Das taube Herz
Roman
Eine abenteuerliche Geschichte über den Menschheitstraum, eine denkende Maschine zu bauen
Die tragische Geschichte eines Schweizer Uhrmachergenies, dessen Automat am französischen Hof den berühmten Schachautomaten des Baron von Kempelen...
Die tragische Geschichte eines Schweizer Uhrmachergenies, dessen Automat am französischen Hof den berühmten Schachautomaten des Baron von Kempelen...
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Produktinformationen zu „Das taube Herz “
Eine abenteuerliche Geschichte über den Menschheitstraum, eine denkende Maschine zu bauen
Die tragische Geschichte eines Schweizer Uhrmachergenies, dessen Automat am französischen Hof den berühmten Schachautomaten des Baron von Kempelen besiegt - eine Parabel über den Traum des Menschen, die Schöpfung zu vervollkommnen. Jean-Louis Sovary ist ein Kind des 18. Jahrhunderts und als Sohn des Schweizer Jura von klein auf fasziniert von Uhren und ihrer Mechanik. In einem dubiosen Atelier in der Nähe von Genf kann er seine Begabung ausleben und wird zum Fälscher der besten Uhrwerke seiner Zeit. Dies bleibt auch dem französischen Orgelbauer und Automatensammler Montallier nicht verborgen, der ihn nach Paris lockt. Hier soll er im Geheimen einen raffinierten Automaten bauen, mit dem Montallier den berühmten Schachtürken des Baron von Kempelen besiegen will. Doch das geht nicht ohne ein geniales menschliches Gehirn, das Montallier in dem Mädchen Ana gefunden hat. Und Jean-Louis macht die Erfahrung, dass selbst die ideale Kombination von Maschine und Hirn unvollständig ist - ohne ein empfindendes Herz.
Philosophisch-hintergründig und unterhaltend erzählt.
Die tragische Geschichte eines Schweizer Uhrmachergenies, dessen Automat am französischen Hof den berühmten Schachautomaten des Baron von Kempelen besiegt - eine Parabel über den Traum des Menschen, die Schöpfung zu vervollkommnen. Jean-Louis Sovary ist ein Kind des 18. Jahrhunderts und als Sohn des Schweizer Jura von klein auf fasziniert von Uhren und ihrer Mechanik. In einem dubiosen Atelier in der Nähe von Genf kann er seine Begabung ausleben und wird zum Fälscher der besten Uhrwerke seiner Zeit. Dies bleibt auch dem französischen Orgelbauer und Automatensammler Montallier nicht verborgen, der ihn nach Paris lockt. Hier soll er im Geheimen einen raffinierten Automaten bauen, mit dem Montallier den berühmten Schachtürken des Baron von Kempelen besiegen will. Doch das geht nicht ohne ein geniales menschliches Gehirn, das Montallier in dem Mädchen Ana gefunden hat. Und Jean-Louis macht die Erfahrung, dass selbst die ideale Kombination von Maschine und Hirn unvollständig ist - ohne ein empfindendes Herz.
Philosophisch-hintergründig und unterhaltend erzählt.
Klappentext zu „Das taube Herz “
Die tragische Geschichte eines Schweizer Uhrmachergenies, dessen Automat am französischen Hof den berühmten Schachautomaten des Baron von Kempelen besiegt eine Parabel über den Traum des Menschen, die Schöpfung zu vervollkommnen. Jean-Louis Sovary ist ein Kind des 18. Jahrhunderts und als Sohn des Schweizer Jura von klein auf fasziniert von Uhren und ihrer Mechanik. In einem dubiosen Atelier in der Nähe von Genf kann er seine Begabung ausleben und wird zum Fälscher der besten Uhrwerke seiner Zeit. Dies bleibt auch dem französischen Orgelbauer und Automatensammler Montallier nicht verborgen, der ihn nach Paris lockt. Hier soll er im Geheimen einen raffinierten Automaten bauen, mit dem Montallier den berühmten Schachtürken des Baron von Kempelen besiegen will. Doch das geht nicht ohne ein geniales menschliches Gehirn, das Montallier in dem Mädchen Ana gefunden hat. Und Jean-Louis macht die Erfahrung, dass selbst die ideale Kombination von Maschine und Hirn unvollständig ist ohne ein empfindendes Herz.
Lese-Probe zu „Das taube Herz “
Das taube Herz von Urs Richle In der Morgendämmerung eines strahlend blauen Septembertages fuhren drei Männer, ein großer Hagerer, ein kleiner Rundlicher und ein eleganter Blonder in einem unscheinbaren weißen Lieferwagen von Neuenburg her kommend durch den Tunnel Vue-des-Alpes. Es war gegen 8 Uhr 30, als der Wagen mit ortsfremdem Kennzeichen bei der Villa Madeleine, dem Uhrenmuseum Géraux-Sovary in La Chaux-de-Fonds, vorfuhr. Der Hagere und der Rundliche zogen sich blaue Arbeitskittel über. Der Blonde blieb am Steuer sitzen, rückte die große Sonnenbrille auf der Nase zurecht und beobachtete, wie seine Kumpels am Dienstboteneingang klingelten, bis die Putzfrau öffnete. Kurz darauf trugen die beiden Männer mehrere Säcke und Kisten durch das Hauptportal des Museums, legten alles in den Laderaum des Lieferwagens und fuhren gemächlich wieder davon, als handle es sich um einen gewöhnlichen, regulären Auftrag.
