Das 10. Gebot / Der Club der Ermittlerinnen Bd.10
Thriller
Endlich hat Detective Lindsay Boxer geheiratet. Doch die Flitterwochen fallen aus: Eine junge Frau wurde attackiert und schwer verletzt zurückgelassen. Ihr neugeborenes Baby wurde offensichtlich verschleppt Lindsay findet keinerlei Spur zum Täter - und auch...
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Das 10. Gebot / Der Club der Ermittlerinnen Bd.10 “
Endlich hat Detective Lindsay Boxer geheiratet. Doch die Flitterwochen fallen aus: Eine junge Frau wurde attackiert und schwer verletzt zurückgelassen. Ihr neugeborenes Baby wurde offensichtlich verschleppt Lindsay findet keinerlei Spur zum Täter - und auch die junge Mutter scheint einige Geheimnisse zu hüten.
Klappentext zu „Das 10. Gebot / Der Club der Ermittlerinnen Bd.10 “
Im Dunkeln lauert der Neid ...Detective Lindsay Boxer hat endlich geheiratet. Doch die Erinnerungen an ihre Hochzeit verblassen schnell, als sie mit den Ermittlungen in einem abscheulichen Verbrechen beauftragt wird: Ein junges Mädchen wurde angegriffen und schwer verletzt zurückgelassen, ihr neugeborenes Baby ist wie vom Erdboden verschluckt. Lindsay entdeckt nicht die geringste Spur vom Täter - und auch das Opfer scheint einige Geheimnisse zu bergen. Als weitere Angriffe auf Frauen die Stadt erschüttern, wächst der Druck, das Baby zu finden. Und Lindsay beginnt sich ernsthaft zu fragen, ob sie jemals eine Familie gründen sollte ...
Lese-Probe zu „Das 10. Gebot / Der Club der Ermittlerinnen Bd.10 “
Das 10. Gebot von James PattersonProlog
Mit Glockengeläut
1
Heute war der Tag meiner Hochzeit. In unserer Suite im Ritz in Half Moon Bay herrschte das Chaos.
Meine besten Freundinnen und ich hatten uns bis auf die Unterwäsche ausgezogen und unsere Alltagskluft großflächig über die Möbel verteilt. Von den Fenster-und Türrahmen hingen Kleider in zarten Sorbetfarben.
Das Ganze sah aus wie ein Gemälde von Degas - Ballerinas kurz vor dem Öffnen des Vorhangs - oder vielleicht auch wie die romantisierte Vorstellung eines Bordells im Wilden Westen. Es wurden Witze gerissen. Sorglose Leichtigkeit lag über allem - und dann ging die Tür auf, und meine Schwester Catherine trat ein. Sie hatte ihre tapfere Miene aufgesetzt: ein schmales Lächeln, doch der Schmerz war in den Augenwinkeln erkennbar.
»Was ist denn los, Cat?«, fragte ich sie.
»Er ist nicht da.«
Ich blinzelte, versuchte, das scharfe Stechen der Enttäuschung zu ignorieren. Dann sagte ich sarkastisch: »Ich bin schockiert.«
Cats Bemerkung galt unserem Vater, Marty Boxer, der uns verlassen hatte, als wir noch Kinder waren, und sich nicht einmal hatte blicken lassen, als meine Mom im Sterben lag. Ich hatte ihn während der letzten zehn Jahre nur zweimal gesehen und ihn nicht vermisst, aber nachdem er Cat versichert hatte, er würde zu meiner Hochzeit kommen, hatte ich mir Hoffnungen gemacht.
»Er hat doch gesagt, dass er kommt. Er hat es versprochen«, sagte Cat.
Ich bin sechs Jahre älter als meine Schwester und hundert Jahre abgebrühter. Ich hätte es wissen müssen. Ich nahm sie in den Arm.
»Vergiss es«, sagte ich. »Er kann uns nicht wehtun. Er bedeutet uns nichts.«
... mehr
Claire, meine allerbeste Busenfreundin, setzte sich auf, schwang die Beine über die Bettkante und stellte ihre nackten Füße auf den Boden. Sie ist dick, schwarz und witzig - zum Brüllen komisch. Wenn sie nicht Gerichtsmedizinerin wäre, sie könnte ohne Weiteres als Stand-up-Comedian auftreten.
»Dann übergebe ich dich eben deinem Ehemann«, sagte sie. »Aber danach will ich dich wieder zurück.«
Cindy und ich brachen in schallendes Gelächter aus. Da meldete sich Yuki zu Wort. »Ich weiß genau, wer das übernehmen kann. Marty ist so ein Idiot!« Sie streifte das pinkfarbene Seidenkleid über ihren unfassbar zierlichen Körper und zog den Reißverschluss zu. Dann sagte sie: »Bin gleich wieder da.«
Dinge zu erledigen war Yukis Spezialität. Wenn sie einmal Fahrt aufgenommen hatte, durfte man ihr auf keinen Fall in die Quere kommen. Selbst dann nicht, wenn es eindeutig in die falsche Richtung ging.
»Yuki, warte«, rief ich ihr nach, als sie schon zur Tür hinausrauschte. Ich drehte mich zu Claire um und sah, dass sie etwas in die Höhe hielt. Früher hätte man Mieder dazu gesagt. Es war mit Stäbchen verstärkt und sah ziemlich furchterregend aus.
»Ich habe ja nichts dagegen, in einem Kleid herumzulaufen, in dem ich wie ein Napfkuchen aussehe, aber wie zum Teufel soll ich da reinkommen?«
»Ich liebe mein Kleid«, sagte Cindy und strich zärtlich über das pfirsichfarbene, seiden schillernde Organza-Gewebe. Vermutlich war sie die erste Brautjungfer weltweit, von der man je eine solche Äußerung zu hören bekommen hatte, aber Cindy war zurzeit schwer verliebt. Sie wandte mir ihr hübsches Gesicht zu und sagte träumerisch: »Du solltest dich langsam mal fertig machen.«
Zwei Meter cremefarbener Satin glitten aus der Kleider- hülle. Ich schlängelte mich in das trägerlose Vera-Wang-Hochzeitskleid und stellte mich zusammen mit meiner Schwester vor den bodenlangen, frei stehenden Spiegel - zwei groß gewachsene, braunäugige Blondinen, die ihrem Dad sehr ähnelten.
»Grace Kelly hat nie so gut ausgesehen«, sagte Cat, und die Tränen schossen ihr in die Augen.
»Dreh mal den Kopf nach vorn, Schönheit«, sagte Cindy.
Sie legte mir ihre Perlenkette um den Hals.
Ich vollführte eine kleine Pirouette, und Claire nahm mich bei der Hand und ließ mich unter ihrem Arm hindurchdrehen. Sie sagte: »Ist es denn zu glauben, Linds? Ich werde tatsächlich auf deiner Hochzeit tanzen.«
Sie sagte nicht »endlich«, aber sie dachte es, und das war auch richtig so. Schließlich hatte sie alles hautnah miterlebt: meine Fernbeziehungs-Achterbahn mit Joe, die mit seinem Umzug nach San Francisco geendet hatte, weil er ganz in meiner Nähe sein wollte, den Brand meiner Wohnung, diverse Nahtod-Erfahrungen sowie den enormen Verlobungsring, den ich fast ein Jahr lang in einer Schublade versteckt hatte.
»Danke, dass du nie den Glauben verloren hast«, sagte ich.
»Glauben ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck«, erwiderte sie trocken. »Ich hätte ehrlich nicht gedacht, dass ich mal ein Wunder miterleben würde, und erst recht nicht, dass ich dabei mitmachen darf.«
Ich verpasste ihr spielerisch einen Haken auf den Oberarm.
Sie duckte sich weg und fintierte. Die Tür ging auf, und Yuki kam herein, in der Hand meinen Brautstrauß: ein üppiges Bouquet aus Pfingstrosen und Rosen, das von himmelblauen Girlanden zusammengehalten wurde.
»Das Taschentuch hier hat meiner Großmutter gehört«, sagte Cindy und steckte mir ein kleines Spitzentuch ins Dekolleté. Dann zählte sie an den Fingern ab: »Etwas Altes, etwas Neues, etwas Geborgtes und etwas Blaues. Alles da.«
»Ich habe die Musik angestellt, Linds«, sagte Yuki. »Es ist so weit.«
Mein Gott.
Joe und ich würden wirklich und wahrhaftig heiraten.
2
Jacobi erwartete mich in der Hotellobby. Er streckte mir den Ellbogen entgegen und lachte schallend los. Yuki hatte recht gehabt. Jacobi war der perfekte Ersatzvater. Ich hakte mich bei ihm unter, und er küsste mich auf die Wange.
Eine Premiere.
