Ruhe sanft, mein Kind
Für Abby wird der schrecklichste Albtraum wahr: Nach einem Überfall ist ihre acht Monate alte Tochter verschwunden. Entführt von zwei fremden Männern. Trotz intensiver polizeilicher Ermittlungen bleibt Beth unauffindbar – der...
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Produktinformationen zu „Ruhe sanft, mein Kind “
Für Abby wird der schrecklichste Albtraum wahr: Nach einem Überfall ist ihre acht Monate alte Tochter verschwunden. Entführt von zwei fremden Männern. Trotz intensiver polizeilicher Ermittlungen bleibt Beth unauffindbar – der Fall wird ungeklärt geschlossen. Doch Abby will die Hoffnung nicht aufgeben. Fünf lange Jahre sucht sie überall nach ihrer Tochter. Und dann wird ihr plötzlich ein Flyer für eine Kindertheater-Aufführung überreicht. Auf der Rückseite eine handschriftliche Notiz: „Sie wird da sein“ …
Klappentext zu „Ruhe sanft, mein Kind “
Abby Henshaw fährt mit ihrer 8 Monate alten Tochter Beth zu ihrer besten Freundin Jen. Auf dem Weg dorthin wird ihr Wagen von der Straße gedrängt, sie wird von zwei Männern mit osteuropäischem Akzent raus gezerrt und in ihrem Lieferwagen vergewaltigt und anschließend in den Straßengraben geworfen. Verzweifelt ruft sie nach ihrer Tochter, die im Kindersitz auf dem Rücksitz ihres Kleinwagens gesessen hatte. Als sie jedoch zum Wagen zurückkommt, ist ihre Tochter verschwunden. Trotz intensiver polizeilicher Ermittlungen bleibt Beth unauffindbar – der Fall wird ungeklärt geschlossen. Fünf Jahre vergehen, in denen Abby immer wieder zu allen möglichen Gegebenheiten ihre geliebte Beth zu erkennen glaubt. Sie empfängt auch kleinere Briefchen, in denen steht, dass es ihr gut geht. Eines Tages spielt ihr ein Mädchen im Park einen Werbezettel für ein Kindermusical zu, auf dem handschriftlich notiert wurde: „Sie wird da sein“ …
Lese-Probe zu „Ruhe sanft, mein Kind “
Ruhe sanft, mein Kind von Rebecca Muddiman2005
1
Abby Henshaw wippte mit dem Fuß und sah erneut auf die Uhr, ehe sie sich ihrer Tochter Beth zuwandte, die vor ihr in ihrem Buggy saß. Ein Mann mit einem kleinen Mädchen kam aus dem Sprechzimmer des Arztes. Er hob die Kleine hoch und schwenkte sie unter seinem Arm hin und her, bis sie kicherte. Abbys Telefon klingelte. Unter den Blicken der anderen Leute im Wartezimmer zog sie es heraus, sah aufs Display und verwünschte ihren Mann dafür, dass er sie jetzt anrief, obwohl er doch von ihrem Arztbesuch hätte wissen müssen.
„Hey. Wie lief's beim Arzt?", fragte Paul.
„Wir waren noch nicht dran", sagte Abby.
„Wann war der Termin? Ich dachte, ganz früh."
„Ja, schon. Es hat sich alles ein bisschen verzögert."
„Deine Schuld oder die der Praxis?", wollte er wissen.
Abby hätte die Schuld gern auf die Praxis geschoben, doch streng genommen stimmte das nicht, und so ignorierte sie die Frage. „Also, was gibt's?", fragte sie. „Du klingst müde."
„Alles bestens. Ich hab bloß nicht besonders gut geschlafen." Er hielt inne. „Und ich wollte mich eigentlich nur mal melden." Sie hörte, wie er umherging und vermutlich Bücher in die Regale einsortierte. „Was hast du heute noch vor?", fragte er.
„Wenn wir bei Dr. Evans fertig sind, fahren wir zu Tante Jen, nicht wahr?" Abby sah zu Beth hinab und fuhr ihrer Tochter durch das flaumige Haar.
Eine Arzthelferin erschien in der Tür, die zu den Behandlungsräumen führte, und rief: „Martin Savage, bitte." Ein Mann mit Krücken erhob sich und humpelte auf sie zu.
„Zu Jen? Du fährst zu ihr raus?"
„Ja, das hab ich dir doch neulich gesagt."
„Daran kann ich mich nicht erinnern", sagte er. Abby wollte schon etwas entgegnen, doch Paul schnitt ihr das Wort ab.
... mehr
„Aber darum geht es gar nicht."
„Worum geht es dann?", fragte Abby.
„Warum kann sie nicht hierher kommen?"
„Fang nicht damit an, Paul."
„Ich fange gar nichts an. Ich frage nur, warum sie nicht zu dir kommen kann."
„Sie sagt, sie hat die Handwerker im Haus und will sie nicht unbeaufsichtigt lassen."
Abby hörte Paul schnauben. „Sie ist eine solche ..." Er verstummte. Seit Beth auf der Welt war, verzichtete Paul weitgehend auf Schimpfwörter und leistete sich nur selten einen Ausrutscher. Abby war nicht ganz so beherrscht. „Eigentlich müsste sie zu dir kommen, Abby", sagte Paul. „Du bist diejenige, die gerade ein Kind bekommen hat."
„Ich bin diejenige, die vor acht Monaten ein Kind bekommen hat. Außerdem ist sie letztes Mal zu uns gekommen."
„Das ist nicht der Punkt. Wenn sie will, dass man sie besucht, muss sie in einer zivilisierten Gegend wohnen. Ich meine, was treibt sie eigentlich da draußen? In meinen Augen zieht man eigentlich nur dann aufs Land, wenn man für irgendwas bestraft wird."
„Sie schreibt", sagte Abby.
„Jen schreibt nicht. Sie führt lediglich ein ‚Künstlerleben'", entgegnete er. Abby sah die Anführungszeichen förmlich vor Augen.
Sie schaute zu Beth hinunter und registrierte, dass die Kleine jemanden hinter ihr ansah. Abby wandte sich um und erblickte eine rothaarige Frau, die Grimassen schnitt. Sie zog den Buggy näher zu sich heran und konzentrierte sich wieder auf Paul, der noch immer am Schimpfen war.
„Ich sage ja nur, dass ich finde, sie sollte hierher kommen. Du verfährst dich doch nur", sagte er.
„Tu ich nicht."
„Letztes Mal hab ich eine halbe Stunde am Telefon gehangen und mich abgemüht, dich wieder aus der Pampa rauszulotsen."
„Ich komm schon klar."
„Okay", seufzte Paul. „Wie du willst."
Abby wusste, dass sein Widerstand gegen den Besuch weniger mit der umständlichen Fahrt dorthin zu tun hatte als vielmehr mit seinen Gefühlen gegenüber Jen. Manche Leute fanden es seltsam, dass Abby so gut mit der Ex ihres Mannes befreundet war, doch Abby belustigte es eher. Die Vorstellung, dass die beiden einmal zusammen waren, war so absurd, dass jeglicher Anflug von Eifersucht lächerlich gewesen wäre.
„Jedenfalls muss ich mich jetzt wieder an die Arbeit machen", sagte er. „Es ist eine Riesenlieferung gekommen, die ich sortieren muss."
„Okay."
„Bis wann kommst du wieder zurück? Falls du dich nicht verfährst."
Abby lächelte. „Keine Ahnung. Gegen fünf oder sechs vielleicht."
„Okay, dann bis dann. Gib Beth einen Kuss von mir."
Sie legte auf, bückte sich zu Beth hinab und drückte ihr einen Kuss aufs Haar. Der Mann mit den Krücken kam heraus, gefolgt von der Arzthelferin die konzentriert auf ihr Klemmbrett schaute. Beth starrte an ihr vorbei, und Abby drehte sich um, um zu sehen, ob die Rothaarige ihr immer noch Grimassen schnitt. Die Frau fing Abbys Blick auf, doch Abby wandte sich rasch wieder ab. Sie wollte nicht mit ihr ins Gespräch kommen. Sie hatte den gluckenhaften Blick der anderen instinktiv erfasst und nicht die geringste Lust, sich mit ihr auf einen Austausch von Babygeschichten einzulassen. Innerlich flehte sie darum, dass sie oder die andere als Nächste aufgerufen würde.
„Helen Deal, bitte", rief die kleine, blonde Arzthelferin lächelnd. Die Frau erhob sich und ging auf sie zu.
Abby schnallte Beth in ihrem Babysitz im Auto an, stieg selbst vorne ein und blickte hinaus auf die Leute, die über den Supermarkt-Parkplatz hasteten. Wie viele von ihnen waren wohl wirklich glücklich? War überhaupt jemand glücklich? Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass man zwar theoretisch alles haben kann, was man will, aber eben nicht alles auf einmal. Das hatte sie damals ziemlich schlau gefunden. Sie konnte alles tun, was sie wollte, aber nicht alles auf einmal. Nicht zugleich. Nicht, wenn sie wollte, dass alles ein gutes Ende nahm. Inzwischen wusste sie, dass irgendetwas immer danebenging. Hoffentlich hatte sie das noch rechtzeitig begriffen, bevor etwas oder jemand allzu sehr litt. Es war nicht alles perfekt, sie war nicht rundum glücklich, doch sie war zufrieden. Und solange sie alles im Gleichgewicht halten konnte, war alles gut. Gut war genug.
Sie zückte ihr Telefon und wählte, den Blick im Rückspiegel auf Beth geheftet. Nach ein paarmal Klingeln schaltete sich ein Anrufbeantworter ein.
„Hier ist Simon Abbott. Ich bin bis zum achtundzwanzigsten September in Neuseeland. Hinterlassen Sie mir bitte eine Nachricht, dann rufe ich Sie so bald wie möglich zurück."
Abby legte auf. Sie hatte gedacht, er würde erst am nächsten Tag abreisen. Nicht dass es eine Rolle spielte. Was sollte sie schon zu ihm sagen? Erneut spürte sie diesen schrecklichen Kloß in der Magengrube. Ein Gefühl, an dessen hartnäckige Anwesenheit sie bereits gewöhnt war. Warum setzte sie alles aufs Spiel? Warum machte sie nicht Schluss?
Weil sie nicht konnte. Nicht mehr. Es war zu spät. Sie hatte sich da hineingestürzt, und nun saß sie fest. Sie dachte an Paul. Sie liebte ihn, wirklich. Also warum hatte sie alles riskiert? Rasch warf sie einen Blick auf Beth. Warum hatte sie ihre Familie aufs Spiel gesetzt?
Abby musterte das Telefon in ihrer Hand und wählte Jens Nummer. Es läutete ein paarmal, ehe sich die Mailbox einschaltete. Sie legte auf, suchte Jens Festnetznummer heraus und wählte erneut. Wahrscheinlich war Jen zu sehr damit beschäftigt, mit den Handwerkern zu flirten.
Schon wieder ein Anrufbeantworter. Sie seufzte und wartete auf den Signalton. „Hi, Jen, ich bin's. Ich bin ein bisschen spät dran und komme erst in etwa vierzig Minuten, oder einer Stunde, falls ich mich verfahre. Ich habe keine Ahnung, wo du steckst, aber sieh zu, dass du dann zu Hause bist."
Als sie den Parkplatz verließ und auf die Hauptstraße einbog, überlegte sie, ob heute vielleicht der richtige Tag war. So oft hatte sie schon ihr Geheimnis mit Jen teilen wollen, doch immer war sie im letzten Moment davor zurückgeschreckt. Ihre Freundin war selbst auch kein Engel, und nach allem, was ihr Paul - weniger Jen selbst - widerwillig verraten hatte, war ihre Beziehung kurz und heftig gewesen und hatte mehr auf einem Faible für erhitzte literarische Debatten beruht als auf großen Gefühlen füreinander. Doch irgendetwas hatte Abby davon abgehalten. Vielleicht gab es da doch noch eine gewisse Loyalität. Es war das Risiko einfach nicht wert.
Als sie die Abzweigung erreicht hatte und aufs Land hinausfuhr, versuchte Abby ihre Probleme zu vergessen. Besser, sie konzentrierte sich aufs Hier und Jetzt, auf die Straßenschilder und darauf, sich nicht zu verfahren. Sie lauschte den gurgelnden Geräuschen von Beth, die auf dem Rücksitz dabei war einzuschlummern, und fragte sich, wohin Jen wohl verschwunden war, obwohl sie doch gesagt hatte, sie könne den ganzen Tag nicht aus dem Haus gehen.
2
Auf Höhe des Pubs in der Loftus High Street drosselte Abby das Tempo, da sich vor ihr der Verkehr staute. Sie reckte den Hals, um zu sehen, was die Verzögerung verursachte, doch ein Lastwagen vor ihr nahm ihr die Sicht. Zwei Autos wendeten. Was auch immer der Grund für den Stau war, es bewegte sich offensichtlich nicht voran. Abby fuhr im Schritttempo ein paar Meter weiter und scherte leicht aus, um an dem Lastwagen vorbeizusehen, ehe sie in ihrer Tasche nach der Wegbeschreibung kramte, die sie sich ausgedruckt hatte. Sie fuhr mit dem Finger über die Landkarte und versuchte herauszufinden, wo sie war. Es gab zwei Möglichkeiten. Links oder rechts.
Abby blinkte und fuhr an dem Lastwagen vorbei. Aus dem Parkplatz des Pubs kam ein weißer Transporter und nahm ihren Platz in der Schlange ein. Sie sah noch einmal auf die Landkarte, ehe sie rechts abbog und einen Blick in den Rückspiegel warf. Beth schlief tief und fest.
Als sie schließlich am Ende der Straße anlangte, empfand sie das Tageslicht als willkommene Abwechslung von dem endlosen Laubbaldachin. Sie blieb kurz an der Kreuzung stehen und bog dann auf die schmale Landstraße ein.
Nach den ersten Schlaglöchern warf Abby erneut einen Blick auf Beth und wunderte sich, dass diese gänzlich ungerührt von dem Gerüttel weiterschlief. Nach ein paar hundert Metern verschwanden die letzten der wenigen Häuser, und die Bäume hielten erneut das Licht ab. Abby fuhr geradeaus weiter. Als sie in den Spiegel sah, stellte sie erstaunt fest, dass auf einmal ein weißer Transporter hinter ihr fuhr. Sie richtete den Blick wieder auf die Straße vor ihr und öffnete das Fenster einen Spalt weit, um ein bisschen Luft hereinzulassen. Beim nächsten Kontrollblick zu Beth fiel ihr auf, dass der Transporter näher kam, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Die Geschwindigkeitsbegrenzung lag bei sechzig Meilen und, okay, sie fuhr nur vierzig, doch sie wollte eben nicht schneller fahren. Nicht auf dieser Straße und nicht mit Beth auf dem Rücksitz. Der Transporter kam näher.
„Arschloch", knurrte sie leise, um Beth nicht zu wecken.