... mehr
Eine Dreiviertelstunde später traf Albert Géraux junior, Stiftungsverwalter des Museums Géraux-Sovary pünktlich wie jeden Tag um 9 Uhr 15 ein. Was er vorfand, war der größte Albtraum, den er in seinem dreiundfünfzigjährigen Junggesellenleben im Stillen bereits öfter durchlebt hatte. Als er den Schlüssel ins Schloss steckte, fuhr die Ahnung, dass es passiert war, wie ein Messer durch sein beklommenes Herz. Jemand hatte die Verriegelung, die er am vergangenen Abend zum zigtausendsten Mal mit amtlicher Gewissenhaftigkeit vorgenommen hatte, bereits geöffnet. Die Tür sprang widerstandslos auf. Drinnen hörte er das Wimmern und die erstickten Hilferufe der Putzfrau. Und dort lag sie auch, geknebelt am Boden, ganz hinten vor der Besenkammer. Albert Géraux eilte von einem Ausstellungsraum in den nächsten. Alle Zimmer boten den gleichen traurigen Anblick. Sie glichen Schlachtfeldern, auf denen er alles verloren hatte, er, der letzte Nachfahre des Bankiers und Museumsstifters Albert Géraux des Älteren und alleiniger geistiger Erbe des größten, erfindungsreichsten und gleichzeitig verkanntesten Uhrmachers und Automatenbauers der Schweiz. An diesem Morgen war das gesamte kulturelle Erbe, das Vermächtnis des großen Erfinders und Konstrukteurs Jean-Louis Sovary verschwunden, in die Dunkelheit, aus der sein Vater es geholt hatte, zurückgestoßen. Dem Stiftungsverwalter war, als hätte ihm jemand den Lebenssaft aus dem Körper gesogen, als hätte jedes auf dieser Welt existierende Herz zu schlagen aufgehört. Er stand da, mitten in den Scherben der leeren Vitrinen, wo am vergangenen Tag noch die vierhundertsiebenundzwanzig Uhrwerke und Automaten ausgestellt gewesen waren, die sein Leben, seine Persönlichkeit, sein ganzes Sein und Haben ausmachten. Albert Géraux erstarrte, zerbrach wie das Glas, wurde zu Sand und zu Staub.
Bis zum Eintreffen der auf Viertel vor zehn angemeldeten Schulklasse passierte in der Villa Madeleine an diesem Donnerstagmorgen gar nichts mehr. Albert Géraux sank im Raum Nummer 3 auf einen Stuhl nieder und hörte das wiederholte Klingeln an der Tür ebenso wenig wie das unnachgiebige Wimmern der Putzfrau. Es brauchte den entschlossenen Druck eines Primarschullehrers auf die Klinke, was den automatischen Türöffner in Gang setzte, die Tür aufschwenken und das Wimmern der geknebelten Frau nach draußen dringen ließ, so dass die Polizei alarmiert werden konnte.
Drei Tage später, während der Stiftungsverwalter nach zwei durchwachten Nächten und endlos langen Tagen in seinem verdunkelten Wohnzimmer vor laufendem Fernseher über die Auflösung des seines Sinns und seiner Seele beraubten Uhrenmuseums nachdachte, traf auf dem Polizeiposten des benachbarten Städtchens Le Locle ein Anruf ein, der den Fund von drei großen, blauen Stoff- säcken und mehreren Kisten anzeigte. Ein Wanderer abseits der Wege war auf die in die Natur geworfenen Säcke aufmerksam geworden. Wo sonst nur Steine, Moos und morsches Holz lagen, war ihm der blaue Stoff sofort aufgefallen. Der Inhalt brachte zum Vorschein, was die Tage zuvor in den Zeitungen als vermisst gemeldet worden war: Über hundert Taschenuhren, drei Dutzend kleinere und mittlere Zimmer- und Standuhren sowie mehrere Musikautomaten in den unterschiedlichsten Gehäusen, verziert mit kleinen Skulpturen, in Ebenholz geschnitzten Blumen und Ranken lagen darin. Kleine bewegliche Figürchen waren da und dort angebracht, große und kleine Zeiger, in Email gebrannte Zifferblätter. Einige Schutzgläser waren zerschlagen, Verzierungen abgebrochen, Stücke zerstörter Mechanik lagen am Boden der Säcke und Kisten.
Nach einer genauen, jedoch ergebnislosen Spurensicherung am Fundort legte der behandschuhte Polizeibeamte jedes einzelne Teil mit äußerster Sorgfalt auf einen langen Auslegetisch, welchen seine Kollegen mit allen irgendwie auffindbaren Möbeln und ein paar weißen Leinentüchern in der Garage der Polizeiwache aufgebaut hatten.
Albert Géraux, geschwächt von den schlaflosen Nächten und jeglicher Hoffnung auf Wiedergutmachung beraubt, wurde hereingeführt.
»Na bitte«, sagte der Polizeibeamte ohne Begrüßung und machte eine fahrige Armbewegung über die Auslage, als wäre seine Arbeit damit getan. »Ich denke, das Schlimmste ist überstanden.«
Albert Géraux stand da, reglos, bleich, untröstlich. Unter der grellen Neonbeleuchtung schien ihm die Auslage wie die schauerliche Präsentation von Leichenteilen. Seine Sammlung, sein Lebenssinn lag da, auseinandergerissen und willkürlich zusammengewürfelt, verwundet und geschändet. Sein Blick wanderte über den Tisch, von einem Objekt zum nächsten. Vor seinem inneren Auge brachte er Figuren und abgebrochene Holzteile, Zahnräder und Verzierungen zusammen, legte jedes Stück in die ihm zugeteilte Vitrine, an seinen angestammten Platz zurück.
»Leider konnten wir keine Spuren finden im Wald, keinen Hinweis, kein weiteres Objekt, nicht einmal Abdrucke von Autoreifen.« Der Polizeibeamte schob die Unterlippe vor, atmete bedeutungsvoll. »Tut mir wirklich leid, Herr Géraux.«
»Ich wusste es«, flüsterte Albert Géraux nur und wandte sich verbittert ab. Der Polizeibeamte fasste ihn am Arm und führte ihn um den Tisch herum.
»Etwas deutlicher sollten Sie sich schon ausdrücken. Fällt Ihnen an diesen Stücken hier etwas auf? Fehlt etwas?«
»Das ist es ja gerade! Alles ist da, jedes einzelne Stück der Sammlung liegt hier auf den Tischen. Diese Barbaren, Ignoranten! Haben alle diese Meisterwerke der Mechanik weggeworfen wie Dreck. Nur das Herzstück natürlich, das wichtigste Objekt der Sammlung, das fehlt!« Albert Géraux wurde noch blasser, als er bereits war, verlangte einen Stuhl und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Alles mit der Ruhe, Herr Géraux! Was ist das für eine Uhr, die fehlt?«
Alber Géraux setzte sich. »Die Leute, die diese Uhr gestohlen haben, sind keine gewöhnlichen Diebe. Sie wussten sehr genau, welches Kunstwerk sie haben wollten. Aber wozu das ganze Museum ausrauben? Dilettanten! Wahrscheinlich haben sie im Auftrag gehandelt. Jemand wollte diese eine Spieluhr und nichts anderes. Unsere Objekte sind alle registriert, müssen Sie wissen, und weltweit bekannt. Es muss den Einbrechern schnell klar geworden sein, dass es unmöglich ist, diese Uhren irgendwo zu verkaufen. «
»Außer dem Herzstück anscheinend«, mokierte sich der Polizeibeamte.
