Ein Tag mit Herrn Jules
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Wie immer kommt um zehn Uhr der kleine autistische Nachbarsjunge David, um seine übliche Partie Schach mit Jules zu spielen. Am Ende muß David sogar die Nacht bei Alice verbringen, eine ganz unvorstellbare Komplikation. Doch David reagiert ganz anders, als Alice befürchtet hatte, ja er überrascht sie sogar.
Diane Broeckhovens Novelle über Alice und Jules und über David und Alice ist eine dichte, ergreifende, wunderbar feine Geschichte über Rituale, Liebe, Verrat und Verlust, einen Verlust, der am Ende auf wunderliche Weise ausgeglichen wird.
Alice und Jules, ein altes Ehepaar, haben ein morgendliches Ritual - und auch an diesem Wintermorgen wird Alice geweckt von dem Duft des Kaffees, den Jules schon zubereitet hat. Doch als sie zu ihm ins Wohnzimmer kommt, sitzt Jules tot auf dem Sofa. Da beschließt Alice, diesen Tag noch mit ihrem toten Mann zu verbringen, denn es gibt das eine oder andere, was sie mit ihm zu klären hat und worüber nie gesprochen werden konnte.
Wie immer kommt um zehn Uhr der kleine autistische Nachbarsjunge David, um seine übliche Partie Schach mit Jules zu spielen. Am Ende muß David sogar die Nacht bei Alice verbringen, eine ganz unvorstellbare Komplikation. Doch David reagiert ganz anders, als Alice befürchtet hatte, ja er überrascht sie sogar.
Diane Broeckhovens Novelle über Alice und Jules und über David und Alice ist eine dichte, ergreifende, wunderbar feine Geschichte über Rituale, Liebe, Verrat und Verlust, einen Verlust, der am Ende auf wunderliche Weise ausgeglichen wird.
Ein Tagmit Herrn Jules von DianeBroeckhoven
LESEPROBE
Es hattegeschneit. Alice schaute aus dem Fenster und sah unten die weiß leuchtendeStraße. Sie hüllte sich in den Morgenmantel und versuchte so, die Wärme desBettes unter dem blauen Frotteestoff zu bewahren. Den Gürtel zog sie stramm umihre Taille und steckte die Hände in die Taschen. Bea, die unter ihnen wohnte,kehrte im gelblichen Schein einer Straßenlaterne auf dem Bürgersteig vor demHaus Schnee.
"Die ist auch immer nur am Ackern", dachte Alice.
Sie blieb stehen und hörte zu, wie sich Rauschen und Schaben von Besen undSchaufel immer wieder abwechselten, eine Fanfare in der Ferne, die nicht näherkam. Fröstelnd ging sie in die Richtung, aus der der Kaffeeduft kam.
"Es hat geschneit, Jules", sagte sie zum Hinterkopf ihres Mannes, der über dieRückenlehne des Sofas ragte. Meistens wartete er in der Küche amFrühstückstisch auf sie, der immer auf die gleiche Weise gedeckt war. Julesantwortete nicht, was ihr ein Lächeln entlockte. Bestimmt starrte er wehmütigin den Schnee und dachte dabei an früher, als es noch richtige Winter gegebenhatte. Eisig und rauh. Langsam kam sie näher, gebremst durch ihre steifen Knie.Aus einem Impuls heraus legte sie kurz die Hand auf sein schütteres Haar. Sachtauftretend ging sie um das Ledersofa herum und setzte sich neben ihren Mann.Daß er von seinen eigenen Hausregeln abwich, um durch die Wand aus Glas dieSchneelandschaft in sich aufzunehmen, stimmte sie mild. Auf diese Weise bekamsie selbst unerwartet ein Stückchen Freiheit geschenkt. Die Pflicht rief sienoch nicht gleich.
Sie rückte näher an ihn heran und spürte die Wärme seiner Schulter an ihrer.Kurz neigte sie den Kopf zur Seite, bis der rauhe Stoff seiner Jacke ihre Wangekratzte.
