Eis bricht (ePub)
ein spannender Thriller über Rache und Familie
Henning Saalbach führt ein erfülltes Leben, er ist verheiratet und hat einen Sohn. Dann wird alles anders. Innerhalb von Sekunden zerstört ein Fremder sein Glück: Der Mann dringt in das Haus der Familie ein und tötet den sechsjährigen Marc. Seit diesem Tag...
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Produktinformationen zu „Eis bricht (ePub)“
Henning Saalbach führt ein erfülltes Leben, er ist verheiratet und hat einen Sohn. Dann wird alles anders. Innerhalb von Sekunden zerstört ein Fremder sein Glück: Der Mann dringt in das Haus der Familie ein und tötet den sechsjährigen Marc. Seit diesem Tag ist nichts mehr, wie es war, und nur der Gedanke an Rache hält Henning am Leben. Es bleiben ihm zwölf Jahre, um sich vorzubereiten. Auf den Tag, an dem der Täter entlassen wird. Doch dann beginnt Henning zu zweifeln: Wer ist Feind, wer Freund? Wer der Täter, wer das Opfer? Und schon ist er mittendrin in einem perfiden Spiel. Einem Spiel ohne Regeln. Und es hat gerade erst begonnen.
Lese-Probe zu „Eis bricht (ePub)“
Eis bricht von Raimon WeberProlog
Als er auf die Straße trat, war die Luft wie elektrisiert. Von Westen zog ein schweres Gewitter über die Felder heran. Obwohl erst Vormittag war, schien am Horizont eine viel zu frühe Nacht anzubrechen.
Das ist nicht gut, dachte er und starrte eine Weile in den düsteren Himmel hinauf. Wind kam auf, zerrte an seinen Haaren. Zwei Häuser weiter fing der Hund eines Nachbarn an zu bellen. Vielleicht hatte der Wind einen abgestorbenen Ast heruntergeweht, und das hatte den Mischling erschreckt. In den Gärten standen abgestorbene Bäume, die längst hätten gefällt werden müssten. Als Kind war er hoch hinauf in ihre Kronen gestiegen. So hoch, wie es die brüchigen Äste zuließen. Seine Tante hatte immer versucht, ihn von den gefährlichen Klettertouren abzuhalten. Dabei musste sie doch wissen, dass für ihren Neffen die echte Gefahr nicht in der Höhe morscher Bäume lag, sondern in ihrem Haus, in das er nach dem Tod seiner Eltern ziehen musste.
... mehr
Vielleicht, sagte er sich, habe ich heute Glück, und das Unwetter verschont die Stadt. Wenn nicht, würde es die Ausführung seines Plans eben etwas schwieriger gestalten, aber an ein Aufschieben war nicht zu denken. Heute, wusste er, nur heute würde alles perfekt sein können. Viele Wochen hatte er mit den Vorbereitungen verbracht, und seine Vorfreude war so groß, dass ihn allein der Gedanke daran erschaudern ließ. Er ging zum Motorrad, berührte den Lenker, spürte das kühle Metall unter den Händen und brauchte ein paar Sekunden, um sich zu beruhigen. Er kehrte ins Haus zurück, um den Rucksack zu holen und sich von seiner Tante zu verabschieden. Zwei Jahre nach dem dritten und tödlichen Herzinfarkt ihres Mannes hatte sie einen Schlaganfall erlitten. Seitdem war die linke Seite ihres Körpers gelähmt. Sie hockte im Rollstuhl, nuschelte kaum verständliche Halbsätze, während dabei die Spucke aus ihren Mundwinkeln rann.
Er rief ihr einen Abschiedsgruß zu und wartete auf eine Reaktion. Aus dem Radio auf der Glasvitrine dudelte Schlagermusik. Sie wandte den Kopf ein paar Zentimeter in seine Richtung, hob die rechte Hand von der Lehne des Rollstuhls und winkte ihm wie in Zeitlupe zu.
