Das mechanische Klavier
Roman
Die vier gewaltigen Romane von William Gaddis gehören zum Bedeutendsten, was die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Nun erscheint sein fünftes und letztes Buch - es ist sein literarisches Vermächtnis. Gekleidet in das Gewand...
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Produktinformationen zu „Das mechanische Klavier “
Die vier gewaltigen Romane von William Gaddis gehören zum Bedeutendsten, was die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Nun erscheint sein fünftes und letztes Buch - es ist sein literarisches Vermächtnis. Gekleidet in das Gewand des Romans veranschaulicht "Das mechanische Klavier" Gaddis' künstlerische Überzeugungen und seine lebenslange Auseinandersetzung mit jenen Aspekten der modernen Gesellschaft, die die Kunst in ihrer Existenz bedrohen.
Über fünfzig Jahre hatte Gaddis Material zu einem Werk über die Mechanisierung der Kunst gesammelt, wie er sie in der Erfindung des mechanischen Klaviers im späten 19. Jahrhundert symbolisiert sah. In den Jahren vor seinem Tod komponierte er aus der Fülle seiner Aufzeichnungen den dramatischen Monolog eines sterbenden Schriftstellers, dessen Gedanken auf dem Krankenlager unablässig um das Buch kreisen, das er noch zu vollenden hoffte. In imaginierter Zwiesprache mit Dichtern und Denkern vergangener Epochen versucht er zu zeigen, wie beispielsweise eine "Kommerzmaschine" wie das mechanische Klavier den Niedergang der Künste ebenso symbolisiert wie selbst beschleunigt hat.
Über fünfzig Jahre hatte Gaddis Material zu einem Werk über die Mechanisierung der Kunst gesammelt, wie er sie in der Erfindung des mechanischen Klaviers im späten 19. Jahrhundert symbolisiert sah. In den Jahren vor seinem Tod komponierte er aus der Fülle seiner Aufzeichnungen den dramatischen Monolog eines sterbenden Schriftstellers, dessen Gedanken auf dem Krankenlager unablässig um das Buch kreisen, das er noch zu vollenden hoffte. In imaginierter Zwiesprache mit Dichtern und Denkern vergangener Epochen versucht er zu zeigen, wie beispielsweise eine "Kommerzmaschine" wie das mechanische Klavier den Niedergang der Künste ebenso symbolisiert wie selbst beschleunigt hat.
Klappentext zu „Das mechanische Klavier “
Die vier gewaltigen Romane von William Gaddis gehören zum Bedeutendsten, was die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Nun erscheint sein fünftes und letztes Buch - es ist sein literarisches Vermächtnis. Gekleidet in das Gewand des Romans veranschaulicht "Das mechanische Klavier" Gaddis' künstlerische Überzeugungen und seine lebenslange Auseinandersetzung mit jenen Aspekten der modernen Gesellschaft, die die Kunst in ihrer Existenz bedrohen.Über fünfzig Jahre hatte Gaddis Material zu einem Werk über die Mechanisierung der Kunst gesammelt, wie er sie in der Erfindung des mechanischen Klaviers im späten 19. Jahrhundert symbolisiert sah. In den Jahren vor seinem Tod komponierte er aus der Fülle seiner Aufzeichnungen den dramatischen Monolog eines sterbenden Schriftstellers, dessen Gedanken auf dem Krankenlager unablässig um das Buch kreisen, das er noch zu vollenden hoffte. In imaginierter Zwiesprache mit Dichtern und Denkern vergangener Epochen versucht er zu zeigen, wie beispielsweise eine "Kommerzmaschine" wie das mechanische Klavier den Niedergang der Künste ebenso symbolisiert wie selbst beschleunigt hat.
