Wir fangen gerade erst an
Das Seniorenheim heißt "Diamant", ist aber alles andere als ein Juwel. Die Bewohner Märtha, Snille, Kratze, Stina und Anna-Greta gehen sogar so weit und behaupten, dass sie im Knast ein besseres und komfortableres Leben hätten als hier....
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Weltbild Ausgabe
4.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Wir fangen gerade erst an “
Das Seniorenheim heißt "Diamant", ist aber alles andere als ein Juwel. Die Bewohner Märtha, Snille, Kratze, Stina und Anna-Greta gehen sogar so weit und behaupten, dass sie im Knast ein besseres und komfortableres Leben hätten als hier. Aber ins Gefängnis kommt man nicht, weil man alt ist, sondern weil man ein Verbrechen begangen hat. Also schmieden die fünf Freunde entschlossen einen Plan - und müssen feststellen, dass so eine kriminelle Karriere kein Kinderspiel ist. Vor allem, wenn man bisher zu den Grundehrlichen und Guten gehört hat.
Der Sensationserfolg aus Schweden - schräg, witzig und mit viel Herz!
Lese-Probe zu „Wir fangen gerade erst an “
Wir fangen gerade erst an von Catharina Ingelman-Sundberg Prolog
Die ältere Dame griff nach ihrem Rollator, hängte den Stock an den Gitterkorb und bemühte sich um einen energischen Gesichtsausdruck. Eine gewisse Autorität sollte sie schließlich ausstrahlen, denn die Seniorin - sie war 79 Jahre alt - war im Begriff, ihren ersten Banküberfall zu begehen. Sie richtete sich auf, schob den Hut weit ins Gesicht und öffnete die Tür. Sie stützte sich auf ihren Rollator und bewegte sich langsam vorwärts. In fünf Minuten würde die Filiale schließen, und es befanden sich nur noch drei Kunden in der Bank. Der Rollator gab ein leises Quietschen von sich, obwohl sie ihn mit Olivenöl geschmiert hatte, aber seit sie mit dem Putzwagen im Altersheim zusammengestoßen war, war ein Rad schief. Doch das war an so einem Tag nicht von Belang. Hauptsache, der Rollator hatte einen großen Korb und es passte viel Geld hinein.
... mehr
Märtha Anderson aus Södermalm ging leicht vornübergebeugt und trug einen unauffälligen Mantel. Seine Farbe ließ sich beim besten Willen nicht bestimmen, ebendeshalb hatte sie dieses Kleidungsstück ausgewählt: um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Märtha war überdurchschnittlich groß, kräftig gebaut, aber nicht dick, und an den Füßen trug sie feste, dunkle Schnürschuhe, die ihr bei einer eventuellen Flucht sehr zupasskämen. Die Hände, mittlerweile übersät von Krampfadern, steckten in etwas abgewetzten Lederhandschuhen, und das kurze, weiße Haar hielt sie unter einem breitkrempigen, braunen Hut versteckt. Um den Hals hatte sie einen Schal in einer Leuchtfarbe geschlungen. Sollte sie ein Kamerablitz treffen, würde er automatisch alles andere überbelichten und ihre Gesichtszüge verbergen. Doch das war nur eine Art Vorsichtsmaßnahme - Mund und Nase lagen ja bereits im Schatten des Hutes.
Die kleine Bank in der Götgata sah genauso aus wie jede andere Bank heutzutage. Es war nur noch eine Kasse geöffnet, die Wände steril und nichtssagend, Hochglanzfußboden und auf einem kleinen Tisch Informationsmaterial über Bankdarlehen und viele Tipps, wie man zu Geld kommt. Liebe Werbefuzzis, dachte Märtha. Ich kenne andere und wirklich viel bessere Methoden! Sie ließ sich auf das Kundensofa sinken und tat so, als würde sie sich für die Plakate über Bausparverträge und Aktienfonds interessieren, doch es fiel ihr schwer, die Hände stillzuhalten. Diskret steckte sie eine Hand in ihre Manteltasche und tastete nach ihren Bonbons. Ihr Hausarzt warnte sie vor diesem ungesunden Zeug, ihr Zahnarzt hingegen bedankte sich. Doch ihre salzigen Lakritz- Pastillen namens ›Dschungelschrei‹ klangen so herrlich nach Aufruhr und passten perfekt zu einem Tag wie diesem. Und ein Laster durfte sie schließlich haben.
Es piepte, und auf der Anzeigetafel erschien die nächste Nummer. Ein Mann in den Vierzigern ging mit flottem Schritt vor zur Kasse. Sein Anliegen war schnell erledigt, und ein junges Mädchen wurde ebenso rasch bedient. Doch dann kam ein älterer Herr. Als er am Schalter stand, fing er an, in seinen Unterlagen zu kramen und vor sich hin zu brabbeln. Märtha wurde unruhig. Zu lange sollte sie sich hier nicht aufhalten. Möglicherweise fiel jemandem ihre Körperhaltung auf. Oder irgendein anderes Detail. Schon war sie entlarvt. Das wäre jetzt gar nicht gut. Schließlich wollte sie nur wie jede x-beliebige ältere Dame aussehen, die auf die Bank geht und Geld abhebt. Und genau das hatte sie ja auch vor, auch wenn die Kassiererin Augen machen würde, was die Summe anging ... Märtha fingerte in ihrer Manteltasche nach dem Zeitungsausschnitt aus der Wirtschaftszeitung. Der war aus einem Artikel, in dem es darum ging, welche Kosten ein Banküberfall für die Bank verursachte, und die Überschrift hatte sie ausgeschnitten: »Dies ist ein Banküberfall.« Und beim Lesen war ihr auch die Idee gekommen.
Der Mann vorn am Schalter schien langsam fertig zu werden. Märtha stützte sich auf den Rollator und stand auf. Ihr ganzes Leben lang war sie eine hochgradig anständige Person gewesen, auf die sich jeder verlassen konnte, und in der Schule hatte man sie sogar zur Klassensprecherin gewählt. Jetzt stand sie kurz davor, kriminell zu werden. Auf der anderen Seite, wie sollte sie sonst im Alter klarkommen? Sie und ihre Freunde wollten es schön haben, und dafür brauchten sie Geld, und jetzt konnte sie es sich nicht einfach anders überlegen. Sie und ihre Chorkameraden stellten sich ihre alten Tage hell und freundlich vor. Kurz gesagt, im Herbst des Lebens sollte auch noch Leben in der Bude sein. Der Herr vor ihr brauchte wirklich enorm viel Zeit, doch dann piepte es endlich, und ihre Nummer leuchtete auf. Langsam, aber würdevoll, schritt sie vor zum Kassenschalter. In diesem Moment war es vorbei mit dem Leben voller Anstand und Respekt, das vernichtete sie jetzt auf einen Schlag. Doch was tat man nicht alles in einer Gesellschaft, die aus Gaunern bestand und die ihre Alten schlecht behandelte? Man ließ es sich gefallen und ging unter, oder man passte sich den Gegebenheiten an. Sie gehörte zu Letzteren.
Auf dem Weg zum Schalter schaute sie sich sorgfältig um, bevor sie vor der Kasse haltmachte, den Stock auf den Tresen legte und der Kassiererin freundlich zunickte. Dann schob sie ihr den Zeitungsausschnitt hinüber.
»Dies ist ein Banküberfall!«
Die Dame an der Kasse las und antwortete mit einem Lächeln.
»Womit kann ich dienen?«
»Drei Millionen, und zwar schnell!«, sagte Märtha.
Das Lächeln der Kassiererin wurde breiter. »Möchten Sie Geld abheben?«
»Nein, SIE sollen Geld für mich abheben, AUF DER STELLE!«
»Verstehe. Aber Ihre Rente ist noch nicht da. Die wird erst in der Monatsmitte ausgezahlt, das wissen Sie doch.«
Märtha verlor den Faden. Das hier lief völlig anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Jetzt war sofortiges Handeln gefragt. Sie griff nach ihrem Stock und stieß ihn durch die Schalteröffnung. Dann fuchtelte sie damit herum, so gut es ging.
»Beeilen Sie sich! Her mit meinen drei Millionen!«
»Aber Ihre Rente ...«
»Tun Sie, was ich sage. Drei Millionen. Legen Sie das Geld in den Korb.«
Da wusste sich die junge Bankangestellte nicht anders zu helfen, sie stand auf und holte zwei männliche Kollegen. Die waren beide sehr adrett und lächelten freundlich. Der eine, der ihr zugewandt stand, sah aus wie Gregory Peck - oder war es Cary Grant? - und erklärte:
»Wir kümmern uns um Ihre Rente, seien Sie unbesorgt. Und mein Kollege hier ruft Ihnen gern ein Taxi, das Sie nach Hause bringt.«
Märtha warf einen Blick durch die Glasscheibe. Weiter hinten sah sie die junge Kassiererin, die das Telefon in der Hand hielt.
»Dann muss ich meinen Banküberfall wohl verschieben«, antwortete Märtha und griff schnell nach ihrem Stock und dem Zeitungsausschnitt. Alle lächelten verständnisvoll, und dann brachten sie die alte Dame zur Tür. Sie begleiteten sie noch bis zum Taxi und klappten ihr den Rollator zusammen.