»Diese Leute müssen im Auftrag gehandelt haben«, wiederholte Albert Géraux. »Verkaufen kann dieses Objekt niemand.«
»Aber warum gerade diese eine Uhr? Was unterscheidet sie von den andern?«
Albert Géraux sank in sich zusammen, als gäbe es im Tiefsten seines Innern einen Hinterausgang, durch den er sich retten konnte.
Der Polizeibeamte zündete sich eine Zigarette an und zeichnete vor Ungeduld Rauchzeichen in den Raum.
»Wenn wir Ihnen helfen sollen, Herr Géraux, Ihre Sammlung wieder zu vervollständigen, dann sollten Sie uns nichts verheimlichen. Was ist das für eine Uhr, die fehlt?«
Die Tür ging auf. Weitere Polizisten betraten den Raum und stellten sich, auf Instruktionen wartend, in eine Reihe. Albert Géraux hob leicht den Kopf, atmete tief durch und schaute die Polizeibeamten fordernd an.
»Diese Spieluhr trägt den Namen La Grande Dame. Sie ist das letzte, persönlichste und erstaunlichste Meisterwerk des Uhrmachers Jean-Louis Sovary, ein einzigartiges Unikum, die schreckliche Quintessenz seines Lebens.«
Er ließ den Kopf sinken, hustete, röchelte. Dann fasste er sich wieder. »La Grande Dame, Herr Inspektor, ist eine Spieluhr, die in die Kategorie der sogenannten komplizierten Uhrwerke gehört. Sie ist einen Meter und fünfzehn Zentimeter hoch. Den oberen Abschluss bildet eine aus weißem Porzellan gebrannte Schachfigur, die weiße Dame. Das Gehäuse ist in großen Teilen ebenfalls aus Porzellan und aus weißem Email gebaut und fällt in leicht geschwungenen Formen, die einem Hochzeitskleid nachempfunden sind. Neben dem ewigen Kalender und einer Mondphasenanzeige enthält die Grande Dame auch ein im Verhältnis zur Zeit sich automatisch fortsetzendes Spiel. Zu jeder Stunde öffnet sich der untere Kasten und präsentiert zwei kleine, bis in die einzelnen Glieder bewegliche Figuren, einen dunklen Herrn in türkischer Tracht und eine weiß gekleidete Dame. Die beiden Figuren sitzen an einem Tisch und spielen Schach. Bei jedem Erscheinen macht jede Figur einen Zug. Die Grande Dame verfügt über einen Satz von dreihundertfünfundsechzig Spielen, ein Spiel für jeden Tag. Jedes Spiel endet um Mitternacht mit einem Schachmatt gegen Schwarz. Begleitet wird dieses Spiel durch ein alle sechs Stunden erklingendes Zimbal, welches im oberen Teil, direkt unter der Schachkönigin, in Erscheinung tritt. Mit zwei Hämmerchen spielt die weiß gekleidete Dame des Schachspiels darauf mehrere kurze Stücke.«
»Und was ist daran so Besonderes?«, fragte der Polizeibeamte, ein verwaistes Zahnrad zwischen den Fingern, »komplizierte Uhren mit Musik- und Figurenspielen gibt es doch viele.«
»Da haben Sie vollkommen recht, Herr Inspektor. Aber das ist auch noch nicht alles.« Albert Géraux nahm dem Beamten das Zahnrad aus der Hand. »Das Figuren- spiel und die Verzierungen sind zwar außergewöhnlich, machen die Grande Dame aber noch nicht zu dem, was sie ist. Was sie einzigartig macht, und deswegen wurde sie meines Erachtens auch gestohlen, ist die Mechanik, das Material, woraus Jean-Louis Sovary das Uhrwerk gebaut hat.«
Albert Géraux machte eine lange Pause. Sein Gesicht war nun kreideweiß, die Lippen aschgrau. »Die Grande Dame, Herr Inspektor, ist gänzlich aus menschlichen Gebeinen gebaut.«
Der Polizeibeamte hob den Blick von der Auslage, die übrigen Polizisten rückten näher an den Tisch, alle schauten sie den Stiftungsverwalter fragend an.
»Menschliche Gebeine? Wie meinen Sie das?« Jetzt klang die Stimme des Beamten leicht irritiert.
»So wie ich es gesagt habe. Jean-Louis Sovary hat die Mechanik dieser Spieluhr aus den sterblichen Überresten, genauer, aus den Knochen einer Frau gebaut, die damals, kurz vor ihrem Tod, in Südfrankreich mit außergewöhnlichen Schachpartien Furore gemacht hatte. Die ganze Uhr ist eine Hommage, eine Art Grabmal für die Frau, die Jean- Louis Sovary geliebt hat. Er glaubte, die sterblichen Überreste seiner Geliebten in dieser Art vor Grabschändern und Scharlatanen in Sicherheit bringen zu können. Aber nun ist dieser Friede wohl doch noch gestört worden.«
»Und wer war diese Frau?«, fragte der Polizeibeamte und machte zwei ziellose Schritte.
»Ihr richtiger Name war Ana de La Tour«, sagte Albert Géraux noch, dann verließen ihn die Kräfte. Er fiel in sich zusammen und verlor das Bewusstsein. Es dauerte mehrere Wochen, bis der Stiftungsverwalter die nötige Kraft aufbrachte, um die Geschichte des Herzstücks der Sammlung Géraux-Sovary, das Schicksal der Grande Dame und ihres Erbauers, des Neuenburger Uhrmachers und Erfinders Jean-Louis Sovary, dem zuständigen Polizeibeamten zu erzählen.
