1945
1945 von Theo Sommer
LESEPROBEEinleitung
DasJahr 1945 war eines jener Scharnierjahre, in denen sich die Weltgeschichtein den Angeln dreht und die Entwicklung eine neue Richtung nimmt. AdolfHitlers Drittes Reich endete in Schutt und Schande, das geschlagene,zerschlagene Deutschland wurde besetzt. Im Fernen Osten beendeten dieAtombomben von Hiroshima und Nagasaki das gewaltige Ringen im Pazifik, andessen Beginn der japanische Überfall auf den amerikanischen FlottenstützpunktPearl Harbor gestanden hatte. Doch kaum war der Konflikt mit dem nationalsozialistischenDeutschland und dem militärfaschistischen Japan zu Ende, brach die alliierteKriegskoalition auseinander. An der Unvereinbarkeit der westlichen und dersowjetischen Vorstellungen über Demokratie, Freiheit, Menschenrechte undSelbstbestimmung entzündete sich die nächste Auseinandersetzung vonwelthistorischer Bedeutung: der Kalte Krieg.
Ichwar vierzehn Jahre alt, als die Wehrmacht am 8. Mai 1945 kapitulierte,fünfzehn Jahre, als drei Monate später die Atombombe «Little Boy» die StadtHiroshima einäscherte. Wie viele meiner Altersgenossen wurde ich noch zumKriegsdienst herangezogen. Als Adolf-Hitler-Schüler nietete ich frühmorgenseine Schicht lang Steuerungselemente für Hitlers «Wunderwaffe», dieV-2-Rakete, und genoss nachmittags eine harsche Ausbildung zum Volkssturmmanndurch die Sonthofener Gebirgsjäger. Dann wurde ich Mitte April mit zwei Kameradenin Sondermission nach Berlin entsandt, um dort die Pläne für die «Werwolf»-Aktionen,eine Art Guerilla-Krieg, in Bayern abzuholen; wir drei kamen aber nicht mehrbis in die bedrängte Reichshauptstadt durch. Danach rückte ich mit zweihundertweiteren Adolf-Hitler-Schülern zur Verteidigung von Ulm aus, doch als wir unsder Donau näherten, war die Stadt bereits gefallen. Mit zwei DutzendMitschülern zog ich mich daraufhin in eine entlegene Almhütte unterhalb desGroßen Daumens im Allgäu zurück. Ich beerdigte meine belgische Armeepistole,Kaliber 9 mm, in einer Keksdose.
Wirvergruben unsere Sturmgewehre und MGs, trennten uns den Volkssturmstreifen vomÄrmel und spielten vier Wochen lang Kinderlandverschickungslager. Ende Junischlug ich mich nach Hause durch, arbeitete einen Sommer lang in einerMetallfabrik, die emaillierte Tombak-Abzeichen für die amerikanische Armeeherstellte, und drückte dann vom Herbst an, nach gründlichster Durchleuchtung,wieder die Schulbank.
Diesist indes kein Buch persönlicher Erinnerungen. Vielmehr ist es die - in denEinzelheiten belegbare - Geschichte des Jahres 1945, geschrieben von einemstudierten Historiker und praktizierenden Journalisten. Es beschreibt, wie sichdie Schlinge im Frühjahr um Deutschland unaufhaltsam zuzog. Es schildert dasDrama des Untergangs, wie es sich unter den fünf Meter dicken Betondecken desFührerbunkers in Berlin vollendete, wo Hitler am 30. April Selbstmord beging;aber auch die Tragödien, die sich im erbarmungslosen Bombenkrieg derAlliierten vollzogen, bei der Besetzung Ostdeutschlands durch vergewaltigendeRussen und bei der Vertreibung der Deutschen aus den Oder-Neiße-Gebieten, ausBöhmen und Mähren und dem Balkan. Zugleich spürt es den Absichten der Siegernach, die in Jalta und Potsdam das künftige Schicksal Deutschlands zu bestimmenversuchten. Zeugnisse von Zeitgenossen beschwören die deprimierende Lage unddie deprimierte Stimmung der Zeit herauf. Zwei Kapitel behandeln denpazifischen Krieg, den Einsatz der ersten beiden Atombomben und die NiederlageJapans.