»Altersheim Diamant«, sagte Märtha dem Fahrer und winkte den Bankangestellten zum Abschied. Vorsichtig stopfte sie den Zeitungsausschnitt wieder in die Manteltasche zurück. Die Sache war wie am Schnürchen gelaufen. Eine alte Dame mit Rollator konnte sich also wesentlich mehr erlauben als andere Leute. Sie fuhr mit der Hand in die Manteltasche, um sich mit einem Dschungelschrei-Bonbon zu belohnen, und summte fröhlich vor sich hin. Damit ihr Plan funktionierte, brauchte sie nun nur die Unterstützung ihrer Freunde aus dem Chor. Seit über zehn Jahren sangen sie miteinander und hielten eng zusammen. Natürlich konnte sie die anderen nicht einfach geradewegs fragen, ob sie Lust hätten, kriminell zu werden, sie musste sich schon etwas ausdenken. Aber später, und dessen war sie sich sicher, würden sie ihr dankbar sein, dass ihr Leben so eine positive Wendung genommen hatte! Märtha erwachte von einem weit entfernten, summenden Geräusch, dem ein scharfer Piepton folgte. Sie schlug die Augen auf und versuchte herauszufinden, wo sie sich befand. Ja natürlich, im Altersheim. Und was sie gerade hörte, war wohl wieder Kratze, der eigentlich Bertil Engström hieß und immer in der Nacht aufstand, weil er Hunger hatte. Dann stellte er Essen in die Mikrowelle und vergaß es dort. Sie stand auf und ging mit Hilfe ihres Rollators in die Küche. Murrend nahm sie eine Fertigpackung Nudeln mit Tomatensoße und Fleischbällchen heraus und sah verträumt hinüber zu den Häusern auf der anderen Straßenseite. Dort hatten sie sicher noch ihre Küchen, dachte sie. Früher hatten sie auch eigene Küchen gehabt, aber um Personal einzusparen, waren die von der neuen Leitung gestrichen worden. Bevor die Diamant-GmbH das Haus übernommen hatte, waren die Mahlzeiten die Höhepunkte des Tages gewesen, und im Gemeinschaftsraum hatte es herrlich geduftet. Und jetzt? Märtha gähnte und lehnte sich an die Spüle. Fast alles war schlechter geworden, und mittlerweile war es so ein Jammer, dass sie oft nur noch fortwollte. Ach, wie wunderbar war doch ihr Traum gewesen ... Es hatte sich so echt angefühlt, als hätte sie tatsächlich in dieser Bank gestanden, als hätte ihr Unterbewusstsein das Kommando übernommen und ihr etwas sagen wollen. In der Schule war sie gegen Missstände immer auf die Barrikaden gegangen. Noch als Lehrerin hatte sie sich unsinnigen Vorschriften und blödsinnigen Umstrukturierungen widersetzt. Aber hier im Heim hatte sie sich komischerweise einfach damit abgefunden. Wie hatte sie nur so träge werden können? Menschen, die die Regierung eines Landes abschaffen wollen, machen eine Revolution. Das müsste doch auch hier möglich sein, sie musste nur die anderen überzeugen. Und ein Banküberfall, das wäre doch eine Idee? Sie lachte auf, etwas nervös. Denn genau das war ja das Beängstigende - „dass ihre Träume normalerweise in Erfüllung gingen. „
1
Als die Bewohner des Seniorenheims Diamant im Saal ihren Morgenkaffee tranken, überlegte Märtha, was sie tun sollte. In ihrem Elternhaus in Österlen hatte man nicht lange gefackelt oder darauf gewartet, dass ein anderer zur Tat schritt. Wenn Heu gemacht werden musste oder eine Stute fohlte, dann setzte man sich in Bewegung. Märtha hob ihre Hände. Auf die konnte sie stolz sein, schließlich sah man ihnen an, dass sie in ihrem Leben immer angepackt hatten, wenn Not am Mann gewesen war.
Die Geräuschkulisse um Märtha herum war mal lauter, mal leiser. Im Gemeinschaftsraum, der ziemlich heruntergekommen war, roch es schon von weitem nach Bahnhofsmission, und die Möbel sahen aus, als hätte man sie direkt vom Sperrmüll geholt. Der alte, graue Eternit-Bau aus den späten Vierzigern wirkte wie eine Mischung aus altem Schulgebäude und Zahnarzt-Wartezimmer. Hier wollte sie kaum ihre letzten Tage verbringen, mit Automatenkaffee in der Hand und Astronautenessen im Magen. Nein, ums Verrecken nicht! Märtha atmete tief ein, schob den Kaffeebecher zur Seite und beugte sich vor.
»Hört mal. Was haltet ihr von einer zweiten Tasse bei mir auf dem Zimmer?«, fragte sie und machte eine Handbewegung, ihr zu folgen. »Ich glaube, wir haben einiges zu besprechen. «
Und weil sie wussten, dass Märtha einen ordentlichen Vorrat an Moltebeerenlikör angelegt hatte, nickten sie zustimmend und standen sofort auf. Der flotte, aber nachts immer hungrige Kratze ging voran, danach kamen Snille, der Erfinder, und Märthas Freundinnen, Stina, die belgische Schokolade so liebte, und Anna-Greta, die alle anderen Damen in den Schatten stellte. Sie sahen sich an. In der Regel lud Märtha nur zu einem Gläschen ein, wenn sie etwas im Schilde führte. Das letzte Mal war schon eine Weile her, aber offenbar war es nun wieder so weit.
Als alle da waren, holte Märtha die Flasche hervor, räumte ihr halbfertiges Strickzeug vom Sofa und bat ihre Freunde, Platz zu nehmen. Sie warf einen Blick auf den Mahagonitisch mit dem frisch gebügelten, geblümten Deckchen. Eigentlich wollte sie sich schon lange einen neuen anschaffen, doch der alte Tisch war stabil und groß genug für all ihre Freunde. Das sollte reichen. Als sie nach der Flasche griff, warf sie einen Blick auf ihren Schreibtisch, auf dem die Familienfotos aus Österlen standen. Hinter Glas und Rahmen lächelten ihr die Eltern und ihre Schwester zu. Sie standen vor dem Elternhaus in Brantevik. Wenn die wüssten, was sie hier tat! Sie waren nämlich bekennende Nichttrinker. Demonstrativ stellte Märtha die Likörgläser auf den Tisch und schenkte großzügig ein.
»Prost, Kameraden«, sagte sie und erhob ihr Glas.
»Im tiefen Keller sitz ich hier«, stimmten die Freunde lustig an.
Doch Märtha bedeutete ihnen, ihr Trinklied tonlos zu singen. (Hier im Heim war es lebensnotwendig, keinen Lärm zu veranstalten und nicht mit verstecktem Likör entdeckt zu werden.) Märtha wiederholte den Refrain nur mit Mundbewegungen, und alle lachten aus voller Kehle. Noch war ihnen niemand auf die Schliche gekommen, und die fünf hatten jedes Mal einen Heidenspaß. Märtha stellte ihr Glas ab und schielte zu den anderen. Sollte sie ihnen von ihrem Traum erzählen? Nein, erst einmal musste sie sie auf dieselben Gedanken und dann auf ihre Seite bringen. Die Freunde waren ein eingeschworenes Trüppchen, das schon früh beschlossen hatte, im Alter zusammenzuziehen. Also konnte man sich doch auch mit allen zusammen etwas Neues vornehmen? Sie hatten so vieles gemeinsam. Nach der Pensionierung waren sie mit ihrem Chor »Stimmband« in Kranken- und Gemeindehäusern aufgetreten und vor ein paar Jahren gemeinsam in dieses Altersheim eingezogen. Lange hatte sie dafür plädiert, lieber Geld für den Kauf eines Schlosses in Südschweden zu sparen, das hätte sie wesentlich spannender gefunden. Denn kurz zuvor hatte sie in der Zeitung von Ystad gelesen, dass alte Schlösser billig zu haben waren, und einige hatten sogar Schlossgräben.
»Stellt euch vor, irgendjemand von einer Behörde steht vor der Tür. Oder ein Kind, das vorzeitig sein Erbe will. Dann ziehen wir einfach die Brücke hoch«, hatte sie gesagt und fand die Argumente sehr überzeugend. Doch als sie feststellten, dass Schlösser in der Unterhaltung sehr teuer waren und einiges an Dienstpersonal erforderten, entschieden sie sich doch lieber für das »Seniorenheim Maiglöckchen «, jenes Haus, das die neuen Besitzer in »Haus Diamant« umgetauft hatten.
»Und, hat dir dein nächtliches Mahl geschmeckt?«, fragte Märtha, als Kratze die letzten Tropfen aus seinem Likörglas geschlürft hatte. Er sah noch recht verschlafen aus, doch die Müdigkeit hatte ihn nicht davon abgehalten, eine Rose ins Knopfloch zu stecken und ein frisch gebügeltes Halstuch umzubinden. Mag sein, dass er mittlerweile leicht ergraut war, doch er hatte noch denselben Gentleman-Charme und dieselbe Eleganz wie früher, so dass sich durchaus jüngere Frauen nach ihm umdrehten.
»Nächtliches Mahl? Das war nur eine Hungerattacke, Fressen im Rausch. Ein normaler Rausch hat wenigstens noch einen Sinn. Aber das war ekliger als Schiffszwieback«, schimpfte er und stellte sein Glas ab. In seiner Jugend war er zur See gefahren, aber nachdem er ausgemustert worden war, hatte er eine Umschulung zum Gärtner gemacht. Heute begnügte er sich damit, Blumen und Kräuter auf dem Balkon zu ziehen. Es grämte ihn sehr, dass ihn alle Kratze nannten. (Nur weil er es liebte, im Garten zu werkeln und dabei über eine Harke gestolpert war, musste man doch nicht lebenslang gezeichnet sein.) Doch mit seinen Vorschlägen, ihn mit den Spitznamen »Blume«, »Blatt« oder »Laub« anzureden, hatte er kein Gehör gefunden.
»Könntest du dir vielleicht vorstellen, das nächste Mal stattdessen ein Käsebrot zu schmieren? Ein leises Essen, das nicht piept?«, grummelte Anna-Greta, die auch aufgewacht war und nur schwer wieder einschlafen konnte. Sie war eine etwas derbe Person, entschieden und sehr korrekt, und darüber hinaus so groß und dünn, dass Kratze gerne sagte, sie sei in ein Fallrohr hineingeboren worden.
»Es duftet aus der Dachwohnung eben immer nach leckerem Essen und guten Gewürzen, da bekomme ich natürlich Hunger«, entschuldigte er sich.
»Du hast recht. Das Personal sollte uns etwas abgeben. Von diesem Astronautenessen wird doch keiner satt«, sagte Stina Åkerblom und feilte diskret ihre Nägel. Die frühere Putzmacherin, die immer davon geträumt hatte, Bibliothekarin zu werden, war die Jüngste von ihnen, nämlich erst 77 Jahre alt. Sie wünschte sich ein ruhiges und angenehmes Leben, wollte gut essen und Aquarelle malen. Jedenfalls keinen Fraß serviert bekommen. Nachdem sie ihr halbes Leben im Nobelstadtteil Östermalm verbracht hatte, war sie einen gewissen Standard gewohnt.
»Das Personal bekommt dasselbe Essen wie wir«, erläuterte Märtha. »Es sind die neuen Inhaber, die da oben ihr Büro und ihre Küche haben.«
»Dann sollten wir einen Fahrstuhl installieren, der uns das Essen herunterfährt«, schlug Oskar »Snille« Krupp vor, durch den sich die Truppe kennengelernt hatte und der ein Jahr älter als Stina war. Er war Erfinder und hatte in Sundbyberg seine eigene Werkstatt gehabt. Auch er hatte eine Vorliebe für gutes Essen, war rund und füllig und vertrat die Meinung, dass Sport etwas für Leute sei, denen nichts Besseres einfiel.
»Könnt ihr euch noch an die Broschüre erinnern, die wir bekommen haben, als wir vor ein paar Jahren hier eingezogen sind?«, fragte Märtha. »Gutes Essen aus dem Restaurant stand da geschrieben. Darüber hinaus sollten tägliche Spaziergänge, Auftritte von Künstlern, Fußpflege und Friseurbesuche angeboten werden. Seit die neuen Inhaber am Ruder sind, läuft gar nichts mehr. Es ist langsam an der Zeit, dass wir es offen aussprechen.«
»Aufruhr im Altersheim!«, kommentierte Stina mit theatralischem Tonfall und ausladender Geste, so dass ihr die Nagelfeile aus den Händen flog.