"Es ist irgendwie hell und dunkel zugleich", sagte sie und lächelte ihr Spiegelbildin der großen Fensterscheibe an.
Jules erwiderte nichts. Reglos blieb er neben ihr sitzen, mit den Händen aufden scharfen Bügelfalten der Hose. In der Küche hörte sie, wie die letztenTropfen durch die Kaffeemaschine fielen, dann das Finale aus Dampfen undSchnauben. In der lärmenden Stille, die darauf folgte, drang die Wirklichkeitzu ihr durch.
"Jules!"
Ihre Stimme brach mit Kraft aus ihrer Kehle hervor, wie ein Vogel, der aus demGebüsch aufschreckt. Sie schüttelte und schlug ihn, bekam aber keine Bewegungin den starren Körper.
"Jules!"
Wieder ein Vogel. Ein kleiner, scheuer.
Er reagierte nicht. Schwerfällig bewegte er sich mit, als sie ihn mitklauenartig gekrümmten Fingern bei den Schultern packte. Juleswar tot. Sie konnte esnicht fassen. Im glückseligsten Moment ihres Tages, ihremGebärmutterhalbenstündchen, war er gestorben. Doch vorher hatte er noch seinePflicht getan. Er hatte den Tisch gedeckt und Kaffee aufgesetzt.
Es kam ihr so merkwürdig vor, daßsie neben ihm gesessen hatte und einfach davon ausgegangen war, daß er lebte.Sie hatte mit ihm gesprochen und gedacht, er würde aufstehen, mit ihr in dieKüche gehen und sich an den gedeckten Tisch setzen. Dieser Gedanke beruhigtesie. Jules würde erst dann wirklich tot sein, wenn sein Sterben bis ins Mark zuihr durchgedrungen war. Bisher traf die Wahrheit lediglich von außen zu, an denäußeren Enden ihrer Nerven. Wie Nieselregen sickerte die Wahrheit durch ihrePoren ein.
"Für die Hinterbliebenen ist es immer schlimm", flüsterte sie, und dieOberflächlichkeit dieser lächerlichen Bemerkung beruhigte sie einen Momentlang. Sie legte ihre noch bettwarme Hand auf seine, die sich kühl anfühlte.Aber nicht kalt.
Natürlich hatten sie übers Sterbengeredet, ihre Angst davor, sich in menschliche Wracks zu verwandeln,miteinander geteilt. Jules reagierte immer gereizt, wenn sie sagte, sie fändees gar nicht so tragisch, dement zu werden. Es erschien ihr wie ein rechtsorgloses Dasein. Nichts mehr regeln müssen, Schwestern, die einem geduldig dasletzte bißchen Leben einlöffelten, die Freundinnen aus dem Kindergarten und dieersten heimlichen Liebhaber, die unerwartet vorbeikamen. Vor allem mitLetzterem konnte sie ihren Mann auf die Palme bringen. Er war ihr ersterLiebhaber gewesen, er hatte sie ins Leben und in die Liebe eingeweiht. Sogarfünfzig Jahre später duldete er keine Scherze über sogenannte Rivalen.
"Denk doch auch mal an die Hinterbliebenen und nicht nur an dich selbst", sagteer dann. "Stell dir vor, du würdest mich nicht mehr wiedererkennen. AuchHermann nicht, oder die Enkel."
Tja, das war dann das Problem der Hinterbliebenen, dachte sie. Doch diesenvöllig auf sich selbst bezogenen Gedanken sprach sie nicht aus. Ihr kam das sofriedlich vor, auf der Schwelle des Todes in einer Nebelbank zu verschwinden,wo Erinnerungen langsam verblaßten und Geräusche verebbten. Sie fand es sogarromantisch, wenn das Leben auf diese Weise erlosch. Wie am Ende einesfranzösischen Films, wenn sich die Farben in einem Panorama aus Pastellbrachen. Fin!
