Krieg der Welt
Was ging schief im 20. Jahrhundert?
Das 20. Jahrhundert war das blutigste der Menschheitsgeschichte. Wie lassen sich Ausmaß und Intensität dieser Gewaltepoche erklären? Warum versank die hochzivilisierte Welt in Rassenwahn und Völkermord? Mit der ihm eigenen Souveränität und Brillanz wagt der...
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Produktinformationen zu „Krieg der Welt “
Klappentext zu „Krieg der Welt “
Das 20. Jahrhundert war das blutigste der Menschheitsgeschichte. Wie lassen sich Ausmaß und Intensität dieser Gewaltepoche erklären? Warum versank die hochzivilisierte Welt in Rassenwahn und Völkermord? Mit der ihm eigenen Souveränität und Brillanz wagt der britische Historiker Niall Ferguson eine Deutung des Weltkriegsgeschehens, als dessen bedeutsamstes Resultat er nicht den Triumph des Westens, sondern den Aufstieg Asiens sieht.Lese-Probe zu „Krieg der Welt “
Krieg der Welt von Niall FergusonEinführung
»Die Häuser sanken ... zusammen und spien Flammen aus; die Bäume verwandelten sich mit Getöse in Feuersäulen. ... So begreift man wohl die brüllende Woge der Angst, die durch die größte Stadt der Welt jagte, gerade als der Montag andämmerte - der Strom der Flucht, der mit reißender Schnelligkeit zu einem wilden Gewässer anschwoll, in schäumender Wut um die Bahnhöfe brandete ... Träumten sie davon, uns ausrotten zu können?«
H. G. Wells, Der Krieg der Welten
Das tödliche Jahrhundert
... mehr
Der 1898, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, veröffentlichte Roman Der Krieg der Welten ist mehr als nur ein klassisches Werk der Science-fiction-Literatur. Er ist auch eine Art darwinistisches Moralstück - und gleichzeitig ein Buch von einzigartiger Voraussicht. In dem Jahrhundert nach seinem Erscheinen wurden die von H. G. Wells geschilderten alptraumhaften Szenen in Städten überall auf der Welt Wirklichkeit, nicht nur in London, wo die Romanhandlung angesiedelt ist, sondern auch in Brest-Litowsk, Belgrad und Berlin, in Smyrna, Schanghai und Seoul.
Eindringlinge erreichen den Rand einer Stadt, deren Bewohner die Gefahr nur langsam erkennen. Die Angreifer besitzen tödliche Waffen - gepanzerte Fahrzeuge, Flammenwerfer, Giftgas, Flugzeuge -, die sie ebenso willkürlich wie gnadenlos sowohl gegen Soldaten als auch gegen Zivilisten einsetzen. Als die Eindringlinge die Verteidigungsanlagen der Stadt überrennen, bricht Panik aus. Die Menschen fliehen Hals über Kopf aus ihren Häusern; Flüchtlingsmassen verstopfen Straßen und Eisenbahnverbindungen. Es fällt den Angreifern leicht, sie zu massakrieren. Sie werden hingeschlachtet wie Vieh. Am Ende bleiben nur qualmende Ruinen und Berge von ausgedörrten Leichen zurück.
Als er sich diese Geschichte von Tod und Vernichtung erdachte, radelte Wells gerade mit einem neu erstandenen Fahrrad durch die friedlichen Londoner Vororte Working und Chertsey. Die Bösewichter - und das war sein Genieblitz - stellte er sich als Marsianer vor. Als solche Szenen schließlich real wurden, waren die Verantwortlichen jedoch keine Marsianer, sondern Menschen (die ihre Opfer zur Rechtfertigung der Massaker allerdings häufig als »Untermenschen « bezeichneten). Was das 20. Jahrhundert erlebte, war kein Krieg der Welten, sondern eher ein Krieg der Welt.