»Ja, genau, eine kleine Meuterei«, tastete Märtha sich vor.
»Wir sind doch nicht auf See«, schnaubte Kratze.
»Aber vielleicht müssen die neuen Inhaber den Gürtel enger schnallen. Ihr werdet sehen, mit der Zeit wird es besser«, sagte Anna-Greta und schob ihre Brille, ein Modell aus den fünfziger Jahren, zurecht. Sie hatte ihr Leben lang bei einer Bank gearbeitet, und ihr war klar, dass ein Unternehmer auch Gewinne machen musste.
»Besser? Im Leben nicht«, moserte Kratze. »Diese Gauner erhöhen ständig den Eigenanteil, nur wir haben nichts davon. «
»Sei doch nicht so negativ«, sagte Anna-Greta und fasste schon wieder an ihre Brille. Die Fassung war alt und ausgeleiert und rutschte ihr ständig von der Nase. Sie ließ nämlich immer nur die Gläser austauschen, weil sie fand, dass ihr Brillengestell zeitlos sei.
»Was heißt hier negativ? Wir müssen Verbesserungen fordern. Das betrifft im Grunde alles, aber beim Essen fangen wir an«, argumentierte Märtha. »Hört mal, die haben da oben in der Dachwohnung bestimmt ein paar Leckerbissen in der Küche. Wenn das Personal nach Hause gegangen ist, könnten wir, dachte ich ...«
Und während Märtha erzählte, wurde es am Tisch immer lustiger. Bald glitzerten die Augen der alten Leute ebenso lebendig wie die rauschende Brandung an einem sonnigen Sommertag. Alle schielten hinauf zum Dach, sahen sich an und hielten die Daumen hoch.
Als die Freunde ihr Zimmer verlassen hatten, stellte Märtha den Moltebeerenlikör zurück in den Kleiderschrank und summte fröhlich vor sich hin. Dieser Traum schien ihr neue Kraft gegeben zu haben. Nichts ist unmöglich, sagte sie sich. Aber um wirklich etwas zu verändern, musste sie Alternativen aufzeigen. Das war ihr Plan. Dann würden ihre Freunde glauben, sie hätten die Entscheidung ganz allein getroffen.
2
Als alle aus dem Fahrstuhl ausgestiegen waren und vor dem Büro der Diamant-GmbH standen, hob Märtha die Hand und wies die anderen an, still zu sein. Sie hatte den Schlüsselschrank durchsucht und einen Schlüssel ausgewählt, der ein dreikantiges Kopfstück besaß und aussah, als könne man ihn nicht ohne weiteres nachmachen. Sie steckte ihn ins Schloss, drehte, und die Tür sprang auf.
»Wie ich es mir gedacht habe. Der Generalschlüssel. Wunderbar, dann spazieren wir mal hinein, aber denkt daran, leise zu sein.«
»Das musst du gerade sagen«, entgegnete Kratze, der der Meinung war, dass Märtha immer redete wie ein Wasserfall.
»Aber wenn uns jemand erwischt«, wandte Stina ängstlich ein.
»Das wird nicht passieren, wir sind ganz vorsichtig und schleichen hinein«, sagte Anna-Greta mit lauter Stimme. Wie all diejenigen, die schlecht hören können, hatte sie selbst eine durchdringende Stimme - was sie jedoch überhaupt nicht bemerkte.
Die Rollatoren quietschten bunt durcheinander, als die fünf langsam und vorsichtig den Raum betraten. Es roch nach Arbeitszimmer und Möbelpolitur, und auf dem Schreibtisch lagen die Akten pedantisch geordnet in Reih und Glied.
»Hmm, das scheint das Büro zu sein, die Küche ist sicher da drüben«, meinte Märtha und zeigte nach vorn.
Sie ging voraus und zog die Gardinen des Küchenfensters zu.
»So, jetzt dürft ihr Licht machen!«
Die Deckenspots blinkten auf, und vor ihnen offenbarte sich ein großer Raum mit Kühl- und Gefrierschrank und einer geräumigen Kücheneinrichtung. In der Mitte befand sich eine Kücheninsel auf Rollen, und vor dem Fenster stand ein Esstisch mit sechs Stühlen.
»Eine komplette Küche«, sagte Snille fasziniert und strich über die Kühlschranktür.
»Hier drinnen gibt's sicher was Leckeres«, sagte Märtha und öffnete die Tür. In den Fächern stapelten sich Hähnchen und Rinderfilets zwischen Lammsteaks und verschiedenen Käsesorten. Im Gemüsefach fand sie Salat, Tomaten, Rote Beete und Obst. Die Tür des Gefrierschranks ließ sich nur schwer öffnen.
»Elchsteak und Hummer. Da sieh mal an!«, rief sie und hielt die Tür auf, damit es jeder sehen konnte. »Außerdem Baumkuchen. Hier oben scheinen sie häufiger zu feiern.«
Lange Zeit standen sie sprachlos da und staunten. Snille fuhr mit der Hand durch seinen Stoppelschnitt, Kratze griff sich ans Herz und seufzte laut, Stina atmete schneller, und Anna-Greta bekam den Mund nicht mehr zu.
»Das muss Unmengen gekostet haben!«, murmelte sie leise.
»Kein Mensch merkt es, wenn wir davon etwas nehmen«, meinte Märtha.
»Aber wir können ihnen doch wohl kaum das Essen stehlen? «, warf Stina ein.
»Wir stehlen ja nichts. Was glaubst du wohl, von wessen Geld sie dieses Essen gekauft haben? Wir nehmen uns nur das, wofür wir bezahlt haben. Hier, bitte schön.«
Märtha hielt ein Hühnchen hoch, und Kratze, der langsam seinen nächtlichen Hunger verspürte, schritt zur Tat.
»Und jetzt brauchen wir noch Reis, Gewürze und Mehl, dann können wir eine Soße dazu machen«, sagte Snille, der jetzt aufgewacht war. Er war nicht nur ein ordentlicher Handwerker, sondern auch ein guter Koch. Weil das Essen, das früher seine Frau zubereitet hatte, ungenießbar gewesen war, hatte er sich gezwungen gesehen, selbst kochen zu lernen. Als ihm später klarwurde, dass sie nicht nur in der Küche nichts taugte, sondern das ganze Leben für ein einziges Problem hielt, hatte er sich von ihr getrennt. Noch heute hatte er Albträume, in denen sie an seinem Bett stand, wetternd, mit dem Nudelholz in der Hand. Doch immerhin hatte sie ihm einen Sohn geschenkt, und dafür war er sehr dankbar.
»Für die Soße brauchen wir auch einen guten Wein.« Er sah sich um und entdeckte an der Wand ein Weinregal. »Habt ihr euch mal diese Flaschen angesehen, mein lieber Schwan ...«
»Die dürfen wir nicht anrühren. Sonst fällt es auf«, sagte Märtha. »Wenn niemand unseren kleinen Besuch bemerkt, können wir nämlich wiederkommen!«
»Nichts da. Gutes Essen ohne Wein ist wie ein Auto ohne Räder«, verkündete Snille. Er ging zum Weinregal und zog zwei der besten Tropfen heraus. Als er Märthas Blick sah, legte er ihr besänftigend die Hand auf die Schulter. »Wir öffnen die Flaschen, trinken den Wein und füllen die leeren Flaschen einfach mit Rote-Beete-Saft«, schlug er vor.
Märtha sah Snille bewundernd an. Stets hatte er eine Lösung parat, stets war er optimistisch. Probleme waren dazu da, gelöst zu werden, war sein Motto. Das erinnerte sie an ihre Eltern. Einmal hatte sie mit ihrer Schwester Verkleiden gespielt und im Schlafzimmer der Eltern eine fürchterliche Unordnung angerichtet. Natürlich hatten die Eltern anfangs geschimpft, aber dann hatten sie sich das Lachen nicht verkneifen können. Lieber ein unordentliches Haus und fröhliche Kinder als einen perfekten Hof und verschüchterte Mädchen, hatten sie gesagt. Und ihr Credo hieß »Alles wird gut«. Märtha sah es ebenso. So war es wirklich.
Schnell wurden Schneidebretter, Bratpfannen und Töpfe aus den Schränken geholt, und alle halfen mit. Märtha schob das Huhn in den Ofen, Snille brutzelte eine leckere Soße, Kratze kreierte einen herrlichen Salat, und Stina versuchte, mit anzufassen, so gut es ging. Als junges Mädchen war sie zwar auf der Hauswirtschaftsschule gewesen, doch da sie ihr Leben lang eine Küchenhilfe gehabt hatte, wusste sie gar nicht mehr, wie man kocht. Das Einzige, was sie noch anständig konnte, war, Gurken zu schneiden.
Anna-Greta deckte den Tisch und kümmerte sich um den Reis.
»Am besten macht sie das, was man ihr sagt«, flüsterte Märtha und nickte in Richtung der Freundin. »Aber sie macht alles im Schneckentempo und zählt noch dabei.«
»Hauptsache, sie fängt nicht an, die Reiskörner zu zählen «, grinste Snille.
Bald hatte sich in der Küche ein wonniger Duft verbreitet, und Kratze ging von Platz zu Platz und servierte Wein im blauen Jackett und mit frischem Halstuch. Er war gekämmt und duftete angenehm nach Aftershave. Stina bemerkte, dass er sich in Schale geworfen hatte, und holte diskret ihr Puderdöschen und den Lippenstift hervor. Als keiner hinsah, zog sie die Lippen nach und ließ einen Hauch Puder auf die Nase rieseln.
Geplauder und Lachen mischten sich unter das Geklapper von Tellern und Töpfen. Zweifellos dauerte es eine ganze Weile, bis das Essen fertig war, aber was machte das schon, wenn man währenddessen einen guten Schluck Wein im Glas hatte? Am Ende ließen sie sich fröhlich und ausgelassen wie Teenager am Esstisch nieder.
»Noch ein Gläschen?«
Kratze schenkte noch mehr Wein aus, und es war wie in den guten alten Zeiten, als er Ober auf einem Kreuzfahrtschiff im Mittelmeer gewesen war. Heute ging zwar alles etwas langsamer, doch seine Haltung war noch genauso würdevoll und der Diener perfekt. Während des Essens stießen sie immer wieder miteinander an und sangen aus vollen Kehlen ihr Chorrepertoire rauf und runter, und als Snille noch einen guten Jahrgangssekt entdeckte, machte auch diese Flasche die Runde. Stina erhob ihr Glas, neigte den Kopf nach hinten und trank.
»Der saß!«, sagte sie belustigt, ein Spruch, den sie kürzlich von ihren Kindern aufgeschnappt hatte. Die ehemalige Hutmacherin wollte immer auf dem Laufenden und bloß nicht altmodisch sein. Sie stellte das Glas wieder ab und sah sich um. »Und jetzt, ihr Lieben, lasst uns tanzen!«
»Dann mach mal«, sagte Snille und legte die Hände auf den Bauch.