Ausder zeitlichen Begrenzung der Darstellung auf das Jahr 1945 ergibt sich eineSchwierigkeit, die offen angesprochen werden muss. 1945 waren die Deutschen inerster Linie Opfer - Opfer eines brutalen Bombenkrieges, Opfer der nicht nurgewaltsamen, sondern gewalttätigen Besetzung im Osten, Opfer von Säuberungen,Entlassungen, Kriegsgefangenschaft und Internierung, von Zwangsarbeit, Hunger undKälte. Die meisten Opfer waren unschuldig. Die Zumutungen, die Entbehrungen,die Demütigungen, die Grausamkeiten auch, denen sie sich damals ausgesetztsahen, dürfen jedoch nicht in Vergessenheit geraten lassen, dass DeutscheTäter waren, ehe sie Opfer wurden. Das Nazi-Regime hatte den europäischenKontinent seiner furchtbaren Herrschaft unterworfen, die eroberten Völker imOsten zu Untermenschen gestempelt, sechs Millionen Juden in seinen Vernichtungslagernermordet. Zumeist waren es Deutsche, die das Schreckliche willig vollstreckten.Ihre Untaten im Krieg waren von einer Art, die keine Aufrechnung erlaubt.
DieDeutschen haben Furchtbares erlitten im Jahr 1945, ihre Opfer littenUnermessliches schon lange vorher. Wir dürfen nie vergessen, welche Gräuel,von uns verübt, den eigenen Leiden vorausgingen. Die Schilderung desGeschehens in diesem Werk darf daher nicht als aufrechnende Anklage missverstandenwerden. Der alliierte Luftkrieg war ein moralisches Fiasko, doch kann er dieVerwerflichkeit deutschen Tuns nicht rechtfertigen. In unseren zerbombten Städtenhaben wir damals geerntet, was unsere verbrecherische Führung in Guernica, inWarschau, Rotterdam und Coventry gesät hatte. Es ist ein Gebot der Ehrlichkeit,Ursache und Wirkung nicht zu verkehren. Beispielhaft ist in dieser Hinsichtdie Einstellung derer, die in dem auf barbarische Art zerstörten Dresden dieFrauenkirche wieder aufgebaut haben. Ein Altar trägt dort die Inschrift: «13. Februar1945»; sie erinnert an den Tag der Zerstörung. Einem zweiten Altar jedoch istdas Datum «30. Januar 1933» eingemeißelt; diese Inschrift erinnert an den Tagvon Hitlers Machtübernahme. An jenem Tag begann das ganze Unheil.
Ausder heutigen Warte dürfen die Deutschen sagen, dass sie trotz allem, was sienach dem Kriege durchgemacht haben, noch verhältnismäßig glimpflichdavongekommen sind. Deutschland wurde nicht so zerstückelt, wie es denSiegermächten ursprünglich vorschwebte. Weder ist es nach dem Entwurf desamerikanischen Präsidenten FrankIm D. Roosevelt in fünf oder sieben Staatenzerschlagen worden, noch haben es die Alliierten in einen Nordstaat und einensüddeutsch-österreichisch-ungarischen Staatenbund nach Winston Churchills Vorstellungenaufgespalten. Die Zweiteilung Deutschlands, wie sie sich im Laufe des KaltenKrieges verfestigte, bis sie 1961 in der Berliner Mauer ihren in seinerBrutalität unübertrefflichen Ausdruck fand, war nicht mehr Teil eines punischenStraffriedens. Vielmehr ergab sie sich als Folge des Ost-West-Gegensatzes, dersich, beginnend 1945, von Jahr zu Jahr verschärfte. Die Grenze zwischen denbeiden deutschen Staaten war die Grenze zwischen zwei Welten. Am Ende erwiessie sich als überwindbar.
ImÜbrigen hatte selbst der Ost-West-Konflikt ein Gutes. Anstatt weiter verfemtund kleingehalten zu werden, rückten beiderlei Deutsche, die in derBundesrepublik wie jene in der DDR, relativ rasch zu einer Art von Gastsiegernauf, die in ihren verschiedenen Staatensystemen tragende Rollen übernahmen.Ohne den Kalten Krieg hätte sich diese Mauserung vom Paria zum Partnerschwerlich im selben Tempo vollzogen, hüben so wenig wie drüben.
Undnoch in einem weiteren Betracht hatten die Deutschen Glück. Wäre dieamerikanische Atombombe nicht erst am 16. Juli 1945 erfolgreich getestetworden, sondern vier oder sechs Monate früher, so wären die beiden erstenExemplare ohne Zweifel auf deutsche Städte abgeworfen worden. Nicht Hiroshimaund Nagasaki wären verbrannt und verstrahlt worden, sondern Berlin, vielleichtMünchen, Bremen oder Hamburg - oder auch Dresden.
EinJahr ist allemal ein willkürlicher Zeitabschnitt. Geschichtliche Entwicklungenbeginnen nicht am 1. Januar, noch hören sie am 31. Dezember auf. Sie habenWurzeln, die in die Vergangenheit zurückgehen, und Auswirkungen, die in dieZukunft hineinreichen. Gelegentlich überschreitet meine Darstellung daher dieJahresgrenzen, teils nach hinten, teils nach vorn, um das Bild abzurunden.
