Wintermärchen
Roman
Am 13. Februar 2014 startete "Winter's Tale"im Kino: die spektakuläre Verfilmung von Mark Helprins Roman mit Colin Farrel, Jessica Brown Findlay und Russell Crowe.
New York, ausgehendes 19. Jahrhundert:
Der Waisenjunge Peter Lake schlägt...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Wintermärchen “
Am 13. Februar 2014 startete "Winter's Tale"im Kino: die spektakuläre Verfilmung von Mark Helprins Roman mit Colin Farrel, Jessica Brown Findlay und Russell Crowe.
New York, ausgehendes 19. Jahrhundert:
Der Waisenjunge Peter Lake schlägt sich mit Diebstählen durch. Auf seinen Streifzügen durch die von Verfall und Verbrechen gezeichnete Stadt wird er von einem geheimnisvollen weißen Hengst begleitet, der ihm auf der Flucht vor einer Gangstermeute das Leben rettet. Als Peter in eine festungsgleiche Villa an der Upper West Side einbricht, begegnet er Beverley. Zwischen den beiden jungen Menschen entspinnt sich eine magische Liebesgeschichte.
"Ein Buch, das man sein Lebtag nicht mehr vergisst."
BILD AM SONNTAG
Klappentext zu „Wintermärchen “
New York, ausgehendes 19. Jahrhundert: Der Waisenjunge Peter Lake schlägt sich mit Diebstählen durch. Auf seinen Streifzügen durch die von Verfall und Verbrechen gezeichnete Stadt wird er von einem geheimnisvollen weißen Hengst begleitet, der ihm auf der Flucht vor einer Gangstermeute das Leben rettet. Als Peter in eine festungsgleiche Villa an der Upper West Side einbricht, begegnet er Beverly. Zwischen den beiden jungen Menschen entspinnt sich eine magische Liebesgeschichte ...
Lese-Probe zu „Wintermärchen “
Wintermärchen von Mark HelprinAus dem Amerikanischen von Hartmut Zahn
Prolog
Eine große Stadt stellt scheinbar nichts weiter dar als sich selbst, doch bei genauerer Betrachtung entpuppt sie sich mit ihrer bunten Vielfalt von Bildern und Ereignissen als Teil eines groß angelegten, zutiefst bewegenden Planes - gewisser maßen als Buch, in dem dieser Plan aufgezeichnet ist. Das gilt auch für New York, die unvergleichliche Weltstadt am Hudson, die im Verlauf ihrer Geschichte zum schlagenden Herz der Menschheit wurde, ein Rang, der ihr nicht vorbestimmt schien. New York liegt wieder einmal unter einer weißen Decke aus Schnee. Der kalte Wind treibt die glitzernden Flocken in der Dämmerung heulend vor sich her, er lässt sie tanzen und in Schwaden durcheinanderwirbeln wie Dampfwolken aus ei ner Maschine oder wie flauschige, aus einem geplatzten Ballen quellende Baumwolle. Nun teilt sich das gnadenlose, die Augen blendende Gestöber, der Vorhang öffnet sich und gibt durch die Wolken hindurch den Blick frei auf eine Zone ruhiger, spiegelklarer Luft, die an das Auge im Zentrum eines weißen Wirbelsturmes erinnert. Und mitten in diesem Auge liegt die Stadt! Aus großer Höhe erscheint sie uns klein und fern, doch kein Zweifel: Sie lebt. In diesem Gebilde, aus der Ferne nicht größer als ein Käfer, pulsiert das Leben! Wir sinken nun rasch, und unser unbemerktes Nahen trägt uns einem Leben entgegen, das in der Stille einer anderen Zeit blüht. Aus Eisesstarre erwachend, schweben wir lautlos hinein in dieses Gemälde winterlicher Farben. Unwiderstehlich zieht es uns hinab.
I
Die Stadt
Die Flucht des weissen Hengstes
... mehr
Es war einmal ein weißer Hengst an einem stillen Wintermorgen. Weicher, nicht allzu tiefer Schnee bedeckte die Straßen der Stadt. Am Himmel funkelten zahllose Sterne. Im Osten kündigte sich schon dämmerig blau der Morgen an. Kein Lüftchen regte sich, doch es war damit zu rechnen, dass schon bald nach Sonnenaufgang ein eisiger Wind das Flussbett des Hudson hinabgebraust käme.
Das Pferd war aus seinem Stall, einem engen Bretterver schlag im Stadtteil Brooklyn, geflohen. Mutterseelenallein trottete es nun über die tagsüber stark befahrene Williamsburg-Brücke. Der Mann, der von früh bis spät die Brückengebühr zu kassieren hatte, schlief noch neben seinem Ofen.
Der frische Schnee dämpfte den Hufschlag des Hengstes. Mehrmals blickte er zurück, um sich zu vergewissern, dass er nicht verfolgt wurde. Seit seiner Flucht aus Brooklyn hatte er in raschem Tempo vier oder fünf Meilen hinter sich gebracht, vorbei an stillen Kirchen und geschlossenen Läden.
Weiter unten im Süden, an der Mündung des Hudson, bahnte sich zur selben Zeit das Fährschiff, in der Dämmerung ein funkelndes Pünktchen, zwischen Eisschollen hindurch seinen Weg nach Manhattan, wo um diese frühe Stunde nur ein paar Marktfrauen und Händler auf den Beinen waren. Sie warteten darauf, dass die Fischerboote durch das Hell Gate den noch nächtlich ruhigen Strom hinabgeglitten kamen.
Was der Hengst getan hatte, war unsinnig - und er wusste es. Schon bald würden sein Herr und dessen Frau aufstehen, Feuer im Herd machen und ihren Arbeitstag beginnen. Wieder einmal müsste die Katze die schmerzliche Demütigung über sich ergehen lassen, von ihrem warmen Plätzchen in der Küche vertrieben zu werden und durch die halb offene Tür hindurch in hohem Bogen, das Hinterteil voraus, auf einem schneebedeckten Haufen Sägespäne zu landen. Der Duft von Blaubeeren und heißen Pfannkuchen würde sich mit dem süßlichen Geruch harzigen Brennholzes mischen, und schon wenig später würde der Herr des Hauses mit stampfenden Schritten den Hof überqueren, um ihn, den weißen Hengst, zuerst zu füttern und dann vor das mit Milchkannen beladene Fuhrwerk zu spannen. Doch der Stall wäre leer und von einem weißen Hengst weit und breit keine Spur.
Das ist ein hübscher Spaß, sagte sich der Hengst. Diese Art des trotzigen Aufbegehrens ließ sein Herz höherschlagen und jagte ihm eine köstliche Angst ein. Er wusste genau, dass sein Herr schon bald hinter ihm her sein würde. Vielleicht musste er sich wieder einmal auf schmerzliche Schläge gefasst machen, doch zugleich spürte er, dass sein Herr nicht nur zornig, sondern auch amüsiert, ja sogar ein wenig geschmeichelt wäre, denn wieder einmal war es ihm, dem Hengst, gelungen, seine Flucht mit Mut und List in die Wege zu leiten. Das verdiente Respekt. Eine kleinliche, einfallslose Revolte wie das Zertrümmern der Stalltür mit dem Huf wurde zu Recht mit der Peitsche geahndet, doch selbst dann machte der Herr nicht immer davon Gebrauch. Er wusste die Aufsässigkeit seines Pferdes zu schätzen, und dessen geheimnisvolle Intelligenz erfüllte ihn mit einem Gefühl von Dank und Anerkennung. Bisher war es jedes Mal sein Nachteil gewesen, wenn er die Klugheit des Hengstes unterschätzt hatte. Im Übrigen liebte er das Pferd und hatte eigentlich nichts dagegen, ihm bisweilen durch ganz Manhattan hinterherzujagen. Diese Eskapaden lieferten ihm nämlich stets einen Vorwand, um all seine Freunde zusammenzutrommeln und mit ihnen sämtliche Kneipen der Gegend abzuklappern. Bei ein paar Bieren und Schnäpsen erkundigte er sich dann bei den Gästen, ob niemand seinen schönen, großen und schneeweißen Hengst gesehen habe, der wieder einmal ausgerissen sei und sich nun ohne Trense, Zügel und Decke irgendwo in der Stadt herumtreibe.
Der Hengst konnte auf Manhattan einfach nicht verzichten. Dieser Teil der Stadt zog ihn an wie ein Magnet, wie ein Vakuum, wie ein Sack mit Hafer, wie eine Stute oder wie eine endlose, von Bäumen gesäumte Allee.
Am jenseitigen Ende der Brücke angelangt, blieb der Hengst wie angewurzelt stehen. Vor ihm lagen Tausende von Straßen. Es herrschte tiefes Schweigen. Nur der Wind rauschte leise. Die Stadt lag verlassen da. Der frische Schnee hatte sich in den Straßen zu kleinen Verwehungen aufgetürmt, die noch von keiner Fußspur und keinem Wagenrad berührt worden waren. Voller Freude betrachtete der Hengst dieses weiße Labyrinth. Er setzte sich wieder in Bewegung und trabte an geschlossenen Theatern vorbei, an Kontoren und Bootshäusern, deren verschneites Gebälk an einen winterlichen Wald erinnerte. Dunkle Fabrikhallen und menschenleere Parks säumten den Weg des Hengstes, dann eine Reihe kleiner Häuser, aus deren Kaminen der Rauch frisch entzündeter Herdfeuer stieg und die Luft mit der tröstlichen Ahnung von Wärme und Geborgenheit erfüllte. Doch schon wenig später bot sich dem Ausreißer hinter ein paar erleuchteten Kellerfenstern der abstoßende Anblick eines Obdachlosenheimes, in dem allerlei Großstadtgesindel und zahlreiche Invaliden herumlungerten. In der Nähe des Marktes wurde plötzlich eine Tür aufgestoßen, und ein Eimer voll kochend heißen Wassers landete zischend und dampfend im Schnee der Straße. Der Hengst scheute und machte trippelnd ein paar Schritte zur Seite. Fast wäre er in einer Toreinfahrt über die Leiche eines Mannes gestolpert, dessen steinhart gefrorener, in Lumpen gewickelter Körper die nüchterne Sachlichkeit eines Sarges hatte.
Von stämmigen Gäulen gezogene Schlitten und Wagen fuhren vom Markt her in alle Himmelsrichtungen davon, ihren irgendwo in der Stadt gelegenen Zielen entgegen. Der Hengst machte jedoch einen Bogen um diese geschäftige Gegend, denn dort herrschte schon bei Tagesanbruch ein ebenso reges Treiben wie zur Mittagszeit. Er hielt sich lieber in den ruhigen Seitenstraßen, wo riesige Gerüste die Lücken in der Häuserzeile füllten und von fieberhafter Bautätigkeit zeugten. Selten nur verlor er die neuen Brücken aus den Augen, die das fraulich schöne Brooklyn mit dem gönnerisch reichen Manhattan verbanden und das umliegende Land dem Zugriff der City näher brachten. Sie überspannten nicht nur die räumliche Entfernung über dem dunklen Wasser, sondern verknüpften auch die Träume der Menschen miteinander.
Der Schweif des weißen Hengstes schwang hin und her, während er munter die stillen Boulevards und Avenuen entlangtrottete. Seine Gangart hatte etwas Tänzelndes, und das war nicht verwunderlich. Ein Pferd ist nicht nur ein schönes Tier, sondern es hat vor allem die bemerkenswerte Eigenschaft, dass es sich stets so bewegt, als folge es den Klängen einer Musik. Mit einer Zielstrebigkeit, die den Hengst selbst in Erstaunen versetzte, trabte er nach Süden, dem Battery Park entgegen. Er war schon von weitem am Ende einer langen, engen Straße als ein weiß überzogenes Feld zu erkennen, über das quer die Schatten hoher Bäume fielen.
Das Wasser des Hafens nahm im Licht des jungen Tages verschiedene Färbungen an; es wiegte sich in Schichten aus Grün, Silber und Blau. Jenseits des Hudson, am Ende dieses regenbogenartigen Gefunkels, erhob sich über dem Horizont hinter einem weißen Dunstschleier die gewaltige Kulisse einer Stadt. Die aufgehende Sonne tauchte sie in einen blassgoldenen, sich allmählich vertiefenden Widerschein, sie gaukelte dem Auge wabernde und sich brechende Hitzewellen vor. Dort drüben hätten ebenso gut tausend Städte wie die Schwelle zum Himmel liegen können.
Der Hengst war stehen geblieben. Seine Augen füllten sich mit goldenem Licht. Kleine Dampfwolken entströmten seinen Nüstern, während er aus der Ferne das atemberaubende Schauspiel betrachtete. Seine Reglosigkeit gab ihm das Aussehen einer Statue. Unverwandt war sein Blick auf die goldene Lohe gerichtet, die über dem Bett aus Blau brannte. Welche Vollkommenheit! Kurzerhand entschloss er sich, jenen Ort aufzusuchen.
Er setzte sich in Bewegung, musste jedoch schon kurze Zeit später feststellen, dass der Zugang zum Battery Park durch ein hohes, eisernes Tor verschlossen war. So machte er denn kehrt und versuchte es an anderer Stelle, doch wieder stand er alsbald vor einem Tor gleicher Beschaffenheit. Das wiederholte sich stets aufs Neue, mochte er auch alle möglichen Straßen probieren. Inzwischen wurde der goldene Glanz in der Ferne immer strahlender, bis er die Hälfte der Welt erglühen ließ.
Der Hengst, gefangen im Labyrinth der Straßen, wollte noch immer nicht aufgeben. Der Battery Park, jene weite, weiße Fläche, schien ihm der einzige Weg zu dem goldenen Licht zu sein. Es zog ihn so unwiderstehlich dorthin, als sei es seit seiner Geburt seine Bestimmung gewesen. Verzweifelt galoppierte er Alleen und Zufahrten entlang, durch schneebedeckte Parks und über verschneite Plätze. Nie verlor er das sich noch immer vertiefende Gold aus den Augen.
Am Ende der letzten Straße, die ins Offene mündete, versperrte ihm wiederum eines jener eisernen Tore den Weg. Es war jedoch nur mit einem einfachen Riegel verschlossen. Der Atem des Hengstes ging schwer, sein Kopf war vom Dampf seiner Nüstern umwölkt, als er angestrengt durch die Gitterstäbe spähte. Alles war vergeblich gewesen. Nie würde er den Battery Park betreten, um sich irgendwie über das blaugrüne Wasser des Flusses dem goldenen Schein entgegenzuschwingen.
Gerade wollte er kehrtmachen und sich auf den Rückweg machen, quer durch die Stadt zu der Brücke, die ihn über den Fluss nach Brooklyn führen würde, als ein Geräusch an seine Ohren drang, das wie eine ferne Brandung klang. Es schwoll immer mehr an, bis der Hengst begriff, was es war: das Getrappel vieler Füße. Bald schon glaubte er zu verspüren, wie die Erde fast unmerklich erbebte, als galoppierte ein anderes Pferd an ihm vorbei. Aber es war kein Pferd, es waren viele Männer, die dort angelaufen kamen. Plötzlich waren sie da! Der Hengst sah, wie sie quer durch den Park rannten. Genauer gesagt sprangen sie mit weit ausgreifenden Schritten, denn nur so kamen sie in dem knietiefen Schnee einigermaßen vorwärts. Das musste sehr anstrengend sein, und von weitem sah es aus, als bewegten sie sich im Zeitlupentempo. Es dauerte lange, bis die Männer die Mitte des weiten Feldes erreichten. Dem Hengst fiel auf, dass ein einzelner vor allen anderen, einem runden Dutzend, davonzulaufen schien. Der Flüchtige keuchte und ruderte heftig mit den Armen. Bisweilen vergrößerte er seinen Vorsprung ein wenig, indem er mit ganzer Kraft einen kleinen Spurt einlegte. Mehrmals stürzte er, doch sofort war er wieder auf den Beinen und lief weiter. Auch von den anderen Männern kamen einige zu Fall, aber sie erhoben sich weniger behende als der Gejagte. So kam es, dass die Verfolger bald eine langgestreckte Linie bildeten. Sie fuchtelten mit den Armen und stießen unverständliche Schreie aus. Der Mann an der Spitze achtete nicht darauf, er lief weiter, als wäre er aufgezogen. Nur wenn er mit einem Hechtsprung eine Schneeverwehung überquerte, breitete er seine Arme wie Schwingen aus.