Lese-Probe zu „Das mechanische Klavier “
Nein, es hilft alles nichts, ich muss das jetzt erklären, sonst ... allein schon, weil ich nicht weiß, weil wir ja überhaupt nie wissen, wie viel Zeit uns noch bleibt, verstehst du? Und vor allem, weil ich noch arbeiten muss. Ich muss mein Werk zu Ende bringen, endlich mein ... Deshalb auch die vielen anderen Bücher hier, die Notizen, Exzerpte, Zeitungsausschnitte und Gott weiß was noch. Also erst einmal Ordnung, das ist jetzt ganz entscheidend. Und wenn auch erst mal der Nachlass geregelt ist und jeder weiß, was für ihn abfällt, ist endlich Ruhe, und ich bin zumindest diese Sorge los, während ich hier liegen und zusehen darf, wie sie mein verdammtes Bein zum tausendsten Mal aufmachen, es zum tausendsten Mal ausschaben und zum tausendsten Mal wieder zutackern. Gott, schon der Anblick! In meinem Bein stecken mehr Metallklammern als in der alten Samurai-Rüstung im Esszimmer. Ich fühle mich, als würde ich Stück für Stück auseinander genommen, und nicht nur ich selbst,alles andere auch, meine Häuser, die Stallungen, die Gärten, der ganze Ramsch. Lauter Entscheidungen, die noch zu fällen sind, wie soll ich das bloß jemals ... und wann? Jede verdammte Kleinigkeit hat hier einen eigenen Verwaltungsakt ausgelöst: Verkehrswertgutachten, Übertragungsurkunden, notarielle Beglaubigungen, Unterlagen und Belege, liegt alles irgendwo in dem Haufen Papier da und ... lenkt mich nur ab, man kommt zu nichts, zu nichts. Ich muss das geregelt haben, bevor alles zusammenbricht und den Anwälten und der Steuer zum Fraß vorgeworfen wird, so endet es ja meistens, liegt in der Natur der Sache, ist übrigens auch das Thema meines Buches, es geht um den unaufhaltsamen Zerfall der Welt, den Kollaps von Sprache und Bedeutung, den Niedergang der Werte, das Verschwinden der Kunst. Wo man auch hinschaut, überall Unordnung und Zersetzung, der Pesthauch der Entropie, nimm, was du willst, Unterhaltungsindustrie und Technologie, jeder Vierjährige an seinem eigenen Computer und und und ... Woran das
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liegt? Jedermann sein eigener Künstler! Diese Maxime hat erst zum binären System und dann zur gesamten Computertechnologie geführt. Ich komme später noch einmal darauf zurück, denn die Gefahr, dass man mein Werk missversteht, dass man wieder einmal alles verdreht oder nur für einen besseren Witz hält, diese Gefahr ist naturgemäß die allergrößte. Die verblödete, hirnlose Masse, die so genannte Öffentlichkeit, sie will es ja so. Sie will unterhalten werden und macht deshalb aus dem Künstler einen Entertainer oder einen Berufsprominenten, Byron etwa ist es so ergangen. Was heutzutage ausschließlich zählt, ist Personality, das Werk hingegen, vergiss es, es bedeutet nichts mehr. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung hat unser schönes Newtonsches Weltbild ins Chaos gestürzt, in einen Zustand permanenter Unordnung. Wirklich, wo man auch hinsieht: ein einziges großes Gegeneinander, ein universeller Zermürbungskrieg, wo jedes Ding schon den Keim seiner Auflösung in sich trägt. Das nennt man jetzt, zumindest unter Akademikern, eine Aporie. Das Wort stammt aus dem Griechischen und bezeichnet den Morast, nein, vielmehr diesen Abgrund von Sumpf, den Sumpf des Ungesicherten, der bodenlosen, im reinsten Wortsinn perversen Doppeldeutigkeiten, der allgegenwärtigen Verschleierung und Verdunkelung, kurz, es beschreibt einen Zustand der Anarchie. Diese Welt ist wie eine Uhr ohne Uhrmacher, ein Ort, wo bestenfalls