»Du siehst wunderschön aus, Boxer. Du weißt schon, noch schöner als sonst.«
Noch eine Premiere.
Jacobi und ich hatten so viele Stunden zusammen im Streifenwagen verbracht, dass wir beinahe die Gedanken des anderen lesen konnten. Aber um die tiefe Zuneigung in seinem Blick zu erkennen, brauchte ich keine Hellseherin zu sein.
Ich grinste. »Danke, Jacobi. Vielen Dank.«
Dann drückte ich seinen Oberarm, und wir schritten über eine riesige Marmorfläche und durch hohe Glastüren meiner Zukunft entgegen.
Jacobi hinkte und litt unter ständiger Atemnot, beides Andenken an eine Schießerei im Tenderloin District vor etlichen Jahren. Damals hatte ich gedacht, dass unser letztes Stündlein geschlagen hatte. Aber das war damals.
Jetzt umhüllte mich warme, salzige Luft. Herrliche Wiesen umgaben den leuchtend weißen Pavillon und erstreckten sich bis hinunter zur Steilküste. Die Pazifikwellen schlugen donnernd gegen die Klippen, und die untergehende Sonne tauchte die Wolken in einen gold-rosafarbenen Schimmer, den kein Regisseur der Welt auf Zelluloid hätte bannen können. Noch nie hatte ich einen schöneren Ort gesehen.
»Ganz locker bleiben«, sagte Jacobi. »Nicht, dass du jetzt anfängst zu rennen. Immer schön im Takt, Schritt für Schritt.«
»Wenn es sein muss«, erwiderte ich und lachte.
Die Stühle zu beiden Seiten des Mittelgangs waren zum Pavillon hin ausgerichtet. Gelbes Absperrband sorgte dafür, dass der Weg frei blieb. POLIZEILICHE ERMITTLUNGEN. BETRETEN VERBOTEN.
Das Absperrband musste Conklins Idee gewesen sein. Ich fing einen Blick von ihm auf, dazu ein breites Grinsen und zwei nach oben gereckte Daumen, und war mir ganz sicher. Als der Hochzeitsmarsch einsetzte, hüpften Cats kleine Töchter den Mittelgang entlang und streuten Rosenblätter auf den Rasen. Meine besten Freundinnen nahmen rechtzeitig ihre Positionen ein, und ich ging hinter ihnen her.
Lächelnde Gesichter wandten sich mir zu. Charlie Clapper saß auf der linken Seite ganz am Rand, zusammen mit vielen anderen Kollegen sowie neuen und alten Freunden. Zu meiner Rechten saßen fünf von Joes Brüdern, äußerlich kaum zu unterscheiden, mit ihren Familien. Joes Eltern in der ersten Reihe hatten sich umgedreht und strahlten mich an.
Jacobi führte mich die Stufen des Pavillons hinauf bis zum Altar. Dann ließ er meinen Arm los, und ich betrachtete meinen wundervollen, attraktiven, zukünftigen Ehemann. Unsere Blicke trafen sich, und ich wusste ohne jeden Zweifel, dass die Achterbahnfahrt sich gelohnt hatte. Ich kannte diesen Mann so gut. Unsere lang und oft geprüfte Liebe war groß und tief und fest.
Reverend Lynn Boyer, eine langjährige Freundin der Familie, legte unsere Hände zusammen, sodass Joes Hand auf meiner lag, und flüsterte so laut, dass jeder es hören konnte: »Genieße diesen Moment, Joseph. Das ist das letzte Mal, dass du die Oberhand hast.«
Fröhliches Lachen erklang und verstummte wieder. Unter den Schreien der Möwen versprachen Joe und ich uns gegenseitig, dass wir uns lieben und ehren und achten würden, an guten wie an schlechten Tagen, in Krankheit und Gesundheit, bis dass der Tod uns scheidet.
Willst du diesen Mann zu deinem Ehemann nehmen?
Ja, ich will. Ich will es unbedingt.
Ein paar nervöse Lacher waren zu hören, als Joes Ehering mir aus der Hand fiel. Wir bückten uns und griffen gleichzeitig danach, hielten ihn gemeinsam fest.
»Ganz ruhig, Blondie«, sagte Joe. »Von jetzt an kann es nur noch besser werden.«
Ich lachte, und nachdem wir uns wieder aufgerichtet hatten, steckte ich den goldenen Ring auf Joes Finger. Reverend Boyer sagte zu Joe, dass er die Braut jetzt küssen könne, und mein Ehemann legte seine Hände auf meine Wangen.
Wir küssten uns und dann gleich noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal.
Tosender Applaus brandete auf, und donnernde Musik setzte ein.
Es war wirklich wahr. Ich war jetzt Mrs Joseph Molinari. Joe nahm mich an der Hand, und dann schritten wir grinsend wie kleine Kinder in einem Regen aus Rosenblättern den Mittelgang entlang.
Erstes Buch
Kleiner Junge vermisst
1
Mit nichts als einem neongrünen Plastikumhang bekleidet stolperte das Mädchen eine dunkle Straße entlang. Sie hatte Todesangst und
grässliche Schmerzen, Krämpfe, die wie ständig wiederkehrende Schläge auf ihre Eingeweide einprasselten und immer schlimmer wurden. Sie verlor Blut, schon seit einer ganzen Weile, ein unablässiges, warmes Rinnsal, das ihr die Beine hinunterlief.
Was hatte sie getan?
Immer wieder bekam sie zu hören, dass sie ein kluges Kind war, aber - und das war eine Tatsache - sie hatte einen furchtbaren Fehler begangen, und wenn sie nicht bald Hilfe bekam, würde sie sterben.
Aber wo war sie?
Sie hatte das Gefühl, als würde sie immer nur im Kreis gehen. Tagsüber ging es in dem Gebiet rund um den Lake Merced sehr lebhaft zu - Jogger, Radfahrer und zahlreiche Autos bevölkerten die Straße rund um den See. Aber bei Nacht war hier niemand mehr. Die Dunkelheit war schon schlimm genug, und jetzt zog auch noch Nebel auf. Sie konnte nur wenige Meter weit sehen.
Und sie hatte große Angst.
Hier in der Gegend waren schon etliche Menschen spurlos verschwunden. Es waren sogar Morde geschehen. Ziemlich viele.
Ihre Füße waren schwer wie Blei. Sie konnte sie kaum mehr heben, und dann spürte sie, wie sie langsam das Bewusstsein verlor, wie sie einfach ihren Körper verließ. Sie streckte die Arme aus, um sich abzustützen, und erwischte einen Baumstamm. Sie packte ihn mit beiden Händen und hielt sich an der rauen Rinde fest, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. So stand sie in der schwarzen, mondlosen Nacht.
Oh mein Gott! Wo bin ich denn hier?
Zwei Autos waren bereits an ihr vorbeigefahren. Sie überlegte ernsthaft, ihren Plan fallen zu lassen und in das Haus zurückzukehren, anstatt zu versuchen, ein Auto anzuhalten. Die anderen waren jetzt weg. Sie konnte sich schlafen legen. Vielleicht würden die Blutungen ja aufhören, sobald sie sich hingelegt hatte. Aber sie hatte sich verlaufen. Sie wusste überhaupt nicht, in welche Richtung sie sich wenden sollte.
Das Mädchen stolperte vorwärts, auf der Suche nach Licht, nach irgendeinem Licht.
Das Blut lief immer schneller aus ihrem Körper, tropfte ihre Beine entlang, und ihr war so schwindelig, dass sie sich kaum mehr aufrecht halten konnte.
Trotzdem zwang sie sich, weiterzugehen, bis sie mit der Fußspitze an etwas Hartes, Unnachgiebiges stieß, eine Wurzel oder einen Stein vielleicht, und nach vorn kippte. Sie streckte die Hände aus.
Mit dem Kinn, den Knien und den Handflächen fing sie den Großteil des Sturzes ab, blieb unverletzt. Keuchend vor Schmerz rappelte sie sich erneut auf.
Hoch oben erkannte sie die Gipfel der Eukalyptusbäume und Kiefern, die den Straßenrand säumten. Grashalme streiften ihre Arme und Beine, während sie vorwärtsstolperte.
Sie malte sich aus, was wäre, wenn ein Auto anhalten oder ein Haus in Sicht kommen würde. Wie sie die Geschichte erzählen würde. Ob sie überhaupt noch Gelegenheit dazu bekäme? Bitte. Sie durfte jetzt nicht sterben. Sie war doch erst fünfzehn.
In der Ferne bellte ein Hund. Das Mädchen änderte die Richtung, ging auf das Geräusch zu. Wo ein Hund war, da war auch ein Haus, ein Telefon, ein Auto, ein Krankenhaus.