»Aber gerne«, rief Kratze und sprang auf, doch er schwankte so, dass Stina die Tanzschritte selbst steuern musste.
»Wie viel stolzer der eigene Würfelwurf, als in schwächelnder Flamme verbrannt«, deklamierte sie und breitete die Arme aus. Auch wenn sich Stina ihren Traum, Bibliothekarin zu werden, nie hatte erfüllen können, so war doch Literatur immer ihr großes Hobby geblieben. Was sie von Verner von Heidenstam, Selma Lagerlöf oder Elias Tegnér nicht wusste, war auch nicht wissenswert.
»Jetzt geht das mit den alten Klassikern wieder los. Hoffentlich liest sie nicht auch noch laut aus der Ilias vor«, murmelte Märtha.
»Oder aus der Geschichte von Gösta Berling ...«, ergänzte Snille.
»Wie viel schöner der Ton von der Saite, die reißt, als niemals den Bogen gespannt«, fuhr Stina fort.
»Hm, passt eigentlich perfekt. Könnte unser Slogan werden «, meinte Märtha.
»Wie? Die Saite, die reißt«, unterbrach sie Kratze. »Nee, lieber ›der Laut von dem Mieder, das reißt, als immer alleine zu Bett‹.«
Stina erstarrte mitten im Tanz, rot im Gesicht.
»Kratze! Musst du immer so plump sein! Reiß dich am Riemen!«, rief Anna-Greta und kräuselte die Lippen.
»Wisst ihr was, jetzt haben wir doch den Bogen gespannt oder?«, fragte Stina. »Ab sofort machen wir mindestens einmal wöchentlich einen Ausflug hierher.« Sie holte sich ihr Glas und hob es in die Luft. »Zum Wohle! Das war nicht das letzte Mal!«
Sie stießen miteinander an, und so ging es weiter, bis sie langsam nuschelten und ihnen immer wieder die Augen zufielen. Und Märtha fing an, Dialekt zu sprechen, was sie wirklich nur tat, wenn sie hundemüde war. Das war ein Warnzeichen, und sie erkannte die Gefahr.
»Ihr Lieben, wir sollten jetzt abwaschen und aufräumen, bevor wir nach unten gehen«, sagte sie.
»Dann mach mal«, antwortete Kratze und schenkte Märtha nach.
»Nein, wir alle müssen saubermachen und aufräumen, sonst merken sie doch, dass wir hier waren«, sagte Märtha ernsthaft und schob ihr Glas beiseite.
»Wenn du müde bist, darfst du dich gern an meine Schulter lehnen«, bot Snille an und streichelte liebevoll ihre Wange.
Märtha wusste nicht, wie ihr geschah, doch mit einem Mal lehnte ihr Kopf an seiner Schulter, und sie war eingeschlafen.
Als Direktor Ingmar Mattson von der Diamant GmbH am nächsten Morgen zur Arbeit kam, drangen aus seinem Büro sonderbare Geräusche. Das tiefe Brummen klang, als wäre eine Horde Bären aus dem Freilichtmuseum Skansen ausgebüchst. Er warf einen Blick in den Raum, sah nichts, aber ihm fiel auf, dass die Küchentür offen stand.
»Was zum Teufel ...«, murmelte er, stolperte über einen Rollator und flog der Länge nach hin. Fluchend stand er wieder auf und staunte über den Anblick, der sich ihm bot. Die Dunstabzugshaube war noch in Betrieb, und rund um den Esstisch schliefen fünf von den alten Leuten in voller Bekleidung. Auf dem Tisch befanden sich Essensreste und leergetrunkene Weingläser, und die Kühlschranktür stand sperrangelweit auf. Direktor Mattson betrachtete die Verwüstung. Die Bewohner dieses Altenheimes waren offensichtlich in einer wesentlich schlechteren Verfassung, als man es ihm gesagt hatte. Er musste Schwester Barbro bitten, die Sache in Ordnung zu bringen.
3
Die Alarmanlage eines Fahrzeugs hupte draußen auf der Straße, und aus der Ferne summte ein Lüfter. Ein kleiner Lichtstrahl fiel durch das Fenster, und ganz langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Helligkeit. Die Scheiben waren verdreckt und mussten dringend geputzt werden, und die hellen, geblümten Gardinen, die sie vor das Fenster gehängt hatte, um den Raum etwas gemütlicher zu machen, mussten in die Wäsche. Offenbar gab es heutzutage niemanden mehr, der sich um Sauberkeit scherte, und sie selbst schaffte es nicht mehr. Märtha gähnte herzhaft. O je, o je, sie fühlte sich völlig schlapp. Ihre Gedanken waren irgendwie nicht greifbar, wollten nicht richtig Form annehmen. Seit dem Fest hatte sie das Gefühl, als schwirrten in ihrem Kopf kleine Zirruswolken aus Kaugummi herum. Aber du meine Güte, was war das für ein Spaß gewesen! Hätten sie es doch nur geschafft, aufzuräumen und in ihre Zimmer zurückzuschleichen ... Ja, und wären sie nicht alle eingeschlafen ...
Märtha setzte sich auf die Bettkante und fuhr in ihre Pantoffeln. Es war so peinlich gewesen, und Direktor Mattson hatte cholerisch herumgebrüllt. Der Wein und all die Medikamente, die ihnen tagtäglich verabreicht wurden, vertrugen sich wohl nicht allzu gut miteinander. Sie sah zum Nachttisch hinüber. Da lag der Korkenzieher, den Snille ihr »für kommende Feste« geschenkt hatte. Aber jetzt war es vorbei damit. Nach der Party hatte Schwester Barbro sie allesamt eingeschlossen. Sie durften nur hinaus, wenn jemand vom Personal dabei war. Und dann hatten sie kleine rote Pillen bekommen, »damit sie zur Ruhe kämen«. Wie langweilig es seitdem war!
Ach ja, die Tabletten. Warum stopft man alte Menschen eigentlich mit Medikamenten voll? Sie bekamen ja nahezu mehr zu schlucken als zu essen. Vielleicht waren sie davon so träge geworden? Früher hatten sie immer Karten gespielt und sich nach acht Uhr abends noch heimlich in ihren Zimmern besucht. Aber seit die Diamant GmbH die Leitung übernommen hatte, war das vorbei. Ja, jetzt lief eigentlich gar nichts mehr, und wenn sie versuchten, Karten zu spielen, dann schliefen sie entweder ein oder vergaßen, welche Karten schon gelegt waren. Stina, die Selma Lagerlöf und Heidenstam so sehr liebte, nickte schon ein, wenn sie eine Zeitschrift durchblätterte, und Anna-Greta, die gerne Hornmusik und Volkslieder auflegte, starrte den Plattenspieler nur an und kam nicht mehr hoch, um ihre Schallplatten aus dem Schrank zu holen. Snille hatte schon lange keine neue Erfindung mehr gemacht, und Kratze vernachlässigte seine Blumen. Meistens sahen sie fern, und niemand nahm sich etwas vor. Nein, irgendetwas stimmte nicht, stimmte ganz und gar nicht.
Märtha stand auf, stützte sich auf ihren Rollator und ging ins Badezimmer. Nachdenklich wusch sie sich das Gesicht und machte ihre Morgentoilette. Sie war diejenige gewesen, die sich wehren wollte. Sie wollte doch auf die Barrikaden gehen! Aber jetzt schlurfte sie hier herum, saft- und kraftlos. Sie betrachtete sich im Spiegel und stellte fest, dass sie mitgenommen aussah. Ihr Teint war fahl, und die weißen Haare standen in alle Richtungen ab. Seufzend reckte sie sich nach der Bürste und stieß dabei an die Dose mit den roten Tabletten. Sie fielen herunter, rollten über die Badezimmerfliesen und blieben wie kleine bösartige Punkte vor ihren Füßen liegen. Märtha hatte nicht die geringste Lust, sie aufzusammeln. Sie schnaubte, und mit mehreren energischen Fußtritten beförderte sie sie allesamt in den Abfluss.
Ihre anderen Pillen nahm sie auch unter die Lupe und sortierte einige aus, und ein paar Tage später fühlte sie sich schon wesentlich vitaler. Sie nahm sich wieder den Stapel schauriger Mordgeschichten vor, die auf ihrem Nachttisch lagen, denn sie war eine leidenschaftliche Krimileserin. Und sie begann wieder mit ihrer Strickarbeit. Die Lust auf Revolution kehrte zurück.
Als Snille das Klopfen hörte, war ihm klar, dass es nur Märtha sein konnte. Drei energische Schläge in der Nähe des Türgriffs und dann Pause. Sicher war sie das. Lächelnd mühte er sich vom Sofa hoch und zog den Pullover über die Wölbung seines Bauches. Es war schon lange her, dass sie ihn besucht hatte, und er hatte sich gewundert. Jeden Tag hatte auch er sie am Abend besuchen wollen, doch dann war er vor dem Fernseher eingeschlafen. Er sah sich nach einem Karton um und packte auf die Schnelle den Stapel mit Zeichnungen, Meißeln und Schrauben vom Couchtisch hinein und schob ihn unter sein Bett. Zwei blaue Oberhemden und ein paar löchrige Socken versteckte er hinter den Sofakissen, und die Brotkrümel fegte er auf den Boden. Als er fertig war, schaltete er den Fernseher aus und öffnete die Tür.
»Ach, du bist es, komm herein!«
»Snille, es gibt etwas zu besprechen«, sagte sie und kam mit großen Schritten auf ihn zu.
Er nickte und stellte den Wasserkocher an. Im Küchenschrank stieß er auf zwei Platinen, einen Hammer und ein paar Kabel, erst dahinter standen zwei Tassen und der Instantkaffee. Als das Wasser kochte, goss er es in die Becher und streute das Kaffeepulver darüber.
»Ich habe leider keine Kekse, aber ...«
»Ist schon gut«, sagte Märtha, griff nach der Kaffeetasse und ließ sich auf dem Sofa nieder. »Weißt du was? Das ist nicht normal. Ich glaube, die stellen uns mit Medikamenten ruhig. Wir bekommen viel zu viele Pillen. Und deshalb sind wir alle so tranig.«
»Wie bitte? Du meinst ...« Diskret versuchte er, ein auseinandergebautes Grundig-Radio unter den Sessel zu bugsieren, damit sie es möglichst nicht bemerkte.
»Aber das kann nicht sein.«
»Richtig. Und das, wo wir uns gerade wehren wollten.«
Er nahm ihre Hand und streichelte sie sanft.
»Aber meine Liebe, noch ist es nicht zu spät.«
Ihre Augen blitzten auf, und ihr Gesichtsausdruck wurde ganz lebendig.