noch Tragikomödien zur Aufführung kommen, man denke an Kierkegaards wahnsinnigen Glaubensritter. Oder Pascal, der einmal gesagt hat, in dieser Welt nicht wahnsinnig zu sein, wäre auch nur eine weitere Form des Wahnsinns. Der Künstler ist heute längst an diesem Punkt angelangt, ich meine der echte Künstler, der Künstler als gesellschaftsgefährdendes Subjekt, vor dem Platon uns immer gewarnt hat. Oder lies mal Huizinga über Platon und dessen Auffassung von der Musik. Der Künstler eine Gefahr, die Kunst überhaupt eine Gefahr, das heißt, solange sie keinen klar definierten Zweck verfolgt. Wo war ich? Richtig, Musik. Nach dem platonischen Reglement war der phrygische Modus für die Beruhigung zuständig,
lydische und hypolydische Modi dagegen wirkten schon eher depressiv, während sich zu lydischen und ionischen Tonfolgen besonders angenehm bechern ließ. Eine gewisse Weichheit der Harmonie, antike Barmusik eben, nichts Aufregendes. Dem Künstler beziehungsweise der Kunst wird auf diese Weise regelrecht die ... Luft, Gott, ich kriege kaum noch Luft, auch kein Wunder, bin ja gerade erst aus der Narkose ... Unten im Aufwachraum, ich habe versucht, mein Bein anzuheben, plötzlich schnellt es von sich aus nach oben wie ein ... als würde der Schmerz zur Schmerzvermeidung ... denn, worum sonst geht's denn letztlich im Leben als um Schmerzvermeidung und die Jagd nach Vergnügen. Du siehst, wir befinden uns längst jenseits des Lustprinzips. Weißt du eigentlich, wie ihn seine Mutter immer genannt hat? "Sigi, mein Gold" hat sie ihn genannt, und wenn du mich fragst, hatte Ralph Waldo Emerson vollkommen Recht, als er sagte, dass wir wären, was unsere Mütter aus uns gemacht hätten. Jedenfalls sind laut Freud Lust und Schmerz nicht nur die ersten Eindrücke im Leben eines Kindes, sie prägen auch unsere Grundvorstellung von Gut und Böse. Diese Schlussfolgerung allerdings ist nicht mal genuin Sigi-mein-Gold, sondern wiederum Platon. Freud hat sie aus dem zweiten Buch der Gesetze abgeschrieben. Daneben aber ist ihm kein moralischer Anspruch zu hoch. "Wenn schon von Ethik die Rede sein soll", schreibt er an Pfarrer Pfister, "so bekenne ich mich zu einem hohen Ideal, von dem die mir bekannt gewordenen nun meist sehr betrüblich abweichen." Hübsch, nicht? Von den zugehörigen Menschen hält er ebenso nicht viel. Er habe an ihnen "durchschnittlich wenig 'Gutes' gefunden, meint er. "Die meisten sind nach meinen Erfahrungen Gesindel." Wundert mich, ehrlich gesagt, nicht, denn falls sie jemals ein Ziel hatten, haben sie es längst aus den Augen verloren. Ergo: Lustprinzip allein bringt es auch nicht. Obwohl der englische Philosoph Jeremy Bentham ja behauptet, hinsichtlich der Quantität des Vergnügens sei kein Unterschied zwischen Dichtung und einem Kinderspiel wie "Pushpin". Pushpin, weißt du noch, Nadelschieben, haben wir als Kinder immer gespielt. Aber fällt dir was auf? Genau! Es ging ihm um die Quantität des Vergnügens, nicht die Qualität. Du merkst schon, der Boden für unsere ganze Digitaltechnik wurde schon im achtzehnten Jahrhundert bereitet, die Alles-oder-nichts-Maschine, wie Norbert Wiener sie bezeichnete, eine Maschine, die vor allem eines konnte: zählen. Das binäre System und der Computer folgten fast zwangsläufig. Nicht umsonst erwähnt Wiener diesen brillanten amerikanischen Ingenieur, der sich eines Tages ein automatisches Piano anschaffte. Pushpin oder Puschkin war diesem Ingenieur nämlich scheißegal, auch mit Musik hatte er eigentlich nichts im Sinn. Nein, was ihn faszinierte, war