»Um elf kommt Trudi vorbei«, sagte er. Ihre jüngere Schwester würde in seiner Abwesenheit nach ihr sehen. Er verließ das Haus und stieg aufs Motorrad. Beim zweiten Tritt auf den Kickstarter sprang der Motor an. Der Geruch verbrannten Zweitaktergemischs hüllte ihn ein.
Er nahm einen großen Umweg in Kauf, durchquerte die Innenstadt, drückte auf die Hupe, wenn er ein bekanntes Gesicht sah, und hielt erst am Ortsausgang an, um den Helm aufzusetzen. Von jetzt an wollte er nicht mehr erkannt werden. Er fuhr weiter; so schnell wie es das Kopfsteinpflaster auf der kurvigen und steilen Straße Richtung Neudorf zuließ. Die Stadt blieb hinter ihm im Tal zurück. Zur Rechten tauchten die Schreberhütten und Gemüsebeete der »Gartengruppe Schiller- höhe« auf. Eine Frau im hellblauen Kittel stützte sich auf ihren Spaten und beobachtete die ferne Gewitterfront. Sie schien ihn nicht zu bemerken.
Ein paar hundert Meter weiter machte er den Motor aus, ließ das Motorrad auf der jetzt abschüssigen Strecke rollen und bog dann in einen schmalen, mit Unkraut überwucherten Feldweg ein. Er stieg ab und schob das Motorrad auf das nahe Waldstück zu. Immer wieder versicherte er sich, dass ihn niemand beobachtete. Weit entfernt, auf einer Hügelkuppe, zog ein Traktor eine Fahne aus Staub hinter sich her. Seit über einer Woche hatte es nicht mehr geregnet. Der Boden war hart und rissig.
Zweige peitschten ihm gegen die Brust, als er das Motorrad in den Büschen am Waldrand verbarg. Er nahm den Helm ab und sah auf die Armbanduhr. Zehn Minuten nach elf. Tante Trudi würde mittlerweile bei ihrer älteren Schwester eingetroffen sein, und er war noch fast zwölf Stunden von der absoluten Befriedigung entfernt. Er öffnete seinen Ledergürtel, zog ihn aus den Hosenschlaufen und legte ihn sich um den Hals. Sofort bekam er eine Erektion. Er schnürte den Hals, bis schwarze Flecken vor seinen Augen zu tanzen begannen. Im Westen grollte Donner. Er löste den Gürtel, hielt ihn mit beiden Händen auf Augenhöhe und betrachtete ihn, als handele es sich um eine Reliquie.
Gegen dreiundzwanzig Uhr schlich er zur Stadt zurück. Das Unwetter hatte ihn verschont. Er wertete das als gutes Omen. Eine Stunde lang waren Blitze über den Horizont gezuckt. Das Donnern hatte wie Geschützfeuer geklungen.
Rechts von ihm tauchte das Krematorium auf. Nachtfalter umschwirrten das trübe Licht der Lampe über der Eingangspforte. Um diese Uhrzeit würde sich dort niemand mehr aufhalten.
Nur noch ein paar hundert Meter trennten ihn von seinem Ziel. Er hielt an einem Abhang inne, lehnte sich an einen Baum und lauschte. Es war absolut windstill. Aus der Stadt im Tal drangen die Fetzen einer Melodie. Klassik. Er verabscheute Klassik noch mehr als die banalen Schlager, die seine Tante den ganzen Tag über hörte. Die feuchte Luft ließ ihn schwitzen. Schweißperlen liefen von den Brauen in seine Augen. Im Haus am Fuß des Hanges brannte kein Licht.