Das Jahrhundert nach 1900 war ohne Frage das blutigste der Geschichte und sowohl relativ als auch absolut betrachtet weit mehr von Gewalt beherrscht als jede vorherige Epoche. In den beiden Weltkriegen, die das Jahrhundert prägten, wurde ein erheblich größerer Anteil der Weltbevölkerung getötet als in irgendeinem früheren Konflikt von vergleichbarer geopolitischer Größenordnung (siehe Abbildung I.1). Obwohl Kriege zwischen Großmächten in früheren Jahrhunderten häufiger waren, erreichten sie nie die Heftigkeit (gemessen an der Zahl der Gefallenen pro Jahr) und Dichte (Gefallene pro Nation und Jahr) der Weltkriege. Der Zweite Weltkrieg war in jeder Hinsicht die größte von Menschen verursachte Katastrophe aller Zeiten. Und doch waren die Weltkriege, trotz aller Aufmerksamkeit, welche die Historiker ihnen gewidmet haben, nur zwei unter vielen kriegerischen Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert, und mindestens ein Dutzend andere Konflikte forderten wahrscheinlich mehr als eine Million Todesopfer. Ähnlich viele Opfer hatten die genozidalen oder »politozidalen« Kriege gegen Teile der Zivilbevölkerung, welche die »Jungtürken« während des Ersten Weltkriegs, das sowjetische Regime von den zwanziger bis zu den fünfziger Jahren und das NS-Regime in Deutschland zwischen 1933 und 1945 führten, von Tyranneien wie denjenigen Kim Il Sungs in Nordkorea oder Pol Pots in Kambodscha ganz zu schweigen. Vor, zwischen und nach den Weltkriegen gab es kein einziges Jahr, in dem nicht irgendwo auf der Welt in größerem Ausmaß organisierte Gewalt angewandt worden wäre.
Warum? Was machte das 20. Jahrhundert - und insbesondere die fünfzig Jahre zwischen 1904 und 1953 - so blutig? Daß diese Ära ungewöhnlich gewalttätig war, mag paradox erscheinen. Immerhin waren die hundert Jahre nach 1900 eine Zeit beispiellosen Fortschritts. Schätzungen zufolge wuchs das durchschnittliche globale Pro-Kopf-Inlandsprodukt - das ein ungefähres Maß für das durchschnittliche, um Geldwertschwankungen bereinigte ProKopf- Einkommen darstellt - zwischen 1500 und 1870 real um kaum mehr als 50 Prozent. Zwischen 1870 und 1998 dagegen stieg es um mehr als das Sechseinhalbfache. Anders ausgedrückt, die pauschalierte jährliche Wachstumsrate war zwischen 1870 und 1998 dreizehnmal höher als zwischen 1500 und 1870. Am Ende des 20. Jahrhunderts lebten die Menschen aufgrund einer Vielzahl technischer Fortschritte und neuer Erkenntnisse länger und besser als jemals zuvor. In weiten Teilen der Welt ist es dank verbesserter Ernährung und der Bekämpfung ansteckender Krankheiten gelungen, die Lebenserwartung der Menschen erheblich zu verlängern. Hatte diese in Großbritannien 1900 durchschnittlich nur 48 Jahre betragen, so lag sie 1990 bei 76 Jahren, und die Kindersterblichkeit war im Vergleich zur Jahrhundertwende auf ein 25stel gesunken.