Eswar nicht mein Ehrgeiz, ein erschöpfendes Bild des Jahres 1945 zu zeichnen.Zwar sollte ein umfassendes Panorama entstehen, doch konnte ich mancheszwangsläufig nur flüchtig behandeln. Auch war es weniger mein Ziel, im Einzelnendarzustellen, warum die Dinge so und nicht anders gekommen sind, als vielmehrRankes Forderung an den Historiker zu erfüllen: nämlich der Frage nachzuspüren,«wie es eigentlich gewesen».
Esspiegelt sich in diesem Buch das Bild einer verworrenen Zeit - einer unseligenZeit vielfältigen Scheiterns, Leidens und nur zart keimenden Hoffens. ImRückblick erst zeigt sich, dass das Jahr 1945 auch eine Zeit der Läuterung, derNeuerung und der Grundlegung gewesen ist. In einem Flugblatt der Weißen Rosewar den Deutschen vorhergesagt worden, es sei ihnen bestimmt, «auf ewig dasvon aller Welt gehasste und ausgestoßene Volk zu sein». Dass es anders gekommenist, bleibt für immer das Verdienst jeder Frauen und Männer, die sich 1945 daranmachten,unserem Volk auf Schutt und Trümmern eine bessere Zukunft zu zimmern. Ohne siewären wir nicht, was wir heute sind: eben nicht gehasst und ausgestoßen,sondern akzeptiert, anerkannt, geachtet.
ImJahr 1945 schwebten die Deutschen zwischen Hunger und Furcht, die Hoffnung warerstorben. Doch arbeiteten sie sich zäh aus der Finsternis heraus. Vielleicht -bestimmt! - birgt dies auch eine Lehre für die Heutigen.
Hamburg,im März 2005 TheoSommer
©Rowohlt Verlag
Interview mit Theo Sommer
Wie nähern Sie sich dem Jahr 1945?Ist es möglich, diese zwölf Monate isoliert von den Entwicklungen davor unddanach zu betrachten?
Nein, mankann sie natürlich nicht isoliert betrachten von dem, was vorher war, und vondem, was danach kommt. Geschichte fängt ja nicht am 1. Januar an und hört am31. Dezember auf. Deswegen habe ich in meinem Buch auch manchmalzurückgegriffen und manchmal voraus. Die Schwierigkeit bei der Schilderungdieses Jahres ist folgende: Im Jahre 45 waren die Deutschen weithin Opfer -Opfer des Bombenkrieges, Opfer der Vertreibung und der Flucht, Opfer dermassenhaften Vergewaltigung beim Einmarsch der Russen, Opfer von Internierungund Zwangslager, Opfer von einem riesigen Tohuwabohu. Millionen Menschen warendamals unterwegs: acht Millionen Ostarbeiter, Zwangsarbeiter, die nun plötzlichfrei waren; Kriegsgefangene, die nun wieder zurückkamen; Millionen vonOstflüchtlingen, die nach und nach einsickerten. Die Deutschen haben ungeheuergelitten damals. Aber man darf eben nicht vergessen: Sie waren Täter, ehe sieOpfer wurden. Das mache ich auch ganz deutlich. Mein Buch soll keineAufrechnung sein, sondern ich schildere ganz nüchtern, was passiert ist.
Ist das Jahr 1945 für Sie ein Jahrder Niederlage, des Aufbruchs oder des Neubeginns? Wie würden Sie dieGeschehnisse kurz zusammenfassen?
Es warnatürlich beides: Es war Zusammenbruch und in der zweiten Jahreshälfte dannAufbruch. Es war Niederlage, natürlich - Deutschland hat bedingungsloskapituliert. Aber zugleich war es eine Befreiung. Darüber wurde ja 40 Jahrespäter, als Richard Weizsäcker seine berühmte Rede zum 8. Mai hielt, zum Tagder Kapitulation also, sehr viel gestritten. Meine Erinnerung und auch alleZeitzeugnisse bestätigen: Die Menschen waren damals befreit. Befreit von derAngst, wieder eine Nacht im Luftschutzkeller verbringen zu müssen, wieder einenBombenregen über sich ergehen lassen zu müssen. Befreit von der Angst umBrüder, um Männer, um Söhne an der Front. Aber es kamen neue Ängste hinzu: Wiebekommt man die Kinder morgens satt, wie heizt man wenigstens einen Raum, wiekommt man zurecht mit den Flüchtlingen, die einem indie Wohnung gesetzt wurden und mit denen man sich Bad und Küche teilen musste?Damals haben die Leute mehr das Gefühl der Bedrückung durch die Besatzung unddie neuen Umstände gehabt als das einer Befreiung. Das Gefühl der Befreiung kamerst später.
