Das vergessene Pergament
Roman. Originalausgabe
Als zu Beginn des 15. Jahrhunderts die großen Kathedralen, Dome und Münster Europas beginnen einzustürzen, gerät die Bevölkerung in Panik. In diesen Zeiten der Unruhe rettet die schöne Bibliothekarstochter Afra durch einen...
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Produktinformationen zu „Das vergessene Pergament “
Als zu Beginn des 15. Jahrhunderts die großen Kathedralen, Dome und Münster Europas beginnen einzustürzen, gerät die Bevölkerung in Panik. In diesen Zeiten der Unruhe rettet die schöne Bibliothekarstochter Afra durch einen Zufall das Leben des eigenbrötlerischen Dombaumeisters Ulrich von Ensingen. Die beiden verlieben sich ineinander, doch dann stirbt die Frau des Dombaumeisters, und Afra wird der Hexerei angeklagt. In höchster Not erinnert sich Afra an eine geheime Schatulle, die der Vater ihr hinterlassen hat mit den rätselhaften Worten, der Inhalt könne ihr zwar Reichtum bringen, jedoch das ganze Abendland ins Verderben stürzen Ein leeres Pergament lässt die beiden Liebenden zunächst ratlos zurück. Mit Hilfe eines Alchimisten wird ein lateinischer Text sichtbar gemacht, der sich auf das Constitutum Constantini bezieht. Was aber ist das Constitutum Constantini? Erst allmählich begreifen die Liebenden, welch ungeheuer brisantes Dokument sie in den Händen halten. Schon ist die Loge der Abtrünnigen unterwegs, um den Dombaumeister und seine Freundin für immer zum Schweigen zu bringen.
Lese-Probe zu „Das vergessene Pergament “
LeseprobePhilipp Vandenberg
Das vergessene Pergament
Als zu Beginn des 15. Jahrhunderts die großen Kathedralen, Dome und Münster Europas beginnen einzustürzen, gerät die Bevölkerung in Panik.
In diesen Zeiten der Unruhe rettet die schöne Bibliothekarstochter Afra durch einen Zufall das Leben des eigenbrötlerischen Dombaumeisters Ulrich von Ensingen. Die beiden verlieben sich ineinander, doch dann stirbt die Frau des Dombaumeisters, und Afra wird der Hexerei angeklagt. In höchster Not erinnert sich Afra an eine geheime Schatulle, die der Vater ihr hinterlassen hat mit den rätselhaften Worten, der Inhalt könne ihr zwar Reichtum bringen, jedoch das ganze Abendland ins Verderben stürzen ...
Ein leeres Pergament lässt die beiden Liebenden zunächst ratlos zurück. Mit Hilfe eines Alchimisten wird ein lateinischer Text sichtbar gemacht, der sich auf das Constitutum Constantini bezieht. Was aber ist das Constitutum Constantini? Erst allmählich begreifen die Liebenden, welch ungeheuer brisantes Dokument sie in den Händen halten. Schon sind die Schergen des Papstes, die "Loge der Abtrünnigen" unterwegs, um den Dombaumeister und seine Freundin für immer zum Schweigen zu bringen ...
Prolog - Teufelsspuren
Nacht, tiefe Nacht lag über dem Straßburger Münster. Wie der Bug eines gestrandeten Schiffes ragte das Langhaus turmlos in den Himmel. Die Kathedrale war noch immer eine riesige Baustelle. Aus den engen Gassen drang vereinzelt Hundegebell zum Domplatz vor. Selbst der Gestank der Stadt, der während des Tages über den weiten Platz wehte, schien eingeschlafen. Das war die Stunde der Ratten. Fette struppige Tiere krochen hungrig aus ihren Schlupflöchern und huschten durch die Abfälle, die überall reichlich herumlagen. Längst hatten sie zum Inneren des Domes Zugang gefunden durch einen Brunnenschacht im Gebäude. Doch dort, wo die Menschen seelische Labsal suchten, gab es keine Rattenbeute.
Eine halbe Stunde nach Mitternacht versetzte ein mahlendes Geräusch
... mehr
die Domratten in Unruhe. So schnell es ihre fetten Leiber zuließen, verschwanden sie in ihren Verstecken. Nur hier und da ragte ein kahler Schwanz hervor. Das Geräusch kam näher, wurde lauter. Es hörte sich an, als riebe Stein auf Stein. Dann erneutes Schaben, Kratzen, Scharren - es war, als arbeitete sich der Teufel mit spitzen Krallen an den Wänden hoch. Dann wieder Stille. Man hätte Sand hören können, der zu Boden rieselt.
Plötzlich, als rollte ein gewaltiges Gewitter heran, schien es, als rumpelte ein Wagen durch den dunklen Chorraum der Kathedrale, dann hörte man das Krachen und Bersten zerspringenden Sandsteins. Wie bei einem Erdbeben erzitterten die fein gegliederten Pfeiler. Eine riesige Staubwolke drang bis in die entlegensten Winkel vor. Wieder wurde es still, und bald schon krochen die Ratten aus ihren Löchern hervor.