Verdrossen fuhr sie ganz nach links, um den Transporter vorbeizulassen. Doch der machte keinerlei Anstalten zu überholen, sondern blieb weiterhin dicht hinter ihr.
„Herrgott noch mal", murmelte Abby. „Hier könnte ja sogar ich überholen." Sie ließ das Fenster weiter herunter und signalisierte dem Fahrer, dass er vorbeifahren sollte. Etwa zehn Sekunden lang blieb er, wo er war. Abby wurde es immer mulmiger zumute, bis er schließlich beschleunigte und zum Überholen ausscherte. Sie verfolgte im Außenspiegel, wie er neben sie zog. „Endlich", stieß sie hervor und lockerte ihre Hände, die sie zu Fäusten geballt hatte.
Sie spähte zum Beifahrerfenster des Transporters hinein und versuchte, einen Blick auf den Idioten hinterm Steuer zu erhaschen. Dann riss sie die Augen auf, als der Wagen zu ihr herüberzog. Unwillkürlich lenkte sie nach links und bremste scharf, als der Transporter ihren Außenspiegel schrammte. Der andere löste sich sofort wieder von ihr und raste vorüber. Abby kämpfte darum, ihren Wagen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Die Sträucher am Straßenrand schrappten laut übers Beifahrerfenster, während das Auto halb auf der Straße und halb auf dem Grünstreifen entlangholperte, ehe es zum Stehen kam. Abby atmete tief durch, löste ihren Sicherheitsgurt und kniete sich mit klopfendem Herzen auf den Sitz, um nach Beth zu sehen.
„Ach du lieber Gott." Abby lehnte sich nach hinten zu ihrer Tochter. Die sah sie mit großen Augen an. „Alles in Ordnung, Schätzchen?" Abby musterte die Kleine von Kopf bis Fuß, obwohl sie wusste, dass ihr nichts fehlte. Dann hob sie die Hand zum Mund, unterdrückte einen Schrei und kam sich furchtbar dumm vor, weil ihr Tränen in die Augen stiegen. Beth sah ihre Mum an und begann zu weinen. Abby wischte ihr das Gesicht ab. „Nicht, Schätzchen, es ist alles gut. Alles in Ordnung." Sie beugte sich vor, um Beth aus ihrem Kindersitz zu holen, kam aber nicht an die Gurtschnalle heran. Schon hatte sie sich umgedreht und wollte die Tür öffnen, als sie den weißen Transporter direkt vor sich am Straßenrand stehen sah. Auf der Beifahrerseite stieg ein Mann aus und sah in ihre Richtung. Dann presste er sich ein Telefon ans Ohr. Wutentbrannt stieß Abby ihre Tür auf und stapfte auf ihn zu. Er beendete sein Gespräch und steckte das Telefon ein.
„Was zum Teufel sollte das?", herrschte Abby ihn an und blieb stehen, als der Mann mit erhobenen Händen auf sie zuging, als wollte er sich entschuldigen. „Ich habe ein kleines Kind im Auto! Sie hätten es umbringen können. Sie hätten uns beide umbringen können!"
„Tut mir leid", sagte er mit schwerem Akzent.
„Das reicht nicht", sagte Abby und warf einen Blick zurück zu Beth. „Ich zeige Sie an ..."
Die Faust des Mannes traf sie mitten ins Gesicht, und ihr Kopf flog nach hinten. Abby stolperte zurück und fiel hin. Panik wallte in ihr auf. Ungläubig und mit hämmerndem Herzen starrte sie zu dem Mann auf. Kleine Steinchen bohrten sich in ihre Handflächen, als sie sich aufzurichten versuchte. Sie hob die andere Hand an ihr Gesicht und spürte, dass ihr Blut aus der Nase lief. Schwer schluckend kroch sie vor ihm davon, dabei suchte sie die Straße nach jemandem ab, der ihr helfen könnte. Sie fasste nach ihrer Autotür und versuchte, sich hochzuziehen. Doch der Mann griff ihr von hinten ins Haar und riss sie weg. Abby hörte Schreie. Beth, dachte sie. O mein Gott, Beth! Der Mann zerrte Abby auf die Füße, eine Hand nach wie vor in ihrem Haar, während er mit der anderen die Rückseite ihres Pullovers zu einem festen Knoten drehte und sie rückwärts davon zog. Durchs Autofenster sah Abby Beth, die gelassen und sorglos wirkte.
Erst da begriff sie, dass die Schreie ihre eigenen waren.
3
Abby fuhr herum und ging mit den Fingernägeln auf das Gesicht ihres Angreifers los, schubste ihn und versuchte sich loszureißen. Sie hörte ihre eigene Stimme, eine Kakophonie aus Schreien nach Beth und Bitten, sie loszulassen. Ein zweiter Mann mit tief ins Gesicht gezogener Baseballkappe erschien von der Fahrerseite des Transporters. Er lief eilig auf sie zu und sah sich nach allen Seiten um. Dabei rief er seinem Freund etwas zu, und der erste Mann nickte zu Abbys Auto hin.
„Lassen Sie sie in Ruhe!", schrie Abby, als der Fahrer zu Beth ins Auto spähte. Er wandte sich um, kam erneut in ihre Richtung und rief etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand, vielleicht Russisch.
Der andere Mann stieß Abby zu Boden und versuchte, die Hecktür des Transporters zu öffnen. Er redete dabei nach wie vor auf seinen Begleiter ein. Abby wand sich los, kam stolpernd auf alle Viere und rang verzweifelt darum, sich aufzurichten und davonzulaufen. Der Mann trat ihr brutal ins Kreuz, sodass sie mit dem Gesicht im Schmutz landete.
Der Fahrer bückte sich, zerrte sie in die Höhe und hielt sie an den Handgelenken fest, während der erste Mann die Türen öffnete.
Abby riss einen Ellbogen hoch und rammte ihn dem Fahrer ins Gesicht. Der Mann brüllte sie an, zerrte ihr die Handgelenke hinter den Rücken und bog ihr die Arme nach oben, bis sie vor Schmerz aufschrie. Der erste Mann sprang in den Laderaum des Transporters und streckte die Arme nach Abby aus. Dann versuchte der Fahrer sie hochzuheben, indem er ihr seine Hüfte in den Rücken schob, doch sie hakte sich mit einem Fuß an der Kante des Wagens ein und stieß sich weg. Der Mann im Laderaum griff nach ihren Füßen, doch sie trat nach ihm, worauf er sie wüst beschimpfte. Schließlich stieg der Fahrer ein, zerrte Abby an den Handgelenken mit sich und warf sie zu Boden. Sofort begann sie, auf allen Vieren zur Tür zu kriechen, wurde jedoch in die Ecke zurückgezerrt. Der Fahrer stieg aus und schloss einen der Türflügel. Unter dem Schild seiner Kappe sah er sich um und sagte etwas zu seinem Komplizen, der über Abby stand, während sie sich in der Ecke zusammenkauerte. Es klang, als würden sie streiten. Abby überlegte, ob sie an dem Mann im Wagen vorbeikäme, doch ehe sie sich regen konnte, wandte er sich wieder zu ihr um und lachte.
Abby sah zum Fahrer hinüber, der noch immer von der Tür aus hereinblickte. Er wirkte weniger sicher als sein Partner, weniger entschlossen. Sein Blick schweifte weg von Abby, nach hinten zu ihrem Auto, nach hinten zu Beth. Als er den zweiten Türflügel schloss, herrschte Dunkelheit, und alles wurde still. Abby begriff, dass sie zu schreien aufgehört hatte, und hörte nun nur noch ihren eigenen Atem. In der Finsternis des Laderaums konnte sie kaum etwas sehen. Stotternd sprang der Motor an, und der Mann kam ins Wanken, als sie anfuhren. Ein paar Sekunden lang starrte er sie nur an.
„Was wollen Sie?", fragte Abby. „Ich habe Geld, das können Sie haben. Bitte nehmen Sie alles, was Sie wollen. Aber lassen Sie mich gehen. Mein Kind braucht mich. Die Kleine braucht mich!"
Der Mann starrte Abby an, sichtlich ungerührt von ihren Worten. Sie wusste nicht einmal, ob er sie verstand.
„Bitte", flehte Abby erneut und spürte heiße Tränen auf ihren Wangen. Als sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, versuchte sie seine Gesichtszüge zu erkennen und nicht darüber nachzudenken, warum er keine Maske trug, um seine Identität zu verschleiern.
Er bückte sich, bis sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt war, wobei ihr ein Wimmern entfuhr. Sie sah ihm in die Augen, um sich seine Züge einzuprägen. Seine Haut war voller Pockennarben, und Abby musste daran denken, wie sie als Kind die Windpocken gehabt und ihre Mutter ihr eingeschärft hatte, nicht zu kratzen. Die Erinnerung verblasste, als er noch näher kam. Abby zuckte erschrocken zusammen, wich vor seinem heißen, stinkenden Atem und den leeren, schwarzen Augen zurück.
Er entfernte sich ein Stück weit von ihr und kam unsicher zum Stehen. Unter dem niedrigen Dach musste er sich leicht bücken. Dann trat er irgendeinen Gegenstand beiseite und beugte sich vor, um ein Laken wegzuziehen, ehe er sich zu ihr umwandte und etwas sagte. Sie sah ihn an, als könnte sie ihm vom Gesicht ablesen, was er meinte. Er zeigte auf die Stelle, die er gerade freigemacht hatte. Abby schaute hinüber und begriff, was er wollte. Sie zitterte am ganzen Körper und konnte nicht mehr atmen. Auf der anderen Seite lag eine alte, zerschlissene Matratze, die vor Schmutz starrte und an mehreren Stellen aufgerissen war. Er zeigte erneut darauf und sagte etwas im Befehlston. Abby spürte, wie ihr der Mageninhalt in die Kehle stieg, und versuchte, sich in die Ecke zu verkriechen. Mit unsicherem Gang kam der Mann auf sie zu, während sie sich zusammenkauerte. Dann fasste er sie am Handgelenk und zog.
„Nein", sagte Abby und wehrte sich gegen seinen Griff. „Nein, nein, nein ..."
Der Mann packte sie mit beiden Händen und zerrte sie über den kalten Metallboden. Abby schrie auf und schlug mit der freien Hand nach ihm. Er stieß sie auf die schmutzige Matratze, doch sie stemmte sich wieder hoch und versuchte ihm zu entkommen. Er hob die Faust, und Abby bedeckte ihr Gesicht genau in dem Moment, als sein Hieb sie seitlich am Kopf traf. Sie schrie vor Schmerz, während er ihr weitere Schläge versetzte. Dann rollte sie sich zusammen, hielt sich schützend den Kopf und schluchzte in den ekligen Matratzenbezug. Sie hörte den schweren Atem des Mannes und flehte darum, dass es aufhörte. Während sie sich auf den Gestank der Matratze konzentrierte, musste sie darum kämpfen, nicht zu würgen. In ihren Ohren begann es zu rauschen, und sie begriff, dass die Schläge aufgehört hatten. Sein Atem ging laut und schwer. Sie roch seinen animalisch stinkenden Schweiß, als er sich näher zu ihr beugte. Dann spuckte er neben ihren Kopf auf den Boden.
„Braves Mädchen", sagte er. Abby lugte seitlich zu ihm hinüber. Als er den Reißverschluss seiner Jeans aufzog, stieß sie einen weiteren Schrei aus und versuchte davonzukrabbeln. Der Mann packte ihre Arme, drückte sie ihr fest über den Kopf und presste Abby auf die Matratze. Dann setzte er sich rittlings auf sie, sodass sein Gewicht es ihr unmöglich machte, die Beine zu heben. „Braves Mädchen", wiederholte er, ließ sie mit einem Arm los und fuhr mit der Hand an ihrem Körper entlang zu ihrem Hosenbund. Abbys Atem ging so schnell, dass sie glaubte, ohnmächtig zu werden. Als er sich in Stellung brachte und an ihrer Hose zerrte, flehte sie im Stillen darum.
Im Rhythmus mit dem Transporter wiegte Abby sich vor und zurück. Von irgendwoher hörte sie ihre Mutter Rockabye Baby singen. Sie wusste zwar nicht mehr, ob sie ihr das tatsächlich jemals vorgesungen hatte, doch es war einfach da. Im Wagen roch es nach Erbrochenem, und in ihrem Haar war etwas Nasses. An den nackten Beinen spürte sie den kalten Wind, der durch die Türen hereinkam. Sie überlegte, ob sie wohl in der Nähe von Zu Hause war.
Der Transporter kam langsam zum Stehen. Aus nächster Nähe vernahm sie Schritte auf Kies. Als die Tür aufging, erkannte sie die Umrisse eines Mannes. Sie hoffte, dass Paul sie abholen gekommen war.
Der Fahrer betrat den Laderaum und beugte sich über sie. Er zog sie sachte an den Schultern hoch, bis sie saß. In die Augen sah er ihr nicht.
„Wo ist Beth?", fragte sie ihn, doch er sah sie weder an, noch gab er ihr eine Antwort.
Sie registrierte den anderen Mann, der in der Ecke hockte und eine Zigarette rauchte. Er starrte Abby an und blies den Rauch in ihre Richtung, bis sie husten musste. Der Fahrer half ihr auf und tappte rückwärts aus dem Laderaum. Dann winkte er Abby. Mit weichen Knien, abgestützt an der Seitenwand des Transporters, ging sie auf die offene Tür zu, wo sie das plötzliche Tageslicht blendete. Sie blinzelte zum Himmel, während ihr der Fahrer eine Hand hinhielt, um ihr herunterzuhelfen. Er blickte an ihren bloßen Beinen entlang. Abby folgte seinem Blick und musterte ihre Beine ebenfalls. Sie sahen schmutzig aus. Sie rieb an einem Fleck, doch er ging nicht weg. Der Fahrer beugte sich in den Wagen, zog ihre Hose und ihre Schuhe zu sich her und hielt sie Abby hin. Doch der andere Mann kroch zu ihm hinüber, riss ihm die Kleidungsstücke aus der Hand und brüllte etwas Unverständliches. Er warf die Sachen wieder in den Wagen und stieg aus, ehe er Abby und seinen Partner beiseiteschob und die Hintertür zuschlug. Dann brüllte er noch etwas und schubste den anderen in Richtung Fahrertür. Er selbst stapfte zur Beifahrerseite und stieg ein.
Abby sah zu, wie der Transporter rasch die lange, einsame Straße hinabfuhr und verschwand. Erstaunt blickte sie auf ihre zitternden Hände hinab. Seltsam, eigentlich war ihr gar nicht so kalt. Zwischen ihren Beinen spürte sie etwas Feuchtes. Während sie die Blutspur an ihrem Oberschenkel betrachtete, begann sich alles zu drehen. Ein Bild ihrer Tochter, allein und verängstigt, blitzte in ihrem Kopf auf, als sie auf dem Boden aufschlug.
4
Miklos Prochazka umklammerte das Lenkrad. Sein Brustkorb war wie zugeschnürt. Er schob seine Kappe zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Cousin Damek zündete sich neben ihm die nächste Zigarette an.