allein die diffizile Mechanik einer Klang erzeugenden Maschine. Genau betrachtet ist es in Amerika nie um etwas anderes gegangen. Der technische Fortschritt, die rasante Mechanisierung, sogar die vor einhundert Jahren noch vergötterte Demokratie, alles diente nur dem einen Ziel: nämlich Sigis hirnloses, vergnügungssüchtiges Gesindel mit allen Mitteln und um jeden Preis zu unterhalten. War ja auch nicht schwer, man brauchte nur die Pedale zu treten. Der Rest kam fast von selbst. Eine Papierrolle mit herausgestanzten Schlitzen, das Gedächtnis der Maschine, es funktionierte nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip. Wurden 1909 gerade mal 40.000 automatische Klaviere gebaut, so waren es zehn Jahre später schon 200.000. Seitdem haben die Töchter der Musik nichts mehr zu lachen, und genau darum dreht es sich auch in meinem Buch. Wenn nämlich die Töchter ... Ich denke, angemessen wäre eine exakte Drittelung meines Vermögens. Das heißt, jede meiner Töchter erhält genau dreiunddreißig Komma drei drei Prozent. Je früher man das festlegt, desto weniger Möglichkeiten für das System, sich, wenn es einmal soweit ist, alles unter den Nagel zu reißen. Anwälte und Steuerbehörden, sie nähren sich von Verfall und Desorganisation, und der einzige Schutz gegen diese Flutwelle der Entropie besteht darin, rechtzeitig eine neue Ordnung zu schaffen. Und angefangen hat das alles mit dem mechanischen Klavier, geboren auf irgendeinem Schlachtfeld im Amerikanischen Bürgerkrieg. Behauptet jedenfalls sein Erfinder. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's bald ergriffen. Seit Willard Gibbs im Jahre 1876 den statistischen Nachweis der beständigen Zunahme der Entropie erbrachte, weil er erkannt hatte, dass sich die Natur auf breiter Front auf ein immer niedrigeres Organisationsniveau zubewegt, seitdem ist den Newtonschen Prinzipien praktisch die Grundlage entzogen. Nach dem zweiten thermodynamischen Gesetz bedeutet Chaos das Normale, wohingegen Ordnung ein wenig wahrscheinlicher, vielfach vorläufiger Zustand ist. Daher beginnt für Norbert Wiener, du merkst, wir sind wieder bei Wiener, beginnt für Wiener die moderne Physik auch nicht mit Einstein, Planck oder Heisenberg, sondern mit Gibbs, Willard Gibbs. Gibbs war der Erste, der Zufall und Wahrscheinlichkeit als rechnerisch bedeutsame Größen behandelte, aber das wollte ich eigentlich gar nicht ... wie komme ich jetzt bloß darauf? Ach ja, der Schnellhefter da vorn in dem Stapel, er enthält alles, was ich über die Theorie von ... Theorie von ... einen Moment mal, ich muss das mal kurz ... Gott, wenn mir dieser Stapel umkippt, wie soll ich das jemals ... jemals wieder in Ordnung ...? Nein, das würde ich nicht überleben. Meine Lungenfunktion ist schon so gut wie nicht mehr vorhanden, von meinem Bein ganz zu schweigen, Metastasen im Knochenmark, und die Sache da unten geht niemanden etwas an. So oder so, ich habe keine Zeit zu verlieren, wo war ich stehen geblieben? Die Vermögensfrage zuerst, jede ein Drittel. Hätte eine Sorge weniger, wenn wenigstens das schon erledigt wäre. Ich denke mir, ich werde abwechselnd bei ihnen wohnen, umschichtig, jeweils vier Monate bei einer Tochter. Ich könnte mich endlich um mein Werk kümmern. Bräuchte allerdings einen Vertrag und einen Vorschuss, damit ich das Buch fertig schreiben kann, bevor alles den ... bevor all das, was ich jemals ... verstehst du, bevor mein Werk selbst die Allgemeingültigkeit der Entropie unter Beweis stellt, also die Wirklichkeit meinem Buch