Welche Erinnerungen haben Sie an dieletzten Kriegstage, die Sie im Kindes- und im jungen Erwachsenen-Alter erlebthaben?
Ich war 14Jahre alt, als der Krieg zu Ende ging. Damals war ich Schüler derAdolf-Hitler-Schule in der NS-Ordensburg Sonthofen" (im Allgäu). Wir wurdennoch im Januar 1945 als Volkssturmleute ausgebildet. Vormittags arbeiteten wirin einer Fabrik und frästen und nieteten Steuerungsteile für Hitlers Wunderwaffe", die V2. Nachmittags hatten wir Volkssturmausbildung an derPistole, am Sturmgewehr, an der Panzerfaust. Und ich wurde dann mit zweiKameraden Mitte April nach Berlin geschickt, um dort die Pläne für den Werwolf" in Bayern abzuholen, also den Guerillakrieg in der Alpenfestung",den man damals plante. Aber das waren reine Phantompläne. Wir versuchten, nachBerlin zu kommen, aber kamen nur noch bis Hof. Es gab kein Durchkommen mehr.Dann wurden wir abgeordnet zur SS-Kampfschule in Wasserburg am Inn. Die sagten dortzu uns: Es geht bald los. Wir warten nur noch auf zwei, drei Mann aus Berlin."Und wir sagten: Auf die braucht ihr nicht mehr zu warten. Das sind nämlichwir." Schließlich wurden wir noch per Fahrrad zur Verteidigung von Ulmgeschickt. Aber als wir am südlichen Ufer der Donau ankamen, waren drüben schondie Amerikaner. Wir sind in eine Almhütte in die Allgäuer Berge gegangen undhaben uns als Kinderlandverschickungs-Lager getarnt. Wir haben uns dieVolkssturm-Streifen von den Ärmeln getrennt, unsere Soldbücher verbrannt undunsere Waffen vergraben. Ende Juni sind wir nach Hause gekommen.
Wir hattennatürlich in dieser Zeit nichts von all den Grausamkeiten gehört und nichtsdavon gewusst. Aber als ich mich auf den Heimweg machte, musste ich aus derfranzösischen Zone in die amerikanische Zone. Und an der Grenze zwischen denbeiden Besatzungszonen sah ich zum ersten Mal diese riesigen Plakate, die dieAmerikaner dort aufgestellt hatten. Darauf waren die Leichenberge ausBergen-Belsen zu sehen. Zunächst habe ich wohl wie die meisten gedacht: Na ja,Feindpropaganda! Alles Lüge! Aber dann kam natürlichimmer mehr heraus. Es mussten etwa 400 Leute, die inder Nähe lebten, in die Lager gehen und sich ansehen, was dort vor sichgegangen war. Da gab es dann kein Ausweichen mehr. Später gab es einen Filmüber die KZ im Zusammenhang mit den Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozessen,gemacht anhand deutscher Akten und Dokumente. Also, diese Vorstellung, na ja, dawird uns die Hucke voll gelogen, um uns zu erniedrigen, diese Vorstellung istangesichts der Tatsachen sehr rasch verflogen.
Mit der Erinnerung ist es so eineSache. Kürzlich sagte der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker ineinem Interview: Ich weiß nicht, wann ich das Wort Auschwitz zum ersten Malgehört habe, aber sicher nicht vor dem Frühjahr 1945." Halten Sie diese Aussagefür wahrscheinlich?
Das istwahrscheinlich. Ich weiß es zum Beispiel von Helmut Schmidt, der auch an derFront war wie Weizsäcker. Schmidt sagt, er habe gewusst, dass es imPartisanenkrieg sehr hart zugegangen ist - übrigens von beiden Seiten. Aber ersagt, von den anderen Dingen habe er nichts gewusst. Ich erinnere mich noch aneinen Disput zwischen Weizsäcker und Schmidt vor etwa acht Jahren, aus Anlassder ersten Wehrmachts-Ausstellung. Weizsäcker sagte damals, wer wissen wollte,konnte wissen. Worauf ihm Helmut Schmidt entgegengehalten hat: Natürlich,wenn Sie am Abendbrottisch den Staatssekretär im Reichsaußenministerium zusitzen hatten (der einige dieser Papiere mit seiner Paraphe versehen hat), dannkonnte man wohl Bescheid wissen." Aber ich glaube nach wie vor, dass dernormale Deutsche, der nicht selber als Täter beteiligt war, nichts wusste. Ichwar sieben, es muss also kurz vor Kriegsausbruch gewesen sein. Da ist plötzlichein Schulkamerad namens Rosenblatt oder Rosenzweig verschwunden. Und da erhieltich eines Tages noch eine Postkarte aus Cincinnati. Das weiß ich noch, weilmich der Name des Ortes faszinierte. Er schrieb mir, dass er nun in Amerikasei. Und so wie ich dachten wohl viele: Na ja, die Juden gehen halt ins Ausland- freiwillig, nicht unter Druck und Zwang. Im Übrigen ist das in der Rückschauimmer sehr schwer zu wissen, was man damals gewusst hat. Manche mochten genuggeahnt haben, um nicht wissen zu wollen.