„Mach das Fenster auf", sagte Miklos, und Damek verdrehte die Augen, ehe er gehorchte.
Miklos sah in den Spiegel. Es war niemand hinter ihnen. Seit sie die Frau am Straßenrand ausgesetzt hatten, war niemand mehr hinter oder vor ihnen aufgetaucht. Eigentlich erwartete er einen Strom von Streifenwagen mit Sirenen und Blaulicht. Doch nichts. Gar nichts.
Damek ließ einen Arm aus dem Fenster hängen und spuckte hinaus. Der Wind blies Speicheltropfen auf die Windschutzscheibe, was er mit einem Knurren quittierte. Miklos musterte ihn, während er hastig zwischen Straße, Rückspiegel und seinem Beifahrer hin und her blickte.
„Was?", zischte Damek und beugte sich vor, um das Radio einzuschalten.
Miklos sah ihn nur wortlos an. Er wünschte, er könnte den Transporter anhalten und Damek am Straßenrand absetzen. Davonfahren und ihn nie wiedersehen. Er kannte Damek und wusste, wozu er imstande war, trotzdem war er schockiert.
„Was?", wiederholte Damek und schnippte seine Zigarettenkippe aus dem Fenster. „Hast du Probleme?"
„Probleme?" Miklos grub die Finger ins Lenkrad. „Probleme!" Er schlug mit der offenen Hand gegen die Seitenwand. „Was hast du dir dabei gedacht?" Er blickte wieder auf die Straße. „Was hab ich mir dabei gedacht?"
Damek schüttelte den Kopf. „Du bist doch bezahlt worden, oder nicht?" Er fummelte erneut am Radio herum und lehnte sich zurück, nachdem er sich für einen Sender entschieden hatte.
Miklos beugte sich vor und stellte das Radio wieder aus. Seine Gedanken überschlugen sich. Das hätte nicht passieren dürfen. Nicht so. Er hätte weggehen sollen. Er hätte nicht mitmachen, nicht bei Damek bleiben sollen. Kopfschüttelnd dachte er: Nie wieder.
„Sie war hübsch", sagte Damek grinsend. „Attraktiv. Ein Jammer, das mit dem Baby."
Miklos spürte, wie ihm die Galle hochkam. Das mit dem Baby hatte man ihm nicht gesagt. Das Baby hätte nicht dabei sein dürfen. Dafür wurden sie nicht bezahlt. Auf einmal beschleunigte sich sein Atem, und er schnappte nach Luft, begierig darauf, seine Lungen zu füllen. Er lenkte den Wagen an den Straßenrand und hielt an.
Eilig stieg er aus und stand trocken würgend auf dem Grünstreifen. Schließlich wischte er sich das Gesicht, lehnte sich schwer atmend gegen die Seite des Transporters. Er hörte, wie Damek auf seiner Seite die Tür zuschlug und zur Fahrerseite herüberkam. Er baute sich vor Miklos auf, hob seinen Kopf an und sah ihm in die Augen.
„Pussy", sagte er und lachte. Dann schob er Miklos beiseite und setzte sich auf den Fahrersitz. Miklos musterte ihn kurz, ehe er sich erneut nach hinten umsah. Vielleicht war die Polizei schon unterwegs. Er wischte sich wieder das Gesicht und stieg ein. Damek fuhr los, noch ehe er die Tür geschlossen hatte.
Miklos starrte Damek an. „Hast du das gewusst?"
Damek zuckte nur die Achseln, und Miklos fragte noch einmal. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn Damek von dem Baby gewusst hätte; ihn kümmerte das nicht.
„Hab nicht nach Einzelheiten gefragt", sagte Damek und stellte das Radio wieder an.
5
Abby schlug die Augen auf. Eine Fliege flog summend um ihren Kopf, und das vertrocknete Gras des Grünstreifens kratzte sie im Gesicht. Rasch setzte sie sich auf und wünschte augenblicklich, sie hätte es nicht getan. Der Schmerz jagte durch ihren Kopf, sodass sie die Augen wieder schloss. Sie hob eine Hand an den Kopf, doch nahm sie rasch wieder runter. Ihr Haar blieb feucht und klebrig daran hängen. Sie fragte sich, worin in aller Welt sie gelegen hatte. Auf einmal vernahm sie das Geräusch eines fahrenden Autos auf Kies, irgendwo in der Nähe. Ihr erster Impuls war, sich zu verstecken; sie wollte nicht, dass jemand sie so sah.
Ihr zweiter Impuls veranlasste sie, schleunigst auf die Beine zu kommen und loszulaufen.
„Beth", stieß Abby schwer atmend hervor. „Beth, Beth!" Sie schrie auf und kam ins Stolpern, wobei sich die Steinchen in ihre bloßen Füße bohrten. Abrupt blieb sie stehen und sah sich um. Wo zum Teufel war sie? Wo war ihr Auto? Wo war Beth? Wieder und wieder wandte sie sich um und suchte nach irgendetwas Bekanntem, bis ihr schwindlig war. Das Auto wurde lauter, kam näher. Sie lief dem Geräusch entgegen. Ein blauer Wagen tauchte aus einer Senke in der Straße auf und geriet heftig ins Schlingern, während Abby mitten auf der Straße auf ihn zustürmte. Ihre Handflächen klatschten auf die Motorhaube, als das Auto stehenblieb. Durch die Windschutzscheibe starrten sie die verblüfften Gesichter eines Paars mittleren Alters an. Die beiden wechselten einen verschreckten Blick, ehe Abby zur Beifahrerseite lief und die Frau flehend ansah.
„Bitte, haben Sie sie gesehen? Haben Sie Beth gesehen?", rief Abby. Die Tür ging auf, und der Mann lief zu Abbys Seite hinüber. Er machte Anstalten, ihr eine Hand auf die Schulter zu legen, doch sie schreckte vor seiner Berührung zurück. „Haben Sie sie gesehen?", fragte sie mit flehender Stimme und blickte hektisch, nur flach atmend zwischen den beiden hin und her.
„Okay, junge Frau, ganz ruhig. Erzählen Sie uns, was passiert ist. Hat Ihnen jemand wehgetan?", fragte der Mann und streckte erneut die Hand nach Abby aus, zog sie jedoch ebenso schnell wieder zurück. Sein Blick fiel auf ihre nackten Beine, ehe er ihr erneut ins Gesicht sah. Dann drehte er sich zu der Frau um, die langsam aus dem Wagen stieg.
Abby sah an ihr vorbei und begann den Hügel hinabzustapfen, den Weg zurück, den das Auto gekommen war. „Ich muss sie finden", sagte sie und wischte sich mit einer zittrigen Hand das Gesicht. „Ich muss sie finden."
Im Laufschritt kam der Mann hinter ihr her. „Wen müssen Sie finden? Wen haben Sie verloren?"
„Beth!"
„Wer ist Beth?"
„Meine Tochter. Mein Baby." Abby blieb stehen und drehte sich zu ihm um. „Sie müssen sie doch gesehen haben. Oder gehört. Bestimmt hat sie nach mir geschrien!" Abby wurde von Schluchzern geschüttelt. Der Mann schlüpfte aus seinem Jackett und hielt es ihr hin, doch sie ignorierte die Geste. „Ich muss sie finden."
„Natürlich", sagte der Mann und führte sie so sanft er konnte zum Auto zurück. „Wir finden sie schon." Er machte die Tür auf der Beifahrerseite auf und drückte Abby sachte auf den Sitz. Dann drehte er sich zu seiner Frau um. „Gib mir dein Telefon."
Die Frau starrte Abby einen Moment lang an, ehe sie sich wieder ihrem Mann zuwandte. „Was?", fragte sie.
„Das Telefon, Frau, gib mir das verfluchte Telefon!", fauchte er und streckte die Hand aus.
Die Frau kramte in ihrer riesigen Handtasche herum und förderte ein Telefon zutage. Der Mann riss es ihr aus der Hand und wählte. Nach einem kurzen Seitenblick auf Abby wandte er sich ab.
„Hallo? Die Polizei, bitte", sagte er. Er entfernte sich auf dem Grünstreifen von Abby, bis sie ihn nicht mehr hören konnte. Die Frau beugte sich zu Abby hinab, nahm ungeschickt ihre Hand und murmelte nutzlose Plattitüden.
Der Mann beendete das Gespräch und kehrte zum Auto zurück. „Die Polizei kommt gleich."
Abby sah zu dem Mann auf. „Haben sie sie gefunden?"
Er räusperte sich. „Die Polizei klärt das schon. Dauert nicht mehr lang."
Abby schüttelte den Kopf. „Nein, ich kann nicht warten. Ich muss los. Ich muss sie finden." Sie stand auf und schob sich an dem Mann vorbei, während die Frau ihr bereitwillig Platz machte.
„Herrgott noch mal, Andrea", sagte der Mann und drängte sich an ihr vorbei. Schnell hatte er Abby wieder eingeholt. „Ich finde, wir sollten warten. Sie sind gleich da."
„Ich kann nicht warten", erklärte Abby. „Was, wenn ihr etwas zugestoßen ist? Was, wenn sie ihr auch etwas angetan haben?" Sie versuchte ihm auszuweichen, doch er legte ihr eine Hand auf die Schulter. Als Abby aufschrie, ließ er die Hand wieder fallen.
„Tut mir leid. Tut mir wirklich leid. Schauen Sie, ich weiß nicht, was mit Ihrem Töchterchen passiert ist, aber die Polizei kann Ihnen helfen. Sie wissen, was zu tun ist. Bitte. Kommen Sie zum Auto zurück, und dann klären wir die Sache. Ich verspreche es."
Abby starrte ihn an und versuchte erneut, um ihn herumzulaufen. Als sie an ihm vorbeiging, kam ein Streifenwagen über den Hügel. Er passierte Abby und den Mann und blieb auf dem Grünstreifen hinter dem Auto des Paares stehen. Zwei Uniformierte stiegen aus und kamen auf sie zu.
„Könnten Sie uns Ihren Namen nennen?", fragte die Polizistin Abby und schob sich das dunkle Haar aus den Augen, bevor sie ihren Hut aufsetzte.
„Abby. Abby Henshaw", krächzte sie.
„Okay, Abby. Ich bin PC Lawton. Das ist PC Cartwright", erklärte sie und zeigte dabei auf ihren Kollegen. „Können Sie uns schildern, was passiert ist?"
„Wir waren unterwegs zum Mittagessen, als sie plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht ist", erzählte der Mann. „Wir hätten sie beinahe überfahren. Sie redet die ganze Zeit davon, dass sie jemanden finden muss, ihre Tochter. Ich habe gesehen, dass sie verletzt ist, und sie scheint völlig aufgelöst zu sein, also habe ich die Polizei gerufen."
„Mr. Walker?", fragte Cartwright.
Der Mann nickte, und Cartwright wandte sich wieder Abby zu.
„Ich will nur Beth finden", sagte Abby.
„Wer ist Beth?", fragte Lawton.
„Meine Tochter", antwortete sie, wischte sich dabei über die Stirn und schob sich das klebrig verschwitzte Haar aus dem Gesicht.
Lawton und Cartwright wechselten einen Blick.
„Bitte, ich will nur meine Tochter wiederhaben." Abby rieb sich über die Wange und verschmierte dabei das noch nicht komplett getrocknete Blut.
„Wenn Sie uns sagen, was passiert ist, Abby, können wir Ihnen helfen. Wir helfen Ihnen, Ihre Tochter zu finden."
Abby sah Lawton an und seufzte. Ihre Frustration wuchs. Die Frau wirkte nicht einmal alt genug, um eine Polizistin zu sein. Wie wollte sie ihr helfen? Sie musterte die anderen, die um sie herumstanden und sie beobachteten. Warum half ihr niemand?
Lawton führte Abby zum Streifenwagen und versuchte, sie hineinzubugsieren, doch Abby machte sich los.
„Erzählen Sie uns einfach, was passiert ist, Abby."
Abby kniff die Augen zu. Sie wollte nicht reden, sie wollte nur Beth finden. Sie wollte nicht darüber nachdenken.
„Abby?", sagte Cartwright.
Sie seufzte. „Sie haben mich entführt. Sie haben mich in einen Transporter gesteckt und mich verletzt und Beth einfach allein zurückgelassen. Sie kann nicht allein bleiben, sie ist doch noch ein Baby."
„Okay, Abby. Wer hat Sie entführt? Kannten Sie die Leute?", fragte Lawton mit einem Blick auf Cartwright. Als sich Cartwright zum Gehen wandte, hörte Abby ihn sagen: „Wir müssen die Kripo und einen Krankenwagen anfordern."
„Nein." Abby stockte der Atem. „Bitte, ich bin nicht wichtig, ich muss nur Beth finden. Warum hören Sie mir denn nicht zu? Sie ist ganz allein. Sie ist in Gefahr."
„Ich höre ja zu, Abby. Aber ich muss wissen, was passiert ist, damit ich Ihnen helfen kann. Verstehen Sie?"
„Der Krankenwagen ist unterwegs", erklärte Cartwright.
„Sie war im Auto. Sie haben sie im Auto gelassen. Es war gleich da hinten." Abby zeigte die Straße hinab. „Ich bin mir sicher, dass ich aus der Richtung gekommen bin. Ich bin aus der Stadt gekommen, aus Redcar, und ich glaube ... Es ist ein silberner Corsa. Sie müssen direkt daran vorbeigefahren sein. Irgendjemand von Ihnen muss ihn gesehen haben." Abby sah von Lawton zu Mr. Walker. Sie wechselten einen Blick. „Sie haben ihn gesehen, oder?", hakte Abby nach.
Lawton nickte. Walker sah aus, als wäre ihm schlecht.
„Ich habe das Auto gesehen und mir gedacht, dass es jemand dort stehen lassen hat und picknicken gegangen ist oder so. Ich wusste ja nicht ..." Walker sah zwischen Abby und den Polizisten hin und her. „Aber es war niemand drin, da bin ich mir sicher."
Cartwright rieb sich das Kinn.
„Vielleicht haben Sie sie nicht gesehen. Wenn Sie nicht angehalten haben, konnten Sie sie nicht sehen. Sie saß in ihrem Kindersitz, hinten. Sie fürchtet sich, so ganz allein, wir müssen hinfahren und sie holen!"
Cartwright nickte Lawton zu. „Warten Sie hier, ich fahre zurück und überprüfe das Auto. Und nehmen Sie eine Aussage von Mr. und Mrs. Walker auf."
Lawton nickte.
„Ich komme mit", erklärte Abby.
Cartwright wollte schon etwas einwenden, doch Abby setzte sich einfach auf den Beifahrersitz. Lawton ging davon und sprach in ihr Funkgerät. Mr. und Mrs. Walker standen dicht nebeneinander da und sahen zu, während Cartwright den Wagen anließ. Als sie zurück über den Hügel fuhren, krampfte sich Abbys Magen zusammen und ihre Übelkeit wuchs.
Ein paar Minuten später sahen sie ihr Auto am Straßenrand stehen. Cartwright bremste, und Abby sprang raus, noch ehe der Wagen richtig zum Stehen gekommen war. Sie rannte über die Straße und riss die Tür auf.