Gut, dachte er. Alte Leute und Kinder gehen früh schlafen. Er holte den Schutzanzug aus Plastik aus dem Rucksack hervor und zog ihn, von einem Bein auf das andere balancierend, über Hose und Hemd. Den Anzug hatte er sich von einem Bekannten besorgen lassen, der in einer Lackiererei arbeitete, und ihm erzählt, er würde dem Motorrad eine neue Farbe verpassen wollen. Seine schulterlangen Haare verbarg er unter einem Haarnetz. Er war stolz. Die Polizei würde nichts finden, was zu ihm führen konnte. Keine Faser, kein einzelnes Haar. Selbst die Abdrücke der Schuhe führten auf eine falsche Spur. Sie waren ihm zwei Nummern zu groß. Er hatte sie einem Kollegen vor Wochen geklaut. Auf seiner Weiterfahrt würde er sie entsorgen und sein eigenes Paar aus dem Reisegepäck anziehen. Zum Schluss streifte er sich die Gummihandschuhe über. Bedauernd sah er auf seine, jetzt im Mondlicht fahl aussehenden Finger. So konnte es keine direkte Berührung geben. Keinen Kontakt mit warmer Haut - was die Erregung noch gesteigert hätte -, aber eben auch keine verräterischen Fingerabdrücke.
Er machte sich an den Abstieg, stolperte über einen unter den Büschen verborgenen Stein und wäre beinahe gestürzt. Er atmete tief ein und versuchte, sich zu beruhigen. In dem Waldstreifen herrschte rege Aktivität. Es raschelte und knisterte, irgendein Tier stieß ein alarmierendes Pfeifen aus, und ganz in der Nähe hörte er, wie sich ein Vogel mit mächtigen Flügeln in die Nacht emporschwang.
Wir haben etwas gemeinsam, dachte der junge Mann. Wir sind Jäger.
Das simple Schloss an der Hintertür bereitete ihm keine Schwierigkeiten. Er drückte die Klinke nach unten. Die Türscharniere quietschten leise, als er über die Schwelle trat. Im schwachen Mondlicht, das durchs Fenster schien, wirkte das Innere des Hauses substanzlos. Er brauchte einige Sekunden, um sich zu orientieren. Der gekachelte Raum, in dem er stand, war eindeutig die Küche. Es hing der Geruch von Kohl in der Luft.
Ein Geräusch. Stimmen. Er erstarrte und horchte mit zur Seite geneigtem Kopf. Marschmusik löste die fremden Stimmen ab. Er seufzte erleichtert. Nur der Fernseher der alten Dame. Es hätte die Angelegenheit ein wenig erleichtert, wenn sie bereits zu Bett gegangen wäre. Das Plastik des Schutzanzugs raschelte bei jedem seiner Schritte leise. Er tastete sich den dunklen Flur entlang. Eine Tür war nur angelehnt. Flackerndes Licht drang durch den Spalt.
Er entschied sich für ein schnelles Vorgehen. Er stieß die Tür auf. Auf dem Bildschirm des Schwarzweißfernsehers schüttelten sich alte Männer in schlichten Anzügen die Hände und grinsten dabei, als hätten sie allesamt den Hauptpreis in einer Lotterie gewonnen.
»Was?«, entfuhr es der alten Frau, die der Tür gegenüber in einem Sessel saß. Mit offenem Mund starrte sie den Eindringling an und machte Anstalten, sich hochzustemmen.
»Sitzen bleiben!«, befahl der junge Mann.
Die Frau verharrte inmitten ihrer Bewegung, die Hände auf den Armlehnen. »Ich bin allein im Haus.« Sie sah dabei kurz zur Zimmerdecke und verriet damit, dass sie log. Über ihr, im oberen Stockwerk, befand sich jemand, den sie schützen wollte. »Bei mir gibt's nichts zu holen.« Ihre Stimme war vor Aufregung ganz heiser. Er machte einen Schritt auf sie zu. Sie ließ ihn nicht mehr aus den Augen und folgte jede seiner Bewegungen. Plötzlich hatte er es gar nicht mehr so eilig. Es gab für die alte Frau keine Fluchtmöglichkeit. Er stand zwischen ihr und der Tür, und selbst, wenn sie versuchen würde, das Fenster zu erreichen, es zu öffnen, um nach Hilfe zu rufen, wäre er schneller als sie.