Sie schreiben vom Drama desUntergangs" und von den Tragödien der Besetzung Ostdeutschlands (wo manallerdings nach dem Krieg eher von Befreiung" als von Besetzung" sprach). Wiebeurteilen Sie den Wandel im Erinnern, bei dem sich der Schwerpunkt aktuell aufdie Vertreibung der Deutschen und die Bombenangriffe auf deutsche Städteverlagert?
Jahrestagehaben es an sich, dass sich die Erinnerung auf bestimmte Zeitspannenkonzentriert. Im Jahre `45 standen eben diese Ereignisse im Vordergrund. Siehaben alles andere überlagert und überdeckt. Das heißt nicht, dass wir unsplötzlich als Opfer aufspielen. Wenn man also fragt, wie das vor 60 Jahrengewesen ist, dann muss man sagen: Da ging es uns wirklich dreckig. Und da warenwir die Leidtragenden. Deshalb meine ich ja, dass man nie vergessen darf, dasszuvor die anderen die Leidtragenden waren. Was damals über uns kam, war dasBlut, das wir zuvor vergossen hatten.
Stimmen Sie Jorge Semprún zu, der anlässlich des 60-jährigen Jubiläums derBefreiung des Konzentrationslagers Buchenwald sagte: "Es wird [in zehnJahren, M.V.] keine unmittelbare Erinnerung mehr geben, kein direktes Zeugnis,kein lebendiges Gedächtnis: Das Erlebnis jenes Todes wird zu Ende gegangensein."? Muss man die Erinnerung wach halten? Wie kann man das tun?
Ich binHistoriker meiner Ausbildung nach. Und natürlich hat Jorge Semprún Recht, wenner sagt, dass in 10/15 Jahren keine überlebenden Zeitzeugen mehr da seinwerden. Aber das heißt ja nicht, dass die Erinnerung verschwindet. Das heißt janicht, dass sich dann niemand mehr dafür interessieren wird, was damalspassiert ist. Wir reden doch heute auch noch über Jesus Christus am Kreuz. Wirreden noch über Cäsar und Napoleon. Ich glaube, dass Zeitzeugenschaftnicht die Voraussetzung für Geschichtsbewusstsein ist. Im Gegenteil - ichglaube, dass gerade in Deutschland und beim Volk der Täter mit jeder neuenGeneration das Interesse neu aufflammen wird an dem, was damals war. Denn dasGeschehen war so fürchterlich, so unvorstellbar, dass sich die Heranwachsendenimmer wieder fragen werden: Wie kam es dazu? Was hat mein eigener Großvateroder dann der Urgroßvater oder Ururgroßvater damals getan? Wenn ich die letzten50/60 Jahre überblicke, glaube ich, dass der Gang der Dinge meine Meinungbestätigt. Wir haben alle 15 oder 20 Jahre eine große neue Diskussion überdiese Zeit. Mitte der 50er Jahre gab es sie, als die ersten Bücher über dienationalsozialistische Herrschaft erschienen, dann anlässlich desAuschwitz-Prozesses. Selbst beim Schindler-Film oder bei Goldhagens Buch. JederAnlass wurde benutzt, um von neuem die Scheinwerfer auf diese Epoche zurichten. Das ist etwas, was uns Deutsche nicht loslassen wird. Deswegen habeich keine Sorge, dass das Aussterben der Zeitzeugen zu einem Ende derBeschäftigung mit den damaligen Geschehnissen führen wird. Die bedrückendenEreignisse zwingen einfach jeden denkenden Menschen und jede neue Generation,sich damit zu beschäftigen.
Die Fragen stellte Mathias Voigt,Literaturtest.
- Autor: Theo Sommer
- 2005, 2. Aufl., 288 Seiten, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Reinbek
- ISBN-10: 3498063820
- ISBN-13: 9783498063825
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