? Nein, er sah aus wie Anfang dreißig. Er machte ein paar Schritte rüber zum Sekretär neben dem Schrank, legte dort seine Karte ab und wandte sich dann, ihr zunickend, Richtung Zimmertür.
»Mich findest du im Internet, ich habe eine Homepage«, rief sie ihm eilig hinterher, bevor er verschwunden war. »Du kannst mir ja schreiben.«
Er drehte sich wieder zu ihr um. Jetzt Anfang zwanzig. Fast ein bisschen ungelenk schien er von einem Fuß auf den anderen zu treten. In diesem Moment konnte sie nicht anders, sie streckte ihm beide Arme entgegen. Sie wollte nicht so eine Verabschiedung, gehetzt, eilig und peinlich, beinahe schuldbewusst, nicht nach so einem seltsamen Abend und einer so nahen Nacht. Er zögerte nicht, sondern kam sofort zu ihr zurück, setzte sich zu ihr aufs Bett, umarmte sie und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Danach sahen sie sich schweigend an, das Blau seiner Augen leuchtete trotz des dämmrigen Lichts, und sie hatte den Eindruck, als würde er leicht zittern.
»Ich melde mich«, sagte er, als er wieder aufstand und dann endgültig ihr Zimmer verließ.
Eine Weile starrte sie noch auf die verschlossene Tür, rutschte dann wieder zurück unter die Decke und zog sie sich hoch bis über den Kopf, versteckte sich in der Dunkelheit darunter, wie Kinder es tun, wenn sie nicht gesehen werden wollen. Was hatte sie da nur wieder angezettelt? Warum war das alles passiert? War sie nicht langsam alt genug, um so einen Unfug bleiben zu lassen, um sich selbst und ihre Teufelchen besser im Griff zu haben? Sie war doch eine erwachsene Frau, eine, die mitten im Leben stand! Beruflich zumindest, privat war sie nicht viel weiter als ein Teenager.
Auf eine gescheiterte Ehe blickte sie zurück - und auf zig verkorkste Beziehungen. Und dann noch ... Nein, darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken, das hier war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Sie schloss die Augen, atmete tief ein und aus und versuchte, sich auf ihren Termin zu konzentrieren, der in wenigen Stunden anstand. Doch immer wieder funkten die Gedanken an Philipp Andersen dazwischen, bis sie schließlich genervt die Bettdecke zurückschlug, unter die Dusche stieg und sich selbst, während warmes Wasser über ihren Körper lief, immer wieder sagte, dass diese eigenartige Nacht ohne weitere Folgen bleiben würde. Eine kleine Anekdote, eine unwichtige Randnotiz, die am nächsten Tag schon wieder vergessen sein würde.
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Autoren-Porträt von Miriam Bach, Philipp Andersen
PHILIPP ANDERSEN, geboren 1955, Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie. Promotion. Tätigkeit als Übersetzer, freier Verlagslektor, Drehbuchautor, Werbetexter und Unternehmensberater. Verfasste unter Pseudonym Fach- und Sachbücher sowie Ratgeber zur Persönlichkeitsentwicklung.MIRIAM BACH, geboren 1972, Studium der Germanistik, Anglistik und Medienwissenschaft, anschließend Zeitschriftenvolontariat und Ausbildung zur Drehbuchautorin. Veröffentlichte zahlreiche Romane, sowohl Komödien als auch Thriller.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Miriam Bach , Philipp Andersen
- 320 Seiten, Maße: 13,3 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3955690393
- ISBN-13: 9783955690397
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