Erster Teil
1
Während des Ausläutens der Messe an einem warmen Frühlingstag im Jahr 1758 lag in dem kleinen jurassischen Dorf Le Locle ein Knabe im Kirchturm unter dem Glockenspiel und beobachtete die Bewegungen der Balken, der Seile, der kleinen und grossen Räder. Über ihm schlugen die Klöppel gegen die hin-und herschwingenden, gusseisernen Hüte. Akustische Explosionen platzten durch den Turm, drohten sein Zwerchfell zu zerreißen, fuhren durch Mark und Bein und ließen die Gänsehaut in Schüben über den ganzen Körper des Knaben wachsen. Es war Sonntag und der Tag seines zehnten Geburtstages. Einige Stockwerke tiefer zog sein Vater an den Seilen und setzte damit die Mechanik des Glockenspiels in Bewegung. Jean-Louis Sovary, der an diesem sonnigen Tag noch nichts wusste von seinem Uhrmacherschicksal, nur davon träumte, ein grosser Mechanicus zu werden, lag auf dem Bretterboden und ließ sich von den Klängen forttragen in die helle, klare Welt der Harmonien. Er hörte Unter- und Obertöne, kombinierte die leicht versetzten Schläge zu breiten, vielstimmigen Akkorden. Wie jeden Sonntag gab er sich voll und ganz diesem geliebten verschachtelten akustischen Spektakel hin, das durch sein Bewusstsein sauste wie ein Orkan, und sah Wiesen und Felder und Blumen, spazierte durch Gärten, fuhr königlich über den Neuenburger See, den er noch nie gesehen hatte, vergaß das kleine Dorf Le Locle, die Hütte, in der er geboren worden war, den Stall, die stinkende Latrine hinter dem Haus. Er vergaß seine Schwestern und die guten Ratschläge der Mutter, ließ hinter sich all die Vorwürfe seines Vaters, der unten an den Seilen zog. Jean-Louis beobachtete das stetige Auf und Ab der Hanfseile, folgte den Bewegungen über und durch die Räder hinweg bis zum Anschlag an den Balken, welcher die Glocken trug. Der Schwung und die Kraft in diesen eisernen Hüllen entfalteten sich durch die harten Schläge in voller Pracht und eröffneten sich ihm, der hier treu auf dem Bretterboden unter ihnen lag, in einer akustischen Schönheit, die ihm beinah das Bewusstsein raubte.
Die Schelte des Vaters war so sicher wie das Amen des Pfarrers nach der Messe, die Jean-Louis träumend im Gebälk des Kirchturms verpasste. Die Bewegungen der Holz- und Metallräder des Uhrwerks leiteten ihn durch die Etappen der Sonntagsmesse. Jean-Louis kannte die Bedeutung jedes einzelnen Schlages, er kannte die Litaneien und Lieder auswendig. Niemand, und sein Vater am wenigsten, glaubte ihm, dass er die langen Pausen innerlich durchrezitierte und abbetete wie der treuste Gläubige unten im Kirchenschiff. Niemand nahm ihm seine tiefe innere Untertänigkeit vor Gott und seinem Stellvertreter auf Erden ab, da er doch die Messe schwänzte und, statt sich durch Bußgebete zu läutern, im Kirchturm herumphantasierte. Denn niemand hatte eine Ahnung davon, was Jean-Louis jeden Sonntag in diesem Turm erlebte, was seine Gabe und Leidenschaft, welcher Art seine Gebete waren. Arme und Beine ausgestreckt, das warme Holz unter sich, den Kopf leicht zur Seite geneigt, so dass er durch die Gabelungen der großen Räder sehen konnte, die in ihrem wundersamen Zusammenspiel das bewirkten, was Jean-Louis in Gedanken bis ins letzte Detail mitverfolgte, das unablässige, regelmäßige Ticken der Turmuhr, die hoch über dem Dorf in großen goldenen Zeigern die Zeit angab. Das stete, gottgegebene Hinfließen der Zeit fand hier seine mechanische Umsetzung, seine Abbildung. Hier war Jean- Louis dem Schöpfer näher als irgendjemand sonst, denn er hatte das große Getriebe, diese Grammatik der göttlichen Sprache, durch alle Verzahnungen, Drehungen und Übersetzungen hindurch studiert. Jedes Tick und jedes Tack war das Ergebnis eines ausgeklügelten mechanischen Systems, das er in Gedanken zurückverfolgen konnte bis zur Unruh, der Ursprungsquelle der Bewegung.
Jean-Louis liebte es, sich nach dem Ausläuten der Messe neben das Kirchenuhrwerk zu stellen, den Augenblick abzuwarten, bis die Zeiger draußen den täglichen Zenit erreichten und den Ausschlag gaben zum Start des größten Spektakels, das dieses mechanische Wunderwerk zu bieten hatte. Die Ankündigung der vollen Stunde durch vier helle, gefolgt von zwölf dunklen, klaren Glockenschlägen klang über die sonntägliche Stille des Dorfes hinweg bis in die finsteren Tannenwälder des Juras hinaus. Jean-Louis folgte den Bewegungen der einzelnen Verzahnungen, der Hebel und Gelenke und zählte mit. Jeder Schlag war ein Siegeszug der Mechanik gegen die Stille der leblosen Materialien, ein Triumph menschlicher Intelligenz gegen die Dumpfheit der Steine, gegen die tote Kälte des Eisens, gegen die Taubheit trockenen Holzes. Jeder Schlag war ein weiser, gottgeleiteter Geistesblitz durch die finstere Dummheit der toten Materie. Denn diese ist dem Menschen untertan, rezitierte Jean-Louis, sie kann bewegt und gesteuert werden, sie kann zur Präzision und zur ewigen Wiederholung gezwungen werden. Jede noch so verrückte, noch so komplizierte Bewegung, jede noch so unmöglich erscheinende Handlung ist konstruierbar. Das Uhrwerk, in dessen Mitte Jean-Louis an diesem sonnigen Festtag stand, bewies es ihm mit jedem Glockenschlag, der durch das Regelwerk gesteuert, automatisch zu jeder vollen, zu jeder halben und zu jeder viertel Stunde erklang. Was sich jetzt hier um zwölf Uhr mittags wie durch Zauberhand abspielte, verwandelte die mühsamen Seilzüge seines Vaters, welche die Glocken für das Ein- und Ausläuten der Messe bewegten, in einen lächerlichen Anachronismus. Warum von Hand betätigen, was durch einen automatisch wirkenden Mechanismus besser, gleichmäßiger und frei von menschlicher Unzuverlässigkeit bewältigt werden kann?
