Das Geheimnis der Zeit
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Das Geheimnis der Zeit von Guy Burt
LESEPROBE
Altesa liegt im Regen. Der Regen setztein, als der Bus die
holprige Straße hinunter in RichtungKüste fährt. Dicke
Tropfen klatschengegen die Fensterscheibe, an die ich den
Kopf gelehnt habe. Als der Bus durchdie Pfützen auf dem
nassen Pflaster davonfährt und michauf der Nordseite des
Platzes zurücklässt, regnet es nochimmer. Es ist kurz nach
fünf, und der Platz ist bis aufeinen jungen Mann, der
Tische und Stühle unter die Markiseeines Cafés trägt, menschenleer.
Ich stehe unter dem dürftigen Schutzeiner Platane,
die Reisetasche mit den Fotos nebenmeinen Füßen.
Flüchtig betrachtet muss ich einenziemlich verlorenen Eindruck
machen - ein Mann mittleren Alters,der aussieht, als
sei er im Bus eingeschlafen und dannpanisch an der erstbesten
Haltestelle ausgestiegen. Wie einTourist außerhalb
der Saison, der sich verirrt undseine Reisegruppe verloren
hat.
Viel hat sich nicht verändert. Immernoch die paar Geschäfte
und die kleine Kirche mit densiebzehn weißen Stufen.
Mehrere Straßen gehen von hier ab.Es gibt zwar keine
Straßenschilder, doch ich weiß vonjeder einzelnen, wohin
sie führt. In einer Ecke des Platzesist ein Trinkbrunnen mit
einem Löwenkopf, genau gegenüber derKirche - Lenas Kirche.
Auf den Stufen zum Portal steht dasWasser in Pfützen
und läuft nicht ab. Ich erinneremich, wie Lena einmal sagte,
dass es hier nirgends abläuft, aufkeinem Vorsprung im
ganzen Tal. Das Tal will das Wasser behalten.Ich erinnere
mich auch, dass ich Jamie davonerzählte, um eine seiner
ständigen Fragen über das Talhinreichend zu beantworten.
Er sog alles, was ich ihm sagte, aufwie ein Schwamm, um
dann gleich zu etwas anderemüberzugehen.
An sonnigen Tagen ist der Platzunter dem blauen Himmel
strahlend weiß, und man betrachtetunwillkürlich das
helle Glitzern des Wassers, das ausdem Maul des Löwen
sprudelt.
Mir fällt auf, dass sich docheiniges verändert hat. Das
Café heißt nicht mehr Tonis,stattdessen prangt am Fenster
in roten, geschwungenen Lettern dieAufschrift Café Co-Co,
und die Stühle und Tische sind jetztaus Plastik. Das sind
nur Einzelheiten, aber sie drängensich meiner Wahrnehmung
geradezu auf, so als würde ich vonihnen geblendet.
Aus der Nähe betrachtet ist der Kopfdes Löwen ungefähr
so groß wie mein eigener. Aber vonweitem sieht der Löwe
so klein und harmlos wie einSpielzeug aus. Seine Augen
sind dunkel, und manchmal habe ichden Eindruck, dass er
traurig dreinschaut. Die wirre Mähneist tief braun, eine
dunkle Patina bedeckt das einsthelle Metall. Bronze, wie
ich jetzt weiß, genau wie dieSonnenuhr an der Kirchenmauer,
mehrere der Nummern an denHauseingängen, und
auch die Löwenzahnuhr.
»Signore?«
Ich schaue auf. Der junge Kellnerhat den Platz überquert
und steht jetzt neben mir. Ermustert mich mit einem halb
amüsierten, halb mitleidigenAusdruck. Ich frage mich, wie
lange er dort schon stehen mag.
»Signore, ich bedaure, aber in nächster Zeitkommt kein
Bus. Wo wollen Sie denn hin?«
Erst ärgere ich mich, weil er michauf Englisch anspricht,
dann jedoch fällt mir ein, dass ichwirklich seltsam aussehen
muss. Vor allem, da meine helleJacke klatschnass ist, mir
der Regen übers Gesicht läuft undich wie angewurzelt dastehe.
Schließlich schüttle ich den Kopf.»Eigentlich will ich
nirgendwo hin. Ich war nur inGedanken. Aber ich komme
schon zurecht, danke.«
Er zieht die Augenbrauen hoch. »Siesprechen gut Italienisch
«, sagt er und wechselt ebenfallsdie Sprache.
»Ich habe früher hier gewohnt«, sageich.