Der Hengst fand Gefallen an dem Mann, der nun nicht mehr weit entfernt war. Der Flüchtende bewegte sich gut - nicht wie ein Pferd oder ein Tänzer oder jemand, der sein Leben mit Musik verbringt, aber immerhin mit einer gewissen Beherztheit und Anmut. Was dort drüben vorging, schien auf irgendeine geheime Art damit zu tun zu haben, dass dieser Mann sich so bewegte. Dies war keine normale Verfolgungsjagd! Die anderen kamen dem Flüchtenden immer näher, und das war eigentlich schwer zu verstehen, denn sie trugen schwere Mäntel und Hüte auf den Köpfen. Er, der Gejagte hingegen, lief barhäuptig in einer dicken Joppe durch den Schnee. Um den Hals hatte er einen Schal geschlungen. Schon von weitem war deutlich zu erkennen, dass er Winterstiefel trug, während seine Verfolger normale Straßenschuhe an den Füßen hatten. Sicherlich waren sie längst voll Schnee und halb durchgeweicht. Trotzdem waren die anderen schneller als der, der vor ihnen davonlief. Sie schienen besser in Form zu sein als er und hatten in solchen Unternehmungen wohl auch mehr Übung.
Plötzlich blieb einer der Verfolger mit gespreizten Beinen stehen, zückte eine Pistole, zielte und feuerte auf den fliehenden Mann. Das Echo des Schusses brach sich mehrmals an den Häuserfassaden am Rande des Parks. Aufgeregt flatternd stiegen ein paar verschreckte Tauben in den Himmel. Der Gejagte blickte sich kurz um und änderte sodann seine Richtung. Jetzt lief er direkt auf das Eisentor zu, hinter dem reglos der weiße Hengst stand. Dieses Manöver bewirkte, dass die Verfolger noch mehr aufholten, denn natürlich machten sie die Richtungsänderung sofort mit. Das bedeutete, dass sie in einem günstigeren Winkel auf das eiserne Tor zuliefen als der Mann, hinter dem sie her waren. Der erste der Verfolger hatte ihn bald bis auf sechzig oder siebzig Schritte eingeholt. Auch er blieb plötzlich stehen, zog eine Waffe aus der Manteltasche und schoss. Der Knall schien so nah und war so ohrenbetäubend, dass der Hengst zusammenzuckte und erschrocken zurücksprang.
Unterdessen hatte sich der Fliehende bis auf eine geringe Distanz dem Tor genähert. Der Hengst, dem die ganze Sache nicht geheuer war, zog sich noch weiter zurück und verbarg sich in einer Toreinfahrt. Doch lange hielt er es nicht aus. Seine Neugier war stärker. Vorsichtig spähte er um die Ecke. Gerade in diesem Augenblick schlug der fliehende Mann von unten mit der Faust so heftig gegen den Riegel des Tores, dass dieser mit einem hellen, metallischen Geräusch zurückschnellte. Gleich darauf warf er das Tor krachend hinter sich ins Schloss, zog eine kurze, dicke Eisenstange aus der Tasche und hämmerte damit atemlos so lange auf dem Riegel herum, bis er derart verbogen war, dass er sich nicht mehr bewegen ließ. Der Mann wandte sich um und rannte die Straße hinauf. In seinen Augen lag ein gehetzter Ausdruck.
Seine Verfolger hatten schon den Zaun erreicht, als er auf einer gefrorenen Pfütze ausrutschte und schwer stürzte. Er überschlug sich, prallte mit dem Kopf gegen das Straßenpflaster und blieb reglos liegen. Mit klopfendem Herzen sah der Hengst, dass sich die zwölf Männer wie ein Trupp Soldaten gegen das Tor warfen. Fast wirkten sie wie die Karikatur einer Verbrecherbande. Ihre Gesichter waren irgendwie schief, sie hatten allesamt buschige, zusammengewachsene Augenbrauen, ein fliehendes Kinn und Nasen, die man ihnen wieder angenäht hatte - jedenfalls sahen sie so aus. Der tiefe Haaransatz auf ihrer Stirn war wie ein grotesker Gletscher, der sich weit, allzuweit talwärts geschoben hatte. Grausamkeit ging von ihnen aus wie elektrische Funken, die bläulich knisternd die Lücke zwischen zwei Polen überspringen. Einer zückte seine Pistole und zielte damit auf den Gestürzten, aber ein anderer, offenbar der Anführer, befahl: »Nein, nicht so! Jetzt haben wir ihn! Wir machen ihn langsam mit dem Messer fertig.« Er gab den Männern einen Wink. Sofort machten sie sich daran, über das Tor zu klettern.
Hätte der Hengst nicht seinen Kopf hinter der Hausecke hervorgestreckt und zu ihm herübergeblickt, wäre der Mann gewiss liegen geblieben und hätte aufgegeben. Er hieß übrigens Peter Lake. Mit lauter Stimme sagte er zu sich selbst: »Du musst ganz schön in der Klemme stecken, wenn dich ein Pferd so mitleidig ansieht, du Dummkopf!« Diese Worte schienen ihm neue Kraft einzuflößen, denn er richtete sich auf und rief: »He, Pferd, komm her!« Die zwölf Gangster, die vom Tor aus das Pferd nicht sehen konnten, dachten sicherlich, dass Peter Lake entweder den Verstand verloren hatte oder noch einmal versuchte, sie auszutricksen.
»Pferd!«, rief Peter wieder. Der Hengst zog seinen Kopf zurück. »Komm hierher, Pferd. Bitte!« Hinter Peter erreichten die ersten Verfolger die ihm zugewandte Seite des Tores. Peter spreizte die Arme. »Komm!«, sagte er wieder flehend zu dem Pferd. Die Gangster hatten es nicht mehr eilig. Auf der Straße war keine Menschenseele zu sehen, und Peter Lake machte keinerlei Anstalten zu fliehen. Jetzt war er ihnen sicher!
Peters Herz klopfte so sehr, als wollte es ihm die Brust sprengen. Er kam sich lächerlich vor wie ein mechanisches Spielzeug, dessen Bewegungen außer Kontrolle geraten waren, weil irgendein Rädchen den Dienst versagte. »O mein Gott!«, entfuhr es ihm in seiner Verzweiflung. »Oh, Jesus, Maria und Joseph, schickt mir eine schwere Dampfwalze!« Aber natürlich geschah kein derartiges Wunder. Alles hing jetzt von dem Pferd ab.
Mit einem Satz übersprang der weiße Hengst die gefrorene Pfütze und war bei Peter Lake. Er senkte den Kopf, damit der Mann seinen schlanken Hals umfassen konnte. Gleich darauf saß Peter auf dem Rücken des Pferdes. Er hatte es wieder einmal geschafft! Auch die Pistolenschüsse, die hinter ihm krachten, konnten das Triumphgefühl, das sich seiner bemächtigte, nicht dämpfen. Schon hatte der Hengst auf der Hinterhand kehrtgemacht, sich leicht geduckt wie zum Sprung und seine Lungen mit der kalten Winterluft gefüllt. Mit einem gewaltigen Satz schnellte er nach vorn und fiel in einen rasanten Galopp. Peter wandte sich übermütig lachend nach seinen düpierten Verfolgern um. Einige von ihnen machten ein paar Schritte, als wollten sie ihm nachlaufen. Andere, unter ihnen auch Pearly Soames, standen rücklings an das eiserne Tor gelehnt und schossen fluchend ihre Pistolen leer. Pearly ließ als Erster von der sinnlosen Knallerei ab. Er biss sich auf die Unterlippe, und es war ihm anzusehen, dass er schon auf neue Mittel und Wege sann, um irgendwann doch noch seines flüchtigen Gegners habhaft zu werden.
Peter war einstweilen in Sicherheit. Keine Kugel konnte ihn mehr erreichen. Er zügelte den Hengst zu einem leichten Galopp und lenkte ihn durch die Straßen der erwachenden Stadt nach Norden.
Die Fähre brennt in der Morgenkälte
Die Short Tails abzuhängen war kein Kunststück, denn die Banditen hatten keine Pferde. Außerdem konnte niemand von ihnen reiten, auch Pearly Soames nicht. Aber diese Kerle waren die Herren der Docks. Mit kleinen Booten manövrierten sie erstaunlich geschickt, aber zu Lande half ihnen das nichts. Dort gingen sie zu Fuß oder benutzten die städtischen Busse, U-Bahnen und Vorortzüge - selbstverständlich ohne Fahrschein. Seit drei Jahren waren sie hinter Peter Lake her. Sie jagten ihn ohne Rücksicht auf Wetter und Jahreszeit, so dass er seinen eigenen Worten zufolge immer im »Keller« war, das heißt in einem fortwährenden Abwehrkampf, auf dessen Ende er bisher vergeblich gehofft hatte.
Bisweilen suchte Peter Schutz bei den Muschelfischern des Marschlandes von Bayonne, aber sein eigentliches Revier war Manhattan. Es dauerte dort allerdings nie lange, bis die Short Tails ihn ausfindig gemacht hatten. Dann begann die Jagd aufs Neue.
Peter konnte und wollte auf Manhattan nicht verzichten, denn er war ein Dieb. Woanders zu arbeiten wäre in diesem Gewerbe ein niederschmetterndes Eingeständnis der eigenen Mittelmäßigkeit gewesen. Während der vergangenen drei Jahre hatte er mehrmals mit dem Gedanken gespielt, nach Boston zu gehen, aber stets war er zu derselben Schlussfolgerung gelangt: Dort gab es so gut wie keine lohnende Diebesbeute, die Stadt war zudem für Diebe oder Einbrecher allzu klein und über sichtlich, und außerdem musste er, Peter, sich darauf gefasst machen, den cantarello-Affen in die Quere zu kommen. Die gaben dort in Boston den Ton an, aber sie waren nichts im Vergleich mit den Short Tails, mit denen sich Peter Lake - übrigens aus ganz anderen Gründen - angelegt hatte. Er hatte sogar gehört, dass es in Boston nachts richtig dunkel wurde! Angeblich stieß man dort auch an jeder Straßenecke mit einem Geistlichen zusammen. Deshalb blieb er lieber in New York und gab sich weiterhin der Hoffnung hin, die Short Tails könnten irgendwann der ständigen Jagd überdrüssig werden.
Da irrte er jedoch. Abgesehen von den Verschnaufpausen im Marschland waren ihm die Kerle immer dicht auf den Fersen gewesen. Mittlerweile hatte er sich fast daran gewöhnt, auf der wackeligen Treppe irgendeines seiner Notquartiere schon in aller Herrgottsfrühe das Poltern von vielen Stiefeln zu vernehmen. Oftmals hatte er von einer leckeren Mahlzeit, einem ihm geneigten Frauenzimmer oder der reichen Beute in einem unbewachten Haus ablassen müssen, weil urplötzlich die Short Tails aufgetaucht waren. Es kam vor, dass sie buchstäblich neben ihm aus dem Boden wuchsen. Wie sie das anstellten, war ihr Geheimnis.
Doch nun lagen die Dinge anders, denn jetzt hatte Peter ein Pferd. Warum war er nicht früher darauf gekommen? Endlich konnte er für einen beliebig großen Sicherheitsabstand sorgen, wenn Pearly ihm wieder einmal zu dicht auf den Pelz rückte, und im Sommer würde er sogar auf dem Rücken des Pferdes Flüsse und Seen durchschwimmen können. Im Winter, wenn das Wasser zufror, würde alles sogar noch leichter sein. Er könnte nicht nur nach Brooklyn flüchten - wenn auch mit dem Risiko, sich im verwirrenden Labyrinth der unzähligen Straßen zu verirren -, sondern nun lagen auch die Kiefernwälder der weiteren Umgebung, die Watchung-Berge und die endlosen Strände von Montauk in seiner Reichweite. Das waren Orte, die man nicht mit der U-Bahn erreichen konnte. Gewiss würden die an die Stadt gewöhnten Short Tails vor ihnen zurückschrecken, denn mochten sie sich auch aufs Töten und Stehlen verstehen, so fürchteten sie sich doch vor Blitz, Donner, wilden Tieren, tiefen Wäldern und dem Quaken der Baumfrösche in der Nacht.
Peter Lake spornte das Pferd zu einer schnelleren Gangart an, aber der Hengst brauchte keine Ermunterung. Die Angst saß ihm noch im Nacken, und außerdem liebte er es, dahinzujagen wie ein Pfeil. Schon übergoss die Morgensonne die Dächer der Häuser mit ihrem Feuerschein. Der Hengst hatte sich längst warm gelaufen. Ja, er genoss es, dahinzustürmen wie ein großes weißes Geschoss, den Kopf nach vorn in den Wind gereckt und die Ohren angelegt. Er machte so riesige Sätze, dass Peter unwillkürlich an ein Känguruh denken musste. Bisweilen war ihm, als würden die Hufe des Hengstes den Boden überhaupt nicht mehr berühren.
Es hat wohl keinen Sinn, nach Five Points zu reiten, sagte sich Peter. Gewiss, er hatte dort Freunde und konnte in tausend Kellerkaschemmen Unterschlupf finden. Da wurde getanzt und um Geld gespielt, aber mit dem großen weißen Hengst würde er zu großes Aufsehen erregen. Alle Petzer und Schnüffler wären geradezu elektrisiert und warteten nur auf die erstbeste Gelegenheit, ihn zu verpfeifen. Außerdem war Five Points so nah! Wozu hatte er das Pferd? Heute zog es ihn hinaus aus der Stadt, er wollte möglichst weit fort.
Sie rasten die Bowery entlang und erreichten bald den Washington Square, wo der Hengst durch den Torbogen flog wie ein dressiertes Zirkustier durch einen brennenden Reifen. Um diese Zeit waren die Straßen schon von zahlreichen Fußgängern bevölkert. Mit gerunzelten Brauen blickten sie dem tollkühnen Reiter nach, der sich ungeachtet des dichten Verkehrs seinen Weg bahnte. Ein Polizist, der am Madison Square die beiden von seinem erhöhten Piedestal herab die Fifth Avenue heraufkommen sah, begriff augenblicklich, dass es vergeblich sein würde, ihnen Halt zu gebieten, und sorgte von vornherein gleich dafür, dass Pferd und Reiter ungehindert passieren konnten. Der grässliche Anblick eines Gaules, der in vollem Galopp auf ein fahrendes Automobil geprallt war, war ihm noch allzu frisch in Erinnerung. Er wollte so etwas nicht noch einmal erleben.
Schon kamen Pferd und Reiter gleich einem zum Leben erwachten Standbild pfeilschnell heran. Der Polizist blies in seine Trillerpfeife und fuchtelte mit den behandschuhten Händen.
Unerhört! Sie kamen geradewegs auf seine kleine Verkehrsinsel zu, mit mindestens dreißig Meilen in der Stunde! Kindermädchen bekreuzigten sich und legten schützend die Arme um ihre kleinen Schutzbefohlenen. Fuhrleute auf den Kutschböckenreckten ihre Hälse, alte Frauen wandten den Blick ab. Vor Schreck gefror der Polizist auf seinem Türmchen zu Eis.
Peter spornte sein Pferd zu noch schnellerer Gangart an und ritt schnurgerade auf den Polizisten zu, den rechten Arm wie eine Lanze von sich gestreckt. Als Ross und Reiter wie ein weißer Schemen an dem Mann vorbeihuschten, riss Peter ihm die Dienstmütze mit den Worten vom Kopf: »Ihren Hut, mit Verlaub! « Der erzürnte Beamte machte eine halbe Drehung. Eilig zog er sein Notizbuch aus der Tasche und kritzelte eine Beschreibung des Übeltäters hinein.