Die Menschen lebten nicht nur länger, sie wurden auch größer und kräftiger. Darüber hinaus war das Alter weniger bedrückend; in den USA war der Anteil der chronisch Kranken unter Männern zwischen sechzig und siebzig am Ende des Jahrhunderts um zwei Drittel geringer als 1900. Immer mehr Menschen waren in der Lage, dem - so Marx und Engels - »Idiotismus des Landlebens« zu entfliehen. Zwischen 1900 und 1980 stieg der in Großstädten lebende Anteil der Weltbevölkerung auf mehr als das Doppelte. Weil sie effektiver arbeiteten, hatten die Menschen mehr Zeit für andere Aktivitäten. Diejenigen, die ihre Freizeit nutzten, um für politische Mitbestimmung und eine Umverteilung des Reichtums zu kämpfen, erzielten bemerkenswerte Erfolge. Konnte man 1900 nur knapp ein Fünftel aller Länder der Welt als demokratisch bezeichnen, so war dieser Anteil bis zu den neunziger Jahren auf über die Hälfte gestiegen. Die sich herausbildenden Wohlfahrtsstaaten erfüllten nicht mehr nur grundlegende öffentliche Auf gaben wie Verteidigung und Rechtsprechung, sondern waren auch darauf verpflichtet, »Not« sowie »Krankheit, Unwissenheit, Schmutz und Müßiggang« zu beseitigen.
Um vor dem Hintergrund dieser positiven Entwicklungen die außerordentliche Gewalttätigkeit des 20. Jahrhunderts zu erklären, genügt es nicht, darauf hinzuweisen, daß mehr Menschen auf engerem Raum zusammenlebten oder daß es mehr Waffen gab als jemals zuvor. Zweifellos ist es leichter, Massenmorde zu begehen, indem man Bomben auf dichtbewohnte Städte wirft, als mit Schwertern eine verstreut lebende Landbevölkerung niederzumetzeln. Doch wenn diese Erklärung hinreichend wäre, dann hätte das Ende des Jahrhunderts noch sehr viel gewalttätiger sein müssen als der Anfang und die Mitte. In den neunziger Jahren überstieg die Weltbevölkerung zum ersten Mal die Marke von sechs Milliarden Menschen. Das waren mehr als dreimal so viele wie bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, und dennoch war in diesem Jahrzehnt ein deutlicher Rückgang der bewaffneten Konflikte zu verzeichnen.
Die höchste militärische Mobilisierungs- und Sterblichkeitsrate im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung wurde eindeutig in der ersten Hälfte des Jahrhunderts erreicht, während der beiden Weltkriege und jeweils unmittelbar nach ihnen. Darüber hinaus ist die Zerstörungskraft der Waffen heute weit größer als 1900, und doch wurden einige der schlimmsten Greuel des Jahrhunderts mit primitivsten Waffen verübt: einfachen Gewehren, Äxten, Messern und Macheten (etwa in Zentralafrika während der neunziger und in Kambodscha während der siebziger Jahre). Elias Canetti hat sich einst eine Welt vorgestellt, in der »alle Waffen ... abgeschafft [werden] und im nächsten Krieg ... es nur noch erlaubt [ist] zu beißen«. Aber kann man sicher sein, daß es in einer solchen radikal abgerüsteten Welt keine Völkermorde geben würde? Um zu verstehen, warum die letzten hundert Jahre derart zerstörerisch waren, muß man sich mit den Motiven für die Gewalttaten befassen.