»Weißt du was, ich habe mir eine Sache durch den Kopf gehen lassen. Im Gefängnis darf man jeden Tag hinaus ins Freie, aber hier kommen wir fast gar nicht mehr aus dem Haus.«
»Ich weiß ja nicht, ob man dazu sagen kann: ›ins Freie‹?« »Die Gefangenen dürfen an die frische Luft, sie bekommen anständig gekochtes, gesundes Essen, und sie können in einer Werkstatt arbeiten. Sie haben es viel besser als wir.«
»In einer Werkstatt arbeiten?« Snille wurde wach.
»Verstehst du denn nicht? Ich will jung sterben und das so spät wie möglich - aber ich will leben mit Pauken und Trompeten, und zwar so lange ich kann.« Sie beugte sich zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. Aber Märtha ließ nicht locker.
»Snille, ich habe das wirklich bis ins Detail durchdacht ...«
»Na gut, warum eigentlich nicht«, antwortete er schließlich, lehnte sich zurück in seinen Sessel und brach in schallendes Lachen aus.
Übersetzung: Stefanie Werner
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Märtha Anderson aus Södermalm ging leicht vornübergebeugt und trug einen unauffälligen Mantel. Seine Farbe ließ sich beim besten Willen nicht bestimmen, ebendeshalb hatte sie dieses Kleidungsstück ausgewählt: um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Märtha war überdurchschnittlich groß, kräftig gebaut, aber nicht dick, und an den Füßen trug sie feste, dunkle Schnürschuhe, die ihr bei einer eventuellen Flucht sehr zupasskämen. Die Hände, mittlerweile übersät von Krampfadern, steckten in etwas abgewetzten Lederhandschuhen, und das kurze, weiße Haar hielt sie unter einem breitkrempigen, braunen Hut versteckt. Um den Hals hatte sie einen Schal in einer Leuchtfarbe geschlungen. Sollte sie ein Kamerablitz treffen, würde er automatisch alles andere überbelichten und ihre Gesichtszüge verbergen. Doch das war nur eine Art Vorsichtsmaßnahme - Mund und Nase lagen ja bereits im Schatten des Hutes.
Die kleine Bank in der Götgata sah genauso aus wie jede andere Bank heutzutage. Es war nur noch eine Kasse geöffnet, die Wände steril und nichtssagend, Hochglanzfußboden und auf einem kleinen Tisch Informationsmaterial über Bankdarlehen und viele Tipps, wie man zu Geld kommt. Liebe Werbefuzzis, dachte Märtha. Ich kenne andere und wirklich viel bessere Methoden! Sie ließ sich auf das Kundensofa sinken und tat so, als würde sie sich für die Plakate über Bausparverträge und Aktienfonds interessieren, doch es fiel ihr schwer, die Hände stillzuhalten. Diskret steckte sie eine Hand in ihre Manteltasche und tastete nach ihren Bonbons. Ihr Hausarzt warnte sie vor diesem ungesunden Zeug, ihr Zahnarzt hingegen bedankte sich. Doch ihre salzigen Lakritz- Pastillen namens ›Dschungelschrei‹ klangen so herrlich nach Aufruhr und passten perfekt zu einem Tag wie diesem. Und ein Laster durfte sie schließlich haben.
Es piepte, und auf der Anzeigetafel erschien die nächste Nummer. Ein Mann in den Vierzigern ging mit flottem Schritt vor zur Kasse. Sein Anliegen war schnell erledigt, und ein junges Mädchen wurde ebenso rasch bedient. Doch dann kam ein älterer Herr. Als er am Schalter stand, fing er an, in seinen Unterlagen zu kramen und vor sich hin zu brabbeln. Märtha wurde unruhig. Zu lange sollte sie sich hier nicht aufhalten. Möglicherweise fiel jemandem ihre Körperhaltung auf. Oder irgendein anderes Detail. Schon war sie entlarvt. Das wäre jetzt gar nicht gut. Schließlich wollte sie nur wie jede x-beliebige ältere Dame aussehen, die auf die Bank geht und Geld abhebt. Und genau das hatte sie ja auch vor, auch wenn die Kassiererin Augen machen würde, was die Summe anging ... Märtha fingerte in ihrer Manteltasche nach dem Zeitungsausschnitt aus der Wirtschaftszeitung. Der war aus einem Artikel, in dem es darum ging, welche Kosten ein Banküberfall für die Bank verursachte, und die Überschrift hatte sie ausgeschnitten: »Dies ist ein Banküberfall.« Und beim Lesen war ihr auch die Idee gekommen.
Der Mann vorn am Schalter schien langsam fertig zu werden. Märtha stützte sich auf den Rollator und stand auf. Ihr ganzes Leben lang war sie eine hochgradig anständige Person gewesen, auf die sich jeder verlassen konnte, und in der Schule hatte man sie sogar zur Klassensprecherin gewählt. Jetzt stand sie kurz davor, kriminell zu werden. Auf der anderen Seite, wie sollte sie sonst im Alter klarkommen? Sie und ihre Freunde wollten es schön haben, und dafür brauchten sie Geld, und jetzt konnte sie es sich nicht einfach anders überlegen. Sie und ihre Chorkameraden stellten sich ihre alten Tage hell und freundlich vor. Kurz gesagt, im Herbst des Lebens sollte auch noch Leben in der Bude sein. Der Herr vor ihr brauchte wirklich enorm viel Zeit, doch dann piepte es endlich, und ihre Nummer leuchtete auf. Langsam, aber würdevoll, schritt sie vor zum Kassenschalter. In diesem Moment war es vorbei mit dem Leben voller Anstand und Respekt, das vernichtete sie jetzt auf einen Schlag. Doch was tat man nicht alles in einer Gesellschaft, die aus Gaunern bestand und die ihre Alten schlecht behandelte? Man ließ es sich gefallen und ging unter, oder man passte sich den Gegebenheiten an. Sie gehörte zu Letzteren.
Auf dem Weg zum Schalter schaute sie sich sorgfältig um, bevor sie vor der Kasse haltmachte, den Stock auf den Tresen legte und der Kassiererin freundlich zunickte. Dann schob sie ihr den Zeitungsausschnitt hinüber.
»Dies ist ein Banküberfall!«
Die Dame an der Kasse las und antwortete mit einem Lächeln.
»Womit kann ich dienen?«
»Drei Millionen, und zwar schnell!«, sagte Märtha.
Das Lächeln der Kassiererin wurde breiter. »Möchten Sie Geld abheben?«
»Nein, SIE sollen Geld für mich abheben, AUF DER STELLE!«
»Verstehe. Aber Ihre Rente ist noch nicht da. Die wird erst in der Monatsmitte ausgezahlt, das wissen Sie doch.«
Märtha verlor den Faden. Das hier lief völlig anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Jetzt war sofortiges Handeln gefragt. Sie griff nach ihrem Stock und stieß ihn durch die Schalteröffnung. Dann fuchtelte sie damit herum, so gut es ging.
»Beeilen Sie sich! Her mit meinen drei Millionen!«
»Aber Ihre Rente ...«
»Tun Sie, was ich sage. Drei Millionen. Legen Sie das Geld in den Korb.«
Da wusste sich die junge Bankangestellte nicht anders zu helfen, sie stand auf und holte zwei männliche Kollegen. Die waren beide sehr adrett und lächelten freundlich. Der eine, der ihr zugewandt stand, sah aus wie Gregory Peck - oder war es Cary Grant? - und erklärte:
»Wir kümmern uns um Ihre Rente, seien Sie unbesorgt. Und mein Kollege hier ruft Ihnen gern ein Taxi, das Sie nach Hause bringt.«
Märtha warf einen Blick durch die Glasscheibe. Weiter hinten sah sie die junge Kassiererin, die das Telefon in der Hand hielt.
»Dann muss ich meinen Banküberfall wohl verschieben«, antwortete Märtha und griff schnell nach ihrem Stock und dem Zeitungsausschnitt. Alle lächelten verständnisvoll, und dann brachten sie die alte Dame zur Tür. Sie begleiteten sie noch bis zum Taxi und klappten ihr den Rollator zusammen.
»Altersheim Diamant«, sagte Märtha dem Fahrer und winkte den Bankangestellten zum Abschied. Vorsichtig stopfte sie den Zeitungsausschnitt wieder in die Manteltasche zurück. Die Sache war wie am Schnürchen gelaufen. Eine alte Dame mit Rollator konnte sich also wesentlich mehr erlauben als andere Leute. Sie fuhr mit der Hand in die Manteltasche, um sich mit einem Dschungelschrei-Bonbon zu belohnen, und summte fröhlich vor sich hin. Damit ihr Plan funktionierte, brauchte sie nun nur die Unterstützung ihrer Freunde aus dem Chor. Seit über zehn Jahren sangen sie miteinander und hielten eng zusammen. Natürlich konnte sie die anderen nicht einfach geradewegs fragen, ob sie Lust hätten, kriminell zu werden, sie musste sich schon etwas ausdenken. Aber später, und dessen war sie sich sicher, würden sie ihr dankbar sein, dass ihr Leben so eine positive Wendung genommen hatte! Märtha erwachte von einem weit entfernten, summenden Geräusch, dem ein scharfer Piepton folgte. Sie schlug die Augen auf und versuchte herauszufinden, wo sie sich befand. Ja natürlich, im Altersheim. Und was sie gerade hörte, war wohl wieder Kratze, der eigentlich Bertil Engström hieß und immer in der Nacht aufstand, weil er Hunger hatte. Dann stellte er Essen in die Mikrowelle und vergaß es dort. Sie stand auf und ging mit Hilfe ihres Rollators in die Küche. Murrend nahm sie eine Fertigpackung Nudeln mit Tomatensoße und Fleischbällchen heraus und sah verträumt hinüber zu den Häusern auf der anderen Straßenseite. Dort hatten sie sicher noch ihre Küchen, dachte sie. Früher hatten sie auch eigene Küchen gehabt, aber um Personal einzusparen, waren die von der neuen Leitung gestrichen worden. Bevor die Diamant-GmbH das Haus übernommen hatte, waren die Mahlzeiten die Höhepunkte des Tages gewesen, und im Gemeinschaftsraum hatte es herrlich geduftet. Und jetzt? Märtha gähnte und lehnte sich an die Spüle. Fast alles war schlechter geworden, und mittlerweile war es so ein Jammer, dass sie oft nur noch fortwollte. Ach, wie wunderbar war doch ihr Traum gewesen ... Es hatte sich so echt angefühlt, als hätte sie tatsächlich in dieser Bank gestanden, als hätte ihr Unterbewusstsein das Kommando übernommen und ihr etwas sagen wollen. In der Schule war sie gegen Missstände immer auf die Barrikaden gegangen. Noch als Lehrerin hatte sie sich unsinnigen Vorschriften und blödsinnigen Umstrukturierungen widersetzt. Aber hier im Heim hatte sie sich komischerweise einfach damit abgefunden. Wie hatte sie nur so träge werden können? Menschen, die die Regierung eines Landes abschaffen wollen, machen eine Revolution. Das müsste doch auch hier möglich sein, sie musste nur die anderen überzeugen. Und ein Banküberfall, das wäre doch eine Idee? Sie lachte auf, etwas nervös. Denn genau das war ja das Beängstigende - „dass ihre Träume normalerweise in Erfüllung gingen. „
1
Als die Bewohner des Seniorenheims Diamant im Saal ihren Morgenkaffee tranken, überlegte Märtha, was sie tun sollte. In ihrem Elternhaus in Österlen hatte man nicht lange gefackelt oder darauf gewartet, dass ein anderer zur Tat schritt. Wenn Heu gemacht werden musste oder eine Stute fohlte, dann setzte man sich in Bewegung. Märtha hob ihre Hände. Auf die konnte sie stolz sein, schließlich sah man ihnen an, dass sie in ihrem Leben immer angepackt hatten, wenn Not am Mann gewesen war.