Peter lenkte den Hengst nach links in das Tenderloin-Viertel hinein, doch dort waren die Straßen so hoffnungslos verstopft, dass er bald nicht weiterkam. Ein Tankzug und mehrere andere Fahrzeuge hatten sich ineinander verknäult. Kutscher schrien aufeinander ein, Pferde wieherten ungeduldig. Eine Bande von Lausbuben ergriff die Gelegenheit, um die Erwachsenen mit einem Hagel von Schneebällen und Eisbrocken einzudecken. Peter musste sich mehrmals ducken. Als er dabei zufällig einen Blick nach hinten warf, sah er in der Ferne ein rundes Dutzend blauer Punkte, die sich, von Osten kommend, rasch auf ihn zu- bewegten. Sie rannten, sie stolperten, sie rutschten - es waren Polizisten! Da es keinen Sattel und keine Steigbügel gab, kletterte Peter auf den Rücken des Pferdes, um nachzuschauen, wie es jenseits des Verkehrsknäuels aussah. Leider musste er feststellen, dass es mindestens eine halbe Stunde dauern würde, bis das chaos entwirrt wäre. Deshalb wendete er das Pferd und schickte sich an, mitten durch die sich nähernde Phalanx der blauen Uniformen hindurchzupreschen, aber der Mut des Hengstes war von anderer Art. Er wollte davon nichts wissen. Mit schnaubenden Nüstern tänzelte er auf der Stelle, während Peter ihn vergeblich anzuspornen versuchte. Nein, er machte keinen Schritt vorwärts, aber auch keinen zurück, sondern trippelte seitlich auf ein Haus mit einer Leuchtreklame zu, die sogar jetzt, am frühen Morgen, marktschreierisch verkündete:
Saul Turkish präsentiert: Caradelba, die spanische Zigeunerin.
Das kleine Varietétheater war nur halb voll, der Saal in grelles, blaugrünes Licht getaucht. Nur die Bühnenmitte, wo die halb nackte caradelba in einem Wirbel weißer und cremefarbener Seide tanzte, wurde von einem einzigen weißen Scheinwerferkegel erhellt.
Peter trabte auf dem weißen Hengst den Mittelgang entlang nach vorne. Dort blieb er stehen und schaute der Tänzerin zu. Insgeheim hoffte er, dass die Polizei ihn aus den Augen verloren hätte, aber schon stürmten die ersten Blauröcke in den Vorraum des Theaters. Da spornte Peter den Hengst erneut an und ritt im Galopp auf den Orchestergraben zu. Die Musiker spielten weiter, aber als urplötzlich ein riesiger Pferdekopf, vergleichbar mit einem Kürbislampion am Bug einer fahrenden Lokomotive, aus der Dunkelheit auftauchte, machten sie ein paar Patzer.
»Mal sehen, ob du auch springen kannst!«, sagte Peter und schloss die Augen. Der Hengst sprang nicht nur - nein, er flog geradezu über das Orchester hinweg und landete fast geräuschlos auf der Bühne neben der spanischen Zigeunerin, zwanzig Fuß weiter und acht Fuß höher. Peter war verblüfft, dass dieses Pferd so weit springen konnte und dabei so sanft aufsetzte. Doch das Mädchen war sprachlos. Die Kleine war fast noch ein Kind, aber ihr Gesicht und ihr schmächtiger Körper waren mit einem Pfund Schminke bedeckt. Wenn sie nicht tanzte, wirkte sie ängstlich und verwirrt. Das plötzliche Erscheinen eines Berittenen auf ihrer Bühne wertete sie als eine schlimme Kränkung. Ob sich dieser Mann auf seinem riesigen Hengst wohl über sie lustig machen wollte? Fast wäre sie in Tränen ausgebrochen. Übrigens fühlte sich auch der Hengst nicht ganz wohl in seiner Haut. Nie zuvor in seinem Leben hatte er ein Theater betreten, von einer Bühne ganz zu schweigen. Das blendende Scheinwerferlicht, die Musik, der süßliche Duft von caradelbas Schminke und der wallende blaue Vorhang - all dies entzückte und verunsicherte ihn gleichermaßen. Er warf sich in die Brust wie ein Paradepferd.
Peter Lake brachte es nicht über sich, caradelba ungetröstet stehen zu lassen. Unten im Orchestergraben balgten sich die Polizisten mit den erbosten Musikern, die sich den Uniformierten in den Weg gestellt hatten. Der Hengst, von der Magie des Rampenlichts verzaubert, versuchte unterdessen sein Glück als Schauspieler, indem er das Gesicht nacheinander zu mehreren ausdrucksvollen Grimassen verzog. Peter, der selbst in größter Bedrängnis stets gelassen blieb, stieg ab und trat zu caradelba, obwohl die ersten Polizisten sich schon anschickten, die Brüstung der Bühne zu überklettern. In seinem irischen Akzent sagte er zu dem Mädchen: »Meine liebe Miss candelabra, ich möchte Ihnen zum Zeichen meiner Verehrung und der Bewunderung, welche die Menschen dieser großen Stadt für Sie empfinden, diese Polizeimütze als Erinnerung überreichen. Ich habe sie gerade am Madison Square einem kleinen Polizisten von seinem kleinen Kopf gerissen ...« Peter wies auf das runde Dutzend Uniformierter, die unten im Saal, nachdem sie vergeblich versucht hatten, die Bühne zu erklimmen, von den Musikern hart bedrängt wurden. »Wie Sie sehen«, fuhr er dann fort, »ist es eine echte Polizeimütze. Doch nun muss ich gehen.« Die kleine Zigeunerin nahm die Schirmmütze, die trotz der nüchternen blauen Farbe irgendwie aufgeblasen wirkte, und setzte sie sich auf den Kopf. Nun wirkten ihre Arme und Schultern in ihrer Nacktheit fast obszön. Nicht nur zum Ergötzen des Publikums, sondern auch zu ihrer eigenen Freude begann sie, zu den Klängen eines arabesken Fandangos zu tanzen.
Peter Lake lenkte den Hengst in den dämmerigen Hintergrund der weitläufigen Bühne. Durch ein Gewirr von Kulissen, herabbaumelnden Seilen und schmalen Korridoren fanden sie wenig später eine Hintertür, die ins Freie führte. Als sie auf die winterliche Straße hinaustraten, stellten sie erfreut fest, dass das Verkehrschaos in der Zwischenzeit beseitigt worden war. In leichtem Galopp ging es zurück zur Fifth Avenue.
Die Hüter des Gesetzes hatten sich in jüngster Vergangenheit wenig um Peter Lake kümmern können, denn in der Stadt tobten Bandenkriege. Jeden Morgen sammelte die Polizei Berge von Leichen ein, und zwar durchaus nicht nur unten am Fluss oder in Five Points, sondern auch an ungewöhnlichen Orten wie in Kirchtürmen, Mädcheninternaten oder Gewürzspeichern. Die Ordnungshüter hatten kaum Zeit für gewöhnliche Einbrecher wie Peter Lake. Doch wenn er holterdipolter durch Straßen galoppieren würde, in denen die piekfeinen Leute wohnten, dann, so stellte er sich vor, hätte er die Polizei bald auf den Fersen, sodass sich die Short Tails nicht so leicht an ihn herantrauen würden. Die Sache hatte nur einen Haken: Wenn die Short Tails erst einmal einen Menschen aufs Korn genommen hatten, ließen sie nicht mehr von ihm ab - nie.
Peter kannte viele Mittel und Wege, um den tödlichen Fallen seiner Verfolger immer wieder zu entgehen. Stets zauberte seine Fantasie den rettenden Einfall herbei. In dieser winterlichen Stadt gab es ebenso viele Möglichkeiten zum Überleben - und zum Sterben - wie Straßen, Plätze und Sehenswürdigkeiten. Die Short Tails waren jedoch selbst so gerissen und erfahren, dass sie sich jeden Winkel des gigantischen Labyrinths zunutze machten. Sie bewegten sich mit der Wendigkeit von Ratten in einem komplizierten Netzwerk unterirdischer Gänge. Ihre Schnelligkeit verlieh ihnen die Aura der Unentrinnbarkeit, ähnlich dem nie endenden Fluss der Zeit, der Suche des Wassers nach der tiefsten Ebene und der Gefräßigkeit des Feuers. Den Short Tails auch nur für eine einzige Woche entkommen zu sein konnte bereits als eine Leistung gelten, die ans Wunderbare grenzte, doch Peter war schon drei Jahre lang das Hauptziel dieser gnadenlosen Verfolger. Da er nun auch noch die Polizei am Hals hatte, entschloss er sich, Manhattan für eine Zeitlang den Rücken zu kehren. Sollten sich die beiden Greifarme der Zange doch gegenseitig zwicken! Wenn die gegnerischen Lager auf der Jagd nach ihm, Peter, kollidierten, dann verschaffte ihm der Zusammenprall vielleicht drei oder vier Monate Ruhe und Freiheit. Also nichts wie fort! Er entschloss sich, den Muschelfischern im sumpfigen Marschland von Bayonne einen Besuch abzustatten. Sie würden ihm und dem Hengst auf einem trockenen Fleckchen Erde Unterschlupf gewähren, das wusste er, denn sie waren es gewesen, die ihn einst gefunden und in der Art von wohlgesonnenen Wölfen aufgezogen hatten. Den Short Tails waren sie an Wildheit und Kampfkraft weit überlegen, weshalb jene es schon lange nicht mehr wagten, die Riemen ihrer Ruderboote in Gewässer zu tauchen, die zum weitläufigen Herrschaftsbereich der Sumpfmänner gehörten. Denn wer ihnen in die Hände fiel, musste damit rechnen, augenblicklich enthauptet zu werden. Niemand hatte sich jemals gegen sie durchsetzen können, denn nicht nur waren sie schier unüberwindliche Streiter, die nach Belieben auftauchten und verschwanden, sondern ihr Reich war zudem nur halb von dieser Welt. Jeder, der sich ohne ihre Billigung dorthin wagte, lief Gefahr, sich für immer in dem tosenden Wolkenmeer zu verlieren, das sich über die trügerisch glitzernden Wasser wälzte.
Vor langer Zeit hatten die Behörden des Staates New Jersey den Versuch gemacht, die Sumpfmänner in den breiten Strom bürgerlichen Daseins einzugliedern, mit Gesetzen, Steuern und dergleichen mehr. Doch dreißig Polizisten und Detektive der Pinkerton-Agentur waren, einer nach dem anderen, hinter der blendend weißen Wolkenbank verschwunden, die verblüffend schnell ihren Standort wechselte. Der Gouverneur war des Nachts in seiner Villa in Princeton von Unbekannten in zwei Teile geschnitten worden. Eines der Fährschiffe flog bei Weehawken nach einer Explosion so hoch in die Luft wie ein Haus mit zwanzig Stockwerken. Einem riesigen Feuerball gleich war es in die Fluten zurückgestürzt, und im Umkreis von fünfzig Meilen hatten die Fensterscheiben geklirrt.
Peter war sich darüber im Klaren, dass ihn nach einiger Zeit die Lichter von Manhattan jenseits des Flusses trotz aller Gefahren unwiderstehlich aus seinem Versteck locken würden. Die Sumpfmänner lebten ihm zu nah an dem geheimnisumwitterten Wolkenwall. Sie waren wortkarge, wachsame und unergründliche Gesellen, an denen die Zeit so schnell vorbeizustreichen schien wie eine Landschaft an einem fahrenden Zug. Ein typischer Sumpfmann hatte in seiner Rätselhaftigkeit etwas von einem Urmenschen ferner Zeitalter. Er verstand sich darauf, aus der Leber toter Fische das Orakel zu lesen und redete mit flinkem Zungenschlag eine Sprache, deren Worte an seltsame Runenzeichen gemahnten. Für Peter Lake, der sich an das Klimpern der Pianos und die hübschen, nur scheinbar so schwer zu erobernden Mädchen der Großstadt gewöhnt hatte, war ein längerer Aufenthalt in den Sümpfen keine leichte Sache. Aber es gehörte zu seinem Wesen, dass er sich notfalls nach der Decke strecken konnte. Stets war er bereit, sich vom Leben auf die Probe stellen zu lassen.
Auch diesmal würde er wohl nur eine Woche, höchstens zehn Tage bleiben, abends noch vor Mondaufgang schlafen gehen, tagsüber in Eislöchern fischen, zu den Mahlzeiten Unmengen gerösteter Austern verschlingen und in einem kleinen Boot durch die eisfreien, salzigen Brackwasser staken. In den Nächten würde er sich mit der einen oder anderen Frau nackt auf dem Lager wälzen und sich mit ihr in der atemlosen Schönheit wilder, rauschhafter Liebesakte vereinen, während das ungebärdige Winterwetter die kleinen, im Schilf verborgenen Hütten der Sumpfbewohner schüttelte und Schneestürme alle Wege über die Eisflächen unkenntlich machten. Peter dachte an Anarinda, die Dunkelhaarige, Pfirsichbrüstige, Sternenäugige - und er machte sich sofort auf den Weg nach Norden.
»Verdammt!«, fluchte er, als er an den Docks über die leichte Anhöhe ritt und den Fluss vor sich liegen sah. Die Fähre brannte lichterloh, mitten in dem mit Eisschollen übersäten Fahrwasser! Das Schiff lag fest, weitab vom Ufer. Orangefarbener Feuerschein und pechschwarzer, wallender Rauch hüllten es ein. Immer mussten diese Fähren abbrennen! Ihre Kessel explodierten mit Vorliebe im Winter, wenn sich die Schiffe gegen kleine Inseln aus scharfkantigem Eis stromaufwärts kämpfen mussten. Die wunderbaren neuen Brücken über den Strom waren die einzige Abhilfe, aber wer konnte schon an dieser Stelle eine Brücke über den Hudson bauen?
Der Himmel erstrahlte an diesem Tag in makellosem Blau. Am jenseitigen Ufer waren in der steilen braunen Felswand rötliche und purpurne Gesteinsadern fast überdeutlich zu erkennen, ja sogar einzelne weiße Häuschen und Bäume. Ein steifer, kalter Wind blies die Eisschollen stromabwärts vor sich her. Sie rieben sich schurrend aneinander, manchmal prallten sie auch mit dem Glockenton berstenden Glases zusammen. Und mitten in diesem weißen Wirrwarr mühten sich schwarzbemäntelte Feuerwehrmänner, Überlebende zu bergen und von Dampfschleppern und Walfangbooten aus eiskaltes Flusswasser in die Flammen zu spritzen.
Schon hatten sich, trotz des bitteren Frostes, Hunderte von Schaulustigen versammelt: kleine Mädchen mit Schlittschuhen an den Füßen, Handwerker auf dem Weg zur Arbeit, Dienstleute, Dockarbeiter, Fischer und Eisenbahner. Fliegende Händler stellten eilig ihre Buden auf und freuten sich auf die Tausenden von Neugierigen, die herbeieilen würden, um einen Blick auf die im Fluss treibende, inzwischen zu einem schwärzlichen Metallklumpen ausgebrannte Fähre zu werfen und sich an heißen Esskastanien, Puffmais, warmen Brezeln und Fleischspießchen zu laben.
Peter stieg ab. Er erstand von einem verschlagen blickenden Mann, dessen Hände gänzlich gegen Feuer abgehärtet schienen - fast griff er mit den bloßen Fingern in die rötliche Kohlenglut hinein - eine Tüte gerösteter Esskastanien. Da sie noch zu heiß waren, blickte er sich schnell um, um sich zu vergewissern, dass er von keinem weiblichen Wesen beobachtet wurde, öffnete mit einer flinken Bewegung seine Hose und schob die Tüte mit den Kastanien hinein. Wohlige Wärme verbreitete sich vom Bauch aus über seinen ganzen Körper. Unverwandt blickte er zu dem brennenden Fährschiff hinüber. Der Wind hatte noch mehr aufgefrischt. Er zwang die Trauerweiden am Ufer, sich nach Süden zu neigen, und fegte ihnen den pulverigen Schnee aus dem Geäst.
Einer der Schaulustigen starrte nicht auf das brennende Schiff, sondern schien sich nur für Peter Lake zu interessieren. Doch der tat diesen Affront mit einem Achselzucken ab. Was machte es ihm schon aus, von einem Mann begafft zu werden, der die Uniform eines Telegrammboten trug? Für solche Leute hatte Peter nichts übrig. Vielleicht lag es daran, dass sie nicht im Entferntesten an den gertenschlanken, geflügelten Gott Hermes erinnerten, sondern ausnahmslos rundliche, schwerfällige und dickblütige Scheusale waren, die zu Fuß höchstens eine Meile in der Stunde zurücklegten und keine Puste zum Treppensteigen hatten. Dieser Kerl trug eine zerknautschte Schirmmütze mit einem kleinen Messingschild, auf dem zu lesen stand: Beals, Telegrammbote. Es entging Peter nicht, dass sich dieser Beals nach einem Weilchen unauffällig in der Menschenmenge verdrückte. Was machte es schon, wenn er ihn, Peter, bei den Short Tails verpfiff? Sobald die Bande aufkreuzte, brauchte Peter nur auf seinen Hengst zu springen und das Weite zu suchen.