zuvorkommt. Insofern geht es auch nicht den Bach runter, sondern verschwindet in diesem Abgrund von Sumpf aus ... des Ungesicherten, Zweideutigen, des Paradoxen und der Anarchie, Moment, ich hatte doch dieses Buch. Aporie, richtig, der Aporie auch noch. Wahrscheinlich ganz unten in dem Stapel, denn was wir heute Aporie nennen, das war einmal ein Gesellschaftsspiel der alten Griechen. Ein Frage-und-Antwort-Spiel, das man nicht gewinnen konnte, weil es auf keine Frage eine eindeutige Antwort gab, eben ein Spiel, je vertrackter, desto besser. Es ging auch gar nicht ums Gewinnen wie bei uns immer, obwohl, bei uns geht es genau besehen ja auch nicht ums Gewinnen, sondern immer nur um Geld, außer Geld interessiert uns nichts. Geld ist das, was Amerika wirklich ausmacht, halt, warte mal, hier auf dieser kleinen Karteikarte, die gerade auf den ... Was du hier siehst, der ganze Haufen, ist alles Material für mein Buch, Moment, was ich dir zeigen wollte ... 1927, ich darf die Chronologie nicht durcheinander bringen, 1876 bis 1929 ... hier, 1927: Erste öffentliche Fernsehübertragung beendet die Epoche des Klavierautomaten. Hier ist es, hör dir das an: Philo T. Farnsworth gelingt erstmals die drahtlose Bildübertragung auf einen Monitor ... für ganze sechzig Sekunden, das Bild eines Dollarzeichens ... Ein Dollarzeichen, verstehst du jetzt, was ich meine? Soll keiner sagen, ich hätte meine Fakten nicht parat. Organisation ist eben alles, Ordnung, ja, Ordnung. Nun gut, Farnsworth, das war 1927, du siehst, die kommenden Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Sigis hirnloses, verblödetes Gesindel zum ersten Mal vor der Glotze. Und was sieht man sich an? Genau, die heutige Misere kommt ja nicht von ungefähr. Hirnlose Masse wollte um jeden Preis unterhalten werden, du kannst es drehen und wenden, wie du willst, du stößt immer wieder auf den Wunsch nach Unterhaltung. Unterhaltung als Anfang und Ende allen Strebens, Schmerzvermeidung, Lustgewinn, brauchst nur die Pedale zu treten. Poker, Pool, Pushpin, alles dasselbe, Scheißhomoludens. Oder nimm Huizinga über Musik und Spiel, zitiert Platon, hier, hör mal: "Das, was weder Nutzen noch Wahrheit noch Ähnlichkeit mit dem Wahren hat, aber in seiner Wirkung unschädlich ist, sollte man allein danach beurteilen, wie viel Vergnügen es gewährt. Ein Vergnügen, das weder Gutes noch Böses anrichtet, ein solches Vergnügen ist das Spiel." Und weiter über kleine Kinder und Tiere. Kinder und Tiere! Haben ja einiges gemeinsam, können nicht still sitzen, dauernd am Rumrennen, dauernd Lärm, Hüpfen, Springen, nichts als Blödsinn im Kopf, und am Ende sind wir alle wieder da, wo wir angefangen haben, bei Spielzeug, jawohl, Spielzeug, jeder Vierjährige heute mit seinem eigenen Computer. Braucht bloß auf einen Knopf zu drücken, und irgendwo geht ein buntes Lämpchen an. Neue Lernmethode, heißt es, Orthographie mit Computer! Alles Mumpitz, denn der Computer korrigiert ja jeden Fehler sofort, die kleine Rotznase vor dem Bildschirm muss gar nichts lernen, das ist die Tragik, weder Rechtschreibung noch die vier Grundrechenarten noch einfaches Wurzelziehen, Wissen, Kenntnisse, alles obsolet geworden, man hat ja den Computer wie früher das automatische Klavier. Es reicht vollkommen, die Pedale zu treten, Noten lesen Fehlanzeige. Das sind dann die Leute, die glauben, ein Vibrato funktioniert nur mit Batterien. Wieners Ingenieur war die Musik ja auch scheißegal. Alles, was den interessierte, war die Mechanik, also Röhrenleitungen, Blasebälge, Hämmer.