Eine Stunde mochte vergangen sein, als das Mahlen und Kratzen erneut einsetzte, so als ob ein unsichtbarer Steinmetz sich am Dombau zu schaffen machte. Oder versuchte Luzifer den Dom mit einer riesigen Brechstange zum Einsturz zu bringen? Man konnte geradezu fühlen, wie das Mauerwerk in Bewegung geriet. Stundenlang ging es so, bis im Osten das erste Grau des Morgens heraufzog. Noch hatte keiner von den Straßburger Bürgern, deren ganzer Stolz die Kathedrale war, bemerkt, was in dieser Nacht passiert war.
Am frühen Morgen machte sich der Küster auf den Weg zum Dom. Das Hauptportal war verschlossen, so wie er es am Vorabend zurückgelassen hatte. Er rieb sich die Augen, als er das Langhaus des Münsters betrat. Inmitten des Kirchenschiffs, dort wo sich Langhaus und Querschiff kreuzten, lagen Gesteinsbrocken herum, Teile eines geborstenen Quaders, der sich aus dem Gewölbe gelöst hatte.
Beim Näherkommen entdeckte der Küster linker Hand einen Pfeiler, der zur Hälfte in der Luft hing, weil ihm der Sockel abhanden gekommen war. Gesteinsreste lagen im Umkreis verstreut wie übel riechendes Futter, das von einem gefräßigen Ungeheuer zurückgelassen worden war. Fassungslos betrachtete der Küster das Bild der Zerstörung, unfähig, sich von der Stelle zu bewegen. Schließlich stürzte er schreiend und wie von Furien gejagt aus der Kathedrale und rannte, so schnell ihn seine alten Beine trugen, hinüber zur Dombauhütte, um zu berichten, was er mit eigenen Augen gesehen hatte.
Der Dombaumeister, ein Künstler seines Fachs und über die Grenzen des Landes berühmt für sein Können und die Exaktheit seiner Berechnungen, brachte kein Wort hervor, als er sah, was sich in der Nacht ereignet hatte. Von Natur aus eher den Erkenntnissen der Wissenschaft zugetan, der Physik und Arithmetik, stand er jedem Wunderglauben ablehnend gegenüber. Aber an diesem Morgen kamen ihm ernsthafte Zweifel. Nur ein Wunder war in der Lage, die Kathedrale zum Einsturz zu bringen. Und wenn er den sorgfältig herausgetrennten Schlussstein des Gewölbes betrachtete, dann kam dies einem Wunder gleich, einem teuflischen Wunder allerdings.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, zuerst in der Stadt, schon bald aber im ganzen Land, der Teufel wolle die Kathedrale von Straßburg zum Einsturz bringen, weil sie, ein Menschenwerk, dem Himmel näher komme, als dem Leibhaftigen lieb sein konnte. Und bald darauf meldeten sich die ersten Augenzeugen, die in der fraglichen Nacht dem Teufel von Angesicht zu Angesicht begegnet sein wollten. Unter ihnen der Landvermesser, ein gottesfürchtiger Mann, wenngleich kein Frömmler. Er behauptete öffentlich, er habe des Nachts eine hinkende Gestalt beobachtet mit einem Pferdefuß, die mehrmals mit großen Sprüngen die Kathedrale umrundete.
Seither wagte sich keiner von den Straßburger Bürgern mehr in die stolze Kathedrale, bis Bischof Wilhelm erschien und mit einem Wedel aus feinstem Dachshaar geweihtes Wasser verspritzte im Namen des Allerhöchsten.
Noch während sich die Nachricht rheinabwärts verbreitete, während Maurer, Steinschneider und Steinmetze forschten, ob die Auflösungserscheinungen ihres Domes nicht eine natürliche Ursache haben könnten, geschah auch andernorts das Unfassbare. In Köln, wo Meister Arnold einen Dom errichten wollte nach dem Vorbild der Kathedrale von Amiens, gerieten des Nachts die steinernen Pfeilerfiguren Mariens und Petri, des Apostels, denen der halb fertige Dom geweiht war, in Bewegung. Ächzend, als litten sie unter ihrer eigenen Last, lösten sie sich von ihrem Sockel, drehten sich wie im Tanz um die eigene Achse und stürzten kopfüber in die Tiefe - nicht gleichzeitig wie durch ein Erdbeben verursacht, sondern als hätten sie sich abgesprochen eine nach der anderen in einer einzigen Nacht.
Den Steinmetzen, die nach einer stürmischen Nacht als Erste den Dom betraten, bot sich ein geisterhaftes Bild. Arme, Beine und Köpfe mit jenem Lächeln, das sie unter Anstrengung dem harten Stein abgerungen hatten, lagen am Boden verstreut wie billige Innereien, die auf dem nahen Markt feilgeboten wurden. Obwohl sie bekannt waren für die Härte ihres Charakters, begannen die Männer zu weinen in hilfloser Wut. Andere blickten ängstlich, ob nicht der Satan persönlich hinter einem der Pfeiler hervorträte, mit hämischem Grinsen im Gesicht und krächzender Stimme.