In meiner Schulzeit gaben die Geschichtslehrbücher eine Reihe von Erklärungen für die Gewalt des 20. Jahrhunderts. Häufig wurde ein Zusammenhang mit Wirtschaftskrisen hergestellt, so als ließen sich politische Konflikte allein mit Depressionen und Rezessionen erklären. Ein beliebter Gedankengang bestand darin, den Anstieg der Arbeitslosigkeit in Deutschland mit den zunehmenden Wahlerfolgen der NSDAP und Hitlers »Machtergreifung« in Verbindung zu bringen und diese wiederum als Ursache des Zweiten Weltkriegs zu sehen. Doch ich begann mich zu fragen, ob nicht ein rasches Wirtschaftswachstum ebenso destabilisierend wirken kann wie eine Wirtschaftskrise. Nach einer anderen Theorie drehte sich im 20. Jahrhundert alles um Klassenkonflikte. Demnach waren also Revolutionen eine der Hauptursachen von Gewalt. Aber hatten ethnische Gegensätze nicht mehr Bedeutung als der angebliche Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie? Eine weitere These besagt, daß die Probleme des 20. Jahrhunderts Folgen extremer politischer Ideologien gewesen seien, namentlich des Kommunismus (des extremen Sozialismus) und des Faschis mus (des extremen Nationalismus) sowie früherer böser Ismen, insbesondere des Imperialismus. Aber was ist mit traditionellen Weltanschauungen wie den Religionen oder mit Ideen, die auf den ersten Blick unpolitisch sind, trotzdem aber politische Konsequenzen haben? Und wer bekämpfte sich in den Kriegen des 20. Jahrhunderts überhaupt? In den Büchern, die ich als Junge las, spielten immer Nationalstaaten die Hauptrollen: Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Rußland, die Vereinigten Staaten und so weiter. Aber waren einige - oder sogar alle - dieser Länder in Wirklichkeit nicht eher multinationale als nationale Gebilde? Waren sie nicht eher Reiche als Staaten? Vor allem erzählten die alten Bücher die Geschichte des 20. Jahrhunderts als einen in langen, schmerzlichen Kämpfen errungenen Triumph des Westens. Die Helden - die westlichen Demokratien - wurden von einer Reihe Schurken - Deutschen, Japanern, Russen - herausgefordert, aber am Ende siegte immer das Gute über das Böse. So gesehen, waren die Weltkriege und der Kalte Krieg auf einer globalen Bühne aufgeführte Moralstücke. Aber waren sie das wirklich? Und hat der Westen den hundertjährigen Krieg, der das 20. Jahrhundert war, tatsächlich gewonnen?
Lassen Sie mich diese tastenden Gedanken eines Schuljungen präziser ausformulieren. Ich werde im Folgenden zeigen, warum die von Historikern traditionell angeführten Erklärungen für die Gewalt des 20. Jahrhunderts nicht hinreichend sind, so bedeutsam einzelne Aspekte auch sein mögen. Technische Entwicklungen, insbesondere die größere Zerstörungskraft moderner Waffen, waren zweifellos wichtig, aber sie stellten bloß Reaktionen dar auf den tiefersitzenden Wunsch, effektiver zu töten. Tatsächlich gibt es, wenn man das Jahrhundert als Ganzes betrachtet, keinerlei Korrelation zwischen der Effizienz der verfügbaren Waffen und dem Auftreten von Gewalt.
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Der 1898, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, veröffentlichte Roman Der Krieg der Welten ist mehr als nur ein klassisches Werk der Science-fiction-Literatur. Er ist auch eine Art darwinistisches Moralstück - und gleichzeitig ein Buch von einzigartiger Voraussicht. In dem Jahrhundert nach seinem Erscheinen wurden die von H. G. Wells geschilderten alptraumhaften Szenen in Städten überall auf der Welt Wirklichkeit, nicht nur in London, wo die Romanhandlung angesiedelt ist, sondern auch in Brest-Litowsk, Belgrad und Berlin, in Smyrna, Schanghai und Seoul.
Eindringlinge erreichen den Rand einer Stadt, deren Bewohner die Gefahr nur langsam erkennen. Die Angreifer besitzen tödliche Waffen - gepanzerte Fahrzeuge, Flammenwerfer, Giftgas, Flugzeuge -, die sie ebenso willkürlich wie gnadenlos sowohl gegen Soldaten als auch gegen Zivilisten einsetzen. Als die Eindringlinge die Verteidigungsanlagen der Stadt überrennen, bricht Panik aus. Die Menschen fliehen Hals über Kopf aus ihren Häusern; Flüchtlingsmassen verstopfen Straßen und Eisenbahnverbindungen. Es fällt den Angreifern leicht, sie zu massakrieren. Sie werden hingeschlachtet wie Vieh. Am Ende bleiben nur qualmende Ruinen und Berge von ausgedörrten Leichen zurück.