Es hatte Momente gegeben, da hatte sie das starke Bedürfnis gehabt, Jules nichtwiederzuerkennen. Doch er war ihr in die Haut eingebrannt. Niemals würde er fürsie unsichtbar sein.
Plötzlich sterben, ohne Schmerzen, ohne Angst, das wäre seine Wahl, wenn er einehätte. Wie der Stoß einer riesigen Hand in den Rücken, ohne jede Chance, sichdagegen zu wappnen. Das Gefühl, das eine Fliege in dem Sekundenbruchteil habenmuß, wenn sich die zusammengerollte Zeitung über ihren schutzlosen Körpererhebt. Das fand Alice dann schlimm für die Hinterbliebenen. Und unverschämt,so ganz ohne jedes Vorzeichen einfach aus dem Leben zu verschwinden.
Wenn Jules also nicht wollte, daß sie dement wurde, dann wäre sie doch für einschönes, tiefsinniges Sterbelager. Nicht zu lang, nicht zu kurz. Schmerzen undmenschenunwürdige Körperlichkeiten wie Windeln oder blauverfärbte Gliedmaßenverdrängte sie. Sie würde in einem warmen Nachthemd unter frischgebügeltenDecken liegen, mit silbergrau getöntem Haar und manikürten Nägeln. Sie würdeJules alles sagen können, was sie fünfzig Jahre lang in sich hineingefressenhatte. Daß sie ihn haßte und daß sie ihn liebte. Daß sie manchmal am liebstenweggelaufen wäre und daß sie froh war, geblieben zu sein. Daß sie hatte freisein wollen und sich mit jeder Faser an ihn gebunden fühlte. Dinge, die mansich vor dem Hintergrund der Alltagssorgen nicht sagt. Sie würden sich bei denHänden fassen und einander vergeben. Alles. Jules Kiefergelenk würde sich nurkurz unter seiner schlaffgewordenen Haut bewegen, für sie das Zeichen,einzulenken. Unter diesen endgültigen Umständen würde er sich allerdingsbeherrschen. Er würde nicht böse werden, ihr keine Vorwürfe machen. Er würdesie in Ruhe sterben lassen. Sie schon vermissen, bevor sie Kraft sammelte für ihrenletzten Atemzug.
Alice ging so in ihrer Phantasieauf, daß sie für einen Moment vergaß, daß sie jetzt die Hinterbliebene war. Alsihr das Unabwendbare plötzlich wieder einfiel, traten ihr Tränen in die Augen.Sie wischte sich über die Wange und stupste mit ihren nassen Fingern kurz gegenJules Handrücken. Die feuchte Kälte des Todes grub sich Gänge unter seinerHaut. Sie erhob sich, nahm das weiße Licht in sich auf, das erbarmungslos insZimmer leuchtete. Danach setzte sie sich auf den Couchtisch aus Eichenholz,ihrem Mann direkt gegenüber. Unschlüssig. Sie studierte sein Gesicht. Die Augenwaren halbgeschlossen wie bei einem Kind, das mitten im Spiel vom Schlafübermannt worden war. Um die Lippen - bildete sie sich das ein oder waren siebläulich? - spielte der Schatten eines Lächelns. Hatte er die große Hand hintersich gespürt, die ihn über die Grenze zwischen Leben und Tod gestoßen hatte?Nun erst entdeckte sie seine Brille auf dem Boden. Sie hob sie auf, wischtemechanisch die Gläser mit einem Zipfel ihres Bademantels sauber und schob sievorsichtig auf Jules Nase.
© Verlag C.H. Beck
Übersetzung: Isabel Hessel
- Autor: Diane Broeckhoven
- 2005, 8. Aufl., 92 Seiten, Maße: 12,5 x 20,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Isabel Hessel
- Verlag: Beck
- ISBN-10: 3406529755
- ISBN-13: 9783406529757
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