Unten auf dem Fluss bemühten sich mehrere Feuerwehrmänner, an Bord des brennenden Fährschiffes zu kommen. Eigentlich gab es dazu keinerlei Anlass, denn alle Passagiere waren entweder tot oder gerettet, und die Feuerwehr konnte nicht darauf hoffen, das Feuer doch noch unter Kontrolle zu bringen. Mehrere der tapferen Männer stürzten in den Fluss, als eine Strickleiter durchbrannte, mittels derer sie die steile Bordwand zu bezwingen versuchten. Ein erschrockenes Raunen ging durch die am Ufer versammelten Gaffer. Peter verstand, was dort vorging. Jene Männer wurden umso stärker, je näher sie an das Feuer herankamen. Gewiss, es kam vor, dass der eine oder andere von ihnen bei einem Brand das Leben verlor, aber welch herrliche Bewährungsproben bot ihnen jede Katastrophe!
Peter schloss sich dem allgemeinen Applaus an, als sich einige der Feuerwehrmänner doch noch an einem Seil emporhangelten und das Deck des Schiffes betraten. Während er zuschaute, schälte er eine Esskastanie nach der anderen und teilte sie mit dem Pferd. So verstrich eine halbe Stunde. Das Schiff hatte inzwischen bedrohliche Schlagseite. Ein Schlepper bahnte sich seinen Weg durch die großen Eisschollen, um die erschöpften Feuerwehrleute aufzunehmen, die an Deck des Fährschiffes standen und sich ratlos umblickten, denn auch das rettende Seil war inzwischen verbrannt. Das Schiff konnte jeden Augenblick untergehen, und dann war ihnen der Tod durch Ertrinken gewiss.
Aus dem Augenwinkel - bei Dieben eine hoch entwickelte Art der Wahrnehmung - sah Peter zwei Automobile, die sich rasch näherten. Eigentlich war daran nichts Auffälliges, denn die Straße war ziemlich befahren. Aber diese beiden Wagen kamen, in kurzem Abstand voneinander, verdächtig schnell heran - und sie waren vollgestopft mit Mitgliedern der Short-Tail-Bande! Als Peter sich auf den Rücken des Hengstes schwang, fiel sein Blick auf den Telegrammboten Beals, der in einiger Entfernung vor Aufregung kleine Hüpfer machte. Gewiss würden sich die Short Tails erkenntlich zeigen, indem sie ihn zu einer unmäßigen Prasserei und zu einem Abend im Varieté einluden.
Peter machte sich im Galopp nach Süden davon. Die brennende Fähre war vergessen, als er breite Alleen entlangpreschte, vorbei an Fabriken, Molkereien, Brauereien, Rangierbahnhöfen, Gastanks, ärmlichen Wohnhäusern, kleinen Revuetheatern, Gerbereien und den turmhohen, grauen Pylonen eiserner Brücken. Die Short Tails waren zwar wieder einmal übertölpelt und hatten einstweilen das Nachsehen, aber sie würden unverzüglich mit ihren Automobilen die Verfolgung aufnehmen. Peter fühlte sich jedoch in Sicherheit. Er jagte auf seinem Hengst mit so atemberaubender Geschwindigkeit gen Süden, dass er bisweilen zu fliegen meinte.
Pearly Soames
Im gesamten Universum gab es nur ein einziges Foto von Pearly Soames. Er war darauf zu sehen, wie er von fünf Polizeioffizieren festgehalten wurde. Vier hatten ihn an Armen und Beinen gepackt, während der fünfte seinen Kopf umklammerte. So drückten sie ihn in halb liegender Stellung auf einen Stuhl. Sein Gesicht war rund um die fest zusammengekniffenen Augen zu einer wütenden Fratze verzogen. Fast hätte man beim Betrachten dieses Schwarzweißfotos glauben können, das wütende Gebrüll aus Pearlys Kehle zu vernehmen. Der riesige Polizist hinter ihm hatte es offensichtlich schwer, das Gesicht des Häftlings der Kamera zuzudrehen. Seine Finger hatten sich in Pearlys Haar und Bart verkrallt, als ginge es darum, eine Giftschlange zu bändigen. Im selben Augenblick, als der Magnesiumblitz aufzuckte, war im Hintergrund ein Garderobenständer von rechts nach links gekippt und für alle Zeiten im Bild festgehalten worden, wie der stürzende Verlierer eines Kampfes oder der Zeiger einer großen, reich verzierten Turmuhr, der auf die Zahl »2« zeigte. Pearly war nicht auf eigenen Wunsch abgelichtet worden, das war offenkundig.
Seine Augen blickten scharf wie Rasiermesser und kalt wie weiße Diamanten. Sie waren blass und silbrig durchscheinend, aber zugleich ging ein solches Leuchten von ihnen aus, dass die Leute sagten: »Wenn Pearly die Augen öffnet, ist es wie elektrisches Licht.«
Sein Gesicht wurde von einer Narbe verunziert, die von einem Mundwinkel bis zum Ohr verlief. Wer sie betrachtete, hatte unwillkürlich das Gefühl, als ob ihm mit einem scharfen Messer ein tiefer Schnitt zugefügt würde. In der Tat hatte Pearlys Narbe etwas von einer weißlichen, gezackten Furche aus kühlem Elfenbein. Er trug sie seit seinem vierten Lebensjahr, genau gesagt seit dem Tag, an dem sein Vater versucht hatte, ihm die Kehle durchzuschneiden.
Natürlich ist es böse, ein Verbrecher zu sein. Alle Welt weiß das und kann es beschwören. Kriminelle stören den Gang der Dinge, aber andererseits sorgen sie auch dafür, dass alles im Fluss bleibt. Tatsächlich könnte man geltend machen, dass eine Stadt wie New York ohne die Legionen von finsteren Gesellen und deren unerklärliche Abneigung gegen Recht und Ordnung weniger hell im Glanz der eigenen Rechtschaffenheit erstrahlen würde. Ja, man könnte sogar die Behauptung aufstellen, dass Bösewichter eine unerlässliche Komponente in jener ausbalancierten Gleichung sind, die den ehernen Gang der Zeiten regelt. Sie sind die Würze und das Ferment einer Metropole, ein rotes Aufblitzen im Mosaik des nächtlich hell erleuchteten Häusermeeres.
All dies galt auch für Pearly Soames. Stets war er sich seiner selbst und der Schlechtigkeit seines Handelns bewusst. Er verfügte über eine geradezu selbstquälerische Gabe, sich im Handumdrehen mit wachem Verstand die Bedeutung seiner gnadenlosen Gewalttaten vor Augen zu führen. Zwar kümmerte er sich nicht im Geringsten um jene komplizierten Mechanismen, die in der Welt für Ausgleich sorgen, aber das Leben in der Stadt wäre gewiss nicht mehr dasselbe gewesen, hätte es ihn nicht gegeben. Denn dieses Leben bedurfte genau dessen, was Pearly in seiner Person vereinigte: der Kräfte des Ausgleichs, der Verneinung und des Zufalls. Stellt euch nur vor, welch rätselhafte Verkehrung aller Werte vorliegen muss, damit ein Mann beim Anblick eines Säuglings zusammenzuckt und den Impuls verspürt, das kleine Menschenwesen zu töten! Pearly war aus solchem Holz geschnitzt; er hasste Babys und hätte sie am liebsten allesamt umgebracht. Ihr Geplärr klang in seinen Ohren wie das Geschrei rolliger Katzen. Er verabscheute ihre weit aufgerissenen Münder. Nicht einmal ihren eigenen Kopf vermochten sie hochzuhalten! Ihre Bedürfnisse, ihre Unbeherrschtheit und ihre Unschuld trieben ihn zum Wahnsinn, er hätte sie gern mundtot gemacht, noch bevor sie sprechen lernten. Kleine Kinder, die zu jung zum Stehlen waren, erfüllten ihn ebenfalls mit Ekel. Welch tragischer Irrtum der Natur! Wenn Menschen klein genug waren, um sich zwischen Gitterstäben hindurchzuzwängen, wussten sie nichts mit sich anzufangen und hatten auch noch nicht die Körperkraft, um eine gewichtige Beute davonzutragen. Doch sobald sie alt genug waren, um zu begreifen, was es auf der anderen Seite der Gitterstäbe zu holen gab, passten sie nicht mehr hindurch. Übrigens hasste Pearly nicht nur Kinder wegen ihrer Verletzlichkeit, sondern er fühlte auch Wellen wilder Gewalttätigkeit in sich aufsteigen, wenn er einen Krüppel vor sich sah. Zähneknirschend hätte er solche Kreaturen am liebsten an Ort und Stelle umgebracht, zu Brei geschlagen, ihr grässliches Selbstmitleid für immer zum Schweigen gebracht und ihre Rollstühle zertrümmert. Pearly war ein Bombenleger, ein Irrer, ein Erzbösewicht, ein Satan, ein reißender Straßenköter.
*
Pearly Soames wollte Gold und Silber, aber nicht um des Reichtums willen wie gewöhnliche Diebe. Er begehrte diese edlen Metalle wegen ihres Glanzes und ihrer Reinheit. Sein seltsames, abwegiges und verbildetes Wesen suchte in der abstrakten Beziehung zwischen den Farben nach Linderung und Heilung. Doch mochte er sich noch so sehr zu fein abgestuften und intensiven Farben hingezogen fühlen, so war er dennoch kein connaisseur der Malerei geworden. Solche Menschen standen den Farben bemerkenswert gleichgültig gegenüber. Selten nur waren sie von ihnen besessen, und rasch sahen sie sich satt. Sie hatten etwas von Feinschmeckern, die ihre Speisen zu kunstvollen Gebilden auftürmen, bevor sie sie verzehren. Sie verwechselten Schönheit mit Wissen und Leidenschaft mit Sachverstand.
Nicht so Pearly. Seine Hinneigung zur Farbe war wie eine ansteckende Krankheit oder eine Religion. Er war ihr verfallen und darbte nach ihr wie ein Verhungernder. Bisweilen, wenn er durch die Straßen der Stadt ging oder in einem schnellen Segler auf dem Fluss kreuzte, erlebte er, wie die Sonne für kurze Zeit die spiegelnde Fassade eines Hochhauses in einen goldenen Glanz von geradezu verbotener Schönheit tauchte. Dann blieb Pearly jedes Mal wie angewurzelt mitten auf der Straße stehen, sodass der Verkehr ihm ausweichen musste. Falls er gerade in einem Boot saß, legte er es augenblicklich in den Wind und betrachtete das farbenfrohe Schauspiel bis zum Ende. Maler und Anstreicher durchlitten immer wieder Todesängste, wenn sie plötzlich Pearly Soames neben sich sahen, die elektrisierenden Augen unverwandt auf die glänzende, mit lüsterner Langsamkeit aus den dicken Quasten triefende Farbe gerichtet. Es war schon schlimm genug, wenn Pearly allein auftauchte - er war bekannt wie ein bunter Hund, und ein unzweideutiger Ruf ging ihm voraus -, aber meist wurde er von einer Rotte Banditen eskortiert. Dann zitterten die armen Anstreicher vor Furcht, denn unfehlbar wurden sie später von den Short Tails dafür bestraft, dass jene schweigend und mit den Händen in den Taschen ihre Zeit zu vertrödeln gezwungen waren, während Pearly seiner rätselhaften »Farbengravität« frönte, wie er es selbst nannte. Da die Banditen sich schlecht bei ihrem Anführer beschweren konnten, ließen sie ihren Zorn stets an den braven Handwerkern aus, indem sie ihnen bei passender Gelegenheit eine Tracht Prügel verabreichten.
Eines Tages zu Beginn eines Bandenkrieges marschierten Pearly und sechzig seiner Short Tails wie eine kleine florentinische Armee durch die Straßen der Stadt. Die Banditen trugen nicht nur ihre üblichen Waffen am Körper versteckt, sondern sie hatten auch Gewehre, Handgranaten und sogar Säbel mitgebracht. Vor lauter Kampfbereitschaft waren sie so erregt, dass ihre Herzen heftig klopften und ihre Augen blitzten. Auf halbem Weg zum Schlachtfeld erspähte Pearly zwei Anstreicher, die mit ihren Pinseln eine frische Lackschicht auf den Türrahmen einer Kneipe klatschten. Pearly ließ seine kleine Truppe anhalten. Dann ging er mit den Augen ganz nah an die grüne Ölfarbe heran, schnüffelte und verharrte geistesabwesend eine ganze Weile in dieser Pose, bis er erfrischt, zuinnerst bewegt und staunend zurücktrat. Ganz betört vom Farbenzauber sagte er zu den beiden Malern: »Tragt dicker auf! Die Farbe glänzt so schön, wenn sie nass ist. Das sind unvergessliche Augenblicke!« Zur Freude des Kneipenbesitzers verpassten die beiden Maler der Tür einen zweiten Anstrich. Auch Pearly war zufrieden. »Eine schöne Landschaft«, kommentierte er, »wirklich schön. Ich muss dabei an die Landsitze von reichen Leuten denken. Dort dürfen keine Schafe grasen, sodass die Grünflächen immer makellos sind. Macht nur tüchtig weiter so! In ein bis zwei Tagen komme ich wieder vorbei und schau mir an, wie der trockene Lack aussieht.« Nach diesen Worten zog er mit seinen Männern in die Schlacht. Der Anblick der Farbe hatte ihm Kraft verliehen.
Pearly ließ sich von seinem Farbentick auch dazu verleiten, Gemälde zu stehlen. Mit seinen Männern plünderte er die angeblich so sicheren Tresore hoch angesehener Kunsthändler und so manchen der schwerbewachten Paläste an der oberen Fifth Avenue. Dort stieß die Bande auf die begehrtesten Werke, Bilder im Wert von zigtausend Dollar, die bei jedem Anlass von der sensationslüsternen Pressemeute umlagert wurden. Über solche Meisterwerke hätte kein Kunstsachverständiger ein abschätziges Wort zu sagen gewagt. Sie waren zumeist in Privatyachten oder -flugzeugen aus Europa herübergebracht worden, unter den wachsamen Blicken von mindestens drei Pinkerton-Detektiven. Pearly wusste genau, wo er auf gute Beute hoffen konnte, denn er las aufmerksam die Zeitungen und studierte sorgfältig die Kataloge der Auktionshäuser.
Eines Nachts kamen seine besten Einbrecher mit fünf zusammengerollten Leinwänden von Knoedler's zurück. Pearly brachte es nicht über sich, bis zum Morgen zu warten. Er befahl, die Gemälde zu glätten und zwei Dutzend Sturmlaternen sowie mehrere große Spiegel herbeizuschaffen. Damit sollte ein riesiger Dachspeicher, das derzeitige Hauptquartier der Bande unten im Hafenviertel, erleuchtet werden. (Ähnlich wie Guerilleros wechselten die Short Tails häufig ihren Standort.)
Pearly ließ die Gemälde auf hohe Staffeleien stellen und mit einem Samtvorhang verdecken. Die Lampen wurden entzündet und die Spiegel so zurechtgerückt, dass der helle Lichtschein genau auf die Stelle fiel, wo die fünf Gemälde hinter dem Samt auf ihre Enthüllung warteten. Mit einem Kopfnicken gab Pearly das Zeichen.
»Was soll das!«, entfuhr es ihm, als der Vorhang beiseitegezogen wurde. Unwillkürlich zuckte seine Hand zu der Pistole, die er im Gürtel trug. »Habt ihr etwa nicht gestohlen, was ich euch aufgetragen hatte?«
Wie von Sinnen blätterten die Einbrecher in Auktionskatalogen und verglichen die von Pearly rotumrandeten Titel mit den kleinen Messingschildern, die sie zusammen mit den Bilderrollen gestohlen hatten. Sie passten, davon konnte sich Pearly selbst überzeugen.