Es ist das Vorspiel, sagte er sich und musste unwillkürlich lächeln. Die Frau deutete seine Mimik falsch und schien sich ein wenig zu entspannen.
»Haben Sie vielleicht Hunger?«, fragte sie nach einer kurzen Pause.
Er schwieg. Sie versuchte erneut aufzustehen. »Ich könnte Ihnen ...«
»Sitzen bleiben!« Er stampfte mit dem Fuß auf. »Dann passiert auch nichts.«
Die ganze Zeit über hatte er die linke Hand hinter dem Rücken verborgen gehalten. Er wechselte das Messer in die rechte Hand. Die Frau starrte die Klinge an, holte tief Luft, und er wusste, was nun kommen würde. Sie würde so laut schreien, dass es die ganze Nachbarschaft hören konnte. Er sprang nach vorn und stieß mit Wucht zu. Mit einer Schnelligkeit, die er der mindestens Siebzigjährigen niemals zugetraut hätte, wich sie der Klinge aus. Sie wand sich in ihrem Sessel wie eine Schlange.
»Geh zum Teufel!«, fauchte sie und traf ihn mit der flachen Hand ins Gesicht. Er drückte ihr den linken Ellbogen gegen die Kehle, sie zappelte, aber beim zweiten Mal traf die Klinge. Und beim dritten, vierten und fünften Mal.
Er ließ das Messer einfach stecken. Von den Dingern gab es Tausende. Erleichtert stellte er fest, dass sein Schutzanzug bei der Rangelei nicht gerissen war.
Er fand die Treppe zum oberen Stockwerk. Bei der Beseitigung der Frau war er beinahe gelassen geblieben. Es war nur etwas, das erledigt werden musste, um ans Ziel zu kommen. Aber jetzt, wo er die letzte Stufe hinter sich gelassen hatte, er nur noch wenige Schritte von der Erfüllung seiner fiebrigen Fantasien entfernt war, beschleunigten sich Atmung und Puls. Der Gürtel lag lose in seiner Hand. Er untersuchte das Dachgeschoss und grunzte zufrieden, als er in das Schlafzimmer der alten Frau blickte. Es wurde von einem riesigen Ehebett beherrscht, obwohl sie seit Jahren Witwe war. Das machte alles perfekt. Im zweiten Zimmer standen Bücherregale und ein Einzelbett. Hier schlief die Tochter der Alten. Sie war Krankenschwester, und er wusste, dass sie jetzt Nachtdienst hatte. Blieb nur noch das letzte Zimmer. Er presste sein Ohr gegen die verschlossene Tür. Stille. Das Kind hatte von den Vorfällen im Parterre nichts mitbekommen. Er schaltete das Flur- licht ein.
Die kleine Gestalt lag jetzt direkt vor ihm, hatte sich in der Hitze der Sommernacht im Schlaf aus der Bettdecke gestrampelt. Er streckte den Arm aus und packte den Jungen an der Schulter. »Aufstehen«, sagte er halblaut und dann laut: »Los! Mach schon!«, als das Kind nicht sofort reagierte.
Der Junge stieß ein paar schmatzende Laute aus, rieb sich die Augen und erkannte erst dann, wer ihn geweckt hatte.
»Bist du ein Anstreicher?«, fragte er mit plötzlicher Klarheit und betrachtete im Schein des Flurlichts die seltsame Kleidung seines Gegenübers. Erst, als er den hin und her schwingenden Gürtel in der Hand des Mannes erblickte, ahnte er wohl, dass er es mit keinem normalen Handwerker zu tun hatte.