Die Geräuschkulisse um Märtha herum war mal lauter, mal leiser. Im Gemeinschaftsraum, der ziemlich heruntergekommen war, roch es schon von weitem nach Bahnhofsmission, und die Möbel sahen aus, als hätte man sie direkt vom Sperrmüll geholt. Der alte, graue Eternit-Bau aus den späten Vierzigern wirkte wie eine Mischung aus altem Schulgebäude und Zahnarzt-Wartezimmer. Hier wollte sie kaum ihre letzten Tage verbringen, mit Automatenkaffee in der Hand und Astronautenessen im Magen. Nein, ums Verrecken nicht! Märtha atmete tief ein, schob den Kaffeebecher zur Seite und beugte sich vor.
»Hört mal. Was haltet ihr von einer zweiten Tasse bei mir auf dem Zimmer?«, fragte sie und machte eine Handbewegung, ihr zu folgen. »Ich glaube, wir haben einiges zu besprechen. «
Und weil sie wussten, dass Märtha einen ordentlichen Vorrat an Moltebeerenlikör angelegt hatte, nickten sie zustimmend und standen sofort auf. Der flotte, aber nachts immer hungrige Kratze ging voran, danach kamen Snille, der Erfinder, und Märthas Freundinnen, Stina, die belgische Schokolade so liebte, und Anna-Greta, die alle anderen Damen in den Schatten stellte. Sie sahen sich an. In der Regel lud Märtha nur zu einem Gläschen ein, wenn sie etwas im Schilde führte. Das letzte Mal war schon eine Weile her, aber offenbar war es nun wieder so weit.
Als alle da waren, holte Märtha die Flasche hervor, räumte ihr halbfertiges Strickzeug vom Sofa und bat ihre Freunde, Platz zu nehmen. Sie warf einen Blick auf den Mahagonitisch mit dem frisch gebügelten, geblümten Deckchen. Eigentlich wollte sie sich schon lange einen neuen anschaffen, doch der alte Tisch war stabil und groß genug für all ihre Freunde. Das sollte reichen. Als sie nach der Flasche griff, warf sie einen Blick auf ihren Schreibtisch, auf dem die Familienfotos aus Österlen standen. Hinter Glas und Rahmen lächelten ihr die Eltern und ihre Schwester zu. Sie standen vor dem Elternhaus in Brantevik. Wenn die wüssten, was sie hier tat! Sie waren nämlich bekennende Nichttrinker. Demonstrativ stellte Märtha die Likörgläser auf den Tisch und schenkte großzügig ein.
»Prost, Kameraden«, sagte sie und erhob ihr Glas.
»Im tiefen Keller sitz ich hier«, stimmten die Freunde lustig an.
Doch Märtha bedeutete ihnen, ihr Trinklied tonlos zu singen. (Hier im Heim war es lebensnotwendig, keinen Lärm zu veranstalten und nicht mit verstecktem Likör entdeckt zu werden.) Märtha wiederholte den Refrain nur mit Mundbewegungen, und alle lachten aus voller Kehle. Noch war ihnen niemand auf die Schliche gekommen, und die fünf hatten jedes Mal einen Heidenspaß. Märtha stellte ihr Glas ab und schielte zu den anderen. Sollte sie ihnen von ihrem Traum erzählen? Nein, erst einmal musste sie sie auf dieselben Gedanken und dann auf ihre Seite bringen. Die Freunde waren ein eingeschworenes Trüppchen, das schon früh beschlossen hatte, im Alter zusammenzuziehen. Also konnte man sich doch auch mit allen zusammen etwas Neues vornehmen? Sie hatten so vieles gemeinsam. Nach der Pensionierung waren sie mit ihrem Chor »Stimmband« in Kranken- und Gemeindehäusern aufgetreten und vor ein paar Jahren gemeinsam in dieses Altersheim eingezogen. Lange hatte sie dafür plädiert, lieber Geld für den Kauf eines Schlosses in Südschweden zu sparen, das hätte sie wesentlich spannender gefunden. Denn kurz zuvor hatte sie in der Zeitung von Ystad gelesen, dass alte Schlösser billig zu haben waren, und einige hatten sogar Schlossgräben.
»Stellt euch vor, irgendjemand von einer Behörde steht vor der Tür. Oder ein Kind, das vorzeitig sein Erbe will. Dann ziehen wir einfach die Brücke hoch«, hatte sie gesagt und fand die Argumente sehr überzeugend. Doch als sie feststellten, dass Schlösser in der Unterhaltung sehr teuer waren und einiges an Dienstpersonal erforderten, entschieden sie sich doch lieber für das »Seniorenheim Maiglöckchen «, jenes Haus, das die neuen Besitzer in »Haus Diamant« umgetauft hatten.
»Und, hat dir dein nächtliches Mahl geschmeckt?«, fragte Märtha, als Kratze die letzten Tropfen aus seinem Likörglas geschlürft hatte. Er sah noch recht verschlafen aus, doch die Müdigkeit hatte ihn nicht davon abgehalten, eine Rose ins Knopfloch zu stecken und ein frisch gebügeltes Halstuch umzubinden. Mag sein, dass er mittlerweile leicht ergraut war, doch er hatte noch denselben Gentleman-Charme und dieselbe Eleganz wie früher, so dass sich durchaus jüngere Frauen nach ihm umdrehten.
»Nächtliches Mahl? Das war nur eine Hungerattacke, Fressen im Rausch. Ein normaler Rausch hat wenigstens noch einen Sinn. Aber das war ekliger als Schiffszwieback«, schimpfte er und stellte sein Glas ab. In seiner Jugend war er zur See gefahren, aber nachdem er ausgemustert worden war, hatte er eine Umschulung zum Gärtner gemacht. Heute begnügte er sich damit, Blumen und Kräuter auf dem Balkon zu ziehen. Es grämte ihn sehr, dass ihn alle Kratze nannten. (Nur weil er es liebte, im Garten zu werkeln und dabei über eine Harke gestolpert war, musste man doch nicht lebenslang gezeichnet sein.) Doch mit seinen Vorschlägen, ihn mit den Spitznamen »Blume«, »Blatt« oder »Laub« anzureden, hatte er kein Gehör gefunden.
»Könntest du dir vielleicht vorstellen, das nächste Mal stattdessen ein Käsebrot zu schmieren? Ein leises Essen, das nicht piept?«, grummelte Anna-Greta, die auch aufgewacht war und nur schwer wieder einschlafen konnte. Sie war eine etwas derbe Person, entschieden und sehr korrekt, und darüber hinaus so groß und dünn, dass Kratze gerne sagte, sie sei in ein Fallrohr hineingeboren worden.
»Es duftet aus der Dachwohnung eben immer nach leckerem Essen und guten Gewürzen, da bekomme ich natürlich Hunger«, entschuldigte er sich.
»Du hast recht. Das Personal sollte uns etwas abgeben. Von diesem Astronautenessen wird doch keiner satt«, sagte Stina Åkerblom und feilte diskret ihre Nägel. Die frühere Putzmacherin, die immer davon geträumt hatte, Bibliothekarin zu werden, war die Jüngste von ihnen, nämlich erst 77 Jahre alt. Sie wünschte sich ein ruhiges und angenehmes Leben, wollte gut essen und Aquarelle malen. Jedenfalls keinen Fraß serviert bekommen. Nachdem sie ihr halbes Leben im Nobelstadtteil Östermalm verbracht hatte, war sie einen gewissen Standard gewohnt.
»Das Personal bekommt dasselbe Essen wie wir«, erläuterte Märtha. »Es sind die neuen Inhaber, die da oben ihr Büro und ihre Küche haben.«
»Dann sollten wir einen Fahrstuhl installieren, der uns das Essen herunterfährt«, schlug Oskar »Snille« Krupp vor, durch den sich die Truppe kennengelernt hatte und der ein Jahr älter als Stina war. Er war Erfinder und hatte in Sundbyberg seine eigene Werkstatt gehabt. Auch er hatte eine Vorliebe für gutes Essen, war rund und füllig und vertrat die Meinung, dass Sport etwas für Leute sei, denen nichts Besseres einfiel.
»Könnt ihr euch noch an die Broschüre erinnern, die wir bekommen haben, als wir vor ein paar Jahren hier eingezogen sind?«, fragte Märtha. »Gutes Essen aus dem Restaurant stand da geschrieben. Darüber hinaus sollten tägliche Spaziergänge, Auftritte von Künstlern, Fußpflege und Friseurbesuche angeboten werden. Seit die neuen Inhaber am Ruder sind, läuft gar nichts mehr. Es ist langsam an der Zeit, dass wir es offen aussprechen.«
»Aufruhr im Altersheim!«, kommentierte Stina mit theatralischem Tonfall und ausladender Geste, so dass ihr die Nagelfeile aus den Händen flog.
»Ja, genau, eine kleine Meuterei«, tastete Märtha sich vor.
»Wir sind doch nicht auf See«, schnaubte Kratze.
»Aber vielleicht müssen die neuen Inhaber den Gürtel enger schnallen. Ihr werdet sehen, mit der Zeit wird es besser«, sagte Anna-Greta und schob ihre Brille, ein Modell aus den fünfziger Jahren, zurecht. Sie hatte ihr Leben lang bei einer Bank gearbeitet, und ihr war klar, dass ein Unternehmer auch Gewinne machen musste.
»Besser? Im Leben nicht«, moserte Kratze. »Diese Gauner erhöhen ständig den Eigenanteil, nur wir haben nichts davon. «
»Sei doch nicht so negativ«, sagte Anna-Greta und fasste schon wieder an ihre Brille. Die Fassung war alt und ausgeleiert und rutschte ihr ständig von der Nase. Sie ließ nämlich immer nur die Gläser austauschen, weil sie fand, dass ihr Brillengestell zeitlos sei.