Sie hörte das Geräusch, einen hohlen, kehligen Laut, und spürte Cartwrights Hand auf ihrem Arm, während er sachte versuchte, sie wegzuziehen.
Beth war nicht mehr da.
6
Inspektor Gardner hielt am Rand der Schotterstraße und betrachtete die Szenerie. Bis jetzt wusste er nur, dass eine Frau überfallen und auf der Straße ausgesetzt worden war und nun behauptete, ihr Baby sei verschwunden. Normalerweise tauchte ein Kind binnen weniger Stunden wieder auf, manchmal hatten die Eltern etwas damit zu tun, und gelegentlich gab es überhaupt kein Kind. Er hatte das Gefühl, als wäre ihm im Zuge seiner Arbeit schon jede nur vorstellbare Sorte Mensch begegnet, und doch gab es immer wieder Fälle, bei denen er sich irrte.
Gardner sah zu, wie Dave Sanders von der Spurensicherung, der grundsätzlich nur im wissenschaftlichen Jargon sprach, mit seiner Wundertüte aus dem Auto stieg. Das war auf jeden Fall ein Vorteil, denn Sanders war einer der besten. Sie hatten schon oft zusammengearbeitet, und Gardner wusste, dass er ihm vertrauen konnte. Wenn es hier irgendwelche Beweise gab, würde Sanders sie finden. Er verlangte viel von seinem Team, und seine Erfolge bewiesen das.
Gardner sah die Sanitäter neben dem Krankenwagen stehen und mit PC Craig Cartwright sprechen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, ein kleiner Wichtigtuer wie Cartwright bei den Ermittlungen. Cartwright sah auf und nickte ihm über die Straße hinweg zu. Gardner folgte seinem Blick und sah Lawton neben der Frau knien. Das war erfreulich. PC Dawn Lawton glich alles wieder aus. Sie war gut. Würde eines Tages eine erstklassige Ermittlerin abgeben.
Gardner richtete den Blick wieder auf die Frau. Ihr war eindeutig etwas Schreckliches passiert. Gleichzeitig hoffte er, dass ihre Verwirrung nur davon herrührte. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Elternteil vom Verschwinden eines Kindes überzeugt war, während es sich in Wahrheit zu Hause oder in der Schule befand.
Gardner atmete aus und öffnete die Autotür. Als er auf Lawton zuging, hoffte er, dass es sich um einen unkomplizierten Fall handelte.
Abby saß auf der harten Schotterstraße und hatte die Arme um die Knie geschlungen. Sie registrierte zwar, dass sich die kleinen, spitzen Steine in ihre Haut bohrten, doch sie spürte keinen Schmerz. PC Cartwright hatte es aufgegeben, sie dazu zu bewegen, sich in den Krankenwagen zu legen, und sprach nun stattdessen unentwegt in sein Funkgerät, offenbar begierig darauf, irgendetwas unter Kontrolle zu haben. Abby sah, wie er den Arm bewegte, wie er auf ankommende Autos zeigte und auf die Leute, die aus ihnen ausstiegen. Gelbes Absperrband wurde abgerollt und flatterte im Wind. Abby blendete seine Worte aus und klammerte sich verzweifelt an ihre eigene Realität: Das hier war kein Fall für die Polizei. Beth war nicht weg. Es war alles in Ordnung. Doch weitere Autos, weitere Polizisten, Uniformierte und Gerätschaften, die mitgebracht wurden, machten es ihr unmöglich, weiter daran zu glauben.
Zwei Paar Füße tauchten vor ihr auf.
„Mrs. Henshaw?" Sie erkannte Lawtons Stimme und ignorierte sie in der Hoffnung, dass sie wieder wegging und das alles mitnahm. „Mrs. Henshaw?" Lawton scharrte mit den Füßen, und dann bewegte sich das zweite Fußpaar ein wenig, während sich jemand zu ihr herabbeugte. Sie spürte eine sanfte Berührung am Kinn, das angehoben wurde, damit sie ihm ins Gesicht sah. Ein älteres, erfahreneres Gesicht mit besorgter Miene blickte auf sie herab.
„Mrs. Henshaw? Ich bin Inspektor Gardner." Er sah noch einmal zu Lawton und dann wieder zu Abby. „Hören Sie mich? Wenn Sie mich hören, nicken Sie einfach, okay?"
Abby hielt inne, während ihr Gehirn darum rang, die Worte zu erfassen. Schließlich spürte sie, dass sie nickte.
„Gut. Okay, wir bringen Sie jetzt ins Krankenhaus. Lassen Sie durchchecken, damit wir sicher sein können, dass Ihnen nichts fehlt, und dann unterhalten wir uns. Ist das in Ordnung?"
Abby starrte Gardner an und nickte wieder. Sie hatte das Gefühl, sprechen zu wollen, doch ihr fiel nicht ein, was sie sagen sollte. Was gab es noch zu sagen? Beth war weg. Gardner trat beiseite, um die Sanitäter vorbeizulassen, die Abby kurz untersuchten und ihr dann aufhalfen. Als sie sie zum Krankenwagen führten, sah sie sich um und betrachtete die hektische Betriebsamkeit. Sie fühlte sich wie in einem Film, wo der Held still und allein dasteht, während der Rest der Welt sich um ihn herum weiterdreht. PC Lawton stieg in den Krankenwagen. Abby hörte sie sprechen, verstand aber nicht, was sie sagte. Sie sah Cartwright an ihrem Wagen herumlungern. Ein zweiter Mann mit Latexhandschuhen schob sich gerade mit irgendetwas in der Hand rückwärts aus ihrem Auto. Gardner ging auf ihn zu.
„Zweifelsfrei ihr Fahrzeug", sagte der Mann und reichte Gardner verschiedene Papiere. „Der Ausweis in ihrer Handtasche stimmt mit der Zulassung überein. Wir haben die Telefonnummer des Ehemanns, konnten ihn aber noch nicht erreichen. Ein Streifenpolizist ist unterwegs zu ihm und kann ihn hoffentlich herbringen."
„Paul", murmelte Abby. Was war mit Paul? Wie würde er es wohl aufnehmen? Wie sollte sie ihm verständlich machen, was passiert war? Dass Beth verschwunden war?
Der Sanitäter direkt neben ihr half ihr in den Krankenwagen und machte Anstalten, die Tür zu schließen. Ehe er sie zuschlug, hörte sie noch einen letzten Satz von dem Mann mit den Handschuhen.
„Aber keine Spur von einem Baby im Fahrzeug. Kein Kindersitz, keine Windeln oder ähnliches. Kein Foto in ihrer Geldbörse. Nichts."
7
„Okay, Abby, wir sind hier fertig. Setzen Sie sich in aller Ruhe auf, und wenn Sie so weit sind, können Sie das Badezimmer benutzen. Falls sie irgendetwas brauchen, geben Sie mir einfach Bescheid", sagte Dr. Rosen mit ruhiger Stimme.
Abby sah ihr zu, wie sie ihre Handschuhe abstreifte und wegwarf. Sie blickte auf und schenkte Abby ein angedeutetes Lächeln, das tröstlich und professionell zugleich wirkte. Ihre Worte und Handlungen vermittelten kein Mitleid. Abby fragte sich, wie lange sie das wohl schon machte. War das ihre einzige Aufgabe? Sich Tag für Tag um Opfer zu kümmern? Wie die Frau sich wohl fühlte, wenn sie abends nach Hause kam? Beschmutzt und wütend oder wie eine Wohltäterin? Vielleicht beides. Abby spähte auf Dr. Rosens linke Hand, konnte aber keinen Ring entdecken. Sie musste mindestens Ende fünfzig sein. Womöglich hatte sie ja nie geheiratet; vielleicht hatte ihr Beruf ihr Männerbild beschädigt. Oder sie trug einfach keinen Ring bei der Arbeit.
„Abby?" Sie registrierte, dass die Ärztin sie angesprochen hatte und sah auf. „Möchten Sie jetzt aufstehen?", fragte Dr. Rosen.
Eigentlich wäre Abby gerne liegen geblieben und hätte ewig ihrer sanften Stimme gelauscht. Sie wollte hören, dass alles in Ordnung war. Wenn ihr Dr. Rosen das versicherte, würde sie es ihr bestimmt glauben. Doch das tat sie nicht. Mit keinem Wort hatte sie Abby gesagt, dass alles in Ordnung sei. Sie hatte ihr nicht gesagt, dass ihr nichts fehle. Sie hatte nicht versprochen, dass Beth in Sicherheit sei. Vielleicht war es diese Aufrichtigkeit, die bei den Frauen, die durch diese Tür traten, Vertrauen weckte.
Abby setzte sich auf und merkte, dass sich der Raum um sie drehte. Dr. Rosen legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. Nach einer Weile drückte sie Abbys Schulter leicht.
„Geht's?"
Abby nickte, rutschte vom Tisch und sah sich nach beiden Seiten um. Regungslos blieb sie stehen, da sie nicht wusste, was sie tun und wohin sie gehen sollte. Dr. Rosen hielt Abby zur Orientierung ihren Arm hin, berührte sie aber nicht.
„Gleich hier durch", sagte sie und wies mit der anderen Hand auf eine Tür. „Saubere Handtücher und frische Kleider liegen bereit. Werfen Sie den Kittel einfach auf den Boden."
Abby betrat das Badezimmer, dessen strahlendes Weiß sie blendete. Dr. Rosen schloss die Tür hinter ihr, und Abby war seit Stunden zum ersten Mal allein. Sie hörte ihre Atemzüge leise von den makellosen Fliesen widerhallen. Mit wenigen Schritten war sie am Waschbecken und hielt den Kopf gesenkt, um nicht in den Spiegel darüber blicken zu müssen. Nach einigen tiefen Atemzügen hob sie den Kopf und starrte sich selbst an. Blut klebte auf ihrem Gesicht und hing in Klumpen in ihrem Haar. Das Rot erinnerte sie daran, wie sie einmal ihrer Mutter den Lippenstift stibitzt und ihn sich quer über ihr siebenjähriges Gesicht geschmiert hatte. Blutergüsse übersäten ihr Gesicht, ihre Lippen waren geschwollen und aufgerissen. Als sie ihre Wange berühren wollte, merkte sie, dass sie die Hände hinter dem Rücken in den Krankenhauskittel verkrallt hatte und ihn zuhielt, um sich vor Kälte und Blicken zu schützen. Sie sah sich nach der verschlossenen Tür um und ließ das papierdünne Gewand langsam los. Die beiden Hälften teilten sich und entblößten ihren von Gänsehaut überzogenen Körper unter dem grellen Deckenlicht.
Abby betastete ihr trauriges Clownsgesicht und zeichnete eine Linie entlang des getrockneten Bluts auf der einen Seite. Am Kinn angelangt, begann sie erneut von oben, zeichnete Muster um die Blutergüsse herum und versuchte Formen zu bilden.
Ein Geräusch von draußen ließ sie zusammenzucken. Sie wandte sich vom Spiegel ab und betrachtete den Stapel weißer, wie im Hotel gefalteter Handtücher auf dem Regal neben der Badewanne. Einen Augenblick lang geriet sie in Panik und fürchtete, sie könnte sie mit Blut beschmutzen, doch dann sagte sie sich, dass das Dr. Rosen sicher nichts ausmachte. Ob sie die Handtücher wohl mehrmals verwendeten oder sie wegwarfen wie Gummihandschuhe? Das käme ihr wie Verschwendung vor, doch gleichzeitig wurde ihr unwillkürlich schlecht beim Gedanken an andere Frauen, andere Mädchen, die sich mit denselben Handtüchern das Blut abgewischt hatten.
Auf dem Stuhl lag ein Stapel Kleider, wiederum ordentlich und professionell gefaltet. Abby fuhr mit der Hand am Rand des Stapels entlang. Büstenhalter, Unterhose, Socken, T-Shirt, Jogginghose, Pulli und Slip-on-Turnschuhe, wie sie in den Sonntagszeitungen beworben wurden. Ob sie wohl alle diese Sachen brauchte? Soweit sie sich erinnerte, war es nicht so kalt. Ein neues Geräusch von der Tür her veranlasste sie, sich in Bewegung zu setzen. Womöglich wartete schon jemand anders auf das Badezimmer, ein Fließband von Opfern. Untersuchen - Waschen - Befragen. Abby sah sich nach einer zweiten Tür um, die sie zum nächsten Schritt führen würde, sah aber keine. Sie würde denselben Weg hinausgehen müssen, den sie gekommen war. Aber was, wenn dort drinnen jemand war? Das nächste Opfer? Wartete man, bis man gerufen wurde, oder klopfte man an die Tür, ehe man herauskam? Woher sollte man das wissen?
Abby wandte sich wieder der Badewanne zu. Hinter dem Vorhang gab es auch eine Dusche. Was davon sollte sie wohl benutzen? Eine Dusche wäre schneller, falls Andrang herrschte. Sie drehte an den Knöpfen, und sofort schoss ein dicker Wasserstrahl aus dem Duschkopf. Abby hielt die Hand darunter und stellte sich dann in die Wanne. Das heiße Wasser prasselte ihr ins Gesicht und brannte umso mehr, je heißer es wurde. Sie fühlte sich schwer und beengt. Als sie mit den Händen über ihren Körper fuhr, fühlte es sich an, als zöge sie sich die Haut von den Knochen. Ein Blick nach unten verriet ihr, dass sie noch immer den Krankenhauskittel anhatte. Sie wich zurück und mühte sich ab, das Ding loszuwerden; das Band war zu nass und zu fest gebunden, um es aufzukriegen. Sie versuchte es mit den Fingernägeln, doch es ging nicht. Vor Anstrengung schnürte sich ihr Brustkorb zusammen. Sie zerrte an der Vorderseite des Kittels, wobei ihr die Tränen in den Augen brannten. Schließlich ließ sie sich an der gefliesten Wand nach unten gleiten, bis sie in der Duschwanne saß, während das heiße Wasser auf sie niederrann, der Dampf allmählich den Raum ausfüllte und sie auszulöschen begann. Im sicheren Wissen, dass das Wasser das Geräusch übertönen würde, ließ sie ihrem Kummer freien Lauf.
Abby stellte die Dusche ab und stieg hinaus, wobei sie nasse Spuren auf dem Fußboden hinterließ. Der durchnässte Kittel klebte ihr am Körper. Sie zerrte ihn sich über den Kopf und warf ihn mit einem lauten Klatschen zu Boden. Ihr Brustkorb schmerzte, und ihre Kehle fühlte sich wund an. Sie fragte sich, wie lange sie wohl dort drin gewesen war und ob Dr. Rosen schon an die Tür gehämmert hatte, wie es ihr Vater immer getan hatte. Sie vermisste den Klang seiner Stimme, seit er gestorben war, und wünschte sich, er könnte sie nur noch einmal anbrüllen.