»Wo ist Oma?« Sein Kopf drehte sich nervös in alle Richtungen. »Oma?«
»Pssst!« Der Mann legte den Zeigefinger auf die Lippen des Kindes. »Wenn du jetzt nicht ganz lieb bist und genau tust, was ich sage, muss ich deiner Oma weh tun.«
Sofort kamen dem Jungen die Tränen. Er biss sich fest auf die Lippen und begann zu zittern.
»So«, sagte der Mann, dessen Stimme vor Erregung ganz rau klang. »Jetzt kommst du mit ins Bett deiner Oma.« Mit marionettenhaften Bewegungen stand der Junge auf.
»Perfekt!«, sagte der Mann, als er das nackte Kind betrachtete. »Du musst dir nur noch ein Unterhemd oder so was anziehen. Sonst stimmt es nicht, verstehst du? Und nenn mich Onkel.«
Copyright © Ullstein Verlag.
Vielleicht, sagte er sich, habe ich heute Glück, und das Unwetter verschont die Stadt. Wenn nicht, würde es die Ausführung seines Plans eben etwas schwieriger gestalten, aber an ein Aufschieben war nicht zu denken. Heute, wusste er, nur heute würde alles perfekt sein können. Viele Wochen hatte er mit den Vorbereitungen verbracht, und seine Vorfreude war so groß, dass ihn allein der Gedanke daran erschaudern ließ. Er ging zum Motorrad, berührte den Lenker, spürte das kühle Metall unter den Händen und brauchte ein paar Sekunden, um sich zu beruhigen. Er kehrte ins Haus zurück, um den Rucksack zu holen und sich von seiner Tante zu verabschieden. Zwei Jahre nach dem dritten und tödlichen Herzinfarkt ihres Mannes hatte sie einen Schlaganfall erlitten. Seitdem war die linke Seite ihres Körpers gelähmt. Sie hockte im Rollstuhl, nuschelte kaum verständliche Halbsätze, während dabei die Spucke aus ihren Mundwinkeln rann.
Er rief ihr einen Abschiedsgruß zu und wartete auf eine Reaktion. Aus dem Radio auf der Glasvitrine dudelte Schlagermusik. Sie wandte den Kopf ein paar Zentimeter in seine Richtung, hob die rechte Hand von der Lehne des Rollstuhls und winkte ihm wie in Zeitlupe zu.
»Um elf kommt Trudi vorbei«, sagte er. Ihre jüngere Schwester würde in seiner Abwesenheit nach ihr sehen. Er verließ das Haus und stieg aufs Motorrad. Beim zweiten Tritt auf den Kickstarter sprang der Motor an. Der Geruch verbrannten Zweitaktergemischs hüllte ihn ein.
Er nahm einen großen Umweg in Kauf, durchquerte die Innenstadt, drückte auf die Hupe, wenn er ein bekanntes Gesicht sah, und hielt erst am Ortsausgang an, um den Helm aufzusetzen. Von jetzt an wollte er nicht mehr erkannt werden. Er fuhr weiter; so schnell wie es das Kopfsteinpflaster auf der kurvigen und steilen Straße Richtung Neudorf zuließ. Die Stadt blieb hinter ihm im Tal zurück. Zur Rechten tauchten die Schreberhütten und Gemüsebeete der »Gartengruppe Schiller- höhe« auf. Eine Frau im hellblauen Kittel stützte sich auf ihren Spaten und beobachtete die ferne Gewitterfront. Sie schien ihn nicht zu bemerken.
Ein paar hundert Meter weiter machte er den Motor aus, ließ das Motorrad auf der jetzt abschüssigen Strecke rollen und bog dann in einen schmalen, mit Unkraut überwucherten Feldweg ein. Er stieg ab und schob das Motorrad auf das nahe Waldstück zu. Immer wieder versicherte er sich, dass ihn niemand beobachtete. Weit entfernt, auf einer Hügelkuppe, zog ein Traktor eine Fahne aus Staub hinter sich her. Seit über einer Woche hatte es nicht mehr geregnet. Der Boden war hart und rissig.