Als er sich diese Geschichte von Tod und Vernichtung erdachte, radelte Wells gerade mit einem neu erstandenen Fahrrad durch die friedlichen Londoner Vororte Working und Chertsey. Die Bösewichter - und das war sein Genieblitz - stellte er sich als Marsianer vor. Als solche Szenen schließlich real wurden, waren die Verantwortlichen jedoch keine Marsianer, sondern Menschen (die ihre Opfer zur Rechtfertigung der Massaker allerdings häufig als »Untermenschen « bezeichneten). Was das 20. Jahrhundert erlebte, war kein Krieg der Welten, sondern eher ein Krieg der Welt.
Das Jahrhundert nach 1900 war ohne Frage das blutigste der Geschichte und sowohl relativ als auch absolut betrachtet weit mehr von Gewalt beherrscht als jede vorherige Epoche. In den beiden Weltkriegen, die das Jahrhundert prägten, wurde ein erheblich größerer Anteil der Weltbevölkerung getötet als in irgendeinem früheren Konflikt von vergleichbarer geopolitischer Größenordnung (siehe Abbildung I.1). Obwohl Kriege zwischen Großmächten in früheren Jahrhunderten häufiger waren, erreichten sie nie die Heftigkeit (gemessen an der Zahl der Gefallenen pro Jahr) und Dichte (Gefallene pro Nation und Jahr) der Weltkriege. Der Zweite Weltkrieg war in jeder Hinsicht die größte von Menschen verursachte Katastrophe aller Zeiten. Und doch waren die Weltkriege, trotz aller Aufmerksamkeit, welche die Historiker ihnen gewidmet haben, nur zwei unter vielen kriegerischen Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert, und mindestens ein Dutzend andere Konflikte forderten wahrscheinlich mehr als eine Million Todesopfer. Ähnlich viele Opfer hatten die genozidalen oder »politozidalen« Kriege gegen Teile der Zivilbevölkerung, welche die »Jungtürken« während des Ersten Weltkriegs, das sowjetische Regime von den zwanziger bis zu den fünfziger Jahren und das NS-Regime in Deutschland zwischen 1933 und 1945 führten, von Tyranneien wie denjenigen Kim Il Sungs in Nordkorea oder Pol Pots in Kambodscha ganz zu schweigen. Vor, zwischen und nach den Weltkriegen gab es kein einziges Jahr, in dem nicht irgendwo auf der Welt in größerem Ausmaß organisierte Gewalt angewandt worden wäre.
Warum? Was machte das 20. Jahrhundert - und insbesondere die fünfzig Jahre zwischen 1904 und 1953 - so blutig? Daß diese Ära ungewöhnlich gewalttätig war, mag paradox erscheinen. Immerhin waren die hundert Jahre nach 1900 eine Zeit beispiellosen Fortschritts. Schätzungen zufolge wuchs das durchschnittliche globale Pro-Kopf-Inlandsprodukt - das ein ungefähres Maß für das durchschnittliche, um Geldwertschwankungen bereinigte ProKopf- Einkommen darstellt - zwischen 1500 und 1870 real um kaum mehr als 50 Prozent. Zwischen 1870 und 1998 dagegen stieg es um mehr als das Sechseinhalbfache. Anders ausgedrückt, die pauschalierte jährliche Wachstumsrate war zwischen 1870 und 1998 dreizehnmal höher als zwischen 1500 und 1870. Am Ende des 20. Jahrhunderts lebten die Menschen aufgrund einer Vielzahl technischer Fortschritte und neuer Erkenntnisse länger und besser als jemals zuvor. In weiten Teilen der Welt ist es dank verbesserter Ernährung und der Bekämpfung ansteckender Krankheiten gelungen, die Lebenserwartung der Menschen erheblich zu verlängern. Hatte diese in Großbritannien 1900 durchschnittlich nur 48 Jahre betragen, so lag sie 1990 bei 76 Jahren, und die Kindersterblichkeit war im Vergleich zur Jahrhundertwende auf ein 25stel gesunken.