»Das verstehe ich nicht«, sagte er und beäugte die kleine Kollektion großer und berühmter Namen. »Sie sind lehmfarben, schwarz und braun! Kein Licht und kaum Farbe! Wie kann man nur in Schwarz und Braun malen?«
»Kein Ahnung, Pearly«, meinte Blacky Womble, sein Vertrauter und Stellvertreter.
»Warum? Warum haben sie so gemalt?«, wiederholte Pearly fassungslos. »Und weshalb sind all die reichen Leute und Experten wild auf solche Bilder? Sie müssten es doch besser wissen mit all ihrem Sachverstand und Reichtum!«
»Ich werd' auch nicht schlau draus, Pearly«, pflichtete ihm Blacky Womble bei.
»Halt die Klappe und schaff das Zeug zurück!«, fuhr Pearly ihn an. »Ich will es nicht haben. Tut die Bilder wieder in ihre Rahmen!«
»Aber wir haben sie doch rausgeschnitten!«, protestierten die Einbrecher. »Außerdem wird es in einer Stunde hell. Es ist zu spät.«
»Dann bringt sie eben morgen zurück, verdammt noch mal! Was für ein Reinfall!«
Am nächsten Tag gab es einen fürchterlichen Aufruhr, als bei Knoedler's das Verschwinden von Gemälden im Wert von einer halben Million Dollar entdeckt wurde. Aber schon am Morgen des übernächsten Tages verkündeten riesige Schlagzeilen in den Zeitungen, dass die Bilder zurückerstattet worden
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Es war einmal ein weißer Hengst an einem stillen Wintermorgen. Weicher, nicht allzu tiefer Schnee bedeckte die Straßen der Stadt. Am Himmel funkelten zahllose Sterne. Im Osten kündigte sich schon dämmerig blau der Morgen an. Kein Lüftchen regte sich, doch es war damit zu rechnen, dass schon bald nach Sonnenaufgang ein eisiger Wind das Flussbett des Hudson hinabgebraust käme.
Das Pferd war aus seinem Stall, einem engen Bretterver schlag im Stadtteil Brooklyn, geflohen. Mutterseelenallein trottete es nun über die tagsüber stark befahrene Williamsburg-Brücke. Der Mann, der von früh bis spät die Brückengebühr zu kassieren hatte, schlief noch neben seinem Ofen.
Der frische Schnee dämpfte den Hufschlag des Hengstes. Mehrmals blickte er zurück, um sich zu vergewissern, dass er nicht verfolgt wurde. Seit seiner Flucht aus Brooklyn hatte er in raschem Tempo vier oder fünf Meilen hinter sich gebracht, vorbei an stillen Kirchen und geschlossenen Läden.
Weiter unten im Süden, an der Mündung des Hudson, bahnte sich zur selben Zeit das Fährschiff, in der Dämmerung ein funkelndes Pünktchen, zwischen Eisschollen hindurch seinen Weg nach Manhattan, wo um diese frühe Stunde nur ein paar Marktfrauen und Händler auf den Beinen waren. Sie warteten darauf, dass die Fischerboote durch das Hell Gate den noch nächtlich ruhigen Strom hinabgeglitten kamen.
Was der Hengst getan hatte, war unsinnig - und er wusste es. Schon bald würden sein Herr und dessen Frau aufstehen, Feuer im Herd machen und ihren Arbeitstag beginnen. Wieder einmal müsste die Katze die schmerzliche Demütigung über sich ergehen lassen, von ihrem warmen Plätzchen in der Küche vertrieben zu werden und durch die halb offene Tür hindurch in hohem Bogen, das Hinterteil voraus, auf einem schneebedeckten Haufen Sägespäne zu landen. Der Duft von Blaubeeren und heißen Pfannkuchen würde sich mit dem süßlichen Geruch harzigen Brennholzes mischen, und schon wenig später würde der Herr des Hauses mit stampfenden Schritten den Hof überqueren, um ihn, den weißen Hengst, zuerst zu füttern und dann vor das mit Milchkannen beladene Fuhrwerk zu spannen. Doch der Stall wäre leer und von einem weißen Hengst weit und breit keine Spur.
Das ist ein hübscher Spaß, sagte sich der Hengst. Diese Art des trotzigen Aufbegehrens ließ sein Herz höherschlagen und jagte ihm eine köstliche Angst ein. Er wusste genau, dass sein Herr schon bald hinter ihm her sein würde. Vielleicht musste er sich wieder einmal auf schmerzliche Schläge gefasst machen, doch zugleich spürte er, dass sein Herr nicht nur zornig, sondern auch amüsiert, ja sogar ein wenig geschmeichelt wäre, denn wieder einmal war es ihm, dem Hengst, gelungen, seine Flucht mit Mut und List in die Wege zu leiten. Das verdiente Respekt. Eine kleinliche, einfallslose Revolte wie das Zertrümmern der Stalltür mit dem Huf wurde zu Recht mit der Peitsche geahndet, doch selbst dann machte der Herr nicht immer davon Gebrauch. Er wusste die Aufsässigkeit seines Pferdes zu schätzen, und dessen geheimnisvolle Intelligenz erfüllte ihn mit einem Gefühl von Dank und Anerkennung. Bisher war es jedes Mal sein Nachteil gewesen, wenn er die Klugheit des Hengstes unterschätzt hatte. Im Übrigen liebte er das Pferd und hatte eigentlich nichts dagegen, ihm bisweilen durch ganz Manhattan hinterherzujagen. Diese Eskapaden lieferten ihm nämlich stets einen Vorwand, um all seine Freunde zusammenzutrommeln und mit ihnen sämtliche Kneipen der Gegend abzuklappern. Bei ein paar Bieren und Schnäpsen erkundigte er sich dann bei den Gästen, ob niemand seinen schönen, großen und schneeweißen Hengst gesehen habe, der wieder einmal ausgerissen sei und sich nun ohne Trense, Zügel und Decke irgendwo in der Stadt herumtreibe.
Der Hengst konnte auf Manhattan einfach nicht verzichten. Dieser Teil der Stadt zog ihn an wie ein Magnet, wie ein Vakuum, wie ein Sack mit Hafer, wie eine Stute oder wie eine endlose, von Bäumen gesäumte Allee.
Am jenseitigen Ende der Brücke angelangt, blieb der Hengst wie angewurzelt stehen. Vor ihm lagen Tausende von Straßen. Es herrschte tiefes Schweigen. Nur der Wind rauschte leise. Die Stadt lag verlassen da. Der frische Schnee hatte sich in den Straßen zu kleinen Verwehungen aufgetürmt, die noch von keiner Fußspur und keinem Wagenrad berührt worden waren. Voller Freude betrachtete der Hengst dieses weiße Labyrinth. Er setzte sich wieder in Bewegung und trabte an geschlossenen Theatern vorbei, an Kontoren und Bootshäusern, deren verschneites Gebälk an einen winterlichen Wald erinnerte. Dunkle Fabrikhallen und menschenleere Parks säumten den Weg des Hengstes, dann eine Reihe kleiner Häuser, aus deren Kaminen der Rauch frisch entzündeter Herdfeuer stieg und die Luft mit der tröstlichen Ahnung von Wärme und Geborgenheit erfüllte. Doch schon wenig später bot sich dem Ausreißer hinter ein paar erleuchteten Kellerfenstern der abstoßende Anblick eines Obdachlosenheimes, in dem allerlei Großstadtgesindel und zahlreiche Invaliden herumlungerten. In der Nähe des Marktes wurde plötzlich eine Tür aufgestoßen, und ein Eimer voll kochend heißen Wassers landete zischend und dampfend im Schnee der Straße. Der Hengst scheute und machte trippelnd ein paar Schritte zur Seite. Fast wäre er in einer Toreinfahrt über die Leiche eines Mannes gestolpert, dessen steinhart gefrorener, in Lumpen gewickelter Körper die nüchterne Sachlichkeit eines Sarges hatte.
Von stämmigen Gäulen gezogene Schlitten und Wagen fuhren vom Markt her in alle Himmelsrichtungen davon, ihren irgendwo in der Stadt gelegenen Zielen entgegen. Der Hengst machte jedoch einen Bogen um diese geschäftige Gegend, denn dort herrschte schon bei Tagesanbruch ein ebenso reges Treiben wie zur Mittagszeit. Er hielt sich lieber in den ruhigen Seitenstraßen, wo riesige Gerüste die Lücken in der Häuserzeile füllten und von fieberhafter Bautätigkeit zeugten. Selten nur verlor er die neuen Brücken aus den Augen, die das fraulich schöne Brooklyn mit dem gönnerisch reichen Manhattan verbanden und das umliegende Land dem Zugriff der City näher brachten. Sie überspannten nicht nur die räumliche Entfernung über dem dunklen Wasser, sondern verknüpften auch die Träume der Menschen miteinander.
Der Schweif des weißen Hengstes schwang hin und her, während er munter die stillen Boulevards und Avenuen entlangtrottete. Seine Gangart hatte etwas Tänzelndes, und das war nicht verwunderlich. Ein Pferd ist nicht nur ein schönes Tier, sondern es hat vor allem die bemerkenswerte Eigenschaft, dass es sich stets so bewegt, als folge es den Klängen einer Musik. Mit einer Zielstrebigkeit, die den Hengst selbst in Erstaunen versetzte, trabte er nach Süden, dem Battery Park entgegen. Er war schon von weitem am Ende einer langen, engen Straße als ein weiß überzogenes Feld zu erkennen, über das quer die Schatten hoher Bäume fielen.
Das Wasser des Hafens nahm im Licht des jungen Tages verschiedene Färbungen an; es wiegte sich in Schichten aus Grün, Silber und Blau. Jenseits des Hudson, am Ende dieses regenbogenartigen Gefunkels, erhob sich über dem Horizont hinter einem weißen Dunstschleier die gewaltige Kulisse einer Stadt. Die aufgehende Sonne tauchte sie in einen blassgoldenen, sich allmählich vertiefenden Widerschein, sie gaukelte dem Auge wabernde und sich brechende Hitzewellen vor. Dort drüben hätten ebenso gut tausend Städte wie die Schwelle zum Himmel liegen können.
Der Hengst war stehen geblieben. Seine Augen füllten sich mit goldenem Licht. Kleine Dampfwolken entströmten seinen Nüstern, während er aus der Ferne das atemberaubende Schauspiel betrachtete. Seine Reglosigkeit gab ihm das Aussehen einer Statue. Unverwandt war sein Blick auf die goldene Lohe gerichtet, die über dem Bett aus Blau brannte. Welche Vollkommenheit! Kurzerhand entschloss er sich, jenen Ort aufzusuchen.
Er setzte sich in Bewegung, musste jedoch schon kurze Zeit später feststellen, dass der Zugang zum Battery Park durch ein hohes, eisernes Tor verschlossen war. So machte er denn kehrt und versuchte es an anderer Stelle, doch wieder stand er alsbald vor einem Tor gleicher Beschaffenheit. Das wiederholte sich stets aufs Neue, mochte er auch alle möglichen Straßen probieren. Inzwischen wurde der goldene Glanz in der Ferne immer strahlender, bis er die Hälfte der Welt erglühen ließ.
Der Hengst, gefangen im Labyrinth der Straßen, wollte noch immer nicht aufgeben. Der Battery Park, jene weite, weiße Fläche, schien ihm der einzige Weg zu dem goldenen Licht zu sein. Es zog ihn so unwiderstehlich dorthin, als sei es seit seiner Geburt seine Bestimmung gewesen. Verzweifelt galoppierte er Alleen und Zufahrten entlang, durch schneebedeckte Parks und über verschneite Plätze. Nie verlor er das sich noch immer vertiefende Gold aus den Augen.
Am Ende der letzten Straße, die ins Offene mündete, versperrte ihm wiederum eines jener eisernen Tore den Weg. Es war jedoch nur mit einem einfachen Riegel verschlossen. Der Atem des Hengstes ging schwer, sein Kopf war vom Dampf seiner Nüstern umwölkt, als er angestrengt durch die Gitterstäbe spähte. Alles war vergeblich gewesen. Nie würde er den Battery Park betreten, um sich irgendwie über das blaugrüne Wasser des Flusses dem goldenen Schein entgegenzuschwingen.
Gerade wollte er kehrtmachen und sich auf den Rückweg machen, quer durch die Stadt zu der Brücke, die ihn über den Fluss nach Brooklyn führen würde, als ein Geräusch an seine Ohren drang, das wie eine ferne Brandung klang. Es schwoll immer mehr an, bis der Hengst begriff, was es war: das Getrappel vieler Füße. Bald schon glaubte er zu verspüren, wie die Erde fast unmerklich erbebte, als galoppierte ein anderes Pferd an ihm vorbei. Aber es war kein Pferd, es waren viele Männer, die dort angelaufen kamen. Plötzlich waren sie da! Der Hengst sah, wie sie quer durch den Park rannten. Genauer gesagt sprangen sie mit weit ausgreifenden Schritten, denn nur so kamen sie in dem knietiefen Schnee einigermaßen vorwärts. Das musste sehr anstrengend sein, und von weitem sah es aus, als bewegten sie sich im Zeitlupentempo. Es dauerte lange, bis die Männer die Mitte des weiten Feldes erreichten. Dem Hengst fiel auf, dass ein einzelner vor allen anderen, einem runden Dutzend, davonzulaufen schien. Der Flüchtige keuchte und ruderte heftig mit den Armen. Bisweilen vergrößerte er seinen Vorsprung ein wenig, indem er mit ganzer Kraft einen kleinen Spurt einlegte. Mehrmals stürzte er, doch sofort war er wieder auf den Beinen und lief weiter. Auch von den anderen Männern kamen einige zu Fall, aber sie erhoben sich weniger behende als der Gejagte. So kam es, dass die Verfolger bald eine langgestreckte Linie bildeten. Sie fuchtelten mit den Armen und stießen unverständliche Schreie aus. Der Mann an der Spitze achtete nicht darauf, er lief weiter, als wäre er aufgezogen. Nur wenn er mit einem Hechtsprung eine Schneeverwehung überquerte, breitete er seine Arme wie Schwingen aus.
Der Hengst fand Gefallen an dem Mann, der nun nicht mehr weit entfernt war. Der Flüchtende bewegte sich gut - nicht wie ein Pferd oder ein Tänzer oder jemand, der sein Leben mit Musik verbringt, aber immerhin mit einer gewissen Beherztheit und Anmut. Was dort drüben vorging, schien auf irgendeine geheime Art damit zu tun zu haben, dass dieser Mann sich so bewegte. Dies war keine normale Verfolgungsjagd! Die anderen kamen dem Flüchtenden immer näher, und das war eigentlich schwer zu verstehen, denn sie trugen schwere Mäntel und Hüte auf den Köpfen. Er, der Gejagte hingegen, lief barhäuptig in einer dicken Joppe durch den Schnee. Um den Hals hatte er einen Schal geschlungen. Schon von weitem war deutlich zu erkennen, dass er Winterstiefel trug, während seine Verfolger normale Straßenschuhe an den Füßen hatten. Sicherlich waren sie längst voll Schnee und halb durchgeweicht. Trotzdem waren die anderen schneller als der, der vor ihnen davonlief. Sie schienen besser in Form zu sein als er und hatten in solchen Unternehmungen wohl auch mehr Übung.
Plötzlich blieb einer der Verfolger mit gespreizten Beinen stehen, zückte eine Pistole, zielte und feuerte auf den fliehenden Mann. Das Echo des Schusses brach sich mehrmals an den Häuserfassaden am Rande des Parks. Aufgeregt flatternd stiegen ein paar verschreckte Tauben in den Himmel. Der Gejagte blickte sich kurz um und änderte sodann seine Richtung. Jetzt lief er direkt auf das Eisentor zu, hinter dem reglos der weiße Hengst stand. Dieses Manöver bewirkte, dass die Verfolger noch mehr aufholten, denn natürlich machten sie die Richtungsänderung sofort mit. Das bedeutete, dass sie in einem günstigeren Winkel auf das eiserne Tor zuliefen als der Mann, hinter dem sie her waren. Der erste der Verfolger hatte ihn bald bis auf sechzig oder siebzig Schritte eingeholt. Auch er blieb plötzlich stehen, zog eine Waffe aus der Manteltasche und schoss. Der Knall schien so nah und war so ohrenbetäubend, dass der Hengst zusammenzuckte und erschrocken zurücksprang.