lydische und hypolydische Modi dagegen wirkten schon eher depressiv, während sich zu lydischen und ionischen Tonfolgen besonders angenehm bechern ließ. Eine gewisse Weichheit der Harmonie, antike Barmusik eben, nichts Aufregendes. Dem Künstler beziehungsweise der Kunst wird auf diese Weise regelrecht die ... Luft, Gott, ich kriege kaum noch Luft, auch kein Wunder, bin ja gerade erst aus der Narkose ... Unten im Aufwachraum, ich habe versucht, mein Bein anzuheben, plötzlich schnellt es von sich aus nach oben wie ein ... als würde der Schmerz zur Schmerzvermeidung ... denn, worum sonst geht's denn letztlich im Leben als um Schmerzvermeidung und die Jagd nach Vergnügen. Du siehst, wir befinden uns längst jenseits des Lustprinzips. Weißt du eigentlich, wie ihn seine Mutter immer genannt hat? "Sigi, mein Gold" hat sie ihn genannt, und wenn du mich fragst, hatte Ralph Waldo Emerson vollkommen Recht, als er sagte, dass wir wären, was unsere Mütter aus uns gemacht hätten. Jedenfalls sind laut Freud Lust und Schmerz nicht nur die ersten Eindrücke im Leben eines Kindes, sie prägen auch unsere Grundvorstellung von Gut und Böse. Diese Schlussfolgerung allerdings ist nicht mal genuin Sigi-mein-Gold, sondern wiederum Platon. Freud hat sie aus dem zweiten Buch der Gesetze abgeschrieben. Daneben aber ist ihm kein moralischer Anspruch zu hoch. "Wenn schon von Ethik die Rede sein soll", schreibt er an Pfarrer Pfister, "so bekenne ich mich zu einem hohen Ideal, von dem die mir bekannt gewordenen nun meist sehr betrüblich abweichen." Hübsch, nicht? Von den zugehörigen Menschen hält er ebenso nicht viel. Er habe an ihnen "durchschnittlich wenig 'Gutes' gefunden, meint er. "Die meisten sind nach meinen Erfahrungen Gesindel." Wundert mich, ehrlich gesagt, nicht, denn falls sie jemals ein Ziel hatten, haben sie es längst aus den Augen verloren. Ergo: Lustprinzip allein bringt es auch nicht. Obwohl der englische Philosoph Jeremy Bentham ja behauptet, hinsichtlich der Quantität des Vergnügens sei kein Unterschied zwischen Dichtung und einem Kinderspiel wie "Pushpin". Pushpin, weißt du noch, Nadelschieben, haben wir als Kinder immer gespielt. Aber fällt dir was auf? Genau! Es ging ihm um die Quantität des Vergnügens, nicht die Qualität. Du merkst schon, der Boden für unsere ganze Digitaltechnik wurde schon im achtzehnten Jahrhundert bereitet, die Alles-oder-nichts-Maschine, wie Norbert Wiener sie bezeichnete, eine Maschine, die vor allem eines konnte: zählen. Das binäre System und der Computer folgten fast zwangsläufig. Nicht umsonst erwähnt Wiener diesen brillanten amerikanischen Ingenieur, der sich eines Tages ein automatisches Piano anschaffte. Pushpin oder Puschkin war diesem Ingenieur nämlich scheißegal, auch mit Musik hatte er eigentlich nichts im Sinn. Nein, was ihn faszinierte, war allein die diffizile Mechanik einer Klang erzeugenden Maschine. Genau betrachtet ist es in Amerika nie um etwas anderes gegangen. Der technische Fortschritt, die rasante Mechanisierung, sogar die vor einhundert Jahren noch vergötterte Demokratie, alles diente nur dem einen Ziel: nämlich Sigis hirnloses, vergnügungssüchtiges Gesindel mit allen Mitteln und um jeden Preis zu unterhalten. War ja auch nicht schwer, man brauchte nur die Pedale zu treten. Der Rest kam fast von selbst. Eine Papierrolle mit herausgestanzten Schlitzen, das Gedächtnis der Maschine, es funktionierte nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip. Wurden 1909 gerade mal 40.000 automatische Klaviere gebaut, so waren es zehn Jahre später schon 200.000. Seitdem haben die Töchter der Musik nichts mehr zu lachen, und genau darum dreht es sich auch in meinem Buch. Wenn nämlich die Töchter ... Ich denke, angemessen