Sie nahm sich ein großes weißes Handtuch und hüllte sich darin ein. Inzwischen war es ihr egal, ob sie Unordnung verursachte. Sie warf den Kleiderstapel zu Boden, sah zu, wie Wasser in das T-Shirt lief, und setzte sich auf den leeren Stuhl. Aus ihrem nassen Haar tropfte es ihr auf den Rücken. Dann betrachtete sie ihre Arme, die von dem heißen Wasser gerötet waren, und dachte an den Sommer, als Paul im Garten eingeschlafen war und am ganzen Oberkörper einen Sonnenbrand bekommen hatte. Ob Paul wohl schon Bescheid wusste? Ob er wohl draußen irgendwo auf sie wartete? Vielleicht saß er jetzt schon mit Beth auf den Knien direkt vor der Tür und dachte daran, dass sie immer zu lang im Badezimmer blieb.
Abby stand auf und trocknete sich ab. Sie studierte jedes Kleidungsstück, bevor sie es anzog. Der Büstenhalter: etwas zu klein und an einem Körbchen ausgefranst. Die Unterhose: groß und grotesk. Das T-Shirt: pfirsichfarben und langweilig. Die Jogginghose: zu lang und mit zu viel Nylon. Sie überlegte, ob sie den blauen Pulli wirklich anziehen sollte, doch sie sagte sich, dass er ja aus einem bestimmten Grund da lag, und so streifte sie ihn über. Zum Schluss die Socken. Die Socken waren in Ordnung. Dann schob sie die Füße in die Sonntagsschuhe, die ihr ein bisschen zu groß waren, und schlurfte langsam zurück zum Spiegel. Sie warf einen letzten Blick auf ihr Ebenbild, ehe sie hinausging und sich erneut der Welt stellte. Noch einmal fasste sie nach oben in ihr geschwollenes Gesicht, berührte einen Bluterguss und presste die Finger dagegen. Sie stieß ein Wimmern aus und drückte fester zu. Es tat nicht weh genug.
Aus dem Englischen von Ariane Böckler.
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln.
„Worum geht es dann?", fragte Abby.
„Warum kann sie nicht hierher kommen?"
„Fang nicht damit an, Paul."
„Ich fange gar nichts an. Ich frage nur, warum sie nicht zu dir kommen kann."
„Sie sagt, sie hat die Handwerker im Haus und will sie nicht unbeaufsichtigt lassen."
Abby hörte Paul schnauben. „Sie ist eine solche ..." Er verstummte. Seit Beth auf der Welt war, verzichtete Paul weitgehend auf Schimpfwörter und leistete sich nur selten einen Ausrutscher. Abby war nicht ganz so beherrscht. „Eigentlich müsste sie zu dir kommen, Abby", sagte Paul. „Du bist diejenige, die gerade ein Kind bekommen hat."
„Ich bin diejenige, die vor acht Monaten ein Kind bekommen hat. Außerdem ist sie letztes Mal zu uns gekommen."
„Das ist nicht der Punkt. Wenn sie will, dass man sie besucht, muss sie in einer zivilisierten Gegend wohnen. Ich meine, was treibt sie eigentlich da draußen? In meinen Augen zieht man eigentlich nur dann aufs Land, wenn man für irgendwas bestraft wird."
„Sie schreibt", sagte Abby.
„Jen schreibt nicht. Sie führt lediglich ein ‚Künstlerleben'", entgegnete er. Abby sah die Anführungszeichen förmlich vor Augen.
Sie schaute zu Beth hinunter und registrierte, dass die Kleine jemanden hinter ihr ansah. Abby wandte sich um und erblickte eine rothaarige Frau, die Grimassen schnitt. Sie zog den Buggy näher zu sich heran und konzentrierte sich wieder auf Paul, der noch immer am Schimpfen war.
„Ich sage ja nur, dass ich finde, sie sollte hierher kommen. Du verfährst dich doch nur", sagte er.
„Tu ich nicht."
„Letztes Mal hab ich eine halbe Stunde am Telefon gehangen und mich abgemüht, dich wieder aus der Pampa rauszulotsen."
„Ich komm schon klar."
„Okay", seufzte Paul. „Wie du willst."
Abby wusste, dass sein Widerstand gegen den Besuch weniger mit der umständlichen Fahrt dorthin zu tun hatte als vielmehr mit seinen Gefühlen gegenüber Jen. Manche Leute fanden es seltsam, dass Abby so gut mit der Ex ihres Mannes befreundet war, doch Abby belustigte es eher. Die Vorstellung, dass die beiden einmal zusammen waren, war so absurd, dass jeglicher Anflug von Eifersucht lächerlich gewesen wäre.
„Jedenfalls muss ich mich jetzt wieder an die Arbeit machen", sagte er. „Es ist eine Riesenlieferung gekommen, die ich sortieren muss."
„Okay."
„Bis wann kommst du wieder zurück? Falls du dich nicht verfährst."
Abby lächelte. „Keine Ahnung. Gegen fünf oder sechs vielleicht."
„Okay, dann bis dann. Gib Beth einen Kuss von mir."
Sie legte auf, bückte sich zu Beth hinab und drückte ihr einen Kuss aufs Haar. Der Mann mit den Krücken kam heraus, gefolgt von der Arzthelferin die konzentriert auf ihr Klemmbrett schaute. Beth starrte an ihr vorbei, und Abby drehte sich um, um zu sehen, ob die Rothaarige ihr immer noch Grimassen schnitt. Die Frau fing Abbys Blick auf, doch Abby wandte sich rasch wieder ab. Sie wollte nicht mit ihr ins Gespräch kommen. Sie hatte den gluckenhaften Blick der anderen instinktiv erfasst und nicht die geringste Lust, sich mit ihr auf einen Austausch von Babygeschichten einzulassen. Innerlich flehte sie darum, dass sie oder die andere als Nächste aufgerufen würde.
„Helen Deal, bitte", rief die kleine, blonde Arzthelferin lächelnd. Die Frau erhob sich und ging auf sie zu.
Abby schnallte Beth in ihrem Babysitz im Auto an, stieg selbst vorne ein und blickte hinaus auf die Leute, die über den Supermarkt-Parkplatz hasteten. Wie viele von ihnen waren wohl wirklich glücklich? War überhaupt jemand glücklich? Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass man zwar theoretisch alles haben kann, was man will, aber eben nicht alles auf einmal. Das hatte sie damals ziemlich schlau gefunden. Sie konnte alles tun, was sie wollte, aber nicht alles auf einmal. Nicht zugleich. Nicht, wenn sie wollte, dass alles ein gutes Ende nahm. Inzwischen wusste sie, dass irgendetwas immer danebenging. Hoffentlich hatte sie das noch rechtzeitig begriffen, bevor etwas oder jemand allzu sehr litt. Es war nicht alles perfekt, sie war nicht rundum glücklich, doch sie war zufrieden. Und solange sie alles im Gleichgewicht halten konnte, war alles gut. Gut war genug.
Sie zückte ihr Telefon und wählte, den Blick im Rückspiegel auf Beth geheftet. Nach ein paarmal Klingeln schaltete sich ein Anrufbeantworter ein.
„Hier ist Simon Abbott. Ich bin bis zum achtundzwanzigsten September in Neuseeland. Hinterlassen Sie mir bitte eine Nachricht, dann rufe ich Sie so bald wie möglich zurück."
Abby legte auf. Sie hatte gedacht, er würde erst am nächsten Tag abreisen. Nicht dass es eine Rolle spielte. Was sollte sie schon zu ihm sagen? Erneut spürte sie diesen schrecklichen Kloß in der Magengrube. Ein Gefühl, an dessen hartnäckige Anwesenheit sie bereits gewöhnt war. Warum setzte sie alles aufs Spiel? Warum machte sie nicht Schluss?
Weil sie nicht konnte. Nicht mehr. Es war zu spät. Sie hatte sich da hineingestürzt, und nun saß sie fest. Sie dachte an Paul. Sie liebte ihn, wirklich. Also warum hatte sie alles riskiert? Rasch warf sie einen Blick auf Beth. Warum hatte sie ihre Familie aufs Spiel gesetzt?
Abby musterte das Telefon in ihrer Hand und wählte Jens Nummer. Es läutete ein paarmal, ehe sich die Mailbox einschaltete. Sie legte auf, suchte Jens Festnetznummer heraus und wählte erneut. Wahrscheinlich war Jen zu sehr damit beschäftigt, mit den Handwerkern zu flirten.
Schon wieder ein Anrufbeantworter. Sie seufzte und wartete auf den Signalton. „Hi, Jen, ich bin's. Ich bin ein bisschen spät dran und komme erst in etwa vierzig Minuten, oder einer Stunde, falls ich mich verfahre. Ich habe keine Ahnung, wo du steckst, aber sieh zu, dass du dann zu Hause bist."
Als sie den Parkplatz verließ und auf die Hauptstraße einbog, überlegte sie, ob heute vielleicht der richtige Tag war. So oft hatte sie schon ihr Geheimnis mit Jen teilen wollen, doch immer war sie im letzten Moment davor zurückgeschreckt. Ihre Freundin war selbst auch kein Engel, und nach allem, was ihr Paul - weniger Jen selbst - widerwillig verraten hatte, war ihre Beziehung kurz und heftig gewesen und hatte mehr auf einem Faible für erhitzte literarische Debatten beruht als auf großen Gefühlen füreinander. Doch irgendetwas hatte Abby davon abgehalten. Vielleicht gab es da doch noch eine gewisse Loyalität. Es war das Risiko einfach nicht wert.
Als sie die Abzweigung erreicht hatte und aufs Land hinausfuhr, versuchte Abby ihre Probleme zu vergessen. Besser, sie konzentrierte sich aufs Hier und Jetzt, auf die Straßenschilder und darauf, sich nicht zu verfahren. Sie lauschte den gurgelnden Geräuschen von Beth, die auf dem Rücksitz dabei war einzuschlummern, und fragte sich, wohin Jen wohl verschwunden war, obwohl sie doch gesagt hatte, sie könne den ganzen Tag nicht aus dem Haus gehen.
2
Auf Höhe des Pubs in der Loftus High Street drosselte Abby das Tempo, da sich vor ihr der Verkehr staute. Sie reckte den Hals, um zu sehen, was die Verzögerung verursachte, doch ein Lastwagen vor ihr nahm ihr die Sicht. Zwei Autos wendeten. Was auch immer der Grund für den Stau war, es bewegte sich offensichtlich nicht voran. Abby fuhr im Schritttempo ein paar Meter weiter und scherte leicht aus, um an dem Lastwagen vorbeizusehen, ehe sie in ihrer Tasche nach der Wegbeschreibung kramte, die sie sich ausgedruckt hatte. Sie fuhr mit dem Finger über die Landkarte und versuchte herauszufinden, wo sie war. Es gab zwei Möglichkeiten. Links oder rechts.
Abby blinkte und fuhr an dem Lastwagen vorbei. Aus dem Parkplatz des Pubs kam ein weißer Transporter und nahm ihren Platz in der Schlange ein. Sie sah noch einmal auf die Landkarte, ehe sie rechts abbog und einen Blick in den Rückspiegel warf. Beth schlief tief und fest.
Als sie schließlich am Ende der Straße anlangte, empfand sie das Tageslicht als willkommene Abwechslung von dem endlosen Laubbaldachin. Sie blieb kurz an der Kreuzung stehen und bog dann auf die schmale Landstraße ein.
Nach den ersten Schlaglöchern warf Abby erneut einen Blick auf Beth und wunderte sich, dass diese gänzlich ungerührt von dem Gerüttel weiterschlief. Nach ein paar hundert Metern verschwanden die letzten der wenigen Häuser, und die Bäume hielten erneut das Licht ab. Abby fuhr geradeaus weiter. Als sie in den Spiegel sah, stellte sie erstaunt fest, dass auf einmal ein weißer Transporter hinter ihr fuhr. Sie richtete den Blick wieder auf die Straße vor ihr und öffnete das Fenster einen Spalt weit, um ein bisschen Luft hereinzulassen. Beim nächsten Kontrollblick zu Beth fiel ihr auf, dass der Transporter näher kam, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Die Geschwindigkeitsbegrenzung lag bei sechzig Meilen und, okay, sie fuhr nur vierzig, doch sie wollte eben nicht schneller fahren. Nicht auf dieser Straße und nicht mit Beth auf dem Rücksitz. Der Transporter kam näher.
„Arschloch", knurrte sie leise, um Beth nicht zu wecken.
Verdrossen fuhr sie ganz nach links, um den Transporter vorbeizulassen. Doch der machte keinerlei Anstalten zu überholen, sondern blieb weiterhin dicht hinter ihr.
„Herrgott noch mal", murmelte Abby. „Hier könnte ja sogar ich überholen." Sie ließ das Fenster weiter herunter und signalisierte dem Fahrer, dass er vorbeifahren sollte. Etwa zehn Sekunden lang blieb er, wo er war. Abby wurde es immer mulmiger zumute, bis er schließlich beschleunigte und zum Überholen ausscherte. Sie verfolgte im Außenspiegel, wie er neben sie zog. „Endlich", stieß sie hervor und lockerte ihre Hände, die sie zu Fäusten geballt hatte.
Sie spähte zum Beifahrerfenster des Transporters hinein und versuchte, einen Blick auf den Idioten hinterm Steuer zu erhaschen. Dann riss sie die Augen auf, als der Wagen zu ihr herüberzog. Unwillkürlich lenkte sie nach links und bremste scharf, als der Transporter ihren Außenspiegel schrammte. Der andere löste sich sofort wieder von ihr und raste vorüber. Abby kämpfte darum, ihren Wagen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Die Sträucher am Straßenrand schrappten laut übers Beifahrerfenster, während das Auto halb auf der Straße und halb auf dem Grünstreifen entlangholperte, ehe es zum Stehen kam. Abby atmete tief durch, löste ihren Sicherheitsgurt und kniete sich mit klopfendem Herzen auf den Sitz, um nach Beth zu sehen.
„Ach du lieber Gott." Abby lehnte sich nach hinten zu ihrer Tochter. Die sah sie mit großen Augen an. „Alles in Ordnung, Schätzchen?" Abby musterte die Kleine von Kopf bis Fuß, obwohl sie wusste, dass ihr nichts fehlte. Dann hob sie die Hand zum Mund, unterdrückte einen Schrei und kam sich furchtbar dumm vor, weil ihr Tränen in die Augen stiegen. Beth sah ihre Mum an und begann zu weinen. Abby wischte ihr das Gesicht ab. „Nicht, Schätzchen, es ist alles gut. Alles in Ordnung." Sie beugte sich vor, um Beth aus ihrem Kindersitz zu holen, kam aber nicht an die Gurtschnalle heran. Schon hatte sie sich umgedreht und wollte die Tür öffnen, als sie den weißen Transporter direkt vor sich am Straßenrand stehen sah. Auf der Beifahrerseite stieg ein Mann aus und sah in ihre Richtung. Dann presste er sich ein Telefon ans Ohr. Wutentbrannt stieß Abby ihre Tür auf und stapfte auf ihn zu. Er beendete sein Gespräch und steckte das Telefon ein.