Unterdessen hatte sich der Fliehende bis auf eine geringe Distanz dem Tor genähert. Der Hengst, dem die ganze Sache nicht geheuer war, zog sich noch weiter zurück und verbarg sich in einer Toreinfahrt. Doch lange hielt er es nicht aus. Seine Neugier war stärker. Vorsichtig spähte er um die Ecke. Gerade in diesem Augenblick schlug der fliehende Mann von unten mit der Faust so heftig gegen den Riegel des Tores, dass dieser mit einem hellen, metallischen Geräusch zurückschnellte. Gleich darauf warf er das Tor krachend hinter sich ins Schloss, zog eine kurze, dicke Eisenstange aus der Tasche und hämmerte damit atemlos so lange auf dem Riegel herum, bis er derart verbogen war, dass er sich nicht mehr bewegen ließ. Der Mann wandte sich um und rannte die Straße hinauf. In seinen Augen lag ein gehetzter Ausdruck.
Seine Verfolger hatten schon den Zaun erreicht, als er auf einer gefrorenen Pfütze ausrutschte und schwer stürzte. Er überschlug sich, prallte mit dem Kopf gegen das Straßenpflaster und blieb reglos liegen. Mit klopfendem Herzen sah der Hengst, dass sich die zwölf Männer wie ein Trupp Soldaten gegen das Tor warfen. Fast wirkten sie wie die Karikatur einer Verbrecherbande. Ihre Gesichter waren irgendwie schief, sie hatten allesamt buschige, zusammengewachsene Augenbrauen, ein fliehendes Kinn und Nasen, die man ihnen wieder angenäht hatte - jedenfalls sahen sie so aus. Der tiefe Haaransatz auf ihrer Stirn war wie ein grotesker Gletscher, der sich weit, allzuweit talwärts geschoben hatte. Grausamkeit ging von ihnen aus wie elektrische Funken, die bläulich knisternd die Lücke zwischen zwei Polen überspringen. Einer zückte seine Pistole und zielte damit auf den Gestürzten, aber ein anderer, offenbar der Anführer, befahl: »Nein, nicht so! Jetzt haben wir ihn! Wir machen ihn langsam mit dem Messer fertig.« Er gab den Männern einen Wink. Sofort machten sie sich daran, über das Tor zu klettern.
Hätte der Hengst nicht seinen Kopf hinter der Hausecke hervorgestreckt und zu ihm herübergeblickt, wäre der Mann gewiss liegen geblieben und hätte aufgegeben. Er hieß übrigens Peter Lake. Mit lauter Stimme sagte er zu sich selbst: »Du musst ganz schön in der Klemme stecken, wenn dich ein Pferd so mitleidig ansieht, du Dummkopf!« Diese Worte schienen ihm neue Kraft einzuflößen, denn er richtete sich auf und rief: »He, Pferd, komm her!« Die zwölf Gangster, die vom Tor aus das Pferd nicht sehen konnten, dachten sicherlich, dass Peter Lake entweder den Verstand verloren hatte oder noch einmal versuchte, sie auszutricksen.
»Pferd!«, rief Peter wieder. Der Hengst zog seinen Kopf zurück. »Komm hierher, Pferd. Bitte!« Hinter Peter erreichten die ersten Verfolger die ihm zugewandte Seite des Tores. Peter spreizte die Arme. »Komm!«, sagte er wieder flehend zu dem Pferd. Die Gangster hatten es nicht mehr eilig. Auf der Straße war keine Menschenseele zu sehen, und Peter Lake machte keinerlei Anstalten zu fliehen. Jetzt war er ihnen sicher!
Peters Herz klopfte so sehr, als wollte es ihm die Brust sprengen. Er kam sich lächerlich vor wie ein mechanisches Spielzeug, dessen Bewegungen außer Kontrolle geraten waren, weil irgendein Rädchen den Dienst versagte. »O mein Gott!«, entfuhr es ihm in seiner Verzweiflung. »Oh, Jesus, Maria und Joseph, schickt mir eine schwere Dampfwalze!« Aber natürlich geschah kein derartiges Wunder. Alles hing jetzt von dem Pferd ab.
Mit einem Satz übersprang der weiße Hengst die gefrorene Pfütze und war bei Peter Lake. Er senkte den Kopf, damit der Mann seinen schlanken Hals umfassen konnte. Gleich darauf saß Peter auf dem Rücken des Pferdes. Er hatte es wieder einmal geschafft! Auch die Pistolenschüsse, die hinter ihm krachten, konnten das Triumphgefühl, das sich seiner bemächtigte, nicht dämpfen. Schon hatte der Hengst auf der Hinterhand kehrtgemacht, sich leicht geduckt wie zum Sprung und seine Lungen mit der kalten Winterluft gefüllt. Mit einem gewaltigen Satz schnellte er nach vorn und fiel in einen rasanten Galopp. Peter wandte sich übermütig lachend nach seinen düpierten Verfolgern um. Einige von ihnen machten ein paar Schritte, als wollten sie ihm nachlaufen. Andere, unter ihnen auch Pearly Soames, standen rücklings an das eiserne Tor gelehnt und schossen fluchend ihre Pistolen leer. Pearly ließ als Erster von der sinnlosen Knallerei ab. Er biss sich auf die Unterlippe, und es war ihm anzusehen, dass er schon auf neue Mittel und Wege sann, um irgendwann doch noch seines flüchtigen Gegners habhaft zu werden.
Peter war einstweilen in Sicherheit. Keine Kugel konnte ihn mehr erreichen. Er zügelte den Hengst zu einem leichten Galopp und lenkte ihn durch die Straßen der erwachenden Stadt nach Norden.
Die Fähre brennt in der Morgenkälte
Die Short Tails abzuhängen war kein Kunststück, denn die Banditen hatten keine Pferde. Außerdem konnte niemand von ihnen reiten, auch Pearly Soames nicht. Aber diese Kerle waren die Herren der Docks. Mit kleinen Booten manövrierten sie erstaunlich geschickt, aber zu Lande half ihnen das nichts. Dort gingen sie zu Fuß oder benutzten die städtischen Busse, U-Bahnen und Vorortzüge - selbstverständlich ohne Fahrschein. Seit drei Jahren waren sie hinter Peter Lake her. Sie jagten ihn ohne Rücksicht auf Wetter und Jahreszeit, so dass er seinen eigenen Worten zufolge immer im »Keller« war, das heißt in einem fortwährenden Abwehrkampf, auf dessen Ende er bisher vergeblich gehofft hatte.
Bisweilen suchte Peter Schutz bei den Muschelfischern des Marschlandes von Bayonne, aber sein eigentliches Revier war Manhattan. Es dauerte dort allerdings nie lange, bis die Short Tails ihn ausfindig gemacht hatten. Dann begann die Jagd aufs Neue.
Peter konnte und wollte auf Manhattan nicht verzichten, denn er war ein Dieb. Woanders zu arbeiten wäre in diesem Gewerbe ein niederschmetterndes Eingeständnis der eigenen Mittelmäßigkeit gewesen. Während der vergangenen drei Jahre hatte er mehrmals mit dem Gedanken gespielt, nach Boston zu gehen, aber stets war er zu derselben Schlussfolgerung gelangt: Dort gab es so gut wie keine lohnende Diebesbeute, die Stadt war zudem für Diebe oder Einbrecher allzu klein und über sichtlich, und außerdem musste er, Peter, sich darauf gefasst machen, den cantarello-Affen in die Quere zu kommen. Die gaben dort in Boston den Ton an, aber sie waren nichts im Vergleich mit den Short Tails, mit denen sich Peter Lake - übrigens aus ganz anderen Gründen - angelegt hatte. Er hatte sogar gehört, dass es in Boston nachts richtig dunkel wurde! Angeblich stieß man dort auch an jeder Straßenecke mit einem Geistlichen zusammen. Deshalb blieb er lieber in New York und gab sich weiterhin der Hoffnung hin, die Short Tails könnten irgendwann der ständigen Jagd überdrüssig werden.
Da irrte er jedoch. Abgesehen von den Verschnaufpausen im Marschland waren ihm die Kerle immer dicht auf den Fersen gewesen. Mittlerweile hatte er sich fast daran gewöhnt, auf der wackeligen Treppe irgendeines seiner Notquartiere schon in aller Herrgottsfrühe das Poltern von vielen Stiefeln zu vernehmen. Oftmals hatte er von einer leckeren Mahlzeit, einem ihm geneigten Frauenzimmer oder der reichen Beute in einem unbewachten Haus ablassen müssen, weil urplötzlich die Short Tails aufgetaucht waren. Es kam vor, dass sie buchstäblich neben ihm aus dem Boden wuchsen. Wie sie das anstellten, war ihr Geheimnis.
Doch nun lagen die Dinge anders, denn jetzt hatte Peter ein Pferd. Warum war er nicht früher darauf gekommen? Endlich konnte er für einen beliebig großen Sicherheitsabstand sorgen, wenn Pearly ihm wieder einmal zu dicht auf den Pelz rückte, und im Sommer würde er sogar auf dem Rücken des Pferdes Flüsse und Seen durchschwimmen können. Im Winter, wenn das Wasser zufror, würde alles sogar noch leichter sein. Er könnte nicht nur nach Brooklyn flüchten - wenn auch mit dem Risiko, sich im verwirrenden Labyrinth der unzähligen Straßen zu verirren -, sondern nun lagen auch die Kiefernwälder der weiteren Umgebung, die Watchung-Berge und die endlosen Strände von Montauk in seiner Reichweite. Das waren Orte, die man nicht mit der U-Bahn erreichen konnte. Gewiss würden die an die Stadt gewöhnten Short Tails vor ihnen zurückschrecken, denn mochten sie sich auch aufs Töten und Stehlen verstehen, so fürchteten sie sich doch vor Blitz, Donner, wilden Tieren, tiefen Wäldern und dem Quaken der Baumfrösche in der Nacht.
Peter Lake spornte das Pferd zu einer schnelleren Gangart an, aber der Hengst brauchte keine Ermunterung. Die Angst saß ihm noch im Nacken, und außerdem liebte er es, dahinzujagen wie ein Pfeil. Schon übergoss die Morgensonne die Dächer der Häuser mit ihrem Feuerschein. Der Hengst hatte sich längst warm gelaufen. Ja, er genoss es, dahinzustürmen wie ein großes weißes Geschoss, den Kopf nach vorn in den Wind gereckt und die Ohren angelegt. Er machte so riesige Sätze, dass Peter unwillkürlich an ein Känguruh denken musste. Bisweilen war ihm, als würden die Hufe des Hengstes den Boden überhaupt nicht mehr berühren.
Es hat wohl keinen Sinn, nach Five Points zu reiten, sagte sich Peter. Gewiss, er hatte dort Freunde und konnte in tausend Kellerkaschemmen Unterschlupf finden. Da wurde getanzt und um Geld gespielt, aber mit dem großen weißen Hengst würde er zu großes Aufsehen erregen. Alle Petzer und Schnüffler wären geradezu elektrisiert und warteten nur auf die erstbeste Gelegenheit, ihn zu verpfeifen. Außerdem war Five Points so nah! Wozu hatte er das Pferd? Heute zog es ihn hinaus aus der Stadt, er wollte möglichst weit fort.
Sie rasten die Bowery entlang und erreichten bald den Washington Square, wo der Hengst durch den Torbogen flog wie ein dressiertes Zirkustier durch einen brennenden Reifen. Um diese Zeit waren die Straßen schon von zahlreichen Fußgängern bevölkert. Mit gerunzelten Brauen blickten sie dem tollkühnen Reiter nach, der sich ungeachtet des dichten Verkehrs seinen Weg bahnte. Ein Polizist, der am Madison Square die beiden von seinem erhöhten Piedestal herab die Fifth Avenue heraufkommen sah, begriff augenblicklich, dass es vergeblich sein würde, ihnen Halt zu gebieten, und sorgte von vornherein gleich dafür, dass Pferd und Reiter ungehindert passieren konnten. Der grässliche Anblick eines Gaules, der in vollem Galopp auf ein fahrendes Automobil geprallt war, war ihm noch allzu frisch in Erinnerung. Er wollte so etwas nicht noch einmal erleben.
Schon kamen Pferd und Reiter gleich einem zum Leben erwachten Standbild pfeilschnell heran. Der Polizist blies in seine Trillerpfeife und fuchtelte mit den behandschuhten Händen.
Unerhört! Sie kamen geradewegs auf seine kleine Verkehrsinsel zu, mit mindestens dreißig Meilen in der Stunde! Kindermädchen bekreuzigten sich und legten schützend die Arme um ihre kleinen Schutzbefohlenen. Fuhrleute auf den Kutschböckenreckten ihre Hälse, alte Frauen wandten den Blick ab. Vor Schreck gefror der Polizist auf seinem Türmchen zu Eis.
Peter spornte sein Pferd zu noch schnellerer Gangart an und ritt schnurgerade auf den Polizisten zu, den rechten Arm wie eine Lanze von sich gestreckt. Als Ross und Reiter wie ein weißer Schemen an dem Mann vorbeihuschten, riss Peter ihm die Dienstmütze mit den Worten vom Kopf: »Ihren Hut, mit Verlaub! « Der erzürnte Beamte machte eine halbe Drehung. Eilig zog er sein Notizbuch aus der Tasche und kritzelte eine Beschreibung des Übeltäters hinein.
Peter lenkte den Hengst nach links in das Tenderloin-Viertel hinein, doch dort waren die Straßen so hoffnungslos verstopft, dass er bald nicht weiterkam. Ein Tankzug und mehrere andere Fahrzeuge hatten sich ineinander verknäult. Kutscher schrien aufeinander ein, Pferde wieherten ungeduldig. Eine Bande von Lausbuben ergriff die Gelegenheit, um die Erwachsenen mit einem Hagel von Schneebällen und Eisbrocken einzudecken. Peter musste sich mehrmals ducken. Als er dabei zufällig einen Blick nach hinten warf, sah er in der Ferne ein rundes Dutzend blauer Punkte, die sich, von Osten kommend, rasch auf ihn zu- bewegten. Sie rannten, sie stolperten, sie rutschten - es waren Polizisten! Da es keinen Sattel und keine Steigbügel gab, kletterte Peter auf den Rücken des Pferdes, um nachzuschauen, wie es jenseits des Verkehrsknäuels aussah. Leider musste er feststellen, dass es mindestens eine halbe Stunde dauern würde, bis das chaos entwirrt wäre. Deshalb wendete er das Pferd und schickte sich an, mitten durch die sich nähernde Phalanx der blauen Uniformen hindurchzupreschen, aber der Mut des Hengstes war von anderer Art. Er wollte davon nichts wissen. Mit schnaubenden Nüstern tänzelte er auf der Stelle, während Peter ihn vergeblich anzuspornen versuchte. Nein, er machte keinen Schritt vorwärts, aber auch keinen zurück, sondern trippelte seitlich auf ein Haus mit einer Leuchtreklame zu, die sogar jetzt, am frühen Morgen, marktschreierisch verkündete:
Saul Turkish präsentiert: Caradelba, die spanische Zigeunerin.
Das kleine Varietétheater war nur halb voll, der Saal in grelles, blaugrünes Licht getaucht. Nur die Bühnenmitte, wo die halb nackte caradelba in einem Wirbel weißer und cremefarbener Seide tanzte, wurde von einem einzigen weißen Scheinwerferkegel erhellt.
Peter trabte auf dem weißen Hengst den Mittelgang entlang nach vorne. Dort blieb er stehen und schaute der Tänzerin zu. Insgeheim hoffte er, dass die Polizei ihn aus den Augen verloren hätte, aber schon stürmten die ersten Blauröcke in den Vorraum des Theaters. Da spornte Peter den Hengst erneut an und ritt im Galopp auf den Orchestergraben zu. Die Musiker spielten weiter, aber als urplötzlich ein riesiger Pferdekopf, vergleichbar mit einem Kürbislampion am Bug einer fahrenden Lokomotive, aus der Dunkelheit auftauchte, machten sie ein paar Patzer.