Jean-Louis betrachtete die Seile, die nun lose durch alle Böden hindurch in die Sakristei hinunterhingen, und bereute es, nicht daran gedacht zu haben, ein Messer mitzunehmen. Irgendwann, schwor er sich, an einem großen Tag, würde er, Jean-Louis Sovary, diese Seile durchschneiden wie Nabelschnüre, irgendwann würde er diesem Uhrwerk die vollständige Mündigkeit über das gesamte Glockenspiel der Kirche erteilen, irgendwann würde er diese Mechanik aus den menschlichen Stützen und Hilfen entlassen. Und dies sollte ein besonderer Tag werden, ein Tag der Befreiung und des Fortschritts. Er würde seinen Vater nach Hause führen, den seines Amtes enthobenen Glöckner von Le Locle, und mit ihm auf diese Errungenschaft anstoßen, so wie sein Vater mit Nachbarn und Freunden anzustoßen pflegte zu Weihnachten und zu Ostern, zu Geburts- und Todestagen. Es sollte sein Geschenk werden an den, der ihn großgezogen, an den, der ihm die Chance gegeben haben würde, das zu werden, was er werden wollte, nämlich der größte Uhrmacher des Neuenburger Juras, der Meister, der es geschafft hatte, das Uhrwerk der Kirchenuhr von Le Locle so weit zu verfeinern, dass es keinerlei menschliche Assistenz mehr benötigte. Jean- Louis Sovary hatte alles im Kopf, jede einzelne Bewegung, jedes einzelne Teilchen der Mechanik, und er wusste, dass sein Vater alles unternehmen würde, um ihm dieses Unternehmen zu vereiteln. Er hörte schon seine Rufe unten in der Sakristei, dann die energischen, schnellen Schritte, die aggressiven Fußtritte, die auf die knarrenden Holz- stufen niederknallten. Jean-Louis verkroch sich hinter den Rädern, versteckte sich unter einer Glocke, während sein Vater fluchend und schimpfend die Treppe heraufstapfte.
»Wo steckst du? Verdammt, zeig dich! Hast wieder nur Schwachsinn im Kopf? Das Glockengeläut raubt dir noch den Verstand!«, rief sein Vater und klopfte mit der Faust auf das schwere Eisen der stummen Glocke. Der leise Ton dämpfte den Wutausbruch seines Vaters ein bisschen.
»Komm, Mutter wartet zu Hause, ist doch dein Geburtstag! «
Mildernde Umstände hatte Jean-Louis nicht erwartet. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren. Jean-Louis kroch unter der Glocke hervor und ließ sich, was unvermeidlich war, aber noch nichts heißen musste, einmal mehr heftig am Ohr ziehen. Irgendwann würde sein Vater es ihm ausreißen, irgendwann würde die Haut nachgeben, den Knorpel freilegen, und das Ohr würde bluttriefend in seiner Hand bleiben.
© 2010 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Eine Dreiviertelstunde später traf Albert Géraux junior, Stiftungsverwalter des Museums Géraux-Sovary pünktlich wie jeden Tag um 9 Uhr 15 ein. Was er vorfand, war der größte Albtraum, den er in seinem dreiundfünfzigjährigen Junggesellenleben im Stillen bereits öfter durchlebt hatte. Als er den Schlüssel ins Schloss steckte, fuhr die Ahnung, dass es passiert war, wie ein Messer durch sein beklommenes Herz. Jemand hatte die Verriegelung, die er am vergangenen Abend zum zigtausendsten Mal mit amtlicher Gewissenhaftigkeit vorgenommen hatte, bereits geöffnet. Die Tür sprang widerstandslos auf. Drinnen hörte er das Wimmern und die erstickten Hilferufe der Putzfrau. Und dort lag sie auch, geknebelt am Boden, ganz hinten vor der Besenkammer. Albert Géraux eilte von einem Ausstellungsraum in den nächsten. Alle Zimmer boten den gleichen traurigen Anblick. Sie glichen Schlachtfeldern, auf denen er alles verloren hatte, er, der letzte Nachfahre des Bankiers und Museumsstifters Albert Géraux des Älteren und alleiniger geistiger Erbe des größten, erfindungsreichsten und gleichzeitig verkanntesten Uhrmachers und Automatenbauers der Schweiz. An diesem Morgen war das gesamte kulturelle Erbe, das Vermächtnis des großen Erfinders und Konstrukteurs Jean-Louis Sovary verschwunden, in die Dunkelheit, aus der sein Vater es geholt hatte, zurückgestoßen. Dem Stiftungsverwalter war, als hätte ihm jemand den Lebenssaft aus dem Körper gesogen, als hätte jedes auf dieser Welt existierende Herz zu schlagen aufgehört. Er stand da, mitten in den Scherben der leeren Vitrinen, wo am vergangenen Tag noch die vierhundertsiebenundzwanzig Uhrwerke und Automaten ausgestellt gewesen waren, die sein Leben, seine Persönlichkeit, sein ganzes Sein und Haben ausmachten. Albert Géraux erstarrte, zerbrach wie das Glas, wurde zu Sand und zu Staub.
Bis zum Eintreffen der auf Viertel vor zehn angemeldeten Schulklasse passierte in der Villa Madeleine an diesem Donnerstagmorgen gar nichts mehr. Albert Géraux sank im Raum Nummer 3 auf einen Stuhl nieder und hörte das wiederholte Klingeln an der Tür ebenso wenig wie das unnachgiebige Wimmern der Putzfrau. Es brauchte den entschlossenen Druck eines Primarschullehrers auf die Klinke, was den automatischen Türöffner in Gang setzte, die Tür aufschwenken und das Wimmern der geknebelten Frau nach draußen dringen ließ, so dass die Polizei alarmiert werden konnte.
Drei Tage später, während der Stiftungsverwalter nach zwei durchwachten Nächten und endlos langen Tagen in seinem verdunkelten Wohnzimmer vor laufendem Fernseher über die Auflösung des seines Sinns und seiner Seele beraubten Uhrenmuseums nachdachte, traf auf dem Polizeiposten des benachbarten Städtchens Le Locle ein Anruf ein, der den Fund von drei großen, blauen Stoff- säcken und mehreren Kisten anzeigte. Ein Wanderer abseits der Wege war auf die in die Natur geworfenen Säcke aufmerksam geworden. Wo sonst nur Steine, Moos und morsches Holz lagen, war ihm der blaue Stoff sofort aufgefallen. Der Inhalt brachte zum Vorschein, was die Tage zuvor in den Zeitungen als vermisst gemeldet worden war: Über hundert Taschenuhren, drei Dutzend kleinere und mittlere Zimmer- und Standuhren sowie mehrere Musikautomaten in den unterschiedlichsten Gehäusen, verziert mit kleinen Skulpturen, in Ebenholz geschnitzten Blumen und Ranken lagen darin. Kleine bewegliche Figürchen waren da und dort angebracht, große und kleine Zeiger, in Email gebrannte Zifferblätter. Einige Schutzgläser waren zerschlagen, Verzierungen abgebrochen, Stücke zerstörter Mechanik lagen am Boden der Säcke und Kisten.