Sie dachte an ihr Zimmer und wie sicher sie sich dort fühlte. Sie sah ihr Bett vor sich, ihren Schreibtisch, die Bilder an den Wänden und ihr Handy - oh Mann, wenn sie doch bloß ihr Handy bei sich hätte - und blieb im selben Augenblick mit dem Fuß irgendwo hängen, verdrehte sich den Knöchel und schlug erneut der Länge nach zu Boden. Der Aufprall war hart und kostete sie eine Menge Haut.
Das war zu viel. Zu viel.
Dieses Mal blieb sie liegen. Alles tat ihr weh, so schrecklich weh. Sie legte die Arme zusammen und bettete den Kopf darauf. Vielleicht, wenn sie ein kleines Nickerchen machte. Ja, genau, vielleicht brauchte sie ja einfach nur ein bisschen Schlaf und dann, am Morgen... wenn die Sonne aufging...
Es dauerte einen langen Augenblick, bis sie begriff, dass das gedämpfte Licht, das da im Nebel immer größer wurde, ein Scheinwerferpaar war, das direkt auf sie zuhielt.
Sie hob den Arm. Reifen quietschten.
Eine Frauenstimme ertönte: »O Gott! Sind Sie verletzt?«
»Helfen Sie mir«, sagte sie. »Ich brauche Hilfe.«
»Wach bleiben«, sagte die Frau. »Nicht einschlafen, junge Dame. Ich rufe Hilfe. Sieh mich an. Lass die Augen offen.«
»Ich habe mein Baby verloren«, sagte das Mädchen.
Und dann spürte sie gar keine Schmerzen mehr.
2
Der Regen prasselte auf das Dach und rann in Strömen über die Windschutzscheibe meines betagten Ford Explorer, während ich auf den Parkplatz des Gerichtsmedizinischen Instituts in der Harriet Street, gleich hinter der Hall of Justice, fuhr. Die Flitterwochen waren vorbei, und ich kehrte wieder an meinen Arbeitsplatz zurück. Ich war ziemlich aufgeregt. In wenigen Minuten musste ich mich über die laufenden Ermittlungen informieren, und dann war da noch etwas, womit ich zurechtkommen musste. Ich würde einen neuen Vorgesetzten haben. Ich war darauf vorbereitet - so gut es eben ging. Ich schlug den Kragen meines ziemlich abgetragenen blauen Blazers hoch und rannte im strömenden Regen zum Hintereingang der Hall of Justice, jenem grauen Granitgebäude, in dem die Justizbehörde, der Strafgerichtshof, zwei Gefängnisse sowie die Wache Süd des San Francisco Police Department untergebracht waren. An der Tür zeigte ich Kevin meine Dienstmarke und lief die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Dort betrat ich die Räume der Mordkommission und gelangte schließlich durch die Klapptür mit den Doppelscharnieren in den Bereitschaftsraum. Es herrschte das reinste Chaos. Ich begrüßte Brenda, die sofort aufsprang, mich umarmte und mir ein Papierhandtuch in die Hand drückte. »Ich wünsche dir alles Glück dieser Erde«, sagte sie. Ich bedankte mich, versprach ihr ein paar Hochzeitsfotos und wischte mir das Gesicht und die Haare trocken. Dann sah ich mich um. Ich wollte wissen, wer an diesem Morgen um
7.45 Uhr bei der Arbeit war. Es war ein einziges, unüberschaubares Gewusel. Die Nachtschicht packte gerade ihre Sachen zusammen, warf Abfall in die Mülleimer, während mehrere Beamte der Tagschicht darauf warteten, dass ihre Schreibtische frei wurden. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, hatte Jacobi noch in dem drei mal drei Meter großen Glaskasten mit Blick auf den James Lick Freeway gesessen, den wir augenzwinkernd das Eckbüro nannten.
Mittlerweile war Jacobi jedoch die Karriereleiter hinaufgehievt und zum Polizeichef befördert worden, während der Neue, Jackson Brady, den Stuhl des Lieutenants erobert hatte.
Mit Brady verband mich eine kurze gemeinsame Geschichte. Erst vor einem Monat war er aus Miami hierher nach San Francisco versetzt worden. In seinen ersten Dienstwochen als Springer hatte er sich geradezu heroisch verdient gemacht. Ich hatte mit ihm zusammen in einem aufsehenerregenden Fall einen Mann zur Strecke gebracht, der mehrere Mütter und ihre Kinder kaltblütig ermordet hatte. Dadurch war er ein ernsthafter Kandidat für Jacobis Nachfolge geworden.
Mir hatten sie den Job auch angeboten - recht herzlichen Dank auch. Und ich hatte abgelehnt. Ich habe schon früher einmal ein paar Jahre lang im Eckbüro zugebracht, aber irgendwann hatte ich die Nase voll von dem ganzen Verwaltungskram: Etats, Gehälter, Sitzungen mit allen und jedem und dazu jede Menge bürokratischer Blödsinn.
Von mir aus konnte Brady den Job gerne haben. Blieb nur zu hoffen, dass er mich auch meinen machen ließ. Ich sah ihn hinter der Glaswand sitzen. Er hatte die hellblonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und über dem gestärkten blauen Baumwollhemd, das sich um seinen mächtigen Brustkorb spannte, trug er ein Schulterhalfter.
Er hob den Kopf und winkte mich in sein Büro. Als ich eintrat, legte er den Telefonhörer auf die Gabel. Er reichte mir über meinen ehemaligen Schreibtisch hinweg die Hand und gratulierte mir.
»Wie soll ich Sie ansprechen? Mit Boxer oder Molinari?«, wollte er wissen.
»Boxer.«
»Also gut, nehmen Sie Platz, Sergeant Boxer«, meinte er dann und bot mir den Stuhl vor seinem Schreibtisch an. »Vor zehn Minuten habe ich einen Anruf aus dem Dezernat für Kapitalverbrechen bekommen. Die sind knapp besetzt und haben uns um Unterstützung gebeten. Ich möchte, dass Sie sich zusammen mit Conklin darum kümmern.«
»Geht es um einen Mord?«, erkundigte ich mich.
»Schon möglich. Vielleicht auch nicht. Im Augenblick ist das ein offener Fall. Ihr offener Fall.«
Was sollte denn der Blödsinn?
Da ist man ein paar Wochen nicht da, und der einzige offene Fall war ein Überbleibsel aus einer anderen Abteilung? Oder wollte Brady mich auf die Probe stellen? Management im Alphatierchen-Stil?
»Conklin hat die Fallakte«, sagte Brady. »Halten Sie mich auf dem Laufenden. Und, Boxer, herzlich willkommen.«
Herzlich willkommen, ganz genau.
Als ich den Glaskasten verließ und mich auf die Suche nach meinem Partner machte, spürte ich alle Augen der Truppe auf mir ruhen.
3
Frau Dr. Ari Rifkin wirkte hoch engagiert und sehr beschäftigt, zumindest dem permanenten Sum
men ihres Piepsers nach zu urteilen. Trotzdem wollte sie es sich offensichtlich nicht nehmen lassen, mir und meinem Partner Richard Conklin alias Inspektor Hottie Auskunft zu geben. Conklin schrieb alles mit, was sie sagte.
»Sie heißt Avis Richardson und ist fünfzehn Jahre alt. Gestern Abend ist sie mit starken Blutungen in die Notaufnahme eingeliefert worden«, sagte die Ärztin und putzte mit dem Mantelsaum ihre weiß umrandete Brille.
»So wie es aussieht, hat sie vor maximal sechsunddreißig Stunden ein Kind entbunden. Anschließend ist sie gelaufen und gestürzt, was zu ernsthaften Komplikationen geführt hat - die Anstrengung war einfach zu groß, so kurz nach der Geburt.«
»Wie ist sie denn hierhergekommen?«, erkundigte sich Conklin.
»Ein Ehepaar... äh, hier stehen die Namen... John und Sarah McCann... hat sie auf der Straße gefunden. Sie dachten zuerst, das Mädchen sei angefahren worden. Gegenüber der Polizei haben sie ausgesagt, dass sie sie vorher noch nie gesehen haben.«
»War Avis bei Bewusstsein, als sie eingeliefert worden ist?«, fragte ich Dr. Rifkin.
»Sie stand unter Schock. War immer wieder bei Bewusstsein und dann wieder nicht - eigentlich überwiegend nicht. Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel und eine Bluttransfusion verabreicht und ihre Gebärmutter ausgeschabt. Im Augenblick liegt sie auf der Intensivstation. Ihr Zustand ist aber mittlerweile stabil.«
»Wann können wir mit ihr reden?«, wollte Conklin wissen.
»Einen Augenblick bitte«, erwiderte die Ärztin.