Die Menschen lebten nicht nur länger, sie wurden auch größer und kräftiger. Darüber hinaus war das Alter weniger bedrückend; in den USA war der Anteil der chronisch Kranken unter Männern zwischen sechzig und siebzig am Ende des Jahrhunderts um zwei Drittel geringer als 1900. Immer mehr Menschen waren in der Lage, dem - so Marx und Engels - »Idiotismus des Landlebens« zu entfliehen. Zwischen 1900 und 1980 stieg der in Großstädten lebende Anteil der Weltbevölkerung auf mehr als das Doppelte. Weil sie effektiver arbeiteten, hatten die Menschen mehr Zeit für andere Aktivitäten. Diejenigen, die ihre Freizeit nutzten, um für politische Mitbestimmung und eine Umverteilung des Reichtums zu kämpfen, erzielten bemerkenswerte Erfolge. Konnte man 1900 nur knapp ein Fünftel aller Länder der Welt als demokratisch bezeichnen, so war dieser Anteil bis zu den neunziger Jahren auf über die Hälfte gestiegen. Die sich herausbildenden Wohlfahrtsstaaten erfüllten nicht mehr nur grundlegende öffentliche Auf gaben wie Verteidigung und Rechtsprechung, sondern waren auch darauf verpflichtet, »Not« sowie »Krankheit, Unwissenheit, Schmutz und Müßiggang« zu beseitigen.
Um vor dem Hintergrund dieser positiven Entwicklungen die außerordentliche Gewalttätigkeit des 20. Jahrhunderts zu erklären, genügt es nicht, darauf hinzuweisen, daß mehr Menschen auf engerem Raum zusammenlebten oder daß es mehr Waffen gab als jemals zuvor. Zweifellos ist es leichter, Massenmorde zu begehen, indem man Bomben auf dichtbewohnte Städte wirft, als mit Schwertern eine verstreut lebende Landbevölkerung niederzumetzeln. Doch wenn diese Erklärung hinreichend wäre, dann hätte das Ende des Jahrhunderts noch sehr viel gewalttätiger sein müssen als der Anfang und die Mitte. In den neunziger Jahren überstieg die Weltbevölkerung zum ersten Mal die Marke von sechs Milliarden Menschen. Das waren mehr als dreimal so viele wie bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, und dennoch war in diesem Jahrzehnt ein deutlicher Rückgang der bewaffneten Konflikte zu verzeichnen.
Die höchste militärische Mobilisierungs- und Sterblichkeitsrate im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung wurde eindeutig in der ersten Hälfte des Jahrhunderts erreicht, während der beiden Weltkriege und jeweils unmittelbar nach ihnen. Darüber hinaus ist die Zerstörungskraft der Waffen heute weit größer als 1900, und doch wurden einige der schlimmsten Greuel des Jahrhunderts mit primitivsten Waffen verübt: einfachen Gewehren, Äxten, Messern und Macheten (etwa in Zentralafrika während der neunziger und in Kambodscha während der siebziger Jahre). Elias Canetti hat sich einst eine Welt vorgestellt, in der »alle Waffen ... abgeschafft [werden] und im nächsten Krieg ... es nur noch erlaubt [ist] zu beißen«. Aber kann man sicher sein, daß es in einer solchen radikal abgerüsteten Welt keine Völkermorde geben würde? Um zu verstehen, warum die letzten hundert Jahre derart zerstörerisch waren, muß man sich mit den Motiven für die Gewalttaten befassen.