Nach einer genauen, jedoch ergebnislosen Spurensicherung am Fundort legte der behandschuhte Polizeibeamte jedes einzelne Teil mit äußerster Sorgfalt auf einen langen Auslegetisch, welchen seine Kollegen mit allen irgendwie auffindbaren Möbeln und ein paar weißen Leinentüchern in der Garage der Polizeiwache aufgebaut hatten.
Albert Géraux, geschwächt von den schlaflosen Nächten und jeglicher Hoffnung auf Wiedergutmachung beraubt, wurde hereingeführt.
»Na bitte«, sagte der Polizeibeamte ohne Begrüßung und machte eine fahrige Armbewegung über die Auslage, als wäre seine Arbeit damit getan. »Ich denke, das Schlimmste ist überstanden.«
Albert Géraux stand da, reglos, bleich, untröstlich. Unter der grellen Neonbeleuchtung schien ihm die Auslage wie die schauerliche Präsentation von Leichenteilen. Seine Sammlung, sein Lebenssinn lag da, auseinandergerissen und willkürlich zusammengewürfelt, verwundet und geschändet. Sein Blick wanderte über den Tisch, von einem Objekt zum nächsten. Vor seinem inneren Auge brachte er Figuren und abgebrochene Holzteile, Zahnräder und Verzierungen zusammen, legte jedes Stück in die ihm zugeteilte Vitrine, an seinen angestammten Platz zurück.
»Leider konnten wir keine Spuren finden im Wald, keinen Hinweis, kein weiteres Objekt, nicht einmal Abdrucke von Autoreifen.« Der Polizeibeamte schob die Unterlippe vor, atmete bedeutungsvoll. »Tut mir wirklich leid, Herr Géraux.«
»Ich wusste es«, flüsterte Albert Géraux nur und wandte sich verbittert ab. Der Polizeibeamte fasste ihn am Arm und führte ihn um den Tisch herum.
»Etwas deutlicher sollten Sie sich schon ausdrücken. Fällt Ihnen an diesen Stücken hier etwas auf? Fehlt etwas?«
»Das ist es ja gerade! Alles ist da, jedes einzelne Stück der Sammlung liegt hier auf den Tischen. Diese Barbaren, Ignoranten! Haben alle diese Meisterwerke der Mechanik weggeworfen wie Dreck. Nur das Herzstück natürlich, das wichtigste Objekt der Sammlung, das fehlt!« Albert Géraux wurde noch blasser, als er bereits war, verlangte einen Stuhl und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Alles mit der Ruhe, Herr Géraux! Was ist das für eine Uhr, die fehlt?«
Alber Géraux setzte sich. »Die Leute, die diese Uhr gestohlen haben, sind keine gewöhnlichen Diebe. Sie wussten sehr genau, welches Kunstwerk sie haben wollten. Aber wozu das ganze Museum ausrauben? Dilettanten! Wahrscheinlich haben sie im Auftrag gehandelt. Jemand wollte diese eine Spieluhr und nichts anderes. Unsere Objekte sind alle registriert, müssen Sie wissen, und weltweit bekannt. Es muss den Einbrechern schnell klar geworden sein, dass es unmöglich ist, diese Uhren irgendwo zu verkaufen. «
»Außer dem Herzstück anscheinend«, mokierte sich der Polizeibeamte.
»Diese Leute müssen im Auftrag gehandelt haben«, wiederholte Albert Géraux. »Verkaufen kann dieses Objekt niemand.«
»Aber warum gerade diese eine Uhr? Was unterscheidet sie von den andern?«
Albert Géraux sank in sich zusammen, als gäbe es im Tiefsten seines Innern einen Hinterausgang, durch den er sich retten konnte.
Der Polizeibeamte zündete sich eine Zigarette an und zeichnete vor Ungeduld Rauchzeichen in den Raum.
»Wenn wir Ihnen helfen sollen, Herr Géraux, Ihre Sammlung wieder zu vervollständigen, dann sollten Sie uns nichts verheimlichen. Was ist das für eine Uhr, die fehlt?«
Die Tür ging auf. Weitere Polizisten betraten den Raum und stellten sich, auf Instruktionen wartend, in eine Reihe. Albert Géraux hob leicht den Kopf, atmete tief durch und schaute die Polizeibeamten fordernd an.
»Diese Spieluhr trägt den Namen La Grande Dame. Sie ist das letzte, persönlichste und erstaunlichste Meisterwerk des Uhrmachers Jean-Louis Sovary, ein einzigartiges Unikum, die schreckliche Quintessenz seines Lebens.«
Er ließ den Kopf sinken, hustete, röchelte. Dann fasste er sich wieder. »La Grande Dame, Herr Inspektor, ist eine Spieluhr, die in die Kategorie der sogenannten komplizierten Uhrwerke gehört. Sie ist einen Meter und fünfzehn Zentimeter hoch. Den oberen Abschluss bildet eine aus weißem Porzellan gebrannte Schachfigur, die weiße Dame. Das Gehäuse ist in großen Teilen ebenfalls aus Porzellan und aus weißem Email gebaut und fällt in leicht geschwungenen Formen, die einem Hochzeitskleid nachempfunden sind. Neben dem ewigen Kalender und einer Mondphasenanzeige enthält die Grande Dame auch ein im Verhältnis zur Zeit sich automatisch fortsetzendes Spiel. Zu jeder Stunde öffnet sich der untere Kasten und präsentiert zwei kleine, bis in die einzelnen Glieder bewegliche Figuren, einen dunklen Herrn in türkischer Tracht und eine weiß gekleidete Dame. Die beiden Figuren sitzen an einem Tisch und spielen Schach. Bei jedem Erscheinen macht jede Figur einen Zug. Die Grande Dame verfügt über einen Satz von dreihundertfünfundsechzig Spielen, ein Spiel für jeden Tag. Jedes Spiel endet um Mitternacht mit einem Schachmatt gegen Schwarz. Begleitet wird dieses Spiel durch ein alle sechs Stunden erklingendes Zimbal, welches im oberen Teil, direkt unter der Schachkönigin, in Erscheinung tritt. Mit zwei Hämmerchen spielt die weiß gekleidete Dame des Schachspiels darauf mehrere kurze Stücke.«
»Und was ist daran so Besonderes?«, fragte der Polizeibeamte, ein verwaistes Zahnrad zwischen den Fingern, »komplizierte Uhren mit Musik- und Figurenspielen gibt es doch viele.«
»Da haben Sie vollkommen recht, Herr Inspektor. Aber das ist auch noch nicht alles.« Albert Géraux nahm dem Beamten das Zahnrad aus der Hand. »Das Figuren- spiel und die Verzierungen sind zwar außergewöhnlich, machen die Grande Dame aber noch nicht zu dem, was sie ist. Was sie einzigartig macht, und deswegen wurde sie meines Erachtens auch gestohlen, ist die Mechanik, das Material, woraus Jean-Louis Sovary das Uhrwerk gebaut hat.«
Albert Géraux machte eine lange Pause. Sein Gesicht war nun kreideweiß, die Lippen aschgrau. »Die Grande Dame, Herr Inspektor, ist gänzlich aus menschlichen Gebeinen gebaut.«
Der Polizeibeamte hob den Blick von der Auslage, die übrigen Polizisten rückten näher an den Tisch, alle schauten sie den Stiftungsverwalter fragend an.