»Mal sehen, ob du auch springen kannst!«, sagte Peter und schloss die Augen. Der Hengst sprang nicht nur - nein, er flog geradezu über das Orchester hinweg und landete fast geräuschlos auf der Bühne neben der spanischen Zigeunerin, zwanzig Fuß weiter und acht Fuß höher. Peter war verblüfft, dass dieses Pferd so weit springen konnte und dabei so sanft aufsetzte. Doch das Mädchen war sprachlos. Die Kleine war fast noch ein Kind, aber ihr Gesicht und ihr schmächtiger Körper waren mit einem Pfund Schminke bedeckt. Wenn sie nicht tanzte, wirkte sie ängstlich und verwirrt. Das plötzliche Erscheinen eines Berittenen auf ihrer Bühne wertete sie als eine schlimme Kränkung. Ob sich dieser Mann auf seinem riesigen Hengst wohl über sie lustig machen wollte? Fast wäre sie in Tränen ausgebrochen. Übrigens fühlte sich auch der Hengst nicht ganz wohl in seiner Haut. Nie zuvor in seinem Leben hatte er ein Theater betreten, von einer Bühne ganz zu schweigen. Das blendende Scheinwerferlicht, die Musik, der süßliche Duft von caradelbas Schminke und der wallende blaue Vorhang - all dies entzückte und verunsicherte ihn gleichermaßen. Er warf sich in die Brust wie ein Paradepferd.
Peter Lake brachte es nicht über sich, caradelba ungetröstet stehen zu lassen. Unten im Orchestergraben balgten sich die Polizisten mit den erbosten Musikern, die sich den Uniformierten in den Weg gestellt hatten. Der Hengst, von der Magie des Rampenlichts verzaubert, versuchte unterdessen sein Glück als Schauspieler, indem er das Gesicht nacheinander zu mehreren ausdrucksvollen Grimassen verzog. Peter, der selbst in größter Bedrängnis stets gelassen blieb, stieg ab und trat zu caradelba, obwohl die ersten Polizisten sich schon anschickten, die Brüstung der Bühne zu überklettern. In seinem irischen Akzent sagte er zu dem Mädchen: »Meine liebe Miss candelabra, ich möchte Ihnen zum Zeichen meiner Verehrung und der Bewunderung, welche die Menschen dieser großen Stadt für Sie empfinden, diese Polizeimütze als Erinnerung überreichen. Ich habe sie gerade am Madison Square einem kleinen Polizisten von seinem kleinen Kopf gerissen ...« Peter wies auf das runde Dutzend Uniformierter, die unten im Saal, nachdem sie vergeblich versucht hatten, die Bühne zu erklimmen, von den Musikern hart bedrängt wurden. »Wie Sie sehen«, fuhr er dann fort, »ist es eine echte Polizeimütze. Doch nun muss ich gehen.« Die kleine Zigeunerin nahm die Schirmmütze, die trotz der nüchternen blauen Farbe irgendwie aufgeblasen wirkte, und setzte sie sich auf den Kopf. Nun wirkten ihre Arme und Schultern in ihrer Nacktheit fast obszön. Nicht nur zum Ergötzen des Publikums, sondern auch zu ihrer eigenen Freude begann sie, zu den Klängen eines arabesken Fandangos zu tanzen.
Peter Lake lenkte den Hengst in den dämmerigen Hintergrund der weitläufigen Bühne. Durch ein Gewirr von Kulissen, herabbaumelnden Seilen und schmalen Korridoren fanden sie wenig später eine Hintertür, die ins Freie führte. Als sie auf die winterliche Straße hinaustraten, stellten sie erfreut fest, dass das Verkehrschaos in der Zwischenzeit beseitigt worden war. In leichtem Galopp ging es zurück zur Fifth Avenue.
Die Hüter des Gesetzes hatten sich in jüngster Vergangenheit wenig um Peter Lake kümmern können, denn in der Stadt tobten Bandenkriege. Jeden Morgen sammelte die Polizei Berge von Leichen ein, und zwar durchaus nicht nur unten am Fluss oder in Five Points, sondern auch an ungewöhnlichen Orten wie in Kirchtürmen, Mädcheninternaten oder Gewürzspeichern. Die Ordnungshüter hatten kaum Zeit für gewöhnliche Einbrecher wie Peter Lake. Doch wenn er holterdipolter durch Straßen galoppieren würde, in denen die piekfeinen Leute wohnten, dann, so stellte er sich vor, hätte er die Polizei bald auf den Fersen, sodass sich die Short Tails nicht so leicht an ihn herantrauen würden. Die Sache hatte nur einen Haken: Wenn die Short Tails erst einmal einen Menschen aufs Korn genommen hatten, ließen sie nicht mehr von ihm ab - nie.
Peter kannte viele Mittel und Wege, um den tödlichen Fallen seiner Verfolger immer wieder zu entgehen. Stets zauberte seine Fantasie den rettenden Einfall herbei. In dieser winterlichen Stadt gab es ebenso viele Möglichkeiten zum Überleben - und zum Sterben - wie Straßen, Plätze und Sehenswürdigkeiten. Die Short Tails waren jedoch selbst so gerissen und erfahren, dass sie sich jeden Winkel des gigantischen Labyrinths zunutze machten. Sie bewegten sich mit der Wendigkeit von Ratten in einem komplizierten Netzwerk unterirdischer Gänge. Ihre Schnelligkeit verlieh ihnen die Aura der Unentrinnbarkeit, ähnlich dem nie endenden Fluss der Zeit, der Suche des Wassers nach der tiefsten Ebene und der Gefräßigkeit des Feuers. Den Short Tails auch nur für eine einzige Woche entkommen zu sein konnte bereits als eine Leistung gelten, die ans Wunderbare grenzte, doch Peter war schon drei Jahre lang das Hauptziel dieser gnadenlosen Verfolger. Da er nun auch noch die Polizei am Hals hatte, entschloss er sich, Manhattan für eine Zeitlang den Rücken zu kehren. Sollten sich die beiden Greifarme der Zange doch gegenseitig zwicken! Wenn die gegnerischen Lager auf der Jagd nach ihm, Peter, kollidierten, dann verschaffte ihm der Zusammenprall vielleicht drei oder vier Monate Ruhe und Freiheit. Also nichts wie fort! Er entschloss sich, den Muschelfischern im sumpfigen Marschland von Bayonne einen Besuch abzustatten. Sie würden ihm und dem Hengst auf einem trockenen Fleckchen Erde Unterschlupf gewähren, das wusste er, denn sie waren es gewesen, die ihn einst gefunden und in der Art von wohlgesonnenen Wölfen aufgezogen hatten. Den Short Tails waren sie an Wildheit und Kampfkraft weit überlegen, weshalb jene es schon lange nicht mehr wagten, die Riemen ihrer Ruderboote in Gewässer zu tauchen, die zum weitläufigen Herrschaftsbereich der Sumpfmänner gehörten. Denn wer ihnen in die Hände fiel, musste damit rechnen, augenblicklich enthauptet zu werden. Niemand hatte sich jemals gegen sie durchsetzen können, denn nicht nur waren sie schier unüberwindliche Streiter, die nach Belieben auftauchten und verschwanden, sondern ihr Reich war zudem nur halb von dieser Welt. Jeder, der sich ohne ihre Billigung dorthin wagte, lief Gefahr, sich für immer in dem tosenden Wolkenmeer zu verlieren, das sich über die trügerisch glitzernden Wasser wälzte.
Vor langer Zeit hatten die Behörden des Staates New Jersey den Versuch gemacht, die Sumpfmänner in den breiten Strom bürgerlichen Daseins einzugliedern, mit Gesetzen, Steuern und dergleichen mehr. Doch dreißig Polizisten und Detektive der Pinkerton-Agentur waren, einer nach dem anderen, hinter der blendend weißen Wolkenbank verschwunden, die verblüffend schnell ihren Standort wechselte. Der Gouverneur war des Nachts in seiner Villa in Princeton von Unbekannten in zwei Teile geschnitten worden. Eines der Fährschiffe flog bei Weehawken nach einer Explosion so hoch in die Luft wie ein Haus mit zwanzig Stockwerken. Einem riesigen Feuerball gleich war es in die Fluten zurückgestürzt, und im Umkreis von fünfzig Meilen hatten die Fensterscheiben geklirrt.
Peter war sich darüber im Klaren, dass ihn nach einiger Zeit die Lichter von Manhattan jenseits des Flusses trotz aller Gefahren unwiderstehlich aus seinem Versteck locken würden. Die Sumpfmänner lebten ihm zu nah an dem geheimnisumwitterten Wolkenwall. Sie waren wortkarge, wachsame und unergründliche Gesellen, an denen die Zeit so schnell vorbeizustreichen schien wie eine Landschaft an einem fahrenden Zug. Ein typischer Sumpfmann hatte in seiner Rätselhaftigkeit etwas von einem Urmenschen ferner Zeitalter. Er verstand sich darauf, aus der Leber toter Fische das Orakel zu lesen und redete mit flinkem Zungenschlag eine Sprache, deren Worte an seltsame Runenzeichen gemahnten. Für Peter Lake, der sich an das Klimpern der Pianos und die hübschen, nur scheinbar so schwer zu erobernden Mädchen der Großstadt gewöhnt hatte, war ein längerer Aufenthalt in den Sümpfen keine leichte Sache. Aber es gehörte zu seinem Wesen, dass er sich notfalls nach der Decke strecken konnte. Stets war er bereit, sich vom Leben auf die Probe stellen zu lassen.
Auch diesmal würde er wohl nur eine Woche, höchstens zehn Tage bleiben, abends noch vor Mondaufgang schlafen gehen, tagsüber in Eislöchern fischen, zu den Mahlzeiten Unmengen gerösteter Austern verschlingen und in einem kleinen Boot durch die eisfreien, salzigen Brackwasser staken. In den Nächten würde er sich mit der einen oder anderen Frau nackt auf dem Lager wälzen und sich mit ihr in der atemlosen Schönheit wilder, rauschhafter Liebesakte vereinen, während das ungebärdige Winterwetter die kleinen, im Schilf verborgenen Hütten der Sumpfbewohner schüttelte und Schneestürme alle Wege über die Eisflächen unkenntlich machten. Peter dachte an Anarinda, die Dunkelhaarige, Pfirsichbrüstige, Sternenäugige - und er machte sich sofort auf den Weg nach Norden.
»Verdammt!«, fluchte er, als er an den Docks über die leichte Anhöhe ritt und den Fluss vor sich liegen sah. Die Fähre brannte lichterloh, mitten in dem mit Eisschollen übersäten Fahrwasser! Das Schiff lag fest, weitab vom Ufer. Orangefarbener Feuerschein und pechschwarzer, wallender Rauch hüllten es ein. Immer mussten diese Fähren abbrennen! Ihre Kessel explodierten mit Vorliebe im Winter, wenn sich die Schiffe gegen kleine Inseln aus scharfkantigem Eis stromaufwärts kämpfen mussten. Die wunderbaren neuen Brücken über den Strom waren die einzige Abhilfe, aber wer konnte schon an dieser Stelle eine Brücke über den Hudson bauen?
Der Himmel erstrahlte an diesem Tag in makellosem Blau. Am jenseitigen Ufer waren in der steilen braunen Felswand rötliche und purpurne Gesteinsadern fast überdeutlich zu erkennen, ja sogar einzelne weiße Häuschen und Bäume. Ein steifer, kalter Wind blies die Eisschollen stromabwärts vor sich her. Sie rieben sich schurrend aneinander, manchmal prallten sie auch mit dem Glockenton berstenden Glases zusammen. Und mitten in diesem weißen Wirrwarr mühten sich schwarzbemäntelte Feuerwehrmänner, Überlebende zu bergen und von Dampfschleppern und Walfangbooten aus eiskaltes Flusswasser in die Flammen zu spritzen.
Schon hatten sich, trotz des bitteren Frostes, Hunderte von Schaulustigen versammelt: kleine Mädchen mit Schlittschuhen an den Füßen, Handwerker auf dem Weg zur Arbeit, Dienstleute, Dockarbeiter, Fischer und Eisenbahner. Fliegende Händler stellten eilig ihre Buden auf und freuten sich auf die Tausenden von Neugierigen, die herbeieilen würden, um einen Blick auf die im Fluss treibende, inzwischen zu einem schwärzlichen Metallklumpen ausgebrannte Fähre zu werfen und sich an heißen Esskastanien, Puffmais, warmen Brezeln und Fleischspießchen zu laben.
Peter stieg ab. Er erstand von einem verschlagen blickenden Mann, dessen Hände gänzlich gegen Feuer abgehärtet schienen - fast griff er mit den bloßen Fingern in die rötliche Kohlenglut hinein - eine Tüte gerösteter Esskastanien. Da sie noch zu heiß waren, blickte er sich schnell um, um sich zu vergewissern, dass er von keinem weiblichen Wesen beobachtet wurde, öffnete mit einer flinken Bewegung seine Hose und schob die Tüte mit den Kastanien hinein. Wohlige Wärme verbreitete sich vom Bauch aus über seinen ganzen Körper. Unverwandt blickte er zu dem brennenden Fährschiff hinüber. Der Wind hatte noch mehr aufgefrischt. Er zwang die Trauerweiden am Ufer, sich nach Süden zu neigen, und fegte ihnen den pulverigen Schnee aus dem Geäst.
Einer der Schaulustigen starrte nicht auf das brennende Schiff, sondern schien sich nur für Peter Lake zu interessieren. Doch der tat diesen Affront mit einem Achselzucken ab. Was machte es ihm schon aus, von einem Mann begafft zu werden, der die Uniform eines Telegrammboten trug? Für solche Leute hatte Peter nichts übrig. Vielleicht lag es daran, dass sie nicht im Entferntesten an den gertenschlanken, geflügelten Gott Hermes erinnerten, sondern ausnahmslos rundliche, schwerfällige und dickblütige Scheusale waren, die zu Fuß höchstens eine Meile in der Stunde zurücklegten und keine Puste zum Treppensteigen hatten. Dieser Kerl trug eine zerknautschte Schirmmütze mit einem kleinen Messingschild, auf dem zu lesen stand: Beals, Telegrammbote. Es entging Peter nicht, dass sich dieser Beals nach einem Weilchen unauffällig in der Menschenmenge verdrückte. Was machte es schon, wenn er ihn, Peter, bei den Short Tails verpfiff? Sobald die Bande aufkreuzte, brauchte Peter nur auf seinen Hengst zu springen und das Weite zu suchen.
Unten auf dem Fluss bemühten sich mehrere Feuerwehrmänner, an Bord des brennenden Fährschiffes zu kommen. Eigentlich gab es dazu keinerlei Anlass, denn alle Passagiere waren entweder tot oder gerettet, und die Feuerwehr konnte nicht darauf hoffen, das Feuer doch noch unter Kontrolle zu bringen. Mehrere der tapferen Männer stürzten in den Fluss, als eine Strickleiter durchbrannte, mittels derer sie die steile Bordwand zu bezwingen versuchten. Ein erschrockenes Raunen ging durch die am Ufer versammelten Gaffer. Peter verstand, was dort vorging. Jene Männer wurden umso stärker, je näher sie an das Feuer herankamen. Gewiss, es kam vor, dass der eine oder andere von ihnen bei einem Brand das Leben verlor, aber welch herrliche Bewährungsproben bot ihnen jede Katastrophe!
Peter schloss sich dem allgemeinen Applaus an, als sich einige der Feuerwehrmänner doch noch an einem Seil emporhangelten und das Deck des Schiffes betraten. Während er zuschaute, schälte er eine Esskastanie nach der anderen und teilte sie mit dem Pferd. So verstrich eine halbe Stunde. Das Schiff hatte inzwischen bedrohliche Schlagseite. Ein Schlepper bahnte sich seinen Weg durch die großen Eisschollen, um die erschöpften Feuerwehrleute aufzunehmen, die an Deck des Fährschiffes standen und sich ratlos umblickten, denn auch das rettende Seil war inzwischen verbrannt. Das Schiff konnte jeden Augenblick untergehen, und dann war ihnen der Tod durch Ertrinken gewiss.