wäre eine exakte Drittelung meines Vermögens. Das heißt, jede meiner Töchter erhält genau dreiunddreißig Komma drei drei Prozent. Je früher man das festlegt, desto weniger Möglichkeiten für das System, sich, wenn es einmal soweit ist, alles unter den Nagel zu reißen. Anwälte und Steuerbehörden, sie nähren sich von Verfall und Desorganisation, und der einzige Schutz gegen diese Flutwelle der Entropie besteht darin, rechtzeitig eine neue Ordnung zu schaffen. Und angefangen hat das alles mit dem mechanischen Klavier, geboren auf irgendeinem Schlachtfeld im Amerikanischen Bürgerkrieg. Behauptet jedenfalls sein Erfinder. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's bald ergriffen. Seit Willard Gibbs im Jahre 1876 den statistischen Nachweis der beständigen Zunahme der Entropie erbrachte, weil er erkannt hatte, dass sich die Natur auf breiter Front auf ein immer niedrigeres Organisationsniveau zubewegt, seitdem ist den Newtonschen Prinzipien praktisch die Grundlage entzogen. Nach dem zweiten thermodynamischen Gesetz bedeutet Chaos das Normale, wohingegen Ordnung ein wenig wahrscheinlicher, vielfach vorläufiger Zustand ist. Daher beginnt für Norbert Wiener, du merkst, wir sind wieder bei Wiener, beginnt für Wiener die moderne Physik auch nicht mit Einstein, Planck oder Heisenberg, sondern mit Gibbs, Willard Gibbs. Gibbs war der Erste, der Zufall und Wahrscheinlichkeit als rechnerisch bedeutsame Größen behandelte, aber das wollte ich eigentlich gar nicht ... wie komme ich jetzt bloß darauf? Ach ja, der Schnellhefter da vorn in dem Stapel, er enthält alles, was ich über die Theorie von ... Theorie von ... einen Moment mal, ich muss das mal kurz ... Gott, wenn mir dieser Stapel umkippt, wie soll ich das jemals ... jemals wieder in Ordnung ...? Nein, das würde ich nicht überleben. Meine Lungenfunktion ist schon so gut wie nicht mehr vorhanden, von meinem Bein ganz zu schweigen, Metastasen im Knochenmark, und die Sache da unten geht niemanden etwas an. So oder so, ich habe keine Zeit zu verlieren, wo war ich stehen geblieben? Die Vermögensfrage zuerst, jede ein Drittel. Hätte eine Sorge weniger, wenn wenigstens das schon erledigt wäre. Ich denke mir, ich werde abwechselnd bei ihnen wohnen, umschichtig, jeweils vier Monate bei einer Tochter. Ich könnte mich endlich um mein Werk kümmern. Bräuchte allerdings einen Vertrag und einen Vorschuss, damit ich das Buch fertig schreiben kann, bevor alles den ... bevor all das, was ich jemals ... verstehst du, bevor mein Werk selbst die Allgemeingültigkeit der Entropie unter Beweis stellt, also die Wirklichkeit meinem Buch zuvorkommt. Insofern geht es auch nicht den Bach runter, sondern verschwindet in diesem Abgrund von Sumpf aus ... des Ungesicherten, Zweideutigen, des Paradoxen und der Anarchie, Moment, ich hatte doch dieses Buch. Aporie, richtig, der Aporie auch noch. Wahrscheinlich ganz unten in dem Stapel, denn was wir heute Aporie nennen, das war einmal ein Gesellschaftsspiel der alten Griechen. Ein Frage-und-Antwort-Spiel, das man nicht gewinnen konnte, weil es auf keine Frage eine eindeutige Antwort gab, eben ein Spiel, je vertrackter, desto besser. Es ging auch gar nicht ums Gewinnen wie bei uns immer, obwohl, bei uns geht es genau besehen ja auch nicht ums Gewinnen, sondern immer nur um Geld, außer Geld interessiert uns nichts. Geld ist das, was Amerika wirklich ausmacht, halt, warte mal, hier auf dieser kleinen Karteikarte, die gerade auf den ... Was du hier siehst, der ganze Haufen, ist alles Material für mein Buch, Moment, was ich dir zeigen wollte ... 