Bei näherem Hinsehen entdeckten die Steinmetze Goldmünzen im Schutt, ein kleines Vermögen wert und für viele der Hinweis, dass der Teufel stets mit barer Münze bezahle. Verächtlich und angewidert blickten die Männer auf das leuchtende Münzgold, und kaum einer wagte sich näher als zehn Fuß an das Teufelsgeld heran.
Endlich traf der Bischof, halb bekleidet und unordentlich, als habe er sich gerade erst aus den Armen einer Konkubine gelöst, am Schauplatz ein. Leise Gebete murmelnd - oder waren es gar Flüche? -, drängte er die Gaffer beiseite und besah sich den Schaden. Als er die Goldstücke erblickte, begann er die Münzen aufzuklauben. Eine nach der anderen verschwand in der Tasche seines Chorrocks. Bedenken der Steinmetze, es handle sich um Teufelsgeld, wischte er mit einer unwilligen Handbewegung beiseite und der Bemerkung, Geld sei Geld, im Übrigen habe nicht der Teufel, sondern er selbst vor Jahr und Tag die Goldmünzen unter dem Sockel des heiligen Petrus einmauern lassen, als Zeugnis für die Nachwelt.
Natürlich glaubte ihm niemand. Denn der Bischof war bekannt für seine Geldgier, und es hätte niemanden erstaunt, wenn er selbst vom Teufel Geld genommen hätte.
Drei Tage später kehrten Kaufleute an den Rhein zurück mit der Nachricht, in Regensburg, wo der Dombau weiter fortgeschritten sei als anderswo, habe der Teufel ebenfalls Einzug gehalten. Die Stadt quelle über von Gerüchten. Angeblich machten die Bürger inzwischen einen großen Bogen um die im Herzen Regensburgs gelegene Kathedrale. Sie fürchteten sogar, am helllichten Tag dem Leibhaftigen zu begegnen. Ja es gab Bürger, die wagten nicht mehr zu atmen, weil sie den pestilenten Gestank, der seit Wochen durch die engen Gassen wehte, für den Atem des Teufels hielten, der, würde er in ihr Innerstes dringen, die Seele zerfräße wie eine beißende Alchimistenlauge.
Auf diese Weise verlor ein Dutzend Regensburger Bürger sein Leben, allesamt gottesfürchtig und im Stand der Sakramente, darunter vier Nonnen des Damenstifts Niedermünster, nur einen Steinwurf von der Kathedrale entfernt, weil sie lieber erstickten als einzuatmen, was Luzifer bereits in seine Lungen aufgesogen hatte.
Im Stift Niedermünster hielten die Nonnen seither eine immerwährende Vigil, ein Chorgebet ohne Unterlass, Tag und Nacht, in der Hoffnung, dadurch den Teufelsatem aus der Stadt zu vertreiben. Dabei verbrannten sie Weihrauch in einem durchlöcherten Kessel, der vom Deckengewölbe ihrer Kirche hing und mit weit ausladenden Schwüngen in pendelnder Bewegung gehalten wurde. Die Rauchentwicklung des zentnerschweren Geräts war so stark, dass sie den frommen Frauen die Sicht nahm und sie hinderte, die Gebete in ihren Stundenbüchern zu lesen. Einigen raubte der auf diese Weise gereinigte Teufelsatem die Sinne. Sie verloren die Orientierung und irrten ziellos auf den Straßen umher. Andere brachen bewusstlos zusammen, für viele der Beweis, dass der Teufel auch im Niedermünster Einzug gehalten hatte.
Auslöser dieser Hysterie, die auch vor gesetzten Bürgern nicht Halt machte, waren wundersame Vorfälle im Dom, deren Wahrheitsgehalt den Chronisten jedoch in Bedrängnis bringt, weil die Wahrheit sich bekanntlich mit zunehmender Entfernung verflüchtigt.
So wollte ein Pelzhändler aus Köln mit eigenen Augen gesehen haben, wie der Südturm des Domes zu Regensburg in einer einzigen Nacht um ein ganzes Stockwerk zusammensank. Ein Wanderschausteller bezeugte beim Leben seiner greisen Mutter, das Westportal der Kathedrale sei, obwohl aus Stein errichtet wie alle Domportale, zusammengeschmolzen, als wäre es aus Wachs. Tatsache war, dass eines Morgens ein Sockelstein des Portals fehlte, und er tauchte auch nie wieder auf. Tatsache war auch das Verschwinden des Schlusssteins im Gewölbe des Langhauses. Der fehlende Stein wäre durchaus in der Lage gewesen, den Dom zum Einsturz zu bringen. Nur die hohe Kunst der Dombaumeister jener Tage und ihr schnelles Eingreifen verhinderten, dass dies geschah.
Die Gerüchte überschlugen sich, als von den Kathedralen in Mainz und Prag, von der Marienkirche in Danzig und der Frauenkirche in Nürnberg ähnliche Vorfälle gemeldet wurden. Sogar in Reims und Chartres gerieten Säulen und Pfeiler der großen Dome ins Wanken, stürzten Kapitelle und Galerien zu Boden, nachdem sie von unsichtbarer Hand aus dem Mauerwerk gelöst worden waren. Aus Burgos und Toledo, Salisbury und Canterbury wussten Reisende zu berichten, Menschen seien in den Kathedralen von berstenden Gesteinsmassen begraben worden.