Sie schlüpfte hinter den Vorhang des Patientenabteils. Ich konnte erkennen, dass das Mädchen jung und weiß war, mit glatten braunen Haaren. In ihrem Arm steckte eine Infusionsnadel, und ein blinkender Monitor neben dem Bett zeigte ihre Vitalwerte an.
Dr. Rifkin wechselte ein paar Worte mit ihrer Patientin, dann kam sie wieder heraus. »Sie sagt, dass sie ihr Baby verloren hat. Aber bei ihrem Zustand lässt sich nicht sagen, ob das bedeutet, dass das Baby tot ist, oder ob sie nur vergessen hat, wo es ist.«
»Hat sie eine Handtasche dabeigehabt?«, wollte ich wissen. »Irgendeinen Ausweis?«
»Bis auf einen dünnen Plastik-Poncho, wie man sie in jedem Ramschladen bekommt, hatte sie nichts am Leib.«
»Den Poncho brauchen wir«, sagte ich. »Und eine Aussage von ihr.«
»Versuchen Sie Ihr Glück, Sergeant«, antwortete Dr. Rifkin.
Avis Richardson wirkte viel zu jung, um Mutter zu sein. Außerdem sah sie aus, als sei sie hinter einem Lastwagen hergeschleift worden. Sie hatte Prellungen und Kratzer an den Armen, auf der Wange, an den Händen und am Kinn.
Ich zog einen Stuhl heran und berührte sie am Arm.
»Hallo, Avis«, sagte ich. »Ich heiße Lindsay Boxer. Ich bin von der Polizei. Kannst du mich hören?«
»Mm-hmm«, sagte sie. Sie öffnete ihre grünen Augen einen Spalt weit und klappte sie wieder zu.
Ich flehte sie im Flüsterton an, bitte wach zu bleiben. Ich musste erfahren, was ihr zugestoßen war. Brady hatte uns diesen Fall übergeben und hatte uns damit gleichzeitig auch den Auftrag gegeben, das Baby zu finden.
Avis schlug die Augen wieder auf, und ich stellte ihr ein Dutzend Standardfragen: Wo wohnst du? Wie lautet deine Telefonnummer? Wie heißen deine Eltern? Aber ich hätte genau so gut mit einer Schaufensterpuppe reden können. Avis Richardson nickte immer wieder ein, und ich bekam keine einzige Antwort. Als eine halbe Stunde verstrichen war, stand ich auf und überließ Conklin meinen Platz.
Wer behauptet, dass mein Partner mit Frauen umgehen kann, hebt viel zu sehr auf seinen Charme und sein gutes Aussehen ab und spielt damit seine echte Gabe, Menschen dazu zu bringen, ihm zu vertrauen, herunter.
Ich sagte: »Rich, du bist am Zug. Leg los.«
Er nickte, setzte sich und sagte mit seiner tiefen, ruhigen Stimme: »Ich heiße Rich Conklin. Ich bin ein Kollege von Sergeant Boxer. Wir müssen unbedingt dein Baby finden, Avis. Jede Minute, die wir verstreichen lassen, vergrößert die Gefahr, in der sich das Kleine womöglich befindet. Bitte, sprich mit mir. Wir brauchen wirklich deine Hilfe.«
Der Blick des Mädchens wurde unruhig. Sie schaute abwechselnd zu Conklin, zu mir, zur Tür, zu der Infusionsnadel in ihrem Arm. Dann sagte sie: »Vor ein paar Monaten... hab ich die Nummer angerufen. Hilfe für schwangere Mädchen? Ein Mann... Er hatte einen Akzent. Einen französischen Akzent. Aber... er war nicht echt. Ich habe sie getroffen... vor meiner Schule...«
»Sie?«
»Zwei Männer. Mit einem blauen Auto. Viertürig? Und als ich aufgewacht bin, lag ich in einem Bett. Das Baby war da«, sagte sie, und ihre Augen wurden feucht, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Es war ein kleiner Junge.«
Und das brach mir das Herz.
Mit welchem Verbrechen hatten wir es hier zu tun? Babyschmuggel? Das war unglaublich. Eine Sünde. Oder besser: viele Sünden. Ich hatte in Gedanken bereits zwei schwere Fälle von Kindesentführung aufgelistet, noch bevor wir das Schicksal des Babys kannten.
Conklin sagte: »Ich möchte gern, dass du mir die ganze Geschichte erzählst, von Anfang an. Erzähl mir alles, was du noch weißt, okay, Avis?«
Gut möglich, dass Avis Richardson mit sich selbst sprach. Sie sagte: »Ich habe mein Baby gesehen... Und dann war ich auf der Straße. Alleine. Es war dunkel.«
4
Die folgenden acht Stunden verbrachte ich neben Avis Richardsons Bett, immer in der Hoffnung,
dass sie richtig wach werden und mir erzählen würde, was ihr und ihrem Neugeborenen zugestoßen war. Die Zeit verging. Ihr Schlaf wurde immer tiefer. Und mit jeder Minute, die verstrich, wurde ich sicherer, dass wir das Baby dieses Mädchens nicht lebend wiederfinden würden.
Ich hatte nach wie vor keine Ahnung, was eigentlich geschehen war. Hatte sie das Baby alleine zur Welt gebracht und es auf irgendeiner Raststättentoilette zurückgelassen? War ihr Kind entführt worden?
Wir konnten nicht einmal das FBI einschalten, solange wir nicht wussten, ob überhaupt ein Verbrechen vorlag.
Während ich an Avis' Bett saß, fuhr Conklin zurück ins Büro und machte sich an den praktischen Teil der Ermittlungen. Er durchsuchte die verschiedenen Vermissten-Datenbanken nach Avis Richardson beziehungsweise nach weißen jungen Mädchen, deren Beschreibung auf Avis passte.
Er befragte das Ehepaar, das Avis ins Krankenhaus gebracht hatte, und ermittelte zumindest ungefähr die Stelle, an der sie sie gefunden hatten: am Lake Merced, unweit des Brotherhood Way.
Zusammen mit einer Hundestaffel durchkämmte er das Gelände. Sie suchten nach der Blutspur, die Avis Richardson hinterlassen haben musste. Wenn sie das Haus fanden, in dem die Geburt stattgefunden hatte, dann würden sie dort auch weitere Indizien finden, vielleicht sogar die Wahrheit.
Während die Hunde also den Duftspuren folgten, analysierte das Labor den Plastikumhang, den Avis getragen hatte. Dass darauf Fingerabdrücke zu finden sein würden, stand außer Frage. Allein im Krankenhaus hatten ein Dutzend Menschen den Poncho angefasst. Aber warum hatte sie zwar einen Regenumhang, aber keinerlei Kleidung getragen? Dafür gab es keine Erklärung.
Noch so ein Mysterium.
Also wachte ich über eine schlafende Avis. Je länger ich saß, desto deprimierter wurde ich. Wo waren ihre besorgten Freunde, ihre Eltern? Warum suchte niemand nach diesem jungen Mädchen?
Ihre Augenlider zuckten.
»Avis?«, sagte ich.
»Hmm«, kam als Antwort. Dann machte sie die Augen wieder zu.
Gegen vier Uhr nachmittags gestattete ich mir eine kleine Pause, steckte ein paar Dollarscheine in einen Automaten und aß etwas, das Erdnussbutter und Haferflocken enthielt. Spülte es mit einem Becher bitterem Kaffee hinunter.
Ich rief ein Dutzend Krankenhäuser an und erkundigte mich, ob dort ein elternloses Baby eingeliefert worden war. Außerdem setzte ich mich mit dem Child Protective Service, der staatlichen Kinderschutzbehörde, in Verbindung. Aber außer einem großen Berg an Frustration kam dabei nichts heraus.
Ich borgte mir Dr. Rifkins Laptop und loggte mich in die FBI- Datenbank VICAP ein, das sogenannte Violent Crime Apprehension Program. Hier werden zahlreiche Daten über alle bekannten Gewaltverbrechen in den USA gesammelt. Ich wollte wissen, was dort über entführte Schwangere zu finden war.
Zwar entdeckte ich ein paar Fälle, in denen schwangere Frauen Opfer eines Verbrechens geworden waren, aber in der Regel handelte es sich dabei um innerfamiliäre Gewalttaten. Jedenfalls war nichts dabei, was diesem Fall hier ähnelte.
Nach meinem fruchtlosen Ausflug ins Internet ging ich zurück auf die Intensivstation, ließ mich in den großen Liegesessel mit den Vinylpolstern neben Avis' Bett sinken und schlief ein. Ich wachte erst wieder auf, als sie in ein Einzelzimmer verlegt wurde.
Dann rief ich Brady an, um ihm zu sagen, dass wir noch keinen Schritt weiter waren. Sogar in meinen eigenen Ohren klang es wie eine Rechtfertigung.