»In Italien?«
Das bringt mich zum Schmunzeln. SeinAkzent verrät
ihn. Er kommt aus einer größerenStadt und gehört noch
weniger hierher als ich. »Sogarhier, in Altesa«, sage ich. »Ich
bin hier aufgewachsen.«
»Wirklich?«,sagt er höflich.
Ich nicke. »Aber das warwahrscheinlich vor Ihrer Zeit.«
»Aha«, sagt er. »Kommen Sie doch malauf ein Gläschen
vorbei.«
Mein Blick wandert die Gassehinunter an der kleinen
Pension vorbei und verliert sich amStadtrand. »Gerne«, erwidere
ich, »das werde ich tun.« Insgeheim bezweifle ich,
dass ich dafür Zeit haben werde.
»Und willkommen zu Hause.« Erlächelt zum Abschied
und geht durch den nachlassendenRegen über den Platz
zum Café zurück. Unter der Markisedreht er sich noch einmal
um und wirft mir einen kurzen,neugierigen Blick zu,
bevor er im dunklen Eingang desCafés verschwindet. Bis auf
das Plätschern des Regens ist jetztnichts mehr zu hören.
Ich schultere meine Tasche undwische mir den Regen
aus dem Gesicht.
Willkommen zu Hause.
Eigentlich hatte ich nicht vor,jemals nach Altesa zurückzukehren.
Ich war immer der Meinung, ich hättekeinen
Grund dazu. Vor sechsundzwanzigJahren verließ ich die
Stadt, weil sie mir leer und hohlvorkam. Alles, was mir
etwas bedeutet hatte, warverschwunden, und ich hatte das
Gefühl, weggehen zu können, ohneetwas zurückzulassen.
Vor zwei Wochen kam dann der Anruf,der alles veränderte.
Lena ist gestorben, zwei Wochen vorihrem vierundachtzigsten
Geburtstag. Nun steht das Haus leer,und es ist
an mir zu entscheiden, was damitgeschehen soll: Verkaufen
oder renovieren lassen undweitervermieten? Auf jeden Fall
wusste ich sofort, dass ich selbsthinfahren muss, obwohl
Max wollte, dass ich alles perTelefon erledige. Ich müsse
nur einen Gutachter auftreiben, denRest würden die Anwälte
in Salerno erledigen. Aber das kannich nicht. Es ist
mein Haus, und ich will michpersönlich darum kümmern.
Max scheint aufrichtig besorgt zusein, dass das alles zu viel
Zeit in Anspruch nehmen könnte. Essei ja nicht wirklich
viel zu tun, erklärte ich ihm, ichmüsse nur nach dem Rechten
sehen und einige Papiereunterschreiben. Zwei, drei
Tage, mehr nicht. Außerdem würde mireine Pause gut tun.
Die letzten Monate waren sehranstrengend, und eine Gelegenheit,
London und den nicht enden wollendenAusstellungsvorbereitungen
zu entkommen, käme mir gerade
recht. Schließlich willigte Max ein.
Auf dem Flug nach Neapel, derZugfahrt nach Salerno
und im Bus auf dem Weg ins Tal hatteich genug Zeit, mir
alles gründlich durch den Kopf gehenzu lassen. Ich habe
Max angelogen. Eigentlich müsste ichnicht hier sein, ich
könnte durchaus alles telefonischerledigen. Ich bin nicht
einmal besonders erpicht darauf, Altesa wiederzusehen, weil
ich mir kaum vorstellen kann, dass dieLeere, die ich hier
schon vor siebenundzwanzig Jahrenspürte, verschwunden
ist. Aber darum geht es nicht. Inmeiner Tasche befinden
sich über hundertfünfziggroßformatige Fotografien. Sie
sind der wahre Grund für meineReise, aber das kann ich
Max nicht erzählen. Er würde michfür verrückt halten.
Ich bin hier, um zur Ruhe zu kommenund endlich zu
verstehen. Ich habe die Fotos, undich habe etwas Zeit für
mich alleine. Ich hoffe, damit wirdes mir gelingen, mit den
Dingen ins Reine zu kommen oder siewenigstens zu begreifen.
Das Haus, Altesa,meine Rückkehr nach Italien -
langsam erkenne ich, das alles isteigentlich nur ein Vorwand,
um mich mit dem auseinander zusetzen, was mich
schon immer so tief beunruhigt hat.
Richtig erklären kann ich es nicht, nichteinmal mir
selbst. Ich weiß nur, dass dieseReise wichtig für mich ist
und etwas zum Abschluss bringenwird, auf die eine oder
andere Weise.