Das war die große Zeit der Bußprediger, die winselnd und klagend durch die Lande zogen und dem Volk mit aufgehaltener Hand das irdische Jammertal vor Augen führten. Die Geißel der Hoffart habe sich zu jener der Wollust gesellt, und fraglos habe der Teufel seine scheußliche Pratze im Spiel. Gott der Herr lasse ihn nur deshalb gewähren, damit der Hochmut der Menschen zum Erliegen komme. Die geheimnisvollen Vorgänge seien der Beweis für den Unwillen des Allerhöchsten, der dem Pomp und Luxus der großen Dome abgeneigt sei. Ein Trugschluss sei es, zu glauben, die Kathedralen des Abendlandes seien für die Ewigkeit gebaut. Bewiesen nicht die Vorkommnisse der letzten Zeit das Gegenteil? Und konnte nicht jeden Tag, jede Stunde eine der großen Kathedralen, an die Luzifer gepisst hatte, einstürzen?
Mit ihren flammenden Reden verschonten die Bußprediger weder Volk noch Geistlichkeit, nicht einmal die Bischöfe kamen ungeschoren davon. Der Bußprediger Gelasius wetterte im Schatten des Kölner Domes gegen das verantwortungslose, gottlose Volk, dem nur an Macht und Reichtum gelegen sei. Bürgerfrauen wurden verteufelt, weil sie Kleider mit Schleppen trugen wie einen Pfauenschweif. Bedurften Frauen solcher Schwänze, so hätte Gott sie längst mit derartigen Auswüchsen versehen. Nein, nicht einmal die hohe Geistlichkeit sei ausgenommen von derlei Torheiten, wenn sie gelbe, grüne und rote Schuhe trüge, an jedem Fuß eine andere Farbe.
Wenn Mönche und gemeine Pfaffen, von Bischöfen ganz zu schweigen, ihre Gelüste mit fahrenden Frauen befriedigten, ohne daraus ein Geheimnis zu machen, dann stünden sie eher mit dem Teufel im Bunde als mit dem Allerhöchsten. Jeder wisse, dass der Bischof lieber die Brüste seiner Konkubine segne als den Leib unseres Herrn. Und wenn drei Päpste sich den Platz streitig machten um den Ersten auf Erden und jeder den anderen mit dem Kirchenbann belege, als wäre er ein Ketzer, dann sei das Jüngste Gericht nicht mehr fern, und niemand dürfe sich wundern, wenn der Teufel sich der Gotteshäuser bemächtige.
Wimmernd und greinend schlichen die Zuhörer davon. Und während die einen bange Blicke zur Giebelspitze des Domes warfen, krochen andere wie Tiere auf allen vieren und schluchzten wie Kinder, denen der Vater mit furchtbarer Strafe gedroht hat. Vornehme Männer rissen sich ihre samtenen Kappen vom Kopf und zertrampelten den Federschmuck. Frauen entledigten sich noch auf der Straße ihrer zuchtlosen Kleider, welche die Brüste zeigten, unverhüllt und wie gewachsen, und Ärmelstulpen, die beinahe bis auf die Erde reichten. Pöbel und Bettler, die das alles nichts anging, weil die Bibel ihnen ohnehin das Himmelreich versprach, stritten sich um die Gewänder und zerrissen die kostbare Kleidung, damit jeder einen Fetzen davontragen konnte.
In der Stadt herrschte Aufruhr, und die reichen Bürger verrammelten die Türen und stellten Wachen auf wie in Zeiten von Pest und Cholera. Sogar hinter verschlossenen Türen war man bemüht, das Husten und Niesen zu unterdrücken, galt es doch als Zeichen des Teufels, der aus dem Körper herausfuhr. Bei Nacht waren die Schritte der Stadtknechte zu hören, die mit baumhohen Lanzen bewaffnet durch die Gassen marschierten. Und was sonst nur am Karfreitag vor der Auferstehung des Herrn geschah: Die Badehäuser, Horte sündhaften Treibens, blieben leer.
Am nächsten Morgen erwachten die Bürger von Köln mit bitterem Geschmack im Mund. Den konnte nur der Teufel hinterlassen haben. Später als gewöhnlich verließen die meisten ihre Häuser. Über dem Dom kreisten große schwarze Vögel. Ihr Krächzen glich an diesem Morgen eher dem hilflosen Geschrei kleiner Kinder. Die aufgehende Sonne tauchte das Hauptportal der Kathedrale in helles Licht. Die Seiten des Bauwerks lagen im Schatten und wirkten düster und bedrohlich, anders als an anderen Tagen. Sogar die Steinmetze, die längst ihre Arbeit aufgenommen hatten und denen Wind und Wetter nichts ausmachten, fröstelten aus nicht ersichtlichem Grund.