In meiner Schulzeit gaben die Geschichtslehrbücher eine Reihe von Erklärungen für die Gewalt des 20. Jahrhunderts. Häufig wurde ein Zusammenhang mit Wirtschaftskrisen hergestellt, so als ließen sich politische Konflikte allein mit Depressionen und Rezessionen erklären. Ein beliebter Gedankengang bestand darin, den Anstieg der Arbeitslosigkeit in Deutschland mit den zunehmenden Wahlerfolgen der NSDAP und Hitlers »Machtergreifung« in Verbindung zu bringen und diese wiederum als Ursache des Zweiten Weltkriegs zu sehen. Doch ich begann mich zu fragen, ob nicht ein rasches Wirtschaftswachstum ebenso destabilisierend wirken kann wie eine Wirtschaftskrise. Nach einer anderen Theorie drehte sich im 20. Jahrhundert alles um Klassenkonflikte. Demnach waren also Revolutionen eine der Hauptursachen von Gewalt. Aber hatten ethnische Gegensätze nicht mehr Bedeutung als der angebliche Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie? Eine weitere These besagt, daß die Probleme des 20. Jahrhunderts Folgen extremer politischer Ideologien gewesen seien, namentlich des Kommunismus (des extremen Sozialismus) und des Faschis mus (des extremen Nationalismus) sowie früherer böser Ismen, insbesondere des Imperialismus. Aber was ist mit traditionellen Weltanschauungen wie den Religionen oder mit Ideen, die auf den ersten Blick unpolitisch sind, trotzdem aber politische Konsequenzen haben? Und wer bekämpfte sich in den Kriegen des 20. Jahrhunderts überhaupt? In den Büchern, die ich als Junge las, spielten immer Nationalstaaten die Hauptrollen: Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Rußland, die Vereinigten Staaten und so weiter. Aber waren einige - oder sogar alle - dieser Länder in Wirklichkeit nicht eher multinationale als nationale Gebilde? Waren sie nicht eher Reiche als Staaten? Vor allem erzählten die alten Bücher die Geschichte des 20. Jahrhunderts als einen in langen, schmerzlichen Kämpfen errungenen Triumph des Westens. Die Helden - die westlichen Demokratien - wurden von einer Reihe Schurken - Deutschen, Japanern, Russen - herausgefordert, aber am Ende siegte immer das Gute über das Böse. So gesehen, waren die Weltkriege und der Kalte Krieg auf einer globalen Bühne aufgeführte Moralstücke. Aber waren sie das wirklich? Und hat der Westen den hundertjährigen Krieg, der das 20. Jahrhundert war, tatsächlich gewonnen?
Lassen Sie mich diese tastenden Gedanken eines Schuljungen präziser ausformulieren. Ich werde im Folgenden zeigen, warum die von Historikern traditionell angeführten Erklärungen für die Gewalt des 20. Jahrhunderts nicht hinreichend sind, so bedeutsam einzelne Aspekte auch sein mögen. Technische Entwicklungen, insbesondere die größere Zerstörungskraft moderner Waffen, waren zweifellos wichtig, aber sie stellten bloß Reaktionen dar auf den tiefersitzenden Wunsch, effektiver zu töten. Tatsächlich gibt es, wenn man das Jahrhundert als Ganzes betrachtet, keinerlei Korrelation zwischen der Effizienz der verfügbaren Waffen und dem Auftreten von Gewalt.
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Autoren-Porträt von Niall Ferguson
Ferguson, NiallNiall Ferguson, geboren 1964 in Glasgow, ist Senior Fellow der Hoover Institution in Stanford sowie Senior Fellow des Center of European Studies der Harvard University. Er gilt als einer der profiliertesten Historiker der angelsächsischen Welt. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen zählen Der Aufstieg des Geldes (2009), Der Westen und der Rest der Welt (2011) und der erste Band seiner Kissinger-Biographie Der Idealist (2016).
Bibliographische Angaben
- Autor: Niall Ferguson
- 2014, 2. Aufl., 992 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 12,1 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548607799
- ISBN-13: 9783548607795
- Erscheinungsdatum: 11.04.2014
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