»Irgendwas über das Baby?«
»Brady, das Mädchen gibt keinen Mucks von sich.«
Kaum hatte ich aufgelegt, rief Conklin an.
»Was gibt's?«
»Die Hunde haben eine Fährte aufgenommen.«
Sofort spürte ich so etwas wie Hoffnung aufkeimen. Ich packte mein kleines Handy so fest, dass ich es beinahe zerquetscht hätte.
»Sie hat ungefähr eineinhalb Kilometer zu Fuß zurückgelegt. Dabei hat sie die ganze Zeit geblutet«, sagte Conklin. »Sie ist im Kreis gelaufen, an der äußersten südlichen Spitze des Lake Merced.«
»Das klingt ja fast so, als hätte sie Hilfe gesucht. Voller Verzweiflung. «
»Die Hunde sind immer noch dran, Lindsay, aber wir haben das Suchgebiet erweitert. Sie durchkämmen jetzt systematisch den Golfplatz. Als Nächstes kommt der Schützenverein dran. Das kann noch Jahre dauern.«
»Ich habe bei den Vermisstenmeldungen nachgesehen, aber nichts gefunden.«
»Ich auch nicht. Ich sitze jetzt im Auto und rufe alle Leute in San Francisco mit Nachnamen Richardson an. Das Verzeichnis hat über vierhundert Einträge.«
© der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Limes Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Claire, meine allerbeste Busenfreundin, setzte sich auf, schwang die Beine über die Bettkante und stellte ihre nackten Füße auf den Boden. Sie ist dick, schwarz und witzig - zum Brüllen komisch. Wenn sie nicht Gerichtsmedizinerin wäre, sie könnte ohne Weiteres als Stand-up-Comedian auftreten.
»Dann übergebe ich dich eben deinem Ehemann«, sagte sie. »Aber danach will ich dich wieder zurück.«
Cindy und ich brachen in schallendes Gelächter aus. Da meldete sich Yuki zu Wort. »Ich weiß genau, wer das übernehmen kann. Marty ist so ein Idiot!« Sie streifte das pinkfarbene Seidenkleid über ihren unfassbar zierlichen Körper und zog den Reißverschluss zu. Dann sagte sie: »Bin gleich wieder da.«
Dinge zu erledigen war Yukis Spezialität. Wenn sie einmal Fahrt aufgenommen hatte, durfte man ihr auf keinen Fall in die Quere kommen. Selbst dann nicht, wenn es eindeutig in die falsche Richtung ging.
»Yuki, warte«, rief ich ihr nach, als sie schon zur Tür hinausrauschte. Ich drehte mich zu Claire um und sah, dass sie etwas in die Höhe hielt. Früher hätte man Mieder dazu gesagt. Es war mit Stäbchen verstärkt und sah ziemlich furchterregend aus.
»Ich habe ja nichts dagegen, in einem Kleid herumzulaufen, in dem ich wie ein Napfkuchen aussehe, aber wie zum Teufel soll ich da reinkommen?«
»Ich liebe mein Kleid«, sagte Cindy und strich zärtlich über das pfirsichfarbene, seiden schillernde Organza-Gewebe. Vermutlich war sie die erste Brautjungfer weltweit, von der man je eine solche Äußerung zu hören bekommen hatte, aber Cindy war zurzeit schwer verliebt. Sie wandte mir ihr hübsches Gesicht zu und sagte träumerisch: »Du solltest dich langsam mal fertig machen.«
Zwei Meter cremefarbener Satin glitten aus der Kleider- hülle. Ich schlängelte mich in das trägerlose Vera-Wang-Hochzeitskleid und stellte mich zusammen mit meiner Schwester vor den bodenlangen, frei stehenden Spiegel - zwei groß gewachsene, braunäugige Blondinen, die ihrem Dad sehr ähnelten.
»Grace Kelly hat nie so gut ausgesehen«, sagte Cat, und die Tränen schossen ihr in die Augen.
»Dreh mal den Kopf nach vorn, Schönheit«, sagte Cindy.
Sie legte mir ihre Perlenkette um den Hals.
Ich vollführte eine kleine Pirouette, und Claire nahm mich bei der Hand und ließ mich unter ihrem Arm hindurchdrehen. Sie sagte: »Ist es denn zu glauben, Linds? Ich werde tatsächlich auf deiner Hochzeit tanzen.«
Sie sagte nicht »endlich«, aber sie dachte es, und das war auch richtig so. Schließlich hatte sie alles hautnah miterlebt: meine Fernbeziehungs-Achterbahn mit Joe, die mit seinem Umzug nach San Francisco geendet hatte, weil er ganz in meiner Nähe sein wollte, den Brand meiner Wohnung, diverse Nahtod-Erfahrungen sowie den enormen Verlobungsring, den ich fast ein Jahr lang in einer Schublade versteckt hatte.
»Danke, dass du nie den Glauben verloren hast«, sagte ich.
»Glauben ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck«, erwiderte sie trocken. »Ich hätte ehrlich nicht gedacht, dass ich mal ein Wunder miterleben würde, und erst recht nicht, dass ich dabei mitmachen darf.«
Ich verpasste ihr spielerisch einen Haken auf den Oberarm.
Sie duckte sich weg und fintierte. Die Tür ging auf, und Yuki kam herein, in der Hand meinen Brautstrauß: ein üppiges Bouquet aus Pfingstrosen und Rosen, das von himmelblauen Girlanden zusammengehalten wurde.
»Das Taschentuch hier hat meiner Großmutter gehört«, sagte Cindy und steckte mir ein kleines Spitzentuch ins Dekolleté. Dann zählte sie an den Fingern ab: »Etwas Altes, etwas Neues, etwas Geborgtes und etwas Blaues. Alles da.«
»Ich habe die Musik angestellt, Linds«, sagte Yuki. »Es ist so weit.«
Mein Gott.
Joe und ich würden wirklich und wahrhaftig heiraten.
2
Jacobi erwartete mich in der Hotellobby. Er streckte mir den Ellbogen entgegen und lachte schallend los. Yuki hatte recht gehabt. Jacobi war der perfekte Ersatzvater. Ich hakte mich bei ihm unter, und er küsste mich auf die Wange.
Eine Premiere.
»Du siehst wunderschön aus, Boxer. Du weißt schon, noch schöner als sonst.«
Noch eine Premiere.
Jacobi und ich hatten so viele Stunden zusammen im Streifenwagen verbracht, dass wir beinahe die Gedanken des anderen lesen konnten. Aber um die tiefe Zuneigung in seinem Blick zu erkennen, brauchte ich keine Hellseherin zu sein.
Ich grinste. »Danke, Jacobi. Vielen Dank.«
Dann drückte ich seinen Oberarm, und wir schritten über eine riesige Marmorfläche und durch hohe Glastüren meiner Zukunft entgegen.
Jacobi hinkte und litt unter ständiger Atemnot, beides Andenken an eine Schießerei im Tenderloin District vor etlichen Jahren. Damals hatte ich gedacht, dass unser letztes Stündlein geschlagen hatte. Aber das war damals.
Jetzt umhüllte mich warme, salzige Luft. Herrliche Wiesen umgaben den leuchtend weißen Pavillon und erstreckten sich bis hinunter zur Steilküste. Die Pazifikwellen schlugen donnernd gegen die Klippen, und die untergehende Sonne tauchte die Wolken in einen gold-rosafarbenen Schimmer, den kein Regisseur der Welt auf Zelluloid hätte bannen können. Noch nie hatte ich einen schöneren Ort gesehen.
»Ganz locker bleiben«, sagte Jacobi. »Nicht, dass du jetzt anfängst zu rennen. Immer schön im Takt, Schritt für Schritt.«
»Wenn es sein muss«, erwiderte ich und lachte.
Die Stühle zu beiden Seiten des Mittelgangs waren zum Pavillon hin ausgerichtet. Gelbes Absperrband sorgte dafür, dass der Weg frei blieb. POLIZEILICHE ERMITTLUNGEN. BETRETEN VERBOTEN.
Das Absperrband musste Conklins Idee gewesen sein. Ich fing einen Blick von ihm auf, dazu ein breites Grinsen und zwei nach oben gereckte Daumen, und war mir ganz sicher. Als der Hochzeitsmarsch einsetzte, hüpften Cats kleine Töchter den Mittelgang entlang und streuten Rosenblätter auf den Rasen. Meine besten Freundinnen nahmen rechtzeitig ihre Positionen ein, und ich ging hinter ihnen her.
Lächelnde Gesichter wandten sich mir zu. Charlie Clapper saß auf der linken Seite ganz am Rand, zusammen mit vielen anderen Kollegen sowie neuen und alten Freunden. Zu meiner Rechten saßen fünf von Joes Brüdern, äußerlich kaum zu unterscheiden, mit ihren Familien. Joes Eltern in der ersten Reihe hatten sich umgedreht und strahlten mich an.