Zweige peitschten ihm gegen die Brust, als er das Motorrad in den Büschen am Waldrand verbarg. Er nahm den Helm ab und sah auf die Armbanduhr. Zehn Minuten nach elf. Tante Trudi würde mittlerweile bei ihrer älteren Schwester eingetroffen sein, und er war noch fast zwölf Stunden von der absoluten Befriedigung entfernt. Er öffnete seinen Ledergürtel, zog ihn aus den Hosenschlaufen und legte ihn sich um den Hals. Sofort bekam er eine Erektion. Er schnürte den Hals, bis schwarze Flecken vor seinen Augen zu tanzen begannen. Im Westen grollte Donner. Er löste den Gürtel, hielt ihn mit beiden Händen auf Augenhöhe und betrachtete ihn, als handele es sich um eine Reliquie.
Gegen dreiundzwanzig Uhr schlich er zur Stadt zurück. Das Unwetter hatte ihn verschont. Er wertete das als gutes Omen. Eine Stunde lang waren Blitze über den Horizont gezuckt. Das Donnern hatte wie Geschützfeuer geklungen.
Rechts von ihm tauchte das Krematorium auf. Nachtfalter umschwirrten das trübe Licht der Lampe über der Eingangspforte. Um diese Uhrzeit würde sich dort niemand mehr aufhalten.
Nur noch ein paar hundert Meter trennten ihn von seinem Ziel. Er hielt an einem Abhang inne, lehnte sich an einen Baum und lauschte. Es war absolut windstill. Aus der Stadt im Tal drangen die Fetzen einer Melodie. Klassik. Er verabscheute Klassik noch mehr als die banalen Schlager, die seine Tante den ganzen Tag über hörte. Die feuchte Luft ließ ihn schwitzen. Schweißperlen liefen von den Brauen in seine Augen. Im Haus am Fuß des Hanges brannte kein Licht.
Gut, dachte er. Alte Leute und Kinder gehen früh schlafen. Er holte den Schutzanzug aus Plastik aus dem Rucksack hervor und zog ihn, von einem Bein auf das andere balancierend, über Hose und Hemd. Den Anzug hatte er sich von einem Bekannten besorgen lassen, der in einer Lackiererei arbeitete, und ihm erzählt, er würde dem Motorrad eine neue Farbe verpassen wollen. Seine schulterlangen Haare verbarg er unter einem Haarnetz. Er war stolz. Die Polizei würde nichts finden, was zu ihm führen konnte. Keine Faser, kein einzelnes Haar. Selbst die Abdrücke der Schuhe führten auf eine falsche Spur. Sie waren ihm zwei Nummern zu groß. Er hatte sie einem Kollegen vor Wochen geklaut. Auf seiner Weiterfahrt würde er sie entsorgen und sein eigenes Paar aus dem Reisegepäck anziehen. Zum Schluss streifte er sich die Gummihandschuhe über. Bedauernd sah er auf seine, jetzt im Mondlicht fahl aussehenden Finger. So konnte es keine direkte Berührung geben. Keinen Kontakt mit warmer Haut - was die Erregung noch gesteigert hätte -, aber eben auch keine verräterischen Fingerabdrücke.
Er machte sich an den Abstieg, stolperte über einen unter den Büschen verborgenen Stein und wäre beinahe gestürzt. Er atmete tief ein und versuchte, sich zu beruhigen. In dem Waldstreifen herrschte rege Aktivität. Es raschelte und knisterte, irgendein Tier stieß ein alarmierendes Pfeifen aus, und ganz in der Nähe hörte er, wie sich ein Vogel mit mächtigen Flügeln in die Nacht emporschwang.
Wir haben etwas gemeinsam, dachte der junge Mann. Wir sind Jäger.