Aus dem Augenwinkel - bei Dieben eine hoch entwickelte Art der Wahrnehmung - sah Peter zwei Automobile, die sich rasch näherten. Eigentlich war daran nichts Auffälliges, denn die Straße war ziemlich befahren. Aber diese beiden Wagen kamen, in kurzem Abstand voneinander, verdächtig schnell heran - und sie waren vollgestopft mit Mitgliedern der Short-Tail-Bande! Als Peter sich auf den Rücken des Hengstes schwang, fiel sein Blick auf den Telegrammboten Beals, der in einiger Entfernung vor Aufregung kleine Hüpfer machte. Gewiss würden sich die Short Tails erkenntlich zeigen, indem sie ihn zu einer unmäßigen Prasserei und zu einem Abend im Varieté einluden.
Peter machte sich im Galopp nach Süden davon. Die brennende Fähre war vergessen, als er breite Alleen entlangpreschte, vorbei an Fabriken, Molkereien, Brauereien, Rangierbahnhöfen, Gastanks, ärmlichen Wohnhäusern, kleinen Revuetheatern, Gerbereien und den turmhohen, grauen Pylonen eiserner Brücken. Die Short Tails waren zwar wieder einmal übertölpelt und hatten einstweilen das Nachsehen, aber sie würden unverzüglich mit ihren Automobilen die Verfolgung aufnehmen. Peter fühlte sich jedoch in Sicherheit. Er jagte auf seinem Hengst mit so atemberaubender Geschwindigkeit gen Süden, dass er bisweilen zu fliegen meinte.
Pearly Soames
Im gesamten Universum gab es nur ein einziges Foto von Pearly Soames. Er war darauf zu sehen, wie er von fünf Polizeioffizieren festgehalten wurde. Vier hatten ihn an Armen und Beinen gepackt, während der fünfte seinen Kopf umklammerte. So drückten sie ihn in halb liegender Stellung auf einen Stuhl. Sein Gesicht war rund um die fest zusammengekniffenen Augen zu einer wütenden Fratze verzogen. Fast hätte man beim Betrachten dieses Schwarzweißfotos glauben können, das wütende Gebrüll aus Pearlys Kehle zu vernehmen. Der riesige Polizist hinter ihm hatte es offensichtlich schwer, das Gesicht des Häftlings der Kamera zuzudrehen. Seine Finger hatten sich in Pearlys Haar und Bart verkrallt, als ginge es darum, eine Giftschlange zu bändigen. Im selben Augenblick, als der Magnesiumblitz aufzuckte, war im Hintergrund ein Garderobenständer von rechts nach links gekippt und für alle Zeiten im Bild festgehalten worden, wie der stürzende Verlierer eines Kampfes oder der Zeiger einer großen, reich verzierten Turmuhr, der auf die Zahl »2« zeigte. Pearly war nicht auf eigenen Wunsch abgelichtet worden, das war offenkundig.
Seine Augen blickten scharf wie Rasiermesser und kalt wie weiße Diamanten. Sie waren blass und silbrig durchscheinend, aber zugleich ging ein solches Leuchten von ihnen aus, dass die Leute sagten: »Wenn Pearly die Augen öffnet, ist es wie elektrisches Licht.«
Sein Gesicht wurde von einer Narbe verunziert, die von einem Mundwinkel bis zum Ohr verlief. Wer sie betrachtete, hatte unwillkürlich das Gefühl, als ob ihm mit einem scharfen Messer ein tiefer Schnitt zugefügt würde. In der Tat hatte Pearlys Narbe etwas von einer weißlichen, gezackten Furche aus kühlem Elfenbein. Er trug sie seit seinem vierten Lebensjahr, genau gesagt seit dem Tag, an dem sein Vater versucht hatte, ihm die Kehle durchzuschneiden.
Natürlich ist es böse, ein Verbrecher zu sein. Alle Welt weiß das und kann es beschwören. Kriminelle stören den Gang der Dinge, aber andererseits sorgen sie auch dafür, dass alles im Fluss bleibt. Tatsächlich könnte man geltend machen, dass eine Stadt wie New York ohne die Legionen von finsteren Gesellen und deren unerklärliche Abneigung gegen Recht und Ordnung weniger hell im Glanz der eigenen Rechtschaffenheit erstrahlen würde. Ja, man könnte sogar die Behauptung aufstellen, dass Bösewichter eine unerlässliche Komponente in jener ausbalancierten Gleichung sind, die den ehernen Gang der Zeiten regelt. Sie sind die Würze und das Ferment einer Metropole, ein rotes Aufblitzen im Mosaik des nächtlich hell erleuchteten Häusermeeres.
All dies galt auch für Pearly Soames. Stets war er sich seiner selbst und der Schlechtigkeit seines Handelns bewusst. Er verfügte über eine geradezu selbstquälerische Gabe, sich im Handumdrehen mit wachem Verstand die Bedeutung seiner gnadenlosen Gewalttaten vor Augen zu führen. Zwar kümmerte er sich nicht im Geringsten um jene komplizierten Mechanismen, die in der Welt für Ausgleich sorgen, aber das Leben in der Stadt wäre gewiss nicht mehr dasselbe gewesen, hätte es ihn nicht gegeben. Denn dieses Leben bedurfte genau dessen, was Pearly in seiner Person vereinigte: der Kräfte des Ausgleichs, der Verneinung und des Zufalls. Stellt euch nur vor, welch rätselhafte Verkehrung aller Werte vorliegen muss, damit ein Mann beim Anblick eines Säuglings zusammenzuckt und den Impuls verspürt, das kleine Menschenwesen zu töten! Pearly war aus solchem Holz geschnitzt; er hasste Babys und hätte sie am liebsten allesamt umgebracht. Ihr Geplärr klang in seinen Ohren wie das Geschrei rolliger Katzen. Er verabscheute ihre weit aufgerissenen Münder. Nicht einmal ihren eigenen Kopf vermochten sie hochzuhalten! Ihre Bedürfnisse, ihre Unbeherrschtheit und ihre Unschuld trieben ihn zum Wahnsinn, er hätte sie gern mundtot gemacht, noch bevor sie sprechen lernten. Kleine Kinder, die zu jung zum Stehlen waren, erfüllten ihn ebenfalls mit Ekel. Welch tragischer Irrtum der Natur! Wenn Menschen klein genug waren, um sich zwischen Gitterstäben hindurchzuzwängen, wussten sie nichts mit sich anzufangen und hatten auch noch nicht die Körperkraft, um eine gewichtige Beute davonzutragen. Doch sobald sie alt genug waren, um zu begreifen, was es auf der anderen Seite der Gitterstäbe zu holen gab, passten sie nicht mehr hindurch. Übrigens hasste Pearly nicht nur Kinder wegen ihrer Verletzlichkeit, sondern er fühlte auch Wellen wilder Gewalttätigkeit in sich aufsteigen, wenn er einen Krüppel vor sich sah. Zähneknirschend hätte er solche Kreaturen am liebsten an Ort und Stelle umgebracht, zu Brei geschlagen, ihr grässliches Selbstmitleid für immer zum Schweigen gebracht und ihre Rollstühle zertrümmert. Pearly war ein Bombenleger, ein Irrer, ein Erzbösewicht, ein Satan, ein reißender Straßenköter.
*
Pearly Soames wollte Gold und Silber, aber nicht um des Reichtums willen wie gewöhnliche Diebe. Er begehrte diese edlen Metalle wegen ihres Glanzes und ihrer Reinheit. Sein seltsames, abwegiges und verbildetes Wesen suchte in der abstrakten Beziehung zwischen den Farben nach Linderung und Heilung. Doch mochte er sich noch so sehr zu fein abgestuften und intensiven Farben hingezogen fühlen, so war er dennoch kein connaisseur der Malerei geworden. Solche Menschen standen den Farben bemerkenswert gleichgültig gegenüber. Selten nur waren sie von ihnen besessen, und rasch sahen sie sich satt. Sie hatten etwas von Feinschmeckern, die ihre Speisen zu kunstvollen Gebilden auftürmen, bevor sie sie verzehren. Sie verwechselten Schönheit mit Wissen und Leidenschaft mit Sachverstand.
Nicht so Pearly. Seine Hinneigung zur Farbe war wie eine ansteckende Krankheit oder eine Religion. Er war ihr verfallen und darbte nach ihr wie ein Verhungernder. Bisweilen, wenn er durch die Straßen der Stadt ging oder in einem schnellen Segler auf dem Fluss kreuzte, erlebte er, wie die Sonne für kurze Zeit die spiegelnde Fassade eines Hochhauses in einen goldenen Glanz von geradezu verbotener Schönheit tauchte. Dann blieb Pearly jedes Mal wie angewurzelt mitten auf der Straße stehen, sodass der Verkehr ihm ausweichen musste. Falls er gerade in einem Boot saß, legte er es augenblicklich in den Wind und betrachtete das farbenfrohe Schauspiel bis zum Ende. Maler und Anstreicher durchlitten immer wieder Todesängste, wenn sie plötzlich Pearly Soames neben sich sahen, die elektrisierenden Augen unverwandt auf die glänzende, mit lüsterner Langsamkeit aus den dicken Quasten triefende Farbe gerichtet. Es war schon schlimm genug, wenn Pearly allein auftauchte - er war bekannt wie ein bunter Hund, und ein unzweideutiger Ruf ging ihm voraus -, aber meist wurde er von einer Rotte Banditen eskortiert. Dann zitterten die armen Anstreicher vor Furcht, denn unfehlbar wurden sie später von den Short Tails dafür bestraft, dass jene schweigend und mit den Händen in den Taschen ihre Zeit zu vertrödeln gezwungen waren, während Pearly seiner rätselhaften »Farbengravität« frönte, wie er es selbst nannte. Da die Banditen sich schlecht bei ihrem Anführer beschweren konnten, ließen sie ihren Zorn stets an den braven Handwerkern aus, indem sie ihnen bei passender Gelegenheit eine Tracht Prügel verabreichten.
Eines Tages zu Beginn eines Bandenkrieges marschierten Pearly und sechzig seiner Short Tails wie eine kleine florentinische Armee durch die Straßen der Stadt. Die Banditen trugen nicht nur ihre üblichen Waffen am Körper versteckt, sondern sie hatten auch Gewehre, Handgranaten und sogar Säbel mitgebracht. Vor lauter Kampfbereitschaft waren sie so erregt, dass ihre Herzen heftig klopften und ihre Augen blitzten. Auf halbem Weg zum Schlachtfeld erspähte Pearly zwei Anstreicher, die mit ihren Pinseln eine frische Lackschicht auf den Türrahmen einer Kneipe klatschten. Pearly ließ seine kleine Truppe anhalten. Dann ging er mit den Augen ganz nah an die grüne Ölfarbe heran, schnüffelte und verharrte geistesabwesend eine ganze Weile in dieser Pose, bis er erfrischt, zuinnerst bewegt und staunend zurücktrat. Ganz betört vom Farbenzauber sagte er zu den beiden Malern: »Tragt dicker auf! Die Farbe glänzt so schön, wenn sie nass ist. Das sind unvergessliche Augenblicke!« Zur Freude des Kneipenbesitzers verpassten die beiden Maler der Tür einen zweiten Anstrich. Auch Pearly war zufrieden. »Eine schöne Landschaft«, kommentierte er, »wirklich schön. Ich muss dabei an die Landsitze von reichen Leuten denken. Dort dürfen keine Schafe grasen, sodass die Grünflächen immer makellos sind. Macht nur tüchtig weiter so! In ein bis zwei Tagen komme ich wieder vorbei und schau mir an, wie der trockene Lack aussieht.« Nach diesen Worten zog er mit seinen Männern in die Schlacht. Der Anblick der Farbe hatte ihm Kraft verliehen.
Pearly ließ sich von seinem Farbentick auch dazu verleiten, Gemälde zu stehlen. Mit seinen Männern plünderte er die angeblich so sicheren Tresore hoch angesehener Kunsthändler und so manchen der schwerbewachten Paläste an der oberen Fifth Avenue. Dort stieß die Bande auf die begehrtesten Werke, Bilder im Wert von zigtausend Dollar, die bei jedem Anlass von der sensationslüsternen Pressemeute umlagert wurden. Über solche Meisterwerke hätte kein Kunstsachverständiger ein abschätziges Wort zu sagen gewagt. Sie waren zumeist in Privatyachten oder -flugzeugen aus Europa herübergebracht worden, unter den wachsamen Blicken von mindestens drei Pinkerton-Detektiven. Pearly wusste genau, wo er auf gute Beute hoffen konnte, denn er las aufmerksam die Zeitungen und studierte sorgfältig die Kataloge der Auktionshäuser.
Eines Nachts kamen seine besten Einbrecher mit fünf zusammengerollten Leinwänden von Knoedler's zurück. Pearly brachte es nicht über sich, bis zum Morgen zu warten. Er befahl, die Gemälde zu glätten und zwei Dutzend Sturmlaternen sowie mehrere große Spiegel herbeizuschaffen. Damit sollte ein riesiger Dachspeicher, das derzeitige Hauptquartier der Bande unten im Hafenviertel, erleuchtet werden. (Ähnlich wie Guerilleros wechselten die Short Tails häufig ihren Standort.)
Pearly ließ die Gemälde auf hohe Staffeleien stellen und mit einem Samtvorhang verdecken. Die Lampen wurden entzündet und die Spiegel so zurechtgerückt, dass der helle Lichtschein genau auf die Stelle fiel, wo die fünf Gemälde hinter dem Samt auf ihre Enthüllung warteten. Mit einem Kopfnicken gab Pearly das Zeichen.
»Was soll das!«, entfuhr es ihm, als der Vorhang beiseitegezogen wurde. Unwillkürlich zuckte seine Hand zu der Pistole, die er im Gürtel trug. »Habt ihr etwa nicht gestohlen, was ich euch aufgetragen hatte?«
Wie von Sinnen blätterten die Einbrecher in Auktionskatalogen und verglichen die von Pearly rotumrandeten Titel mit den kleinen Messingschildern, die sie zusammen mit den Bilderrollen gestohlen hatten. Sie passten, davon konnte sich Pearly selbst überzeugen.
»Das verstehe ich nicht«, sagte er und beäugte die kleine Kollektion großer und berühmter Namen. »Sie sind lehmfarben, schwarz und braun! Kein Licht und kaum Farbe! Wie kann man nur in Schwarz und Braun malen?«
»Kein Ahnung, Pearly«, meinte Blacky Womble, sein Vertrauter und Stellvertreter.
»Warum? Warum haben sie so gemalt?«, wiederholte Pearly fassungslos. »Und weshalb sind all die reichen Leute und Experten wild auf solche Bilder? Sie müssten es doch besser wissen mit all ihrem Sachverstand und Reichtum!«
»Ich werd' auch nicht schlau draus, Pearly«, pflichtete ihm Blacky Womble bei.
»Halt die Klappe und schaff das Zeug zurück!«, fuhr Pearly ihn an. »Ich will es nicht haben. Tut die Bilder wieder in ihre Rahmen!«
»Aber wir haben sie doch rausgeschnitten!«, protestierten die Einbrecher. »Außerdem wird es in einer Stunde hell. Es ist zu spät.«
»Dann bringt sie eben morgen zurück, verdammt noch mal! Was für ein Reinfall!«
Am nächsten Tag gab es einen fürchterlichen Aufruhr, als bei Knoedler's das Verschwinden von Gemälden im Wert von einer halben Million Dollar entdeckt wurde. Aber schon am Morgen des übernächsten Tages verkündeten riesige Schlagzeilen in den Zeitungen, dass die Bilder zurückerstattet worden
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Mark Helprin
Mark Helprin, geboren 1947 als Sohn einer Schauspielerin und eines Filmproduzenten, studierte Englisch und Politik an der Harvard University. Mit seinem Roman "Wintermärchen" gelang ihm 1983 der Sprung in die internationalen Bestsellerlisten. Das Buch gilt heute als Klassiker und wurde von Hollywood in hochkarätiger Besetzung verfilmt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mark Helprin
- 2014, 864 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Hartmut Zahn
- Übersetzer: Hartmut Zahn
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442481112
- ISBN-13: 9783442481118
- Erscheinungsdatum: 17.02.2014
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