1927, ich darf die Chronologie nicht durcheinander bringen, 1876 bis 1929 ... hier, 1927: Erste öffentliche Fernsehübertragung beendet die Epoche des Klavierautomaten. Hier ist es, hör dir das an: Philo T. Farnsworth gelingt erstmals die drahtlose Bildübertragung auf einen Monitor ... für ganze sechzig Sekunden, das Bild eines Dollarzeichens ... Ein Dollarzeichen, verstehst du jetzt, was ich meine? Soll keiner sagen, ich hätte meine Fakten nicht parat. Organisation ist eben alles, Ordnung, ja, Ordnung. Nun gut, Farnsworth, das war 1927, du siehst, die kommenden Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Sigis hirnloses, verblödetes Gesindel zum ersten Mal vor der Glotze. Und was sieht man sich an? Genau, die heutige Misere kommt ja nicht von ungefähr. Hirnlose Masse wollte um jeden Preis unterhalten werden, du kannst es drehen und wenden, wie du willst, du stößt immer wieder auf den Wunsch nach Unterhaltung. Unterhaltung als Anfang und Ende allen Strebens, Schmerzvermeidung, Lustgewinn, brauchst nur die Pedale zu treten. Poker, Pool, Pushpin, alles dasselbe, Scheißhomoludens. Oder nimm Huizinga über Musik und Spiel, zitiert Platon, hier, hör mal: "Das, was weder Nutzen noch Wahrheit noch Ähnlichkeit mit dem Wahren hat, aber in seiner Wirkung unschädlich ist, sollte man allein danach beurteilen, wie viel Vergnügen es gewährt. Ein Vergnügen, das weder Gutes noch Böses anrichtet, ein solches Vergnügen ist das Spiel." Und weiter über kleine Kinder und Tiere. Kinder und Tiere! Haben ja einiges gemeinsam, können nicht still sitzen, dauernd am Rumrennen, dauernd Lärm, Hüpfen, Springen, nichts als Blödsinn im Kopf, und am Ende sind wir alle wieder da, wo wir angefangen haben, bei Spielzeug, jawohl, Spielzeug, jeder Vierjährige heute mit seinem eigenen Computer. Braucht bloß auf einen Knopf zu drücken, und irgendwo geht ein buntes Lämpchen an. Neue Lernmethode, heißt es, Orthographie mit Computer! Alles Mumpitz, denn der Computer korrigiert ja jeden Fehler sofort, die kleine Rotznase vor dem Bildschirm muss gar nichts lernen, das ist die Tragik, weder Rechtschreibung noch die vier Grundrechenarten noch einfaches Wurzelziehen, Wissen, Kenntnisse, alles obsolet geworden, man hat ja den Computer wie früher das automatische Klavier. Es reicht vollkommen, die Pedale zu treten, Noten lesen Fehlanzeige. Das sind dann die Leute, die glauben, ein Vibrato funktioniert nur mit Batterien. Wieners Ingenieur war die Musik ja auch scheißegal. Alles, was den interessierte, war die Mechanik, also Röhrenleitungen, Blasebälge, Hämmer.
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Autoren-Porträt von William Gaddis
William Gaddis (1922-98) zählt mit Don DeLillo, Richard Ford und Thomas Pynchon zu den bedeutendsten amerikanischen Schriftstellern unserer Zeit. Nach dem Studium in Harvard reiste er mehrere Jahre durch Europa, Zentralamerika und Nordafrika und arbeitete an seinem ersten Roman, 'Die Fälschung der Welt', der 1955 in Amerika erschien. Die Kritik vermisste das Positive und schickte den Autor in die Wüste. Jahrelang arbeitete Gaddis als Produzent von Lehrfilmen in der Industrie und für das Militär. Erst zwanzig Jahre später, 1975, erschien sein zweiter Roman, 'J R'. Es folgten 'Die Erlöser' und 'Letzte Instanz'. Kurz vor seinem Tod vollendete Gaddis das Hörspiel 'Torschlusspanik' sowie einen letzten Roman 'Agape, Agape'.Marcus Ingendaay, geboren 1958, Studium der Anglistik und Germanistik in Köln und Cambridge. Tätigkeit als Werbetexter und Reporter, danach freier Übersetzer mit mehrfachen Auszeichnungen. Romanveröffentlichung.
Bibliographische Angaben
- Autor: William Gaddis
- 2003, 1, 123 Seiten, Maße: 13 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Ingendaay, Marcus
- Verlag: MANHATTAN
- ISBN-10: 344254551X
- ISBN-13: 9783442545513
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