Das simple Schloss an der Hintertür bereitete ihm keine Schwierigkeiten. Er drückte die Klinke nach unten. Die Türscharniere quietschten leise, als er über die Schwelle trat. Im schwachen Mondlicht, das durchs Fenster schien, wirkte das Innere des Hauses substanzlos. Er brauchte einige Sekunden, um sich zu orientieren. Der gekachelte Raum, in dem er stand, war eindeutig die Küche. Es hing der Geruch von Kohl in der Luft.
Ein Geräusch. Stimmen. Er erstarrte und horchte mit zur Seite geneigtem Kopf. Marschmusik löste die fremden Stimmen ab. Er seufzte erleichtert. Nur der Fernseher der alten Dame. Es hätte die Angelegenheit ein wenig erleichtert, wenn sie bereits zu Bett gegangen wäre. Das Plastik des Schutzanzugs raschelte bei jedem seiner Schritte leise. Er tastete sich den dunklen Flur entlang. Eine Tür war nur angelehnt. Flackerndes Licht drang durch den Spalt.
Er entschied sich für ein schnelles Vorgehen. Er stieß die Tür auf. Auf dem Bildschirm des Schwarzweißfernsehers schüttelten sich alte Männer in schlichten Anzügen die Hände und grinsten dabei, als hätten sie allesamt den Hauptpreis in einer Lotterie gewonnen.
»Was?«, entfuhr es der alten Frau, die der Tür gegenüber in einem Sessel saß. Mit offenem Mund starrte sie den Eindringling an und machte Anstalten, sich hochzustemmen.
»Sitzen bleiben!«, befahl der junge Mann.
Die Frau verharrte inmitten ihrer Bewegung, die Hände auf den Armlehnen. »Ich bin allein im Haus.« Sie sah dabei kurz zur Zimmerdecke und verriet damit, dass sie log. Über ihr, im oberen Stockwerk, befand sich jemand, den sie schützen wollte. »Bei mir gibt's nichts zu holen.« Ihre Stimme war vor Aufregung ganz heiser. Er machte einen Schritt auf sie zu. Sie ließ ihn nicht mehr aus den Augen und folgte jede seiner Bewegungen. Plötzlich hatte er es gar nicht mehr so eilig. Es gab für die alte Frau keine Fluchtmöglichkeit. Er stand zwischen ihr und der Tür, und selbst, wenn sie versuchen würde, das Fenster zu erreichen, es zu öffnen, um nach Hilfe zu rufen, wäre er schneller als sie.
Es ist das Vorspiel, sagte er sich und musste unwillkürlich lächeln. Die Frau deutete seine Mimik falsch und schien sich ein wenig zu entspannen.
»Haben Sie vielleicht Hunger?«, fragte sie nach einer kurzen Pause.
Er schwieg. Sie versuchte erneut aufzustehen. »Ich könnte Ihnen ...«
»Sitzen bleiben!« Er stampfte mit dem Fuß auf. »Dann passiert auch nichts.«
Die ganze Zeit über hatte er die linke Hand hinter dem Rücken verborgen gehalten. Er wechselte das Messer in die rechte Hand. Die Frau starrte die Klinge an, holte tief Luft, und er wusste, was nun kommen würde. Sie würde so laut schreien, dass es die ganze Nachbarschaft hören konnte. Er sprang nach vorn und stieß mit Wucht zu. Mit einer Schnelligkeit, die er der mindestens Siebzigjährigen niemals zugetraut hätte, wich sie der Klinge aus. Sie wand sich in ihrem Sessel wie eine Schlange.
»Geh zum Teufel!«, fauchte sie und traf ihn mit der flachen Hand ins Gesicht. Er drückte ihr den linken Ellbogen gegen die Kehle, sie zappelte, aber beim zweiten Mal traf die Klinge. Und beim dritten, vierten und fünften Mal.
Er ließ das Messer einfach stecken. Von den Dingern gab es Tausende. Erleichtert stellte er fest, dass sein Schutzanzug bei der Rangelei nicht gerissen war.