Jacobi führte mich die Stufen des Pavillons hinauf bis zum Altar. Dann ließ er meinen Arm los, und ich betrachtete meinen wundervollen, attraktiven, zukünftigen Ehemann. Unsere Blicke trafen sich, und ich wusste ohne jeden Zweifel, dass die Achterbahnfahrt sich gelohnt hatte. Ich kannte diesen Mann so gut. Unsere lang und oft geprüfte Liebe war groß und tief und fest.
Reverend Lynn Boyer, eine langjährige Freundin der Familie, legte unsere Hände zusammen, sodass Joes Hand auf meiner lag, und flüsterte so laut, dass jeder es hören konnte: »Genieße diesen Moment, Joseph. Das ist das letzte Mal, dass du die Oberhand hast.«
Fröhliches Lachen erklang und verstummte wieder. Unter den Schreien der Möwen versprachen Joe und ich uns gegenseitig, dass wir uns lieben und ehren und achten würden, an guten wie an schlechten Tagen, in Krankheit und Gesundheit, bis dass der Tod uns scheidet.
Willst du diesen Mann zu deinem Ehemann nehmen?
Ja, ich will. Ich will es unbedingt.
Ein paar nervöse Lacher waren zu hören, als Joes Ehering mir aus der Hand fiel. Wir bückten uns und griffen gleichzeitig danach, hielten ihn gemeinsam fest.
»Ganz ruhig, Blondie«, sagte Joe. »Von jetzt an kann es nur noch besser werden.«
Ich lachte, und nachdem wir uns wieder aufgerichtet hatten, steckte ich den goldenen Ring auf Joes Finger. Reverend Boyer sagte zu Joe, dass er die Braut jetzt küssen könne, und mein Ehemann legte seine Hände auf meine Wangen.
Wir küssten uns und dann gleich noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal.
Tosender Applaus brandete auf, und donnernde Musik setzte ein.
Es war wirklich wahr. Ich war jetzt Mrs Joseph Molinari. Joe nahm mich an der Hand, und dann schritten wir grinsend wie kleine Kinder in einem Regen aus Rosenblättern den Mittelgang entlang.
Erstes Buch
Kleiner Junge vermisst
1
Mit nichts als einem neongrünen Plastikumhang bekleidet stolperte das Mädchen eine dunkle Straße entlang. Sie hatte Todesangst und
grässliche Schmerzen, Krämpfe, die wie ständig wiederkehrende Schläge auf ihre Eingeweide einprasselten und immer schlimmer wurden. Sie verlor Blut, schon seit einer ganzen Weile, ein unablässiges, warmes Rinnsal, das ihr die Beine hinunterlief.
Was hatte sie getan?
Immer wieder bekam sie zu hören, dass sie ein kluges Kind war, aber - und das war eine Tatsache - sie hatte einen furchtbaren Fehler begangen, und wenn sie nicht bald Hilfe bekam, würde sie sterben.
Aber wo war sie?
Sie hatte das Gefühl, als würde sie immer nur im Kreis gehen. Tagsüber ging es in dem Gebiet rund um den Lake Merced sehr lebhaft zu - Jogger, Radfahrer und zahlreiche Autos bevölkerten die Straße rund um den See. Aber bei Nacht war hier niemand mehr. Die Dunkelheit war schon schlimm genug, und jetzt zog auch noch Nebel auf. Sie konnte nur wenige Meter weit sehen.
Und sie hatte große Angst.
Hier in der Gegend waren schon etliche Menschen spurlos verschwunden. Es waren sogar Morde geschehen. Ziemlich viele.
Ihre Füße waren schwer wie Blei. Sie konnte sie kaum mehr heben, und dann spürte sie, wie sie langsam das Bewusstsein verlor, wie sie einfach ihren Körper verließ. Sie streckte die Arme aus, um sich abzustützen, und erwischte einen Baumstamm. Sie packte ihn mit beiden Händen und hielt sich an der rauen Rinde fest, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. So stand sie in der schwarzen, mondlosen Nacht.
Oh mein Gott! Wo bin ich denn hier?
Zwei Autos waren bereits an ihr vorbeigefahren. Sie überlegte ernsthaft, ihren Plan fallen zu lassen und in das Haus zurückzukehren, anstatt zu versuchen, ein Auto anzuhalten. Die anderen waren jetzt weg. Sie konnte sich schlafen legen. Vielleicht würden die Blutungen ja aufhören, sobald sie sich hingelegt hatte. Aber sie hatte sich verlaufen. Sie wusste überhaupt nicht, in welche Richtung sie sich wenden sollte.
Das Mädchen stolperte vorwärts, auf der Suche nach Licht, nach irgendeinem Licht.
Das Blut lief immer schneller aus ihrem Körper, tropfte ihre Beine entlang, und ihr war so schwindelig, dass sie sich kaum mehr aufrecht halten konnte.
Trotzdem zwang sie sich, weiterzugehen, bis sie mit der Fußspitze an etwas Hartes, Unnachgiebiges stieß, eine Wurzel oder einen Stein vielleicht, und nach vorn kippte. Sie streckte die Hände aus.
Mit dem Kinn, den Knien und den Handflächen fing sie den Großteil des Sturzes ab, blieb unverletzt. Keuchend vor Schmerz rappelte sie sich erneut auf.
Hoch oben erkannte sie die Gipfel der Eukalyptusbäume und Kiefern, die den Straßenrand säumten. Grashalme streiften ihre Arme und Beine, während sie vorwärtsstolperte.
Sie malte sich aus, was wäre, wenn ein Auto anhalten oder ein Haus in Sicht kommen würde. Wie sie die Geschichte erzählen würde. Ob sie überhaupt noch Gelegenheit dazu bekäme? Bitte. Sie durfte jetzt nicht sterben. Sie war doch erst fünfzehn.
In der Ferne bellte ein Hund. Das Mädchen änderte die Richtung, ging auf das Geräusch zu. Wo ein Hund war, da war auch ein Haus, ein Telefon, ein Auto, ein Krankenhaus.
Sie dachte an ihr Zimmer und wie sicher sie sich dort fühlte. Sie sah ihr Bett vor sich, ihren Schreibtisch, die Bilder an den Wänden und ihr Handy - oh Mann, wenn sie doch bloß ihr Handy bei sich hätte - und blieb im selben Augenblick mit dem Fuß irgendwo hängen, verdrehte sich den Knöchel und schlug erneut der Länge nach zu Boden. Der Aufprall war hart und kostete sie eine Menge Haut.
Das war zu viel. Zu viel.
Dieses Mal blieb sie liegen. Alles tat ihr weh, so schrecklich weh. Sie legte die Arme zusammen und bettete den Kopf darauf. Vielleicht, wenn sie ein kleines Nickerchen machte. Ja, genau, vielleicht brauchte sie ja einfach nur ein bisschen Schlaf und dann, am Morgen... wenn die Sonne aufging...
Es dauerte einen langen Augenblick, bis sie begriff, dass das gedämpfte Licht, das da im Nebel immer größer wurde, ein Scheinwerferpaar war, das direkt auf sie zuhielt.
Sie hob den Arm. Reifen quietschten.
Eine Frauenstimme ertönte: »O Gott! Sind Sie verletzt?«
»Helfen Sie mir«, sagte sie. »Ich brauche Hilfe.«
»Wach bleiben«, sagte die Frau. »Nicht einschlafen, junge Dame. Ich rufe Hilfe. Sieh mich an. Lass die Augen offen.«
»Ich habe mein Baby verloren«, sagte das Mädchen.
Und dann spürte sie gar keine Schmerzen mehr.
2
Der Regen prasselte auf das Dach und rann in Strömen über die Windschutzscheibe meines betagten Ford Explorer, während ich auf den Parkplatz des Gerichtsmedizinischen Instituts in der Harriet Street, gleich hinter der Hall of Justice, fuhr. Die Flitterwochen waren vorbei, und ich kehrte wieder an meinen Arbeitsplatz zurück. Ich war ziemlich aufgeregt. In wenigen Minuten musste ich mich über die laufenden Ermittlungen informieren, und dann war da noch etwas, womit ich zurechtkommen musste. Ich würde einen neuen Vorgesetzten haben. Ich war darauf vorbereitet - so gut es eben ging. Ich schlug den Kragen meines ziemlich abgetragenen blauen Blazers hoch und rannte im strömenden Regen zum Hintereingang der Hall of Justice, jenem grauen Granitgebäude, in dem die Justizbehörde, der Strafgerichtshof, zwei Gefängnisse sowie die Wache Süd des San Francisco Police Department untergebracht waren. An der Tür zeigte ich Kevin meine Dienstmarke und lief die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Dort betrat ich die Räume der Mordkommission und gelangte schließlich durch die Klapptür mit den Doppelscharnieren in den Bereitschaftsraum. Es herrschte das reinste Chaos. Ich begrüßte Brenda, die sofort aufsprang, mich umarmte und mir ein Papierhandtuch in die Hand drückte. »Ich wünsche dir alles Glück dieser Erde«, sagte sie. Ich bedankte mich, versprach ihr ein paar Hochzeitsfotos und wischte mir das Gesicht und die Haare trocken. Dann sah ich mich um. Ich wollte wissen, wer an diesem Morgen um
7.45 Uhr bei der Arbeit war. Es war ein einziges, unüberschaubares Gewusel. Die Nachtschicht packte gerade ihre Sachen zusammen, warf Abfall in die Mülleimer, während mehrere Beamte der Tagschicht darauf warteten, dass ihre Schreibtische frei wurden. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, hatte Jacobi noch in dem drei mal drei Meter großen Glaskasten mit Blick auf den James Lick Freeway gesessen, den wir augenzwinkernd das Eckbüro nannten.