»Was heißt hier negativ? Wir müssen Verbesserungen fordern. Das betrifft im Grunde alles, aber beim Essen fangen wir an«, argumentierte Märtha. »Hört mal, die haben da oben in der Dachwohnung bestimmt ein paar Leckerbissen in der Küche. Wenn das Personal nach Hause gegangen ist, könnten wir, dachte ich ...«
Und während Märtha erzählte, wurde es am Tisch immer lustiger. Bald glitzerten die Augen der alten Leute ebenso lebendig wie die rauschende Brandung an einem sonnigen Sommertag. Alle schielten hinauf zum Dach, sahen sich an und hielten die Daumen hoch.
Als die Freunde ihr Zimmer verlassen hatten, stellte Märtha den Moltebeerenlikör zurück in den Kleiderschrank und summte fröhlich vor sich hin. Dieser Traum schien ihr neue Kraft gegeben zu haben. Nichts ist unmöglich, sagte sie sich. Aber um wirklich etwas zu verändern, musste sie Alternativen aufzeigen. Das war ihr Plan. Dann würden ihre Freunde glauben, sie hätten die Entscheidung ganz allein getroffen.
2
Als alle aus dem Fahrstuhl ausgestiegen waren und vor dem Büro der Diamant-GmbH standen, hob Märtha die Hand und wies die anderen an, still zu sein. Sie hatte den Schlüsselschrank durchsucht und einen Schlüssel ausgewählt, der ein dreikantiges Kopfstück besaß und aussah, als könne man ihn nicht ohne weiteres nachmachen. Sie steckte ihn ins Schloss, drehte, und die Tür sprang auf.
»Wie ich es mir gedacht habe. Der Generalschlüssel. Wunderbar, dann spazieren wir mal hinein, aber denkt daran, leise zu sein.«
»Das musst du gerade sagen«, entgegnete Kratze, der der Meinung war, dass Märtha immer redete wie ein Wasserfall.
»Aber wenn uns jemand erwischt«, wandte Stina ängstlich ein.
»Das wird nicht passieren, wir sind ganz vorsichtig und schleichen hinein«, sagte Anna-Greta mit lauter Stimme. Wie all diejenigen, die schlecht hören können, hatte sie selbst eine durchdringende Stimme - was sie jedoch überhaupt nicht bemerkte.
Die Rollatoren quietschten bunt durcheinander, als die fünf langsam und vorsichtig den Raum betraten. Es roch nach Arbeitszimmer und Möbelpolitur, und auf dem Schreibtisch lagen die Akten pedantisch geordnet in Reih und Glied.
»Hmm, das scheint das Büro zu sein, die Küche ist sicher da drüben«, meinte Märtha und zeigte nach vorn.
Sie ging voraus und zog die Gardinen des Küchenfensters zu.
»So, jetzt dürft ihr Licht machen!«
Die Deckenspots blinkten auf, und vor ihnen offenbarte sich ein großer Raum mit Kühl- und Gefrierschrank und einer geräumigen Kücheneinrichtung. In der Mitte befand sich eine Kücheninsel auf Rollen, und vor dem Fenster stand ein Esstisch mit sechs Stühlen.
»Eine komplette Küche«, sagte Snille fasziniert und strich über die Kühlschranktür.
»Hier drinnen gibt's sicher was Leckeres«, sagte Märtha und öffnete die Tür. In den Fächern stapelten sich Hähnchen und Rinderfilets zwischen Lammsteaks und verschiedenen Käsesorten. Im Gemüsefach fand sie Salat, Tomaten, Rote Beete und Obst. Die Tür des Gefrierschranks ließ sich nur schwer öffnen.
»Elchsteak und Hummer. Da sieh mal an!«, rief sie und hielt die Tür auf, damit es jeder sehen konnte. »Außerdem Baumkuchen. Hier oben scheinen sie häufiger zu feiern.«
Lange Zeit standen sie sprachlos da und staunten. Snille fuhr mit der Hand durch seinen Stoppelschnitt, Kratze griff sich ans Herz und seufzte laut, Stina atmete schneller, und Anna-Greta bekam den Mund nicht mehr zu.
»Das muss Unmengen gekostet haben!«, murmelte sie leise.
»Kein Mensch merkt es, wenn wir davon etwas nehmen«, meinte Märtha.
»Aber wir können ihnen doch wohl kaum das Essen stehlen? «, warf Stina ein.
»Wir stehlen ja nichts. Was glaubst du wohl, von wessen Geld sie dieses Essen gekauft haben? Wir nehmen uns nur das, wofür wir bezahlt haben. Hier, bitte schön.«
Märtha hielt ein Hühnchen hoch, und Kratze, der langsam seinen nächtlichen Hunger verspürte, schritt zur Tat.
»Und jetzt brauchen wir noch Reis, Gewürze und Mehl, dann können wir eine Soße dazu machen«, sagte Snille, der jetzt aufgewacht war. Er war nicht nur ein ordentlicher Handwerker, sondern auch ein guter Koch. Weil das Essen, das früher seine Frau zubereitet hatte, ungenießbar gewesen war, hatte er sich gezwungen gesehen, selbst kochen zu lernen. Als ihm später klarwurde, dass sie nicht nur in der Küche nichts taugte, sondern das ganze Leben für ein einziges Problem hielt, hatte er sich von ihr getrennt. Noch heute hatte er Albträume, in denen sie an seinem Bett stand, wetternd, mit dem Nudelholz in der Hand. Doch immerhin hatte sie ihm einen Sohn geschenkt, und dafür war er sehr dankbar.
»Für die Soße brauchen wir auch einen guten Wein.« Er sah sich um und entdeckte an der Wand ein Weinregal. »Habt ihr euch mal diese Flaschen angesehen, mein lieber Schwan ...«
»Die dürfen wir nicht anrühren. Sonst fällt es auf«, sagte Märtha. »Wenn niemand unseren kleinen Besuch bemerkt, können wir nämlich wiederkommen!«
»Nichts da. Gutes Essen ohne Wein ist wie ein Auto ohne Räder«, verkündete Snille. Er ging zum Weinregal und zog zwei der besten Tropfen heraus. Als er Märthas Blick sah, legte er ihr besänftigend die Hand auf die Schulter. »Wir öffnen die Flaschen, trinken den Wein und füllen die leeren Flaschen einfach mit Rote-Beete-Saft«, schlug er vor.
Märtha sah Snille bewundernd an. Stets hatte er eine Lösung parat, stets war er optimistisch. Probleme waren dazu da, gelöst zu werden, war sein Motto. Das erinnerte sie an ihre Eltern. Einmal hatte sie mit ihrer Schwester Verkleiden gespielt und im Schlafzimmer der Eltern eine fürchterliche Unordnung angerichtet. Natürlich hatten die Eltern anfangs geschimpft, aber dann hatten sie sich das Lachen nicht verkneifen können. Lieber ein unordentliches Haus und fröhliche Kinder als einen perfekten Hof und verschüchterte Mädchen, hatten sie gesagt. Und ihr Credo hieß »Alles wird gut«. Märtha sah es ebenso. So war es wirklich.
Schnell wurden Schneidebretter, Bratpfannen und Töpfe aus den Schränken geholt, und alle halfen mit. Märtha schob das Huhn in den Ofen, Snille brutzelte eine leckere Soße, Kratze kreierte einen herrlichen Salat, und Stina versuchte, mit anzufassen, so gut es ging. Als junges Mädchen war sie zwar auf der Hauswirtschaftsschule gewesen, doch da sie ihr Leben lang eine Küchenhilfe gehabt hatte, wusste sie gar nicht mehr, wie man kocht. Das Einzige, was sie noch anständig konnte, war, Gurken zu schneiden.
Anna-Greta deckte den Tisch und kümmerte sich um den Reis.
»Am besten macht sie das, was man ihr sagt«, flüsterte Märtha und nickte in Richtung der Freundin. »Aber sie macht alles im Schneckentempo und zählt noch dabei.«
»Hauptsache, sie fängt nicht an, die Reiskörner zu zählen «, grinste Snille.
Bald hatte sich in der Küche ein wonniger Duft verbreitet, und Kratze ging von Platz zu Platz und servierte Wein im blauen Jackett und mit frischem Halstuch. Er war gekämmt und duftete angenehm nach Aftershave. Stina bemerkte, dass er sich in Schale geworfen hatte, und holte diskret ihr Puderdöschen und den Lippenstift hervor. Als keiner hinsah, zog sie die Lippen nach und ließ einen Hauch Puder auf die Nase rieseln.
Geplauder und Lachen mischten sich unter das Geklapper von Tellern und Töpfen. Zweifellos dauerte es eine ganze Weile, bis das Essen fertig war, aber was machte das schon, wenn man währenddessen einen guten Schluck Wein im Glas hatte? Am Ende ließen sie sich fröhlich und ausgelassen wie Teenager am Esstisch nieder.
»Noch ein Gläschen?«
Kratze schenkte noch mehr Wein aus, und es war wie in den guten alten Zeiten, als er Ober auf einem Kreuzfahrtschiff im Mittelmeer gewesen war. Heute ging zwar alles etwas langsamer, doch seine Haltung war noch genauso würdevoll und der Diener perfekt. Während des Essens stießen sie immer wieder miteinander an und sangen aus vollen Kehlen ihr Chorrepertoire rauf und runter, und als Snille noch einen guten Jahrgangssekt entdeckte, machte auch diese Flasche die Runde. Stina erhob ihr Glas, neigte den Kopf nach hinten und trank.
»Der saß!«, sagte sie belustigt, ein Spruch, den sie kürzlich von ihren Kindern aufgeschnappt hatte. Die ehemalige Hutmacherin wollte immer auf dem Laufenden und bloß nicht altmodisch sein. Sie stellte das Glas wieder ab und sah sich um. »Und jetzt, ihr Lieben, lasst uns tanzen!«
»Dann mach mal«, sagte Snille und legte die Hände auf den Bauch.
»Aber gerne«, rief Kratze und sprang auf, doch er schwankte so, dass Stina die Tanzschritte selbst steuern musste.
»Wie viel stolzer der eigene Würfelwurf, als in schwächelnder Flamme verbrannt«, deklamierte sie und breitete die Arme aus. Auch wenn sich Stina ihren Traum, Bibliothekarin zu werden, nie hatte erfüllen können, so war doch Literatur immer ihr großes Hobby geblieben. Was sie von Verner von Heidenstam, Selma Lagerlöf oder Elias Tegnér nicht wusste, war auch nicht wissenswert.
»Jetzt geht das mit den alten Klassikern wieder los. Hoffentlich liest sie nicht auch noch laut aus der Ilias vor«, murmelte Märtha.
»Oder aus der Geschichte von Gösta Berling ...«, ergänzte Snille.
»Wie viel schöner der Ton von der Saite, die reißt, als niemals den Bogen gespannt«, fuhr Stina fort.
»Hm, passt eigentlich perfekt. Könnte unser Slogan werden «, meinte Märtha.
»Wie? Die Saite, die reißt«, unterbrach sie Kratze. »Nee, lieber ›der Laut von dem Mieder, das reißt, als immer alleine zu Bett‹.«
Stina erstarrte mitten im Tanz, rot im Gesicht.