Er fand die Treppe zum oberen Stockwerk. Bei der Beseitigung der Frau war er beinahe gelassen geblieben. Es war nur etwas, das erledigt werden musste, um ans Ziel zu kommen. Aber jetzt, wo er die letzte Stufe hinter sich gelassen hatte, er nur noch wenige Schritte von der Erfüllung seiner fiebrigen Fantasien entfernt war, beschleunigten sich Atmung und Puls. Der Gürtel lag lose in seiner Hand. Er untersuchte das Dachgeschoss und grunzte zufrieden, als er in das Schlafzimmer der alten Frau blickte. Es wurde von einem riesigen Ehebett beherrscht, obwohl sie seit Jahren Witwe war. Das machte alles perfekt. Im zweiten Zimmer standen Bücherregale und ein Einzelbett. Hier schlief die Tochter der Alten. Sie war Krankenschwester, und er wusste, dass sie jetzt Nachtdienst hatte. Blieb nur noch das letzte Zimmer. Er presste sein Ohr gegen die verschlossene Tür. Stille. Das Kind hatte von den Vorfällen im Parterre nichts mitbekommen. Er schaltete das Flur- licht ein.
Die kleine Gestalt lag jetzt direkt vor ihm, hatte sich in der Hitze der Sommernacht im Schlaf aus der Bettdecke gestrampelt. Er streckte den Arm aus und packte den Jungen an der Schulter. »Aufstehen«, sagte er halblaut und dann laut: »Los! Mach schon!«, als das Kind nicht sofort reagierte.
Der Junge stieß ein paar schmatzende Laute aus, rieb sich die Augen und erkannte erst dann, wer ihn geweckt hatte.
»Bist du ein Anstreicher?«, fragte er mit plötzlicher Klarheit und betrachtete im Schein des Flurlichts die seltsame Kleidung seines Gegenübers. Erst, als er den hin und her schwingenden Gürtel in der Hand des Mannes erblickte, ahnte er wohl, dass er es mit keinem normalen Handwerker zu tun hatte.
»Wo ist Oma?« Sein Kopf drehte sich nervös in alle Richtungen. »Oma?«
»Pssst!« Der Mann legte den Zeigefinger auf die Lippen des Kindes. »Wenn du jetzt nicht ganz lieb bist und genau tust, was ich sage, muss ich deiner Oma weh tun.«
Sofort kamen dem Jungen die Tränen. Er biss sich fest auf die Lippen und begann zu zittern.
»So«, sagte der Mann, dessen Stimme vor Erregung ganz rau klang. »Jetzt kommst du mit ins Bett deiner Oma.« Mit marionettenhaften Bewegungen stand der Junge auf.
»Perfekt!«, sagte der Mann, als er das nackte Kind betrachtete. »Du musst dir nur noch ein Unterhemd oder so was anziehen. Sonst stimmt es nicht, verstehst du? Und nenn mich Onkel.«
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Autoren-Porträt von Raimon Weber
Raimon Weber, geboren 1961, ist Schriftsteller, Hörspielautor und Medientrainer. Er leistet regelmäßig Beiträge zum Krimifestival "Mord am Hellweg". Bei seinen Lesungen trägt der Autor die merkwürdigsten Methoden vor, wie man ums Leben kommen kann und plaudert aus seinem Berufsleben als Autor. Schließlich treibt ihn die Recherche auf hohe Schornsteine und in die geschlossene Forensik oder er lässt sich von Spezialisten vor Ort über die Entsorgung amputierter Gliedmaßen aufklären. Raimon Weber lebt in Kamen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Raimon Weber
- 2013, 288 Seiten, Deutsch
- Verlag: Ullstein eBooks
- ISBN-10: 3843704058
- ISBN-13: 9783843704052
- Erscheinungsdatum: 02.12.2013
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eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 1.15 MB
- Ohne Kopierschutz
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