Ein Steinmetz war es auch, dem der heruntergekommene Mann auf den Stufen des Domportals auffiel. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, dämmerte er vor sich hin. Das war keine Besonderheit. Fremde und Handwerker auf der Wanderschaft verbrachten häufig die Nacht auf den Domstufen. Aber nach einer Nacht wie dieser, wo Misstrauen die Blicke lenkte, erregte jeder Fremde besonderes Interesse. Sein langes Gewand war zerschlissen und ähnelte jener schwarzen Kutte des Bußpredigers, der die Stadt am Vorabend in Endzeitstimmung versetzt hatte. Und tatsächlich, im Näherkommen erkannte der Steinmetz Bruder Gelasius, der den Kölnern tags zuvor das Jüngste Gericht angekündigt hatte. Die Hände des Bußpredigers zitterten. Sein Blick war starr auf den Boden gerichtet.
Der Frage des Steinmetzen, ob er wirklich Gelasius sei, der Bußprediger, begegnete dieser mit einem stummen Kopfnicken, jedoch ohne aufzublicken. Der Steinmetz wollte schon gehen und sich seiner Arbeit zuwenden, als der Bußprediger unerwartet den Mund öffnete. Aber statt Worten quoll ein Schwall schwarzes Blut hervor und überflutete wie ein Sturzbach sein zerschlissenes Gewand.
Zu Tode erschrocken wich der Steinmetz zurück, er wusste nicht, was er tun sollte, und blickte Hilfe suchend um sich. Aber da war niemand, der ihm zu Hilfe eilte. Mit dem Zeigefinger deutete Gelasius auf seinen geöffneten Mund und gab gurgelnde, lallende Laute von sich wie ein Blöder aus dem Siechenhaus. Jetzt erst begriff der Steinmetz, ja er konnte es deutlich sehen: Man hatte dem Bußprediger die Zunge herausgeschnitten.
Der Steinmetz sah Gelasius fragend an. Wer hatte den Bußprediger auf so grausame Weise mundtot gemacht?
Gelasius krümmte seine blutverschmierten zitternden Zeigefinger und legte sie links und rechts an die Stirne. Und damit er sicher sein konnte, dass ihn der Steinmetz verstand, legte er seine Rechte an seinen Hintern und deutete eine Bewegung an, als wollte er einen langen Schwanz beschreiben.
Dann hob er seinen Blick ein letztes Mal, und in seinen Augen stand das Grauen.
Der Steinmetz bekreuzigte sich und stürzte in Panik davon. Wie hätte er auch ahnen können, dass es für das Unheil, das über die Städte eingebrochen war und die Menschen in Angst und Schrecken versetzte, eine durchaus natürliche Erklärung gab, die ihren Ursprung in einer verschlossenen Schatulle hatte, die - der Büchse einer Pandora gleich -, einmal geöffnet, das ganze Land in Aufruhr versetzen sollte. Enthielt sie doch ein Stück Papier, für das viele zu morden bereit gewesen wären. Im Namen des Herrn oder ohne ihn.
Hätte der Steinmetz gewusst, was zwölf Jahre zuvor, Anno Domini 1400, geschehen war, hätte er begriffen. Doch so begriff er nichts. Keiner konnte all das begreifen. Und die Angst ist ein schlechter Ratgeber.
(Seite 7-17)
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Plötzlich, als rollte ein gewaltiges Gewitter heran, schien es, als rumpelte ein Wagen durch den dunklen Chorraum der Kathedrale, dann hörte man das Krachen und Bersten zerspringenden Sandsteins. Wie bei einem Erdbeben erzitterten die fein gegliederten Pfeiler. Eine riesige Staubwolke drang bis in die entlegensten Winkel vor. Wieder wurde es still, und bald schon krochen die Ratten aus ihren Löchern hervor.
Eine Stunde mochte vergangen sein, als das Mahlen und Kratzen erneut einsetzte, so als ob ein unsichtbarer Steinmetz sich am Dombau zu schaffen machte. Oder versuchte Luzifer den Dom mit einer riesigen Brechstange zum Einsturz zu bringen? Man konnte geradezu fühlen, wie das Mauerwerk in Bewegung geriet. Stundenlang ging es so, bis im Osten das erste Grau des Morgens heraufzog. Noch hatte keiner von den Straßburger Bürgern, deren ganzer Stolz die Kathedrale war, bemerkt, was in dieser Nacht passiert war.
Am frühen Morgen machte sich der Küster auf den Weg zum Dom. Das Hauptportal war verschlossen, so wie er es am Vorabend zurückgelassen hatte. Er rieb sich die Augen, als er das Langhaus des Münsters betrat. Inmitten des Kirchenschiffs, dort wo sich Langhaus und Querschiff kreuzten, lagen Gesteinsbrocken herum, Teile eines geborstenen Quaders, der sich aus dem Gewölbe gelöst hatte.