„Was zum Teufel sollte das?", herrschte Abby ihn an und blieb stehen, als der Mann mit erhobenen Händen auf sie zuging, als wollte er sich entschuldigen. „Ich habe ein kleines Kind im Auto! Sie hätten es umbringen können. Sie hätten uns beide umbringen können!"
„Tut mir leid", sagte er mit schwerem Akzent.
„Das reicht nicht", sagte Abby und warf einen Blick zurück zu Beth. „Ich zeige Sie an ..."
Die Faust des Mannes traf sie mitten ins Gesicht, und ihr Kopf flog nach hinten. Abby stolperte zurück und fiel hin. Panik wallte in ihr auf. Ungläubig und mit hämmerndem Herzen starrte sie zu dem Mann auf. Kleine Steinchen bohrten sich in ihre Handflächen, als sie sich aufzurichten versuchte. Sie hob die andere Hand an ihr Gesicht und spürte, dass ihr Blut aus der Nase lief. Schwer schluckend kroch sie vor ihm davon, dabei suchte sie die Straße nach jemandem ab, der ihr helfen könnte. Sie fasste nach ihrer Autotür und versuchte, sich hochzuziehen. Doch der Mann griff ihr von hinten ins Haar und riss sie weg. Abby hörte Schreie. Beth, dachte sie. O mein Gott, Beth! Der Mann zerrte Abby auf die Füße, eine Hand nach wie vor in ihrem Haar, während er mit der anderen die Rückseite ihres Pullovers zu einem festen Knoten drehte und sie rückwärts davon zog. Durchs Autofenster sah Abby Beth, die gelassen und sorglos wirkte.
Erst da begriff sie, dass die Schreie ihre eigenen waren.
3
Abby fuhr herum und ging mit den Fingernägeln auf das Gesicht ihres Angreifers los, schubste ihn und versuchte sich loszureißen. Sie hörte ihre eigene Stimme, eine Kakophonie aus Schreien nach Beth und Bitten, sie loszulassen. Ein zweiter Mann mit tief ins Gesicht gezogener Baseballkappe erschien von der Fahrerseite des Transporters. Er lief eilig auf sie zu und sah sich nach allen Seiten um. Dabei rief er seinem Freund etwas zu, und der erste Mann nickte zu Abbys Auto hin.
„Lassen Sie sie in Ruhe!", schrie Abby, als der Fahrer zu Beth ins Auto spähte. Er wandte sich um, kam erneut in ihre Richtung und rief etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand, vielleicht Russisch.
Der andere Mann stieß Abby zu Boden und versuchte, die Hecktür des Transporters zu öffnen. Er redete dabei nach wie vor auf seinen Begleiter ein. Abby wand sich los, kam stolpernd auf alle Viere und rang verzweifelt darum, sich aufzurichten und davonzulaufen. Der Mann trat ihr brutal ins Kreuz, sodass sie mit dem Gesicht im Schmutz landete.
Der Fahrer bückte sich, zerrte sie in die Höhe und hielt sie an den Handgelenken fest, während der erste Mann die Türen öffnete.
Abby riss einen Ellbogen hoch und rammte ihn dem Fahrer ins Gesicht. Der Mann brüllte sie an, zerrte ihr die Handgelenke hinter den Rücken und bog ihr die Arme nach oben, bis sie vor Schmerz aufschrie. Der erste Mann sprang in den Laderaum des Transporters und streckte die Arme nach Abby aus. Dann versuchte der Fahrer sie hochzuheben, indem er ihr seine Hüfte in den Rücken schob, doch sie hakte sich mit einem Fuß an der Kante des Wagens ein und stieß sich weg. Der Mann im Laderaum griff nach ihren Füßen, doch sie trat nach ihm, worauf er sie wüst beschimpfte. Schließlich stieg der Fahrer ein, zerrte Abby an den Handgelenken mit sich und warf sie zu Boden. Sofort begann sie, auf allen Vieren zur Tür zu kriechen, wurde jedoch in die Ecke zurückgezerrt. Der Fahrer stieg aus und schloss einen der Türflügel. Unter dem Schild seiner Kappe sah er sich um und sagte etwas zu seinem Komplizen, der über Abby stand, während sie sich in der Ecke zusammenkauerte. Es klang, als würden sie streiten. Abby überlegte, ob sie an dem Mann im Wagen vorbeikäme, doch ehe sie sich regen konnte, wandte er sich wieder zu ihr um und lachte.
Abby sah zum Fahrer hinüber, der noch immer von der Tür aus hereinblickte. Er wirkte weniger sicher als sein Partner, weniger entschlossen. Sein Blick schweifte weg von Abby, nach hinten zu ihrem Auto, nach hinten zu Beth. Als er den zweiten Türflügel schloss, herrschte Dunkelheit, und alles wurde still. Abby begriff, dass sie zu schreien aufgehört hatte, und hörte nun nur noch ihren eigenen Atem. In der Finsternis des Laderaums konnte sie kaum etwas sehen. Stotternd sprang der Motor an, und der Mann kam ins Wanken, als sie anfuhren. Ein paar Sekunden lang starrte er sie nur an.
„Was wollen Sie?", fragte Abby. „Ich habe Geld, das können Sie haben. Bitte nehmen Sie alles, was Sie wollen. Aber lassen Sie mich gehen. Mein Kind braucht mich. Die Kleine braucht mich!"
Der Mann starrte Abby an, sichtlich ungerührt von ihren Worten. Sie wusste nicht einmal, ob er sie verstand.
„Bitte", flehte Abby erneut und spürte heiße Tränen auf ihren Wangen. Als sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, versuchte sie seine Gesichtszüge zu erkennen und nicht darüber nachzudenken, warum er keine Maske trug, um seine Identität zu verschleiern.
Er bückte sich, bis sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt war, wobei ihr ein Wimmern entfuhr. Sie sah ihm in die Augen, um sich seine Züge einzuprägen. Seine Haut war voller Pockennarben, und Abby musste daran denken, wie sie als Kind die Windpocken gehabt und ihre Mutter ihr eingeschärft hatte, nicht zu kratzen. Die Erinnerung verblasste, als er noch näher kam. Abby zuckte erschrocken zusammen, wich vor seinem heißen, stinkenden Atem und den leeren, schwarzen Augen zurück.
Er entfernte sich ein Stück weit von ihr und kam unsicher zum Stehen. Unter dem niedrigen Dach musste er sich leicht bücken. Dann trat er irgendeinen Gegenstand beiseite und beugte sich vor, um ein Laken wegzuziehen, ehe er sich zu ihr umwandte und etwas sagte. Sie sah ihn an, als könnte sie ihm vom Gesicht ablesen, was er meinte. Er zeigte auf die Stelle, die er gerade freigemacht hatte. Abby schaute hinüber und begriff, was er wollte. Sie zitterte am ganzen Körper und konnte nicht mehr atmen. Auf der anderen Seite lag eine alte, zerschlissene Matratze, die vor Schmutz starrte und an mehreren Stellen aufgerissen war. Er zeigte erneut darauf und sagte etwas im Befehlston. Abby spürte, wie ihr der Mageninhalt in die Kehle stieg, und versuchte, sich in die Ecke zu verkriechen. Mit unsicherem Gang kam der Mann auf sie zu, während sie sich zusammenkauerte. Dann fasste er sie am Handgelenk und zog.
„Nein", sagte Abby und wehrte sich gegen seinen Griff. „Nein, nein, nein ..."
Der Mann packte sie mit beiden Händen und zerrte sie über den kalten Metallboden. Abby schrie auf und schlug mit der freien Hand nach ihm. Er stieß sie auf die schmutzige Matratze, doch sie stemmte sich wieder hoch und versuchte ihm zu entkommen. Er hob die Faust, und Abby bedeckte ihr Gesicht genau in dem Moment, als sein Hieb sie seitlich am Kopf traf. Sie schrie vor Schmerz, während er ihr weitere Schläge versetzte. Dann rollte sie sich zusammen, hielt sich schützend den Kopf und schluchzte in den ekligen Matratzenbezug. Sie hörte den schweren Atem des Mannes und flehte darum, dass es aufhörte. Während sie sich auf den Gestank der Matratze konzentrierte, musste sie darum kämpfen, nicht zu würgen. In ihren Ohren begann es zu rauschen, und sie begriff, dass die Schläge aufgehört hatten. Sein Atem ging laut und schwer. Sie roch seinen animalisch stinkenden Schweiß, als er sich näher zu ihr beugte. Dann spuckte er neben ihren Kopf auf den Boden.
„Braves Mädchen", sagte er. Abby lugte seitlich zu ihm hinüber. Als er den Reißverschluss seiner Jeans aufzog, stieß sie einen weiteren Schrei aus und versuchte davonzukrabbeln. Der Mann packte ihre Arme, drückte sie ihr fest über den Kopf und presste Abby auf die Matratze. Dann setzte er sich rittlings auf sie, sodass sein Gewicht es ihr unmöglich machte, die Beine zu heben. „Braves Mädchen", wiederholte er, ließ sie mit einem Arm los und fuhr mit der Hand an ihrem Körper entlang zu ihrem Hosenbund. Abbys Atem ging so schnell, dass sie glaubte, ohnmächtig zu werden. Als er sich in Stellung brachte und an ihrer Hose zerrte, flehte sie im Stillen darum.
Im Rhythmus mit dem Transporter wiegte Abby sich vor und zurück. Von irgendwoher hörte sie ihre Mutter Rockabye Baby singen. Sie wusste zwar nicht mehr, ob sie ihr das tatsächlich jemals vorgesungen hatte, doch es war einfach da. Im Wagen roch es nach Erbrochenem, und in ihrem Haar war etwas Nasses. An den nackten Beinen spürte sie den kalten Wind, der durch die Türen hereinkam. Sie überlegte, ob sie wohl in der Nähe von Zu Hause war.
Der Transporter kam langsam zum Stehen. Aus nächster Nähe vernahm sie Schritte auf Kies. Als die Tür aufging, erkannte sie die Umrisse eines Mannes. Sie hoffte, dass Paul sie abholen gekommen war.
Der Fahrer betrat den Laderaum und beugte sich über sie. Er zog sie sachte an den Schultern hoch, bis sie saß. In die Augen sah er ihr nicht.
„Wo ist Beth?", fragte sie ihn, doch er sah sie weder an, noch gab er ihr eine Antwort.
Sie registrierte den anderen Mann, der in der Ecke hockte und eine Zigarette rauchte. Er starrte Abby an und blies den Rauch in ihre Richtung, bis sie husten musste. Der Fahrer half ihr auf und tappte rückwärts aus dem Laderaum. Dann winkte er Abby. Mit weichen Knien, abgestützt an der Seitenwand des Transporters, ging sie auf die offene Tür zu, wo sie das plötzliche Tageslicht blendete. Sie blinzelte zum Himmel, während ihr der Fahrer eine Hand hinhielt, um ihr herunterzuhelfen. Er blickte an ihren bloßen Beinen entlang. Abby folgte seinem Blick und musterte ihre Beine ebenfalls. Sie sahen schmutzig aus. Sie rieb an einem Fleck, doch er ging nicht weg. Der Fahrer beugte sich in den Wagen, zog ihre Hose und ihre Schuhe zu sich her und hielt sie Abby hin. Doch der andere Mann kroch zu ihm hinüber, riss ihm die Kleidungsstücke aus der Hand und brüllte etwas Unverständliches. Er warf die Sachen wieder in den Wagen und stieg aus, ehe er Abby und seinen Partner beiseiteschob und die Hintertür zuschlug. Dann brüllte er noch etwas und schubste den anderen in Richtung Fahrertür. Er selbst stapfte zur Beifahrerseite und stieg ein.
Abby sah zu, wie der Transporter rasch die lange, einsame Straße hinabfuhr und verschwand. Erstaunt blickte sie auf ihre zitternden Hände hinab. Seltsam, eigentlich war ihr gar nicht so kalt. Zwischen ihren Beinen spürte sie etwas Feuchtes. Während sie die Blutspur an ihrem Oberschenkel betrachtete, begann sich alles zu drehen. Ein Bild ihrer Tochter, allein und verängstigt, blitzte in ihrem Kopf auf, als sie auf dem Boden aufschlug.
4
Miklos Prochazka umklammerte das Lenkrad. Sein Brustkorb war wie zugeschnürt. Er schob seine Kappe zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Cousin Damek zündete sich neben ihm die nächste Zigarette an.
„Mach das Fenster auf", sagte Miklos, und Damek verdrehte die Augen, ehe er gehorchte.
Miklos sah in den Spiegel. Es war niemand hinter ihnen. Seit sie die Frau am Straßenrand ausgesetzt hatten, war niemand mehr hinter oder vor ihnen aufgetaucht. Eigentlich erwartete er einen Strom von Streifenwagen mit Sirenen und Blaulicht. Doch nichts. Gar nichts.
Damek ließ einen Arm aus dem Fenster hängen und spuckte hinaus. Der Wind blies Speicheltropfen auf die Windschutzscheibe, was er mit einem Knurren quittierte. Miklos musterte ihn, während er hastig zwischen Straße, Rückspiegel und seinem Beifahrer hin und her blickte.
„Was?", zischte Damek und beugte sich vor, um das Radio einzuschalten.
Miklos sah ihn nur wortlos an. Er wünschte, er könnte den Transporter anhalten und Damek am Straßenrand absetzen. Davonfahren und ihn nie wiedersehen. Er kannte Damek und wusste, wozu er imstande war, trotzdem war er schockiert.
„Was?", wiederholte Damek und schnippte seine Zigarettenkippe aus dem Fenster. „Hast du Probleme?"
„Probleme?" Miklos grub die Finger ins Lenkrad. „Probleme!" Er schlug mit der offenen Hand gegen die Seitenwand. „Was hast du dir dabei gedacht?" Er blickte wieder auf die Straße. „Was hab ich mir dabei gedacht?"
Damek schüttelte den Kopf. „Du bist doch bezahlt worden, oder nicht?" Er fummelte erneut am Radio herum und lehnte sich zurück, nachdem er sich für einen Sender entschieden hatte.
Miklos beugte sich vor und stellte das Radio wieder aus. Seine Gedanken überschlugen sich. Das hätte nicht passieren dürfen. Nicht so. Er hätte weggehen sollen. Er hätte nicht mitmachen, nicht bei Damek bleiben sollen. Kopfschüttelnd dachte er: Nie wieder.
„Sie war hübsch", sagte Damek grinsend. „Attraktiv. Ein Jammer, das mit dem Baby."
Miklos spürte, wie ihm die Galle hochkam. Das mit dem Baby hatte man ihm nicht gesagt. Das Baby hätte nicht dabei sein dürfen. Dafür wurden sie nicht bezahlt. Auf einmal beschleunigte sich sein Atem, und er schnappte nach Luft, begierig darauf, seine Lungen zu füllen. Er lenkte den Wagen an den Straßenrand und hielt an.