»Menschliche Gebeine? Wie meinen Sie das?« Jetzt klang die Stimme des Beamten leicht irritiert.
»So wie ich es gesagt habe. Jean-Louis Sovary hat die Mechanik dieser Spieluhr aus den sterblichen Überresten, genauer, aus den Knochen einer Frau gebaut, die damals, kurz vor ihrem Tod, in Südfrankreich mit außergewöhnlichen Schachpartien Furore gemacht hatte. Die ganze Uhr ist eine Hommage, eine Art Grabmal für die Frau, die Jean- Louis Sovary geliebt hat. Er glaubte, die sterblichen Überreste seiner Geliebten in dieser Art vor Grabschändern und Scharlatanen in Sicherheit bringen zu können. Aber nun ist dieser Friede wohl doch noch gestört worden.«
»Und wer war diese Frau?«, fragte der Polizeibeamte und machte zwei ziellose Schritte.
»Ihr richtiger Name war Ana de La Tour«, sagte Albert Géraux noch, dann verließen ihn die Kräfte. Er fiel in sich zusammen und verlor das Bewusstsein. Es dauerte mehrere Wochen, bis der Stiftungsverwalter die nötige Kraft aufbrachte, um die Geschichte des Herzstücks der Sammlung Géraux-Sovary, das Schicksal der Grande Dame und ihres Erbauers, des Neuenburger Uhrmachers und Erfinders Jean-Louis Sovary, dem zuständigen Polizeibeamten zu erzählen.
Erster Teil
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Während des Ausläutens der Messe an einem warmen Frühlingstag im Jahr 1758 lag in dem kleinen jurassischen Dorf Le Locle ein Knabe im Kirchturm unter dem Glockenspiel und beobachtete die Bewegungen der Balken, der Seile, der kleinen und grossen Räder. Über ihm schlugen die Klöppel gegen die hin-und herschwingenden, gusseisernen Hüte. Akustische Explosionen platzten durch den Turm, drohten sein Zwerchfell zu zerreißen, fuhren durch Mark und Bein und ließen die Gänsehaut in Schüben über den ganzen Körper des Knaben wachsen. Es war Sonntag und der Tag seines zehnten Geburtstages. Einige Stockwerke tiefer zog sein Vater an den Seilen und setzte damit die Mechanik des Glockenspiels in Bewegung. Jean-Louis Sovary, der an diesem sonnigen Tag noch nichts wusste von seinem Uhrmacherschicksal, nur davon träumte, ein grosser Mechanicus zu werden, lag auf dem Bretterboden und ließ sich von den Klängen forttragen in die helle, klare Welt der Harmonien. Er hörte Unter- und Obertöne, kombinierte die leicht versetzten Schläge zu breiten, vielstimmigen Akkorden. Wie jeden Sonntag gab er sich voll und ganz diesem geliebten verschachtelten akustischen Spektakel hin, das durch sein Bewusstsein sauste wie ein Orkan, und sah Wiesen und Felder und Blumen, spazierte durch Gärten, fuhr königlich über den Neuenburger See, den er noch nie gesehen hatte, vergaß das kleine Dorf Le Locle, die Hütte, in der er geboren worden war, den Stall, die stinkende Latrine hinter dem Haus. Er vergaß seine Schwestern und die guten Ratschläge der Mutter, ließ hinter sich all die Vorwürfe seines Vaters, der unten an den Seilen zog. Jean-Louis beobachtete das stetige Auf und Ab der Hanfseile, folgte den Bewegungen über und durch die Räder hinweg bis zum Anschlag an den Balken, welcher die Glocken trug. Der Schwung und die Kraft in diesen eisernen Hüllen entfalteten sich durch die harten Schläge in voller Pracht und eröffneten sich ihm, der hier treu auf dem Bretterboden unter ihnen lag, in einer akustischen Schönheit, die ihm beinah das Bewusstsein raubte.
Die Schelte des Vaters war so sicher wie das Amen des Pfarrers nach der Messe, die Jean-Louis träumend im Gebälk des Kirchturms verpasste. Die Bewegungen der Holz- und Metallräder des Uhrwerks leiteten ihn durch die Etappen der Sonntagsmesse. Jean-Louis kannte die Bedeutung jedes einzelnen Schlages, er kannte die Litaneien und Lieder auswendig. Niemand, und sein Vater am wenigsten, glaubte ihm, dass er die langen Pausen innerlich durchrezitierte und abbetete wie der treuste Gläubige unten im Kirchenschiff. Niemand nahm ihm seine tiefe innere Untertänigkeit vor Gott und seinem Stellvertreter auf Erden ab, da er doch die Messe schwänzte und, statt sich durch Bußgebete zu läutern, im Kirchturm herumphantasierte. Denn niemand hatte eine Ahnung davon, was Jean-Louis jeden Sonntag in diesem Turm erlebte, was seine Gabe und Leidenschaft, welcher Art seine Gebete waren. Arme und Beine ausgestreckt, das warme Holz unter sich, den Kopf leicht zur Seite geneigt, so dass er durch die Gabelungen der großen Räder sehen konnte, die in ihrem wundersamen Zusammenspiel das bewirkten, was Jean-Louis in Gedanken bis ins letzte Detail mitverfolgte, das unablässige, regelmäßige Ticken der Turmuhr, die hoch über dem Dorf in großen goldenen Zeigern die Zeit angab. Das stete, gottgegebene Hinfließen der Zeit fand hier seine mechanische Umsetzung, seine Abbildung. Hier war Jean- Louis dem Schöpfer näher als irgendjemand sonst, denn er hatte das große Getriebe, diese Grammatik der göttlichen Sprache, durch alle Verzahnungen, Drehungen und Übersetzungen hindurch studiert. Jedes Tick und jedes Tack war das Ergebnis eines ausgeklügelten mechanischen Systems, das er in Gedanken zurückverfolgen konnte bis zur Unruh, der Ursprungsquelle der Bewegung.