Beim Näherkommen entdeckte der Küster linker Hand einen Pfeiler, der zur Hälfte in der Luft hing, weil ihm der Sockel abhanden gekommen war. Gesteinsreste lagen im Umkreis verstreut wie übel riechendes Futter, das von einem gefräßigen Ungeheuer zurückgelassen worden war. Fassungslos betrachtete der Küster das Bild der Zerstörung, unfähig, sich von der Stelle zu bewegen. Schließlich stürzte er schreiend und wie von Furien gejagt aus der Kathedrale und rannte, so schnell ihn seine alten Beine trugen, hinüber zur Dombauhütte, um zu berichten, was er mit eigenen Augen gesehen hatte.
Der Dombaumeister, ein Künstler seines Fachs und über die Grenzen des Landes berühmt für sein Können und die Exaktheit seiner Berechnungen, brachte kein Wort hervor, als er sah, was sich in der Nacht ereignet hatte. Von Natur aus eher den Erkenntnissen der Wissenschaft zugetan, der Physik und Arithmetik, stand er jedem Wunderglauben ablehnend gegenüber. Aber an diesem Morgen kamen ihm ernsthafte Zweifel. Nur ein Wunder war in der Lage, die Kathedrale zum Einsturz zu bringen. Und wenn er den sorgfältig herausgetrennten Schlussstein des Gewölbes betrachtete, dann kam dies einem Wunder gleich, einem teuflischen Wunder allerdings.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, zuerst in der Stadt, schon bald aber im ganzen Land, der Teufel wolle die Kathedrale von Straßburg zum Einsturz bringen, weil sie, ein Menschenwerk, dem Himmel näher komme, als dem Leibhaftigen lieb sein konnte. Und bald darauf meldeten sich die ersten Augenzeugen, die in der fraglichen Nacht dem Teufel von Angesicht zu Angesicht begegnet sein wollten. Unter ihnen der Landvermesser, ein gottesfürchtiger Mann, wenngleich kein Frömmler. Er behauptete öffentlich, er habe des Nachts eine hinkende Gestalt beobachtet mit einem Pferdefuß, die mehrmals mit großen Sprüngen die Kathedrale umrundete.
Seither wagte sich keiner von den Straßburger Bürgern mehr in die stolze Kathedrale, bis Bischof Wilhelm erschien und mit einem Wedel aus feinstem Dachshaar geweihtes Wasser verspritzte im Namen des Allerhöchsten.
Noch während sich die Nachricht rheinabwärts verbreitete, während Maurer, Steinschneider und Steinmetze forschten, ob die Auflösungserscheinungen ihres Domes nicht eine natürliche Ursache haben könnten, geschah auch andernorts das Unfassbare. In Köln, wo Meister Arnold einen Dom errichten wollte nach dem Vorbild der Kathedrale von Amiens, gerieten des Nachts die steinernen Pfeilerfiguren Mariens und Petri, des Apostels, denen der halb fertige Dom geweiht war, in Bewegung. Ächzend, als litten sie unter ihrer eigenen Last, lösten sie sich von ihrem Sockel, drehten sich wie im Tanz um die eigene Achse und stürzten kopfüber in die Tiefe - nicht gleichzeitig wie durch ein Erdbeben verursacht, sondern als hätten sie sich abgesprochen eine nach der anderen in einer einzigen Nacht.
Den Steinmetzen, die nach einer stürmischen Nacht als Erste den Dom betraten, bot sich ein geisterhaftes Bild. Arme, Beine und Köpfe mit jenem Lächeln, das sie unter Anstrengung dem harten Stein abgerungen hatten, lagen am Boden verstreut wie billige Innereien, die auf dem nahen Markt feilgeboten wurden. Obwohl sie bekannt waren für die Härte ihres Charakters, begannen die Männer zu weinen in hilfloser Wut. Andere blickten ängstlich, ob nicht der Satan persönlich hinter einem der Pfeiler hervorträte, mit hämischem Grinsen im Gesicht und krächzender Stimme.
Bei näherem Hinsehen entdeckten die Steinmetze Goldmünzen im Schutt, ein kleines Vermögen wert und für viele der Hinweis, dass der Teufel stets mit barer Münze bezahle. Verächtlich und angewidert blickten die Männer auf das leuchtende Münzgold, und kaum einer wagte sich näher als zehn Fuß an das Teufelsgeld heran.
Endlich traf der Bischof, halb bekleidet und unordentlich, als habe er sich gerade erst aus den Armen einer Konkubine gelöst, am Schauplatz ein. Leise Gebete murmelnd - oder waren es gar Flüche? -, drängte er die Gaffer beiseite und besah sich den Schaden. Als er die Goldstücke erblickte, begann er die Münzen aufzuklauben. Eine nach der anderen verschwand in der Tasche seines Chorrocks. Bedenken der Steinmetze, es handle sich um Teufelsgeld, wischte er mit einer unwilligen Handbewegung beiseite und der Bemerkung, Geld sei Geld, im Übrigen habe nicht der Teufel, sondern er selbst vor Jahr und Tag die Goldmünzen unter dem Sockel des heiligen Petrus einmauern lassen, als Zeugnis für die Nachwelt.
Natürlich glaubte ihm niemand. Denn der Bischof war bekannt für seine Geldgier, und es hätte niemanden erstaunt, wenn er selbst vom Teufel Geld genommen hätte.