Eilig stieg er aus und stand trocken würgend auf dem Grünstreifen. Schließlich wischte er sich das Gesicht, lehnte sich schwer atmend gegen die Seite des Transporters. Er hörte, wie Damek auf seiner Seite die Tür zuschlug und zur Fahrerseite herüberkam. Er baute sich vor Miklos auf, hob seinen Kopf an und sah ihm in die Augen.
„Pussy", sagte er und lachte. Dann schob er Miklos beiseite und setzte sich auf den Fahrersitz. Miklos musterte ihn kurz, ehe er sich erneut nach hinten umsah. Vielleicht war die Polizei schon unterwegs. Er wischte sich wieder das Gesicht und stieg ein. Damek fuhr los, noch ehe er die Tür geschlossen hatte.
Miklos starrte Damek an. „Hast du das gewusst?"
Damek zuckte nur die Achseln, und Miklos fragte noch einmal. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn Damek von dem Baby gewusst hätte; ihn kümmerte das nicht.
„Hab nicht nach Einzelheiten gefragt", sagte Damek und stellte das Radio wieder an.
5
Abby schlug die Augen auf. Eine Fliege flog summend um ihren Kopf, und das vertrocknete Gras des Grünstreifens kratzte sie im Gesicht. Rasch setzte sie sich auf und wünschte augenblicklich, sie hätte es nicht getan. Der Schmerz jagte durch ihren Kopf, sodass sie die Augen wieder schloss. Sie hob eine Hand an den Kopf, doch nahm sie rasch wieder runter. Ihr Haar blieb feucht und klebrig daran hängen. Sie fragte sich, worin in aller Welt sie gelegen hatte. Auf einmal vernahm sie das Geräusch eines fahrenden Autos auf Kies, irgendwo in der Nähe. Ihr erster Impuls war, sich zu verstecken; sie wollte nicht, dass jemand sie so sah.
Ihr zweiter Impuls veranlasste sie, schleunigst auf die Beine zu kommen und loszulaufen.
„Beth", stieß Abby schwer atmend hervor. „Beth, Beth!" Sie schrie auf und kam ins Stolpern, wobei sich die Steinchen in ihre bloßen Füße bohrten. Abrupt blieb sie stehen und sah sich um. Wo zum Teufel war sie? Wo war ihr Auto? Wo war Beth? Wieder und wieder wandte sie sich um und suchte nach irgendetwas Bekanntem, bis ihr schwindlig war. Das Auto wurde lauter, kam näher. Sie lief dem Geräusch entgegen. Ein blauer Wagen tauchte aus einer Senke in der Straße auf und geriet heftig ins Schlingern, während Abby mitten auf der Straße auf ihn zustürmte. Ihre Handflächen klatschten auf die Motorhaube, als das Auto stehenblieb. Durch die Windschutzscheibe starrten sie die verblüfften Gesichter eines Paars mittleren Alters an. Die beiden wechselten einen verschreckten Blick, ehe Abby zur Beifahrerseite lief und die Frau flehend ansah.
„Bitte, haben Sie sie gesehen? Haben Sie Beth gesehen?", rief Abby. Die Tür ging auf, und der Mann lief zu Abbys Seite hinüber. Er machte Anstalten, ihr eine Hand auf die Schulter zu legen, doch sie schreckte vor seiner Berührung zurück. „Haben Sie sie gesehen?", fragte sie mit flehender Stimme und blickte hektisch, nur flach atmend zwischen den beiden hin und her.
„Okay, junge Frau, ganz ruhig. Erzählen Sie uns, was passiert ist. Hat Ihnen jemand wehgetan?", fragte der Mann und streckte erneut die Hand nach Abby aus, zog sie jedoch ebenso schnell wieder zurück. Sein Blick fiel auf ihre nackten Beine, ehe er ihr erneut ins Gesicht sah. Dann drehte er sich zu der Frau um, die langsam aus dem Wagen stieg.
Abby sah an ihr vorbei und begann den Hügel hinabzustapfen, den Weg zurück, den das Auto gekommen war. „Ich muss sie finden", sagte sie und wischte sich mit einer zittrigen Hand das Gesicht. „Ich muss sie finden."
Im Laufschritt kam der Mann hinter ihr her. „Wen müssen Sie finden? Wen haben Sie verloren?"
„Beth!"
„Wer ist Beth?"
„Meine Tochter. Mein Baby." Abby blieb stehen und drehte sich zu ihm um. „Sie müssen sie doch gesehen haben. Oder gehört. Bestimmt hat sie nach mir geschrien!" Abby wurde von Schluchzern geschüttelt. Der Mann schlüpfte aus seinem Jackett und hielt es ihr hin, doch sie ignorierte die Geste. „Ich muss sie finden."
„Natürlich", sagte der Mann und führte sie so sanft er konnte zum Auto zurück. „Wir finden sie schon." Er machte die Tür auf der Beifahrerseite auf und drückte Abby sachte auf den Sitz. Dann drehte er sich zu seiner Frau um. „Gib mir dein Telefon."
Die Frau starrte Abby einen Moment lang an, ehe sie sich wieder ihrem Mann zuwandte. „Was?", fragte sie.
„Das Telefon, Frau, gib mir das verfluchte Telefon!", fauchte er und streckte die Hand aus.
Die Frau kramte in ihrer riesigen Handtasche herum und förderte ein Telefon zutage. Der Mann riss es ihr aus der Hand und wählte. Nach einem kurzen Seitenblick auf Abby wandte er sich ab.
„Hallo? Die Polizei, bitte", sagte er. Er entfernte sich auf dem Grünstreifen von Abby, bis sie ihn nicht mehr hören konnte. Die Frau beugte sich zu Abby hinab, nahm ungeschickt ihre Hand und murmelte nutzlose Plattitüden.
Der Mann beendete das Gespräch und kehrte zum Auto zurück. „Die Polizei kommt gleich."
Abby sah zu dem Mann auf. „Haben sie sie gefunden?"
Er räusperte sich. „Die Polizei klärt das schon. Dauert nicht mehr lang."
Abby schüttelte den Kopf. „Nein, ich kann nicht warten. Ich muss los. Ich muss sie finden." Sie stand auf und schob sich an dem Mann vorbei, während die Frau ihr bereitwillig Platz machte.
„Herrgott noch mal, Andrea", sagte der Mann und drängte sich an ihr vorbei. Schnell hatte er Abby wieder eingeholt. „Ich finde, wir sollten warten. Sie sind gleich da."
„Ich kann nicht warten", erklärte Abby. „Was, wenn ihr etwas zugestoßen ist? Was, wenn sie ihr auch etwas angetan haben?" Sie versuchte ihm auszuweichen, doch er legte ihr eine Hand auf die Schulter. Als Abby aufschrie, ließ er die Hand wieder fallen.
„Tut mir leid. Tut mir wirklich leid. Schauen Sie, ich weiß nicht, was mit Ihrem Töchterchen passiert ist, aber die Polizei kann Ihnen helfen. Sie wissen, was zu tun ist. Bitte. Kommen Sie zum Auto zurück, und dann klären wir die Sache. Ich verspreche es."
Abby starrte ihn an und versuchte erneut, um ihn herumzulaufen. Als sie an ihm vorbeiging, kam ein Streifenwagen über den Hügel. Er passierte Abby und den Mann und blieb auf dem Grünstreifen hinter dem Auto des Paares stehen. Zwei Uniformierte stiegen aus und kamen auf sie zu.
„Könnten Sie uns Ihren Namen nennen?", fragte die Polizistin Abby und schob sich das dunkle Haar aus den Augen, bevor sie ihren Hut aufsetzte.
„Abby. Abby Henshaw", krächzte sie.
„Okay, Abby. Ich bin PC Lawton. Das ist PC Cartwright", erklärte sie und zeigte dabei auf ihren Kollegen. „Können Sie uns schildern, was passiert ist?"
„Wir waren unterwegs zum Mittagessen, als sie plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht ist", erzählte der Mann. „Wir hätten sie beinahe überfahren. Sie redet die ganze Zeit davon, dass sie jemanden finden muss, ihre Tochter. Ich habe gesehen, dass sie verletzt ist, und sie scheint völlig aufgelöst zu sein, also habe ich die Polizei gerufen."
„Mr. Walker?", fragte Cartwright.
Der Mann nickte, und Cartwright wandte sich wieder Abby zu.
„Ich will nur Beth finden", sagte Abby.
„Wer ist Beth?", fragte Lawton.
„Meine Tochter", antwortete sie, wischte sich dabei über die Stirn und schob sich das klebrig verschwitzte Haar aus dem Gesicht.
Lawton und Cartwright wechselten einen Blick.
„Bitte, ich will nur meine Tochter wiederhaben." Abby rieb sich über die Wange und verschmierte dabei das noch nicht komplett getrocknete Blut.
„Wenn Sie uns sagen, was passiert ist, Abby, können wir Ihnen helfen. Wir helfen Ihnen, Ihre Tochter zu finden."
Abby sah Lawton an und seufzte. Ihre Frustration wuchs. Die Frau wirkte nicht einmal alt genug, um eine Polizistin zu sein. Wie wollte sie ihr helfen? Sie musterte die anderen, die um sie herumstanden und sie beobachteten. Warum half ihr niemand?
Lawton führte Abby zum Streifenwagen und versuchte, sie hineinzubugsieren, doch Abby machte sich los.
„Erzählen Sie uns einfach, was passiert ist, Abby."
Abby kniff die Augen zu. Sie wollte nicht reden, sie wollte nur Beth finden. Sie wollte nicht darüber nachdenken.
„Abby?", sagte Cartwright.
Sie seufzte. „Sie haben mich entführt. Sie haben mich in einen Transporter gesteckt und mich verletzt und Beth einfach allein zurückgelassen. Sie kann nicht allein bleiben, sie ist doch noch ein Baby."
„Okay, Abby. Wer hat Sie entführt? Kannten Sie die Leute?", fragte Lawton mit einem Blick auf Cartwright. Als sich Cartwright zum Gehen wandte, hörte Abby ihn sagen: „Wir müssen die Kripo und einen Krankenwagen anfordern."
„Nein." Abby stockte der Atem. „Bitte, ich bin nicht wichtig, ich muss nur Beth finden. Warum hören Sie mir denn nicht zu? Sie ist ganz allein. Sie ist in Gefahr."
„Ich höre ja zu, Abby. Aber ich muss wissen, was passiert ist, damit ich Ihnen helfen kann. Verstehen Sie?"
„Der Krankenwagen ist unterwegs", erklärte Cartwright.
„Sie war im Auto. Sie haben sie im Auto gelassen. Es war gleich da hinten." Abby zeigte die Straße hinab. „Ich bin mir sicher, dass ich aus der Richtung gekommen bin. Ich bin aus der Stadt gekommen, aus Redcar, und ich glaube ... Es ist ein silberner Corsa. Sie müssen direkt daran vorbeigefahren sein. Irgendjemand von Ihnen muss ihn gesehen haben." Abby sah von Lawton zu Mr. Walker. Sie wechselten einen Blick. „Sie haben ihn gesehen, oder?", hakte Abby nach.
Lawton nickte. Walker sah aus, als wäre ihm schlecht.
„Ich habe das Auto gesehen und mir gedacht, dass es jemand dort stehen lassen hat und picknicken gegangen ist oder so. Ich wusste ja nicht ..." Walker sah zwischen Abby und den Polizisten hin und her. „Aber es war niemand drin, da bin ich mir sicher."
Cartwright rieb sich das Kinn.
„Vielleicht haben Sie sie nicht gesehen. Wenn Sie nicht angehalten haben, konnten Sie sie nicht sehen. Sie saß in ihrem Kindersitz, hinten. Sie fürchtet sich, so ganz allein, wir müssen hinfahren und sie holen!"
Cartwright nickte Lawton zu. „Warten Sie hier, ich fahre zurück und überprüfe das Auto. Und nehmen Sie eine Aussage von Mr. und Mrs. Walker auf."
Lawton nickte.
„Ich komme mit", erklärte Abby.
Cartwright wollte schon etwas einwenden, doch Abby setzte sich einfach auf den Beifahrersitz. Lawton ging davon und sprach in ihr Funkgerät. Mr. und Mrs. Walker standen dicht nebeneinander da und sahen zu, während Cartwright den Wagen anließ. Als sie zurück über den Hügel fuhren, krampfte sich Abbys Magen zusammen und ihre Übelkeit wuchs.
Ein paar Minuten später sahen sie ihr Auto am Straßenrand stehen. Cartwright bremste, und Abby sprang raus, noch ehe der Wagen richtig zum Stehen gekommen war. Sie rannte über die Straße und riss die Tür auf.
Sie hörte das Geräusch, einen hohlen, kehligen Laut, und spürte Cartwrights Hand auf ihrem Arm, während er sachte versuchte, sie wegzuziehen.
Beth war nicht mehr da.
6
Inspektor Gardner hielt am Rand der Schotterstraße und betrachtete die Szenerie. Bis jetzt wusste er nur, dass eine Frau überfallen und auf der Straße ausgesetzt worden war und nun behauptete, ihr Baby sei verschwunden. Normalerweise tauchte ein Kind binnen weniger Stunden wieder auf, manchmal hatten die Eltern etwas damit zu tun, und gelegentlich gab es überhaupt kein Kind. Er hatte das Gefühl, als wäre ihm im Zuge seiner Arbeit schon jede nur vorstellbare Sorte Mensch begegnet, und doch gab es immer wieder Fälle, bei denen er sich irrte.
Gardner sah zu, wie Dave Sanders von der Spurensicherung, der grundsätzlich nur im wissenschaftlichen Jargon sprach, mit seiner Wundertüte aus dem Auto stieg. Das war auf jeden Fall ein Vorteil, denn Sanders war einer der besten. Sie hatten schon oft zusammengearbeitet, und Gardner wusste, dass er ihm vertrauen konnte. Wenn es hier irgendwelche Beweise gab, würde Sanders sie finden. Er verlangte viel von seinem Team, und seine Erfolge bewiesen das.
Gardner sah die Sanitäter neben dem Krankenwagen stehen und mit PC Craig Cartwright sprechen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, ein kleiner Wichtigtuer wie Cartwright bei den Ermittlungen. Cartwright sah auf und nickte ihm über die Straße hinweg zu. Gardner folgte seinem Blick und sah Lawton neben der Frau knien. Das war erfreulich. PC Dawn Lawton glich alles wieder aus. Sie war gut. Würde eines Tages eine erstklassige Ermittlerin abgeben.
Gardner richtete den Blick wieder auf die Frau. Ihr war eindeutig etwas Schreckliches passiert. Gleichzeitig hoffte er, dass ihre Verwirrung nur davon herrührte. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Elternteil vom Verschwinden eines Kindes überzeugt war, während es sich in Wahrheit zu Hause oder in der Schule befand.
Gardner atmete aus und öffnete die Autotür. Als er auf Lawton zuging, hoffte er, dass es sich um einen unkomplizierten Fall handelte.