Jean-Louis liebte es, sich nach dem Ausläuten der Messe neben das Kirchenuhrwerk zu stellen, den Augenblick abzuwarten, bis die Zeiger draußen den täglichen Zenit erreichten und den Ausschlag gaben zum Start des größten Spektakels, das dieses mechanische Wunderwerk zu bieten hatte. Die Ankündigung der vollen Stunde durch vier helle, gefolgt von zwölf dunklen, klaren Glockenschlägen klang über die sonntägliche Stille des Dorfes hinweg bis in die finsteren Tannenwälder des Juras hinaus. Jean-Louis folgte den Bewegungen der einzelnen Verzahnungen, der Hebel und Gelenke und zählte mit. Jeder Schlag war ein Siegeszug der Mechanik gegen die Stille der leblosen Materialien, ein Triumph menschlicher Intelligenz gegen die Dumpfheit der Steine, gegen die tote Kälte des Eisens, gegen die Taubheit trockenen Holzes. Jeder Schlag war ein weiser, gottgeleiteter Geistesblitz durch die finstere Dummheit der toten Materie. Denn diese ist dem Menschen untertan, rezitierte Jean-Louis, sie kann bewegt und gesteuert werden, sie kann zur Präzision und zur ewigen Wiederholung gezwungen werden. Jede noch so verrückte, noch so komplizierte Bewegung, jede noch so unmöglich erscheinende Handlung ist konstruierbar. Das Uhrwerk, in dessen Mitte Jean-Louis an diesem sonnigen Festtag stand, bewies es ihm mit jedem Glockenschlag, der durch das Regelwerk gesteuert, automatisch zu jeder vollen, zu jeder halben und zu jeder viertel Stunde erklang. Was sich jetzt hier um zwölf Uhr mittags wie durch Zauberhand abspielte, verwandelte die mühsamen Seilzüge seines Vaters, welche die Glocken für das Ein- und Ausläuten der Messe bewegten, in einen lächerlichen Anachronismus. Warum von Hand betätigen, was durch einen automatisch wirkenden Mechanismus besser, gleichmäßiger und frei von menschlicher Unzuverlässigkeit bewältigt werden kann?
Jean-Louis betrachtete die Seile, die nun lose durch alle Böden hindurch in die Sakristei hinunterhingen, und bereute es, nicht daran gedacht zu haben, ein Messer mitzunehmen. Irgendwann, schwor er sich, an einem großen Tag, würde er, Jean-Louis Sovary, diese Seile durchschneiden wie Nabelschnüre, irgendwann würde er diesem Uhrwerk die vollständige Mündigkeit über das gesamte Glockenspiel der Kirche erteilen, irgendwann würde er diese Mechanik aus den menschlichen Stützen und Hilfen entlassen. Und dies sollte ein besonderer Tag werden, ein Tag der Befreiung und des Fortschritts. Er würde seinen Vater nach Hause führen, den seines Amtes enthobenen Glöckner von Le Locle, und mit ihm auf diese Errungenschaft anstoßen, so wie sein Vater mit Nachbarn und Freunden anzustoßen pflegte zu Weihnachten und zu Ostern, zu Geburts- und Todestagen. Es sollte sein Geschenk werden an den, der ihn großgezogen, an den, der ihm die Chance gegeben haben würde, das zu werden, was er werden wollte, nämlich der größte Uhrmacher des Neuenburger Juras, der Meister, der es geschafft hatte, das Uhrwerk der Kirchenuhr von Le Locle so weit zu verfeinern, dass es keinerlei menschliche Assistenz mehr benötigte. Jean- Louis Sovary hatte alles im Kopf, jede einzelne Bewegung, jedes einzelne Teilchen der Mechanik, und er wusste, dass sein Vater alles unternehmen würde, um ihm dieses Unternehmen zu vereiteln. Er hörte schon seine Rufe unten in der Sakristei, dann die energischen, schnellen Schritte, die aggressiven Fußtritte, die auf die knarrenden Holz- stufen niederknallten. Jean-Louis verkroch sich hinter den Rädern, versteckte sich unter einer Glocke, während sein Vater fluchend und schimpfend die Treppe heraufstapfte.
»Wo steckst du? Verdammt, zeig dich! Hast wieder nur Schwachsinn im Kopf? Das Glockengeläut raubt dir noch den Verstand!«, rief sein Vater und klopfte mit der Faust auf das schwere Eisen der stummen Glocke. Der leise Ton dämpfte den Wutausbruch seines Vaters ein bisschen.
»Komm, Mutter wartet zu Hause, ist doch dein Geburtstag! «
Mildernde Umstände hatte Jean-Louis nicht erwartet. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren. Jean-Louis kroch unter der Glocke hervor und ließ sich, was unvermeidlich war, aber noch nichts heißen musste, einmal mehr heftig am Ohr ziehen. Irgendwann würde sein Vater es ihm ausreißen, irgendwann würde die Haut nachgeben, den Knorpel freilegen, und das Ohr würde bluttriefend in seiner Hand bleiben.
© 2010 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Urs Richle
Urs Richle, geb. 1965 im Toggenburg, lebt mit seiner Familie in Genf. Er studierte Philosophie und Soziologie und veröffentlichte eine Reihe von Romanen, die in mehrere Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet wurden. Neben dem Schreiben arbeitet Urs Richle als Medieningenieur in Forschungsprojekten an der Universität Genf und als Dozent am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel.
Bibliographische Angaben
- Autor: Urs Richle
- 2010, 1, 349 Seiten, Maße: 13,4 x 20,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Knaus
- ISBN-10: 3813503798
- ISBN-13: 9783813503791
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