Drei Tage später kehrten Kaufleute an den Rhein zurück mit der Nachricht, in Regensburg, wo der Dombau weiter fortgeschritten sei als anderswo, habe der Teufel ebenfalls Einzug gehalten. Die Stadt quelle über von Gerüchten. Angeblich machten die Bürger inzwischen einen großen Bogen um die im Herzen Regensburgs gelegene Kathedrale. Sie fürchteten sogar, am helllichten Tag dem Leibhaftigen zu begegnen. Ja es gab Bürger, die wagten nicht mehr zu atmen, weil sie den pestilenten Gestank, der seit Wochen durch die engen Gassen wehte, für den Atem des Teufels hielten, der, würde er in ihr Innerstes dringen, die Seele zerfräße wie eine beißende Alchimistenlauge.
Auf diese Weise verlor ein Dutzend Regensburger Bürger sein Leben, allesamt gottesfürchtig und im Stand der Sakramente, darunter vier Nonnen des Damenstifts Niedermünster, nur einen Steinwurf von der Kathedrale entfernt, weil sie lieber erstickten als einzuatmen, was Luzifer bereits in seine Lungen aufgesogen hatte.
Im Stift Niedermünster hielten die Nonnen seither eine immerwährende Vigil, ein Chorgebet ohne Unterlass, Tag und Nacht, in der Hoffnung, dadurch den Teufelsatem aus der Stadt zu vertreiben. Dabei verbrannten sie Weihrauch in einem durchlöcherten Kessel, der vom Deckengewölbe ihrer Kirche hing und mit weit ausladenden Schwüngen in pendelnder Bewegung gehalten wurde. Die Rauchentwicklung des zentnerschweren Geräts war so stark, dass sie den frommen Frauen die Sicht nahm und sie hinderte, die Gebete in ihren Stundenbüchern zu lesen. Einigen raubte der auf diese Weise gereinigte Teufelsatem die Sinne. Sie verloren die Orientierung und irrten ziellos auf den Straßen umher. Andere brachen bewusstlos zusammen, für viele der Beweis, dass der Teufel auch im Niedermünster Einzug gehalten hatte.
Auslöser dieser Hysterie, die auch vor gesetzten Bürgern nicht Halt machte, waren wundersame Vorfälle im Dom, deren Wahrheitsgehalt den Chronisten jedoch in Bedrängnis bringt, weil die Wahrheit sich bekanntlich mit zunehmender Entfernung verflüchtigt.
So wollte ein Pelzhändler aus Köln mit eigenen Augen gesehen haben, wie der Südturm des Domes zu Regensburg in einer einzigen Nacht um ein ganzes Stockwerk zusammensank. Ein Wanderschausteller bezeugte beim Leben seiner greisen Mutter, das Westportal der Kathedrale sei, obwohl aus Stein errichtet wie alle Domportale, zusammengeschmolzen, als wäre es aus Wachs. Tatsache war, dass eines Morgens ein Sockelstein des Portals fehlte, und er tauchte auch nie wieder auf. Tatsache war auch das Verschwinden des Schlusssteins im Gewölbe des Langhauses. Der fehlende Stein wäre durchaus in der Lage gewesen, den Dom zum Einsturz zu bringen. Nur die hohe Kunst der Dombaumeister jener Tage und ihr schnelles Eingreifen verhinderten, dass dies geschah.
Die Gerüchte überschlugen sich, als von den Kathedralen in Mainz und Prag, von der Marienkirche in Danzig und der Frauenkirche in Nürnberg ähnliche Vorfälle gemeldet wurden. Sogar in Reims und Chartres gerieten Säulen und Pfeiler der großen Dome ins Wanken, stürzten Kapitelle und Galerien zu Boden, nachdem sie von unsichtbarer Hand aus dem Mauerwerk gelöst worden waren. Aus Burgos und Toledo, Salisbury und Canterbury wussten Reisende zu berichten, Menschen seien in den Kathedralen von berstenden Gesteinsmassen begraben worden.
Das war die große Zeit der Bußprediger, die winselnd und klagend durch die Lande zogen und dem Volk mit aufgehaltener Hand das irdische Jammertal vor Augen führten. Die Geißel der Hoffart habe sich zu jener der Wollust gesellt, und fraglos habe der Teufel seine scheußliche Pratze im Spiel. Gott der Herr lasse ihn nur deshalb gewähren, damit der Hochmut der Menschen zum Erliegen komme. Die geheimnisvollen Vorgänge seien der Beweis für den Unwillen des Allerhöchsten, der dem Pomp und Luxus der großen Dome abgeneigt sei. Ein Trugschluss sei es, zu glauben, die Kathedralen des Abendlandes seien für die Ewigkeit gebaut. Bewiesen nicht die Vorkommnisse der letzten Zeit das Gegenteil? Und konnte nicht jeden Tag, jede Stunde eine der großen Kathedralen, an die Luzifer gepisst hatte, einstürzen?
