Schweres Beben
Eine Serie von Erdbeben erschüttert Boston. Als die Großmutter von Louis Holland dabei ums Leben kommt, entbrennt ein...
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Eine Serie von Erdbeben erschüttert Boston. Als die Großmutter von Louis Holland dabei ums Leben kommt, entbrennt ein erbitterter Familienstreit um ihr Vermögen. Seine Freundin, die junge Seismologin Renée, bemüht sich unterdessen, die Ursachen des rätselhaften Bebens zu ergründen. Doch je näher sie ihrem Ziel kommt, desto heftiger gerät das moralische Fundament der Familie Holland ins Wanken.
SchweresBeben von Jonathan Franzen
LESEPROBE
Wenn Eileen Holland gefragt wurde, ob sie Geschwister habe, musstesie manchmal einen Augenblick nachdenken.
In der Grundschule hatte sie mit ihren Freundinnen während derPausen Ballhüpfen gespielt, und wenn es in einer fernen Ecke des Pausenhofs zueiner Keilerei kam, stellte sich meistens heraus, dass der, dessen Gesichtgerade aufs Pflaster gedrückt wurde, ihr jüngerer Bruder Louis war. Da ließensie und ihre Freundinnen den Ball von Quadrat zu Quadrat einfach weiterhüpfen.Sie waren beim Seilspringen, als Louis auf den höchsten Sprossen des alten,tetanusverheerten Klettergerüsts mit einem Mitschüler kämpfte und sich beiseinem Sturz an jedem der Eisenrohre, gegen die er stieß, einen anderenKörperteil verletzte. Auf der obersten Ebene schlug er sich die Schneidezähneaus, auf der mittleren zog er sich eine Rippenprellung zu, die untere trug ihmeine Gehirnerschütterung samt Schleudertrauma ein, und der Aufprall auf dem Asphalthatte eine Zwerchfelllähmung zur Folge. Eileens Freundinnen rannten hin, umsich den wahrscheinlich toten Jungen anzusehen. Sie selbst stand da, dasSpringseil in der Hand, und kam sich vor, als wäre sie es, die gestürzt war,und keiner eilte ihr zu Hilfe.
Eileen war ein getreues und hübsches Ebenbild ihrerMutter, mit staunenden dunklen Augen und bleistiftdünnen Brauen, einer hohenStirn und vollen Wangen und glattem, dunklem Haar. Ihre Gliedmaßen hatten etwasvon Gerten einer Weide, und manchmal, die Augen geschlossen haltend, wiegte siesich auch wie eine-wenn sie so glücklich war, im Kreis ihrer Freunde zu sein,dass sie deren Anwesenheit vergaß.
Louis taugte, genau wie sein Vater, weniger zumSchmuckstück. Seit seinem zehnten Lebensjahr trug er eine Art Fliegerbrille,deren Metallgestell zu seinen Haaren passte, Haaren, die lockig und von derFarbe alter Messingschrauben waren und bereits schütter wurden, als er dieHighschool abschloss. Auch sein ausladender Brustkorb war Erbteil väterlicherGene. In der Unter- und Oberstufe erwarteten neue Freunde von Eileen stets,«Nein, nicht verwandt» als Antwort zu hören, wenn sie sich bei ihr erkundigten,ob Louis Holland etwa ihr Bruder sei. Für Eileen waren diese Fragen wie Impfspritzenpikser.Der lindernde Alkoholtupfer, der ihnen folgte, war die Versicherung ihrer Freunde,ihr Bruder sehe völlig anders aus als sie.
«Genau», pflichtete sie dann bei, «wir sind totalverschieden.»
Die jungen Hollands wuchsen in Evanston, Illinois, im Schattender Northwestern University auf, an der ihr Vater als Professor für Geschichtebeschäftigt war. Dann und wann an Nachmittagen sichtete Eileen ihren Bruder aneinem Tisch bei McDonald's, umgeben von den komischen Vögeln, mit denen ersich herumtrieb, sah ihre erbärmliche Essensauswahl, die Zigaretten undteigigen Gesichter und Militärklamotten. So negativ war die Stimmung, die vonseinem Tisch ausging, dass sie sich gar nicht fest genug zwischen die Ellbogenihrer Begleiter klemmen konnte. Sie war, so sagte sie sich, wirklich ganzanders als Louis. Aber richtig sicher vor ihm war sie nie. Selbst mitten aufeiner voll gequetschten und lachenden Rückbank konnte es ihr passieren, dasssie genau dann aus dem Fenster schaute, wenn ihr Bruder über den verdreckten Randstreifeneiner sechsspurigen Ausfallstraße lief, sein weißes Hemd grau vor Schweiß, dieBrillengläser weiß im Widerschein der Fahrbahn. Immer schien es, als könnte nursie ihn sehen, ein Gespenst aus jenem privaten Paralleluniversum, das sieverlassen hatte, als sie begann, sich mit Jungs zu treffen, das Louis aber
offensichtlich immer noch bewohnte - der Welt, in der manmit sich alleine war.
Im Sommer, ehe sie aufs College ging, brauchte sie einesTages plötzlich das Familienauto, um zu ihrem Freund Judd zu fahren, der weiteroben am Michigansee, in Lake Forest, wohnte. Als Louis darauf hinwies, dass erden Wagen schon eine Woche zuvor für sich reserviert hatte, wurde sie wütendauf ihn, so wütend, wie man es auf unbelebte Gegenstände werden kann, die manan die Wand wirft und zerstört. Schließlich brachte sie ihre Mutter dazu, Louiszu bitten, wenigstens dieses eine Mal so selbstlos zu sein und ihr den Wagenfür den Besuch bei ihrem Freund zu überlassen. Als sie bei Judd ankam, war sieimmer noch so wütend, dass sie den Zündschlüssel stecken ließ. Prompt wurde derWagen gestohlen.
Die Polizei von Lake Forest war nicht besonders nett zu ihr.Ihre Mutter, am Telefon, war es noch weniger. Und Louis kam, als sie endlich zuHause eintraf, mit Tauchermaske die Treppe herunter.
«Eileen», sagte ihre Mutter. «Schätzchen. Du hast den Wagenin den See rollen lassen. Er wurde überhaupt nicht gestohlen. Gerade hat michMrs. Wolstetter angerufen. Du hast die Handbremse nicht angezogen, und du hastden Wählhebel nicht auf Parken gestellt. Der Wagen ist über die Wiese der Wolstetters insWasser gerollt.»
«Parken,Eileen! » Louis' Stimme klang verglast und nasal. «Das kleine P ganzlinks. N für Neutral, also Leerlauf. P für Parken.»
«Louis!», sagte ihre Mutter.
«Oder heißt es N für Nicht doch und P für ... Preschen?D für Doof?»
Nach diesem traumatischen Erlebnis gelang es Eileen niemehr, sich zu merken, wo Louis gerade war oder was er machte. Sie wusste, dasser in Houston studierte und als Fachrichtung etwas wie Elektrotechnik hatte,doch als ihre Mutter am Telefon von ihm sprach und vielleicht erzählen wollte,dass ein Fachwechsel hinter ihm lag, wurde es in dem Raum, in dem Eileentelefonierte, laut. (...)
© 2005 by Rowohlt Verlag GmbH
Übersetzung: Thomas Piltz
- Autor: Jonathan Franzen
- 2005, 2. Aufl., 688 Seiten, Maße: 15,6 x 22,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Thomas Piltz
- Verlag: Rowohlt, Hamburg
- ISBN-10: 3498020900
- ISBN-13: 9783498020903
- Erscheinungsdatum: 08.07.2005
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Schweres Beben".
Kommentar verfassen