Meine Schritte verhallen im Regen,als ich den Platz verlasse.
Ich starre auf den Boden vor mir,bis ich freie Sicht
über das ganze Tal habe.
Altesa liegt am Fuß eines steilen Abhangs,der das Tal begrenzt.
An beiden Seiten der Küsteerstrecken sich Hügel,
zwischen denen sich die Häuser derkleinen Stadt zusammendrängen.
Wenn man jung ist, dauert derFußmarsch
vom höchsten Punkt der Stadt bis zumMeer nur eine Stunde.
Man kann den ganzen Weg über barfuß gehen. Es gibt
Felsenstrände mit kleinen Buchtenund Stellen, die man nur
erreichen kann, wenn man überKlippen und Vorsprünge
klettert. Von den Klippen ausgesehen glitzert das Wasser
im Sommer tiefblau. Unter den Wellenbewegen sich Fischschwärme
mit der sanften Mittelmeerströmung,die Felsen
sind mit Seegras bedeckt, und diekühlen Sonnenstrahlen
tanzen in sich ständig veränderndenMustern darüber hinweg.
Oberhalb der Stadt wird der Abhangsteiler. Die Straße,
die nach Norden führt, schlängeltsich durch Felsbrocken
und Zementbarrieren, die entwederdie Straße zum Abgrund
hin begrenzen oder das Geröll vonden Klippen zurückhalten
sollen. Entlang des Weges sindrechteckige Vorsprünge
wie Treppen in den Berg gehauen.Alte, inzwischen brachliegende
Felder, deren Grenzen vom ständignagenden Wind
und Regen wie auf einer nachlässigangefertigten Kohlezeichnung
verwischt sind. Zwischen diesenTerrassen finden
sich ab und an verfallene Gebäude,Häuser ohne Dach, aus
deren Fenstern Bäume wachsen. IhreBewohner sind mit
der Zeit immer näher zum Meergezogen, und die Ruinen
wirken wie von der Flutzurückgelassene Muschelschalen.
Hinter den letzten Häusern dereigentlichen Stadt bietet
sich mir ein unverstellter Ausblickauf das verregnete Tal.
Ich sehe mich um, und auf einmaldurchfährt mich ein seltsames
Gefühl - als ob etwas an den Rändernmeines Bewusstseins
zerren würde - und lässt michfrösteln. Vielleicht
ist es auch nur die Kälte. Zunächstwar der Regen sanft und
warm, doch jetzt ist meine Kleidungdurchnässt, und ich
friere. Ockerfarbenes Schmutzwasserfließt in Bächen über
den Asphalt. Eine Zeit lang starreich beim Gehen auf meine
dreckigen Schuhe, verlagere dasGewicht der Tasche auf
meinen Schultern und zähle dieSchritte, um mich von der
inneren Unruhe abzulenken. Ich geheschneller, obwohl ich
jetzt schon außer Atem bin, undstapfe entschlossen durch
den Schlamm, bis ich Seitenstechenbekomme.
Die Stadt habe ich schon langehinter mir gelassen. Vor
dem unwirtlichen höchsten Punkt desAbhangs befindet
sich noch eine letzte Reihe vonGebäuden.
Auf einem natürlichen Felsvorsprungstehen vier Häuser,
alte Villen hinter einer Mauer, dieneben der Straße verläuft
und über die die Äste der Bäume ausden Gärten ragen.
An den Einfahrten befinden sichschmiedeeiserne Gitter.
Das Haus, nach dem ich suche - indem ich aufgewachsen
bin - ist das erste der vier.Von der Straße aus sind seine
blassrosa Mauern, die der Zahn derZeit und der Regen haben
fleckig werden lassen, kaum zusehen. Unsicher bleibe
ich stehen. Der Regen hatnachgelassen. Es ist nur noch ein
feines Nieseln, das der Wind insanften Wogen über das Tal
bläst.
Zweifel überkommen mich. Will ichdas wirklich? Eigentlich
habe ich keine Zeit dafür, und ichsollte umdrehen und
schleunigst nach Londonzurückkehren, bevor mich hier
noch irgendetwas festhält. ( )
© Wilhelm Heyne Verlag
Übersetzung: Kristof Kurz
- Autor: Guy Burt
- 2006, 559 Seiten, Maße: 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Kristof Kurz
- Verlag: Ludwig bei Heyne
- ISBN-10: 3453430875
- ISBN-13: 9783453430877
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Das Geheimnis der Zeit".
Kommentar verfassen