Mittlerweile war Jacobi jedoch die Karriereleiter hinaufgehievt und zum Polizeichef befördert worden, während der Neue, Jackson Brady, den Stuhl des Lieutenants erobert hatte.
Mit Brady verband mich eine kurze gemeinsame Geschichte. Erst vor einem Monat war er aus Miami hierher nach San Francisco versetzt worden. In seinen ersten Dienstwochen als Springer hatte er sich geradezu heroisch verdient gemacht. Ich hatte mit ihm zusammen in einem aufsehenerregenden Fall einen Mann zur Strecke gebracht, der mehrere Mütter und ihre Kinder kaltblütig ermordet hatte. Dadurch war er ein ernsthafter Kandidat für Jacobis Nachfolge geworden.
Mir hatten sie den Job auch angeboten - recht herzlichen Dank auch. Und ich hatte abgelehnt. Ich habe schon früher einmal ein paar Jahre lang im Eckbüro zugebracht, aber irgendwann hatte ich die Nase voll von dem ganzen Verwaltungskram: Etats, Gehälter, Sitzungen mit allen und jedem und dazu jede Menge bürokratischer Blödsinn.
Von mir aus konnte Brady den Job gerne haben. Blieb nur zu hoffen, dass er mich auch meinen machen ließ. Ich sah ihn hinter der Glaswand sitzen. Er hatte die hellblonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und über dem gestärkten blauen Baumwollhemd, das sich um seinen mächtigen Brustkorb spannte, trug er ein Schulterhalfter.
Er hob den Kopf und winkte mich in sein Büro. Als ich eintrat, legte er den Telefonhörer auf die Gabel. Er reichte mir über meinen ehemaligen Schreibtisch hinweg die Hand und gratulierte mir.
»Wie soll ich Sie ansprechen? Mit Boxer oder Molinari?«, wollte er wissen.
»Boxer.«
»Also gut, nehmen Sie Platz, Sergeant Boxer«, meinte er dann und bot mir den Stuhl vor seinem Schreibtisch an. »Vor zehn Minuten habe ich einen Anruf aus dem Dezernat für Kapitalverbrechen bekommen. Die sind knapp besetzt und haben uns um Unterstützung gebeten. Ich möchte, dass Sie sich zusammen mit Conklin darum kümmern.«
»Geht es um einen Mord?«, erkundigte ich mich.
»Schon möglich. Vielleicht auch nicht. Im Augenblick ist das ein offener Fall. Ihr offener Fall.«
Was sollte denn der Blödsinn?
Da ist man ein paar Wochen nicht da, und der einzige offene Fall war ein Überbleibsel aus einer anderen Abteilung? Oder wollte Brady mich auf die Probe stellen? Management im Alphatierchen-Stil?
»Conklin hat die Fallakte«, sagte Brady. »Halten Sie mich auf dem Laufenden. Und, Boxer, herzlich willkommen.«
Herzlich willkommen, ganz genau.
Als ich den Glaskasten verließ und mich auf die Suche nach meinem Partner machte, spürte ich alle Augen der Truppe auf mir ruhen.
3
Frau Dr. Ari Rifkin wirkte hoch engagiert und sehr beschäftigt, zumindest dem permanenten Sum
men ihres Piepsers nach zu urteilen. Trotzdem wollte sie es sich offensichtlich nicht nehmen lassen, mir und meinem Partner Richard Conklin alias Inspektor Hottie Auskunft zu geben. Conklin schrieb alles mit, was sie sagte.
»Sie heißt Avis Richardson und ist fünfzehn Jahre alt. Gestern Abend ist sie mit starken Blutungen in die Notaufnahme eingeliefert worden«, sagte die Ärztin und putzte mit dem Mantelsaum ihre weiß umrandete Brille.
»So wie es aussieht, hat sie vor maximal sechsunddreißig Stunden ein Kind entbunden. Anschließend ist sie gelaufen und gestürzt, was zu ernsthaften Komplikationen geführt hat - die Anstrengung war einfach zu groß, so kurz nach der Geburt.«
»Wie ist sie denn hierhergekommen?«, erkundigte sich Conklin.
»Ein Ehepaar... äh, hier stehen die Namen... John und Sarah McCann... hat sie auf der Straße gefunden. Sie dachten zuerst, das Mädchen sei angefahren worden. Gegenüber der Polizei haben sie ausgesagt, dass sie sie vorher noch nie gesehen haben.«
»War Avis bei Bewusstsein, als sie eingeliefert worden ist?«, fragte ich Dr. Rifkin.
»Sie stand unter Schock. War immer wieder bei Bewusstsein und dann wieder nicht - eigentlich überwiegend nicht. Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel und eine Bluttransfusion verabreicht und ihre Gebärmutter ausgeschabt. Im Augenblick liegt sie auf der Intensivstation. Ihr Zustand ist aber mittlerweile stabil.«
»Wann können wir mit ihr reden?«, wollte Conklin wissen.
»Einen Augenblick bitte«, erwiderte die Ärztin.
Sie schlüpfte hinter den Vorhang des Patientenabteils. Ich konnte erkennen, dass das Mädchen jung und weiß war, mit glatten braunen Haaren. In ihrem Arm steckte eine Infusionsnadel, und ein blinkender Monitor neben dem Bett zeigte ihre Vitalwerte an.
Dr. Rifkin wechselte ein paar Worte mit ihrer Patientin, dann kam sie wieder heraus. »Sie sagt, dass sie ihr Baby verloren hat. Aber bei ihrem Zustand lässt sich nicht sagen, ob das bedeutet, dass das Baby tot ist, oder ob sie nur vergessen hat, wo es ist.«
»Hat sie eine Handtasche dabeigehabt?«, wollte ich wissen. »Irgendeinen Ausweis?«
»Bis auf einen dünnen Plastik-Poncho, wie man sie in jedem Ramschladen bekommt, hatte sie nichts am Leib.«
»Den Poncho brauchen wir«, sagte ich. »Und eine Aussage von ihr.«
»Versuchen Sie Ihr Glück, Sergeant«, antwortete Dr. Rifkin.
Avis Richardson wirkte viel zu jung, um Mutter zu sein. Außerdem sah sie aus, als sei sie hinter einem Lastwagen hergeschleift worden. Sie hatte Prellungen und Kratzer an den Armen, auf der Wange, an den Händen und am Kinn.
Ich zog einen Stuhl heran und berührte sie am Arm.
»Hallo, Avis«, sagte ich. »Ich heiße Lindsay Boxer. Ich bin von der Polizei. Kannst du mich hören?«
»Mm-hmm«, sagte sie. Sie öffnete ihre grünen Augen einen Spalt weit und klappte sie wieder zu.
Ich flehte sie im Flüsterton an, bitte wach zu bleiben. Ich musste erfahren, was ihr zugestoßen war. Brady hatte uns diesen Fall übergeben und hatte uns damit gleichzeitig auch den Auftrag gegeben, das Baby zu finden.
Avis schlug die Augen wieder auf, und ich stellte ihr ein Dutzend Standardfragen: Wo wohnst du? Wie lautet deine Telefonnummer? Wie heißen deine Eltern? Aber ich hätte genau so gut mit einer Schaufensterpuppe reden können. Avis Richardson nickte immer wieder ein, und ich bekam keine einzige Antwort. Als eine halbe Stunde verstrichen war, stand ich auf und überließ Conklin meinen Platz.
Wer behauptet, dass mein Partner mit Frauen umgehen kann, hebt viel zu sehr auf seinen Charme und sein gutes Aussehen ab und spielt damit seine echte Gabe, Menschen dazu zu bringen, ihm zu vertrauen, herunter.