Mit ihren flammenden Reden verschonten die Bußprediger weder Volk noch Geistlichkeit, nicht einmal die Bischöfe kamen ungeschoren davon. Der Bußprediger Gelasius wetterte im Schatten des Kölner Domes gegen das verantwortungslose, gottlose Volk, dem nur an Macht und Reichtum gelegen sei. Bürgerfrauen wurden verteufelt, weil sie Kleider mit Schleppen trugen wie einen Pfauenschweif. Bedurften Frauen solcher Schwänze, so hätte Gott sie längst mit derartigen Auswüchsen versehen. Nein, nicht einmal die hohe Geistlichkeit sei ausgenommen von derlei Torheiten, wenn sie gelbe, grüne und rote Schuhe trüge, an jedem Fuß eine andere Farbe.
Wenn Mönche und gemeine Pfaffen, von Bischöfen ganz zu schweigen, ihre Gelüste mit fahrenden Frauen befriedigten, ohne daraus ein Geheimnis zu machen, dann stünden sie eher mit dem Teufel im Bunde als mit dem Allerhöchsten. Jeder wisse, dass der Bischof lieber die Brüste seiner Konkubine segne als den Leib unseres Herrn. Und wenn drei Päpste sich den Platz streitig machten um den Ersten auf Erden und jeder den anderen mit dem Kirchenbann belege, als wäre er ein Ketzer, dann sei das Jüngste Gericht nicht mehr fern, und niemand dürfe sich wundern, wenn der Teufel sich der Gotteshäuser bemächtige.
Wimmernd und greinend schlichen die Zuhörer davon. Und während die einen bange Blicke zur Giebelspitze des Domes warfen, krochen andere wie Tiere auf allen vieren und schluchzten wie Kinder, denen der Vater mit furchtbarer Strafe gedroht hat. Vornehme Männer rissen sich ihre samtenen Kappen vom Kopf und zertrampelten den Federschmuck. Frauen entledigten sich noch auf der Straße ihrer zuchtlosen Kleider, welche die Brüste zeigten, unverhüllt und wie gewachsen, und Ärmelstulpen, die beinahe bis auf die Erde reichten. Pöbel und Bettler, die das alles nichts anging, weil die Bibel ihnen ohnehin das Himmelreich versprach, stritten sich um die Gewänder und zerrissen die kostbare Kleidung, damit jeder einen Fetzen davontragen konnte.
In der Stadt herrschte Aufruhr, und die reichen Bürger verrammelten die Türen und stellten Wachen auf wie in Zeiten von Pest und Cholera. Sogar hinter verschlossenen Türen war man bemüht, das Husten und Niesen zu unterdrücken, galt es doch als Zeichen des Teufels, der aus dem Körper herausfuhr. Bei Nacht waren die Schritte der Stadtknechte zu hören, die mit baumhohen Lanzen bewaffnet durch die Gassen marschierten. Und was sonst nur am Karfreitag vor der Auferstehung des Herrn geschah: Die Badehäuser, Horte sündhaften Treibens, blieben leer.
Am nächsten Morgen erwachten die Bürger von Köln mit bitterem Geschmack im Mund. Den konnte nur der Teufel hinterlassen haben. Später als gewöhnlich verließen die meisten ihre Häuser. Über dem Dom kreisten große schwarze Vögel. Ihr Krächzen glich an diesem Morgen eher dem hilflosen Geschrei kleiner Kinder. Die aufgehende Sonne tauchte das Hauptportal der Kathedrale in helles Licht. Die Seiten des Bauwerks lagen im Schatten und wirkten düster und bedrohlich, anders als an anderen Tagen. Sogar die Steinmetze, die längst ihre Arbeit aufgenommen hatten und denen Wind und Wetter nichts ausmachten, fröstelten aus nicht ersichtlichem Grund.
Ein Steinmetz war es auch, dem der heruntergekommene Mann auf den Stufen des Domportals auffiel. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, dämmerte er vor sich hin. Das war keine Besonderheit. Fremde und Handwerker auf der Wanderschaft verbrachten häufig die Nacht auf den Domstufen. Aber nach einer Nacht wie dieser, wo Misstrauen die Blicke lenkte, erregte jeder Fremde besonderes Interesse. Sein langes Gewand war zerschlissen und ähnelte jener schwarzen Kutte des Bußpredigers, der die Stadt am Vorabend in Endzeitstimmung versetzt hatte. Und tatsächlich, im Näherkommen erkannte der Steinmetz Bruder Gelasius, der den Kölnern tags zuvor das Jüngste Gericht angekündigt hatte. Die Hände des Bußpredigers zitterten. Sein Blick war starr auf den Boden gerichtet.
Der Frage des Steinmetzen, ob er wirklich Gelasius sei, der Bußprediger, begegnete dieser mit einem stummen Kopfnicken, jedoch ohne aufzublicken. Der Steinmetz wollte schon gehen und sich seiner Arbeit zuwenden, als der Bußprediger unerwartet den Mund öffnete. Aber statt Worten quoll ein Schwall schwarzes Blut hervor und überflutete wie ein Sturzbach sein zerschlissenes Gewand.