»Kratze! Musst du immer so plump sein! Reiß dich am Riemen!«, rief Anna-Greta und kräuselte die Lippen.
»Wisst ihr was, jetzt haben wir doch den Bogen gespannt oder?«, fragte Stina. »Ab sofort machen wir mindestens einmal wöchentlich einen Ausflug hierher.« Sie holte sich ihr Glas und hob es in die Luft. »Zum Wohle! Das war nicht das letzte Mal!«
Sie stießen miteinander an, und so ging es weiter, bis sie langsam nuschelten und ihnen immer wieder die Augen zufielen. Und Märtha fing an, Dialekt zu sprechen, was sie wirklich nur tat, wenn sie hundemüde war. Das war ein Warnzeichen, und sie erkannte die Gefahr.
»Ihr Lieben, wir sollten jetzt abwaschen und aufräumen, bevor wir nach unten gehen«, sagte sie.
»Dann mach mal«, antwortete Kratze und schenkte Märtha nach.
»Nein, wir alle müssen saubermachen und aufräumen, sonst merken sie doch, dass wir hier waren«, sagte Märtha ernsthaft und schob ihr Glas beiseite.
»Wenn du müde bist, darfst du dich gern an meine Schulter lehnen«, bot Snille an und streichelte liebevoll ihre Wange.
Märtha wusste nicht, wie ihr geschah, doch mit einem Mal lehnte ihr Kopf an seiner Schulter, und sie war eingeschlafen.
Als Direktor Ingmar Mattson von der Diamant GmbH am nächsten Morgen zur Arbeit kam, drangen aus seinem Büro sonderbare Geräusche. Das tiefe Brummen klang, als wäre eine Horde Bären aus dem Freilichtmuseum Skansen ausgebüchst. Er warf einen Blick in den Raum, sah nichts, aber ihm fiel auf, dass die Küchentür offen stand.
»Was zum Teufel ...«, murmelte er, stolperte über einen Rollator und flog der Länge nach hin. Fluchend stand er wieder auf und staunte über den Anblick, der sich ihm bot. Die Dunstabzugshaube war noch in Betrieb, und rund um den Esstisch schliefen fünf von den alten Leuten in voller Bekleidung. Auf dem Tisch befanden sich Essensreste und leergetrunkene Weingläser, und die Kühlschranktür stand sperrangelweit auf. Direktor Mattson betrachtete die Verwüstung. Die Bewohner dieses Altenheimes waren offensichtlich in einer wesentlich schlechteren Verfassung, als man es ihm gesagt hatte. Er musste Schwester Barbro bitten, die Sache in Ordnung zu bringen.
3
Die Alarmanlage eines Fahrzeugs hupte draußen auf der Straße, und aus der Ferne summte ein Lüfter. Ein kleiner Lichtstrahl fiel durch das Fenster, und ganz langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Helligkeit. Die Scheiben waren verdreckt und mussten dringend geputzt werden, und die hellen, geblümten Gardinen, die sie vor das Fenster gehängt hatte, um den Raum etwas gemütlicher zu machen, mussten in die Wäsche. Offenbar gab es heutzutage niemanden mehr, der sich um Sauberkeit scherte, und sie selbst schaffte es nicht mehr. Märtha gähnte herzhaft. O je, o je, sie fühlte sich völlig schlapp. Ihre Gedanken waren irgendwie nicht greifbar, wollten nicht richtig Form annehmen. Seit dem Fest hatte sie das Gefühl, als schwirrten in ihrem Kopf kleine Zirruswolken aus Kaugummi herum. Aber du meine Güte, was war das für ein Spaß gewesen! Hätten sie es doch nur geschafft, aufzuräumen und in ihre Zimmer zurückzuschleichen ... Ja, und wären sie nicht alle eingeschlafen ...
Märtha setzte sich auf die Bettkante und fuhr in ihre Pantoffeln. Es war so peinlich gewesen, und Direktor Mattson hatte cholerisch herumgebrüllt. Der Wein und all die Medikamente, die ihnen tagtäglich verabreicht wurden, vertrugen sich wohl nicht allzu gut miteinander. Sie sah zum Nachttisch hinüber. Da lag der Korkenzieher, den Snille ihr »für kommende Feste« geschenkt hatte. Aber jetzt war es vorbei damit. Nach der Party hatte Schwester Barbro sie allesamt eingeschlossen. Sie durften nur hinaus, wenn jemand vom Personal dabei war. Und dann hatten sie kleine rote Pillen bekommen, »damit sie zur Ruhe kämen«. Wie langweilig es seitdem war!
Ach ja, die Tabletten. Warum stopft man alte Menschen eigentlich mit Medikamenten voll? Sie bekamen ja nahezu mehr zu schlucken als zu essen. Vielleicht waren sie davon so träge geworden? Früher hatten sie immer Karten gespielt und sich nach acht Uhr abends noch heimlich in ihren Zimmern besucht. Aber seit die Diamant GmbH die Leitung übernommen hatte, war das vorbei. Ja, jetzt lief eigentlich gar nichts mehr, und wenn sie versuchten, Karten zu spielen, dann schliefen sie entweder ein oder vergaßen, welche Karten schon gelegt waren. Stina, die Selma Lagerlöf und Heidenstam so sehr liebte, nickte schon ein, wenn sie eine Zeitschrift durchblätterte, und Anna-Greta, die gerne Hornmusik und Volkslieder auflegte, starrte den Plattenspieler nur an und kam nicht mehr hoch, um ihre Schallplatten aus dem Schrank zu holen. Snille hatte schon lange keine neue Erfindung mehr gemacht, und Kratze vernachlässigte seine Blumen. Meistens sahen sie fern, und niemand nahm sich etwas vor. Nein, irgendetwas stimmte nicht, stimmte ganz und gar nicht.
Märtha stand auf, stützte sich auf ihren Rollator und ging ins Badezimmer. Nachdenklich wusch sie sich das Gesicht und machte ihre Morgentoilette. Sie war diejenige gewesen, die sich wehren wollte. Sie wollte doch auf die Barrikaden gehen! Aber jetzt schlurfte sie hier herum, saft- und kraftlos. Sie betrachtete sich im Spiegel und stellte fest, dass sie mitgenommen aussah. Ihr Teint war fahl, und die weißen Haare standen in alle Richtungen ab. Seufzend reckte sie sich nach der Bürste und stieß dabei an die Dose mit den roten Tabletten. Sie fielen herunter, rollten über die Badezimmerfliesen und blieben wie kleine bösartige Punkte vor ihren Füßen liegen. Märtha hatte nicht die geringste Lust, sie aufzusammeln. Sie schnaubte, und mit mehreren energischen Fußtritten beförderte sie sie allesamt in den Abfluss.
Ihre anderen Pillen nahm sie auch unter die Lupe und sortierte einige aus, und ein paar Tage später fühlte sie sich schon wesentlich vitaler. Sie nahm sich wieder den Stapel schauriger Mordgeschichten vor, die auf ihrem Nachttisch lagen, denn sie war eine leidenschaftliche Krimileserin. Und sie begann wieder mit ihrer Strickarbeit. Die Lust auf Revolution kehrte zurück.
Als Snille das Klopfen hörte, war ihm klar, dass es nur Märtha sein konnte. Drei energische Schläge in der Nähe des Türgriffs und dann Pause. Sicher war sie das. Lächelnd mühte er sich vom Sofa hoch und zog den Pullover über die Wölbung seines Bauches. Es war schon lange her, dass sie ihn besucht hatte, und er hatte sich gewundert. Jeden Tag hatte auch er sie am Abend besuchen wollen, doch dann war er vor dem Fernseher eingeschlafen. Er sah sich nach einem Karton um und packte auf die Schnelle den Stapel mit Zeichnungen, Meißeln und Schrauben vom Couchtisch hinein und schob ihn unter sein Bett. Zwei blaue Oberhemden und ein paar löchrige Socken versteckte er hinter den Sofakissen, und die Brotkrümel fegte er auf den Boden. Als er fertig war, schaltete er den Fernseher aus und öffnete die Tür.
»Ach, du bist es, komm herein!«
»Snille, es gibt etwas zu besprechen«, sagte sie und kam mit großen Schritten auf ihn zu.
Er nickte und stellte den Wasserkocher an. Im Küchenschrank stieß er auf zwei Platinen, einen Hammer und ein paar Kabel, erst dahinter standen zwei Tassen und der Instantkaffee. Als das Wasser kochte, goss er es in die Becher und streute das Kaffeepulver darüber.
»Ich habe leider keine Kekse, aber ...«
»Ist schon gut«, sagte Märtha, griff nach der Kaffeetasse und ließ sich auf dem Sofa nieder. »Weißt du was? Das ist nicht normal. Ich glaube, die stellen uns mit Medikamenten ruhig. Wir bekommen viel zu viele Pillen. Und deshalb sind wir alle so tranig.«
»Wie bitte? Du meinst ...« Diskret versuchte er, ein auseinandergebautes Grundig-Radio unter den Sessel zu bugsieren, damit sie es möglichst nicht bemerkte.
»Aber das kann nicht sein.«
»Richtig. Und das, wo wir uns gerade wehren wollten.«
Er nahm ihre Hand und streichelte sie sanft.
»Aber meine Liebe, noch ist es nicht zu spät.«
Ihre Augen blitzten auf, und ihr Gesichtsausdruck wurde ganz lebendig.
»Weißt du was, ich habe mir eine Sache durch den Kopf gehen lassen. Im Gefängnis darf man jeden Tag hinaus ins Freie, aber hier kommen wir fast gar nicht mehr aus dem Haus.«
»Ich weiß ja nicht, ob man dazu sagen kann: ›ins Freie‹?« »Die Gefangenen dürfen an die frische Luft, sie bekommen anständig gekochtes, gesundes Essen, und sie können in einer Werkstatt arbeiten. Sie haben es viel besser als wir.«
»In einer Werkstatt arbeiten?« Snille wurde wach.
»Verstehst du denn nicht? Ich will jung sterben und das so spät wie möglich - aber ich will leben mit Pauken und Trompeten, und zwar so lange ich kann.« Sie beugte sich zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. Aber Märtha ließ nicht locker.
»Snille, ich habe das wirklich bis ins Detail durchdacht ...«
»Na gut, warum eigentlich nicht«, antwortete er schließlich, lehnte sich zurück in seinen Sessel und brach in schallendes Lachen aus.
Übersetzung: Stefanie Werner
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Catharina Ingelman-Sundberg
- 480 Seiten, Flex. Einband
- ISBN-10: 3955690555
- ISBN-13: 9783955690557
Kommentare zu "Wir fangen gerade erst an"
0 Gebrauchte Artikel zu „Wir fangen gerade erst an“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 7Schreiben Sie einen Kommentar zu "Wir fangen gerade erst an".
Kommentar verfassen