Ich sagte: »Rich, du bist am Zug. Leg los.«
Er nickte, setzte sich und sagte mit seiner tiefen, ruhigen Stimme: »Ich heiße Rich Conklin. Ich bin ein Kollege von Sergeant Boxer. Wir müssen unbedingt dein Baby finden, Avis. Jede Minute, die wir verstreichen lassen, vergrößert die Gefahr, in der sich das Kleine womöglich befindet. Bitte, sprich mit mir. Wir brauchen wirklich deine Hilfe.«
Der Blick des Mädchens wurde unruhig. Sie schaute abwechselnd zu Conklin, zu mir, zur Tür, zu der Infusionsnadel in ihrem Arm. Dann sagte sie: »Vor ein paar Monaten... hab ich die Nummer angerufen. Hilfe für schwangere Mädchen? Ein Mann... Er hatte einen Akzent. Einen französischen Akzent. Aber... er war nicht echt. Ich habe sie getroffen... vor meiner Schule...«
»Sie?«
»Zwei Männer. Mit einem blauen Auto. Viertürig? Und als ich aufgewacht bin, lag ich in einem Bett. Das Baby war da«, sagte sie, und ihre Augen wurden feucht, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Es war ein kleiner Junge.«
Und das brach mir das Herz.
Mit welchem Verbrechen hatten wir es hier zu tun? Babyschmuggel? Das war unglaublich. Eine Sünde. Oder besser: viele Sünden. Ich hatte in Gedanken bereits zwei schwere Fälle von Kindesentführung aufgelistet, noch bevor wir das Schicksal des Babys kannten.
Conklin sagte: »Ich möchte gern, dass du mir die ganze Geschichte erzählst, von Anfang an. Erzähl mir alles, was du noch weißt, okay, Avis?«
Gut möglich, dass Avis Richardson mit sich selbst sprach. Sie sagte: »Ich habe mein Baby gesehen... Und dann war ich auf der Straße. Alleine. Es war dunkel.«
4
Die folgenden acht Stunden verbrachte ich neben Avis Richardsons Bett, immer in der Hoffnung,
dass sie richtig wach werden und mir erzählen würde, was ihr und ihrem Neugeborenen zugestoßen war. Die Zeit verging. Ihr Schlaf wurde immer tiefer. Und mit jeder Minute, die verstrich, wurde ich sicherer, dass wir das Baby dieses Mädchens nicht lebend wiederfinden würden.
Ich hatte nach wie vor keine Ahnung, was eigentlich geschehen war. Hatte sie das Baby alleine zur Welt gebracht und es auf irgendeiner Raststättentoilette zurückgelassen? War ihr Kind entführt worden?
Wir konnten nicht einmal das FBI einschalten, solange wir nicht wussten, ob überhaupt ein Verbrechen vorlag.
Während ich an Avis' Bett saß, fuhr Conklin zurück ins Büro und machte sich an den praktischen Teil der Ermittlungen. Er durchsuchte die verschiedenen Vermissten-Datenbanken nach Avis Richardson beziehungsweise nach weißen jungen Mädchen, deren Beschreibung auf Avis passte.
Er befragte das Ehepaar, das Avis ins Krankenhaus gebracht hatte, und ermittelte zumindest ungefähr die Stelle, an der sie sie gefunden hatten: am Lake Merced, unweit des Brotherhood Way.
Zusammen mit einer Hundestaffel durchkämmte er das Gelände. Sie suchten nach der Blutspur, die Avis Richardson hinterlassen haben musste. Wenn sie das Haus fanden, in dem die Geburt stattgefunden hatte, dann würden sie dort auch weitere Indizien finden, vielleicht sogar die Wahrheit.
Während die Hunde also den Duftspuren folgten, analysierte das Labor den Plastikumhang, den Avis getragen hatte. Dass darauf Fingerabdrücke zu finden sein würden, stand außer Frage. Allein im Krankenhaus hatten ein Dutzend Menschen den Poncho angefasst. Aber warum hatte sie zwar einen Regenumhang, aber keinerlei Kleidung getragen? Dafür gab es keine Erklärung.
Noch so ein Mysterium.
Also wachte ich über eine schlafende Avis. Je länger ich saß, desto deprimierter wurde ich. Wo waren ihre besorgten Freunde, ihre Eltern? Warum suchte niemand nach diesem jungen Mädchen?
Ihre Augenlider zuckten.
»Avis?«, sagte ich.
»Hmm«, kam als Antwort. Dann machte sie die Augen wieder zu.
Gegen vier Uhr nachmittags gestattete ich mir eine kleine Pause, steckte ein paar Dollarscheine in einen Automaten und aß etwas, das Erdnussbutter und Haferflocken enthielt. Spülte es mit einem Becher bitterem Kaffee hinunter.
Ich rief ein Dutzend Krankenhäuser an und erkundigte mich, ob dort ein elternloses Baby eingeliefert worden war. Außerdem setzte ich mich mit dem Child Protective Service, der staatlichen Kinderschutzbehörde, in Verbindung. Aber außer einem großen Berg an Frustration kam dabei nichts heraus.
Ich borgte mir Dr. Rifkins Laptop und loggte mich in die FBI- Datenbank VICAP ein, das sogenannte Violent Crime Apprehension Program. Hier werden zahlreiche Daten über alle bekannten Gewaltverbrechen in den USA gesammelt. Ich wollte wissen, was dort über entführte Schwangere zu finden war.
Zwar entdeckte ich ein paar Fälle, in denen schwangere Frauen Opfer eines Verbrechens geworden waren, aber in der Regel handelte es sich dabei um innerfamiliäre Gewalttaten. Jedenfalls war nichts dabei, was diesem Fall hier ähnelte.
Nach meinem fruchtlosen Ausflug ins Internet ging ich zurück auf die Intensivstation, ließ mich in den großen Liegesessel mit den Vinylpolstern neben Avis' Bett sinken und schlief ein. Ich wachte erst wieder auf, als sie in ein Einzelzimmer verlegt wurde.
Dann rief ich Brady an, um ihm zu sagen, dass wir noch keinen Schritt weiter waren. Sogar in meinen eigenen Ohren klang es wie eine Rechtfertigung.
»Irgendwas über das Baby?«
»Brady, das Mädchen gibt keinen Mucks von sich.«
Kaum hatte ich aufgelegt, rief Conklin an.
»Was gibt's?«
»Die Hunde haben eine Fährte aufgenommen.«
Sofort spürte ich so etwas wie Hoffnung aufkeimen. Ich packte mein kleines Handy so fest, dass ich es beinahe zerquetscht hätte.
»Sie hat ungefähr eineinhalb Kilometer zu Fuß zurückgelegt. Dabei hat sie die ganze Zeit geblutet«, sagte Conklin. »Sie ist im Kreis gelaufen, an der äußersten südlichen Spitze des Lake Merced.«
»Das klingt ja fast so, als hätte sie Hilfe gesucht. Voller Verzweiflung. «
»Die Hunde sind immer noch dran, Lindsay, aber wir haben das Suchgebiet erweitert. Sie durchkämmen jetzt systematisch den Golfplatz. Als Nächstes kommt der Schützenverein dran. Das kann noch Jahre dauern.«
»Ich habe bei den Vermisstenmeldungen nachgesehen, aber nichts gefunden.«
»Ich auch nicht. Ich sitze jetzt im Auto und rufe alle Leute in San Francisco mit Nachnamen Richardson an. Das Verzeichnis hat über vierhundert Einträge.«
© der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Limes Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
... weniger
Autoren-Porträt von James Patterson
James Patterson, geboren 1947, war Kreativdirektor bei einer großen amerikanischen Werbeagentur. Seine Thriller um den Kriminalpsychologen Alex Cross machten ihn zu einem der erfolgreichsten Bestsellerautoren der Welt. Auch die Romane seiner packenden Thrillerserie um Detective Lindsay Boxer und den »Women's Murder Club« erreichen durchweg die Spitzenplätze der internationalen Bestsellerlisten. Regelmäßig tut er sich für seine Bücher mit anderen namhaften Autoren oder Stars zusammen wie mit Dolly Parton für den »New York Times«-Nr.-1-Bestseller »Run, Rose, Run«. James Patterson lebt mit seiner Familie in Palm Beach und Westchester County, N.Y.
Bibliographische Angaben
- Autor: James Patterson
- 2014, Erstmals im TB, 384 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Leo Strohm
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442383595
- ISBN-13: 9783442383597
- Erscheinungsdatum: 14.05.2014
Kommentare zu "Das 10. Gebot / Der Club der Ermittlerinnen Bd.10"
0 Gebrauchte Artikel zu „Das 10. Gebot / Der Club der Ermittlerinnen Bd.10“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
2.5 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "Das 10. Gebot / Der Club der Ermittlerinnen Bd.10".
Kommentar verfassen