Abby saß auf der harten Schotterstraße und hatte die Arme um die Knie geschlungen. Sie registrierte zwar, dass sich die kleinen, spitzen Steine in ihre Haut bohrten, doch sie spürte keinen Schmerz. PC Cartwright hatte es aufgegeben, sie dazu zu bewegen, sich in den Krankenwagen zu legen, und sprach nun stattdessen unentwegt in sein Funkgerät, offenbar begierig darauf, irgendetwas unter Kontrolle zu haben. Abby sah, wie er den Arm bewegte, wie er auf ankommende Autos zeigte und auf die Leute, die aus ihnen ausstiegen. Gelbes Absperrband wurde abgerollt und flatterte im Wind. Abby blendete seine Worte aus und klammerte sich verzweifelt an ihre eigene Realität: Das hier war kein Fall für die Polizei. Beth war nicht weg. Es war alles in Ordnung. Doch weitere Autos, weitere Polizisten, Uniformierte und Gerätschaften, die mitgebracht wurden, machten es ihr unmöglich, weiter daran zu glauben.
Zwei Paar Füße tauchten vor ihr auf.
„Mrs. Henshaw?" Sie erkannte Lawtons Stimme und ignorierte sie in der Hoffnung, dass sie wieder wegging und das alles mitnahm. „Mrs. Henshaw?" Lawton scharrte mit den Füßen, und dann bewegte sich das zweite Fußpaar ein wenig, während sich jemand zu ihr herabbeugte. Sie spürte eine sanfte Berührung am Kinn, das angehoben wurde, damit sie ihm ins Gesicht sah. Ein älteres, erfahreneres Gesicht mit besorgter Miene blickte auf sie herab.
„Mrs. Henshaw? Ich bin Inspektor Gardner." Er sah noch einmal zu Lawton und dann wieder zu Abby. „Hören Sie mich? Wenn Sie mich hören, nicken Sie einfach, okay?"
Abby hielt inne, während ihr Gehirn darum rang, die Worte zu erfassen. Schließlich spürte sie, dass sie nickte.
„Gut. Okay, wir bringen Sie jetzt ins Krankenhaus. Lassen Sie durchchecken, damit wir sicher sein können, dass Ihnen nichts fehlt, und dann unterhalten wir uns. Ist das in Ordnung?"
Abby starrte Gardner an und nickte wieder. Sie hatte das Gefühl, sprechen zu wollen, doch ihr fiel nicht ein, was sie sagen sollte. Was gab es noch zu sagen? Beth war weg. Gardner trat beiseite, um die Sanitäter vorbeizulassen, die Abby kurz untersuchten und ihr dann aufhalfen. Als sie sie zum Krankenwagen führten, sah sie sich um und betrachtete die hektische Betriebsamkeit. Sie fühlte sich wie in einem Film, wo der Held still und allein dasteht, während der Rest der Welt sich um ihn herum weiterdreht. PC Lawton stieg in den Krankenwagen. Abby hörte sie sprechen, verstand aber nicht, was sie sagte. Sie sah Cartwright an ihrem Wagen herumlungern. Ein zweiter Mann mit Latexhandschuhen schob sich gerade mit irgendetwas in der Hand rückwärts aus ihrem Auto. Gardner ging auf ihn zu.
„Zweifelsfrei ihr Fahrzeug", sagte der Mann und reichte Gardner verschiedene Papiere. „Der Ausweis in ihrer Handtasche stimmt mit der Zulassung überein. Wir haben die Telefonnummer des Ehemanns, konnten ihn aber noch nicht erreichen. Ein Streifenpolizist ist unterwegs zu ihm und kann ihn hoffentlich herbringen."
„Paul", murmelte Abby. Was war mit Paul? Wie würde er es wohl aufnehmen? Wie sollte sie ihm verständlich machen, was passiert war? Dass Beth verschwunden war?
Der Sanitäter direkt neben ihr half ihr in den Krankenwagen und machte Anstalten, die Tür zu schließen. Ehe er sie zuschlug, hörte sie noch einen letzten Satz von dem Mann mit den Handschuhen.
„Aber keine Spur von einem Baby im Fahrzeug. Kein Kindersitz, keine Windeln oder ähnliches. Kein Foto in ihrer Geldbörse. Nichts."
7
„Okay, Abby, wir sind hier fertig. Setzen Sie sich in aller Ruhe auf, und wenn Sie so weit sind, können Sie das Badezimmer benutzen. Falls sie irgendetwas brauchen, geben Sie mir einfach Bescheid", sagte Dr. Rosen mit ruhiger Stimme.
Abby sah ihr zu, wie sie ihre Handschuhe abstreifte und wegwarf. Sie blickte auf und schenkte Abby ein angedeutetes Lächeln, das tröstlich und professionell zugleich wirkte. Ihre Worte und Handlungen vermittelten kein Mitleid. Abby fragte sich, wie lange sie das wohl schon machte. War das ihre einzige Aufgabe? Sich Tag für Tag um Opfer zu kümmern? Wie die Frau sich wohl fühlte, wenn sie abends nach Hause kam? Beschmutzt und wütend oder wie eine Wohltäterin? Vielleicht beides. Abby spähte auf Dr. Rosens linke Hand, konnte aber keinen Ring entdecken. Sie musste mindestens Ende fünfzig sein. Womöglich hatte sie ja nie geheiratet; vielleicht hatte ihr Beruf ihr Männerbild beschädigt. Oder sie trug einfach keinen Ring bei der Arbeit.
„Abby?" Sie registrierte, dass die Ärztin sie angesprochen hatte und sah auf. „Möchten Sie jetzt aufstehen?", fragte Dr. Rosen.
Eigentlich wäre Abby gerne liegen geblieben und hätte ewig ihrer sanften Stimme gelauscht. Sie wollte hören, dass alles in Ordnung war. Wenn ihr Dr. Rosen das versicherte, würde sie es ihr bestimmt glauben. Doch das tat sie nicht. Mit keinem Wort hatte sie Abby gesagt, dass alles in Ordnung sei. Sie hatte ihr nicht gesagt, dass ihr nichts fehle. Sie hatte nicht versprochen, dass Beth in Sicherheit sei. Vielleicht war es diese Aufrichtigkeit, die bei den Frauen, die durch diese Tür traten, Vertrauen weckte.
Abby setzte sich auf und merkte, dass sich der Raum um sie drehte. Dr. Rosen legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. Nach einer Weile drückte sie Abbys Schulter leicht.
„Geht's?"
Abby nickte, rutschte vom Tisch und sah sich nach beiden Seiten um. Regungslos blieb sie stehen, da sie nicht wusste, was sie tun und wohin sie gehen sollte. Dr. Rosen hielt Abby zur Orientierung ihren Arm hin, berührte sie aber nicht.
„Gleich hier durch", sagte sie und wies mit der anderen Hand auf eine Tür. „Saubere Handtücher und frische Kleider liegen bereit. Werfen Sie den Kittel einfach auf den Boden."
Abby betrat das Badezimmer, dessen strahlendes Weiß sie blendete. Dr. Rosen schloss die Tür hinter ihr, und Abby war seit Stunden zum ersten Mal allein. Sie hörte ihre Atemzüge leise von den makellosen Fliesen widerhallen. Mit wenigen Schritten war sie am Waschbecken und hielt den Kopf gesenkt, um nicht in den Spiegel darüber blicken zu müssen. Nach einigen tiefen Atemzügen hob sie den Kopf und starrte sich selbst an. Blut klebte auf ihrem Gesicht und hing in Klumpen in ihrem Haar. Das Rot erinnerte sie daran, wie sie einmal ihrer Mutter den Lippenstift stibitzt und ihn sich quer über ihr siebenjähriges Gesicht geschmiert hatte. Blutergüsse übersäten ihr Gesicht, ihre Lippen waren geschwollen und aufgerissen. Als sie ihre Wange berühren wollte, merkte sie, dass sie die Hände hinter dem Rücken in den Krankenhauskittel verkrallt hatte und ihn zuhielt, um sich vor Kälte und Blicken zu schützen. Sie sah sich nach der verschlossenen Tür um und ließ das papierdünne Gewand langsam los. Die beiden Hälften teilten sich und entblößten ihren von Gänsehaut überzogenen Körper unter dem grellen Deckenlicht.
Abby betastete ihr trauriges Clownsgesicht und zeichnete eine Linie entlang des getrockneten Bluts auf der einen Seite. Am Kinn angelangt, begann sie erneut von oben, zeichnete Muster um die Blutergüsse herum und versuchte Formen zu bilden.
Ein Geräusch von draußen ließ sie zusammenzucken. Sie wandte sich vom Spiegel ab und betrachtete den Stapel weißer, wie im Hotel gefalteter Handtücher auf dem Regal neben der Badewanne. Einen Augenblick lang geriet sie in Panik und fürchtete, sie könnte sie mit Blut beschmutzen, doch dann sagte sie sich, dass das Dr. Rosen sicher nichts ausmachte. Ob sie die Handtücher wohl mehrmals verwendeten oder sie wegwarfen wie Gummihandschuhe? Das käme ihr wie Verschwendung vor, doch gleichzeitig wurde ihr unwillkürlich schlecht beim Gedanken an andere Frauen, andere Mädchen, die sich mit denselben Handtüchern das Blut abgewischt hatten.
Auf dem Stuhl lag ein Stapel Kleider, wiederum ordentlich und professionell gefaltet. Abby fuhr mit der Hand am Rand des Stapels entlang. Büstenhalter, Unterhose, Socken, T-Shirt, Jogginghose, Pulli und Slip-on-Turnschuhe, wie sie in den Sonntagszeitungen beworben wurden. Ob sie wohl alle diese Sachen brauchte? Soweit sie sich erinnerte, war es nicht so kalt. Ein neues Geräusch von der Tür her veranlasste sie, sich in Bewegung zu setzen. Womöglich wartete schon jemand anders auf das Badezimmer, ein Fließband von Opfern. Untersuchen - Waschen - Befragen. Abby sah sich nach einer zweiten Tür um, die sie zum nächsten Schritt führen würde, sah aber keine. Sie würde denselben Weg hinausgehen müssen, den sie gekommen war. Aber was, wenn dort drinnen jemand war? Das nächste Opfer? Wartete man, bis man gerufen wurde, oder klopfte man an die Tür, ehe man herauskam? Woher sollte man das wissen?
Abby wandte sich wieder der Badewanne zu. Hinter dem Vorhang gab es auch eine Dusche. Was davon sollte sie wohl benutzen? Eine Dusche wäre schneller, falls Andrang herrschte. Sie drehte an den Knöpfen, und sofort schoss ein dicker Wasserstrahl aus dem Duschkopf. Abby hielt die Hand darunter und stellte sich dann in die Wanne. Das heiße Wasser prasselte ihr ins Gesicht und brannte umso mehr, je heißer es wurde. Sie fühlte sich schwer und beengt. Als sie mit den Händen über ihren Körper fuhr, fühlte es sich an, als zöge sie sich die Haut von den Knochen. Ein Blick nach unten verriet ihr, dass sie noch immer den Krankenhauskittel anhatte. Sie wich zurück und mühte sich ab, das Ding loszuwerden; das Band war zu nass und zu fest gebunden, um es aufzukriegen. Sie versuchte es mit den Fingernägeln, doch es ging nicht. Vor Anstrengung schnürte sich ihr Brustkorb zusammen. Sie zerrte an der Vorderseite des Kittels, wobei ihr die Tränen in den Augen brannten. Schließlich ließ sie sich an der gefliesten Wand nach unten gleiten, bis sie in der Duschwanne saß, während das heiße Wasser auf sie niederrann, der Dampf allmählich den Raum ausfüllte und sie auszulöschen begann. Im sicheren Wissen, dass das Wasser das Geräusch übertönen würde, ließ sie ihrem Kummer freien Lauf.
Abby stellte die Dusche ab und stieg hinaus, wobei sie nasse Spuren auf dem Fußboden hinterließ. Der durchnässte Kittel klebte ihr am Körper. Sie zerrte ihn sich über den Kopf und warf ihn mit einem lauten Klatschen zu Boden. Ihr Brustkorb schmerzte, und ihre Kehle fühlte sich wund an. Sie fragte sich, wie lange sie wohl dort drin gewesen war und ob Dr. Rosen schon an die Tür gehämmert hatte, wie es ihr Vater immer getan hatte. Sie vermisste den Klang seiner Stimme, seit er gestorben war, und wünschte sich, er könnte sie nur noch einmal anbrüllen.
Sie nahm sich ein großes weißes Handtuch und hüllte sich darin ein. Inzwischen war es ihr egal, ob sie Unordnung verursachte. Sie warf den Kleiderstapel zu Boden, sah zu, wie Wasser in das T-Shirt lief, und setzte sich auf den leeren Stuhl. Aus ihrem nassen Haar tropfte es ihr auf den Rücken. Dann betrachtete sie ihre Arme, die von dem heißen Wasser gerötet waren, und dachte an den Sommer, als Paul im Garten eingeschlafen war und am ganzen Oberkörper einen Sonnenbrand bekommen hatte. Ob Paul wohl schon Bescheid wusste? Ob er wohl draußen irgendwo auf sie wartete? Vielleicht saß er jetzt schon mit Beth auf den Knien direkt vor der Tür und dachte daran, dass sie immer zu lang im Badezimmer blieb.
Abby stand auf und trocknete sich ab. Sie studierte jedes Kleidungsstück, bevor sie es anzog. Der Büstenhalter: etwas zu klein und an einem Körbchen ausgefranst. Die Unterhose: groß und grotesk. Das T-Shirt: pfirsichfarben und langweilig. Die Jogginghose: zu lang und mit zu viel Nylon. Sie überlegte, ob sie den blauen Pulli wirklich anziehen sollte, doch sie sagte sich, dass er ja aus einem bestimmten Grund da lag, und so streifte sie ihn über. Zum Schluss die Socken. Die Socken waren in Ordnung. Dann schob sie die Füße in die Sonntagsschuhe, die ihr ein bisschen zu groß waren, und schlurfte langsam zurück zum Spiegel. Sie warf einen letzten Blick auf ihr Ebenbild, ehe sie hinausging und sich erneut der Welt stellte. Noch einmal fasste sie nach oben in ihr geschwollenes Gesicht, berührte einen Bluterguss und presste die Finger dagegen. Sie stieß ein Wimmern aus und drückte fester zu. Es tat nicht weh genug.
Aus dem Englischen von Ariane Böckler.
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln.
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Autoren-Porträt von Rebecca Muddiman
Rebecca Muddiman ist in Redcar in Nordengland aufgewachsen, wo sie auch immer noch lebt. Sie studierte Film- und Medienwissenschaften und legte einen Master in Creative Writing ab. Sie lebte und arbeitete in den Niederlanden und in London und reiste 2002 mit einem Greyhound-Bus quer durch Amerika. 2010 gewann sie den Northern Writers‘ Award. Ruhe sanft, mein Kind ist ihr Debütroman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rebecca Muddiman
- 2014, 1, 416 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: BECHTERMÜNZ-WBV EIGENAUF.
- ISBN-10: 3863653726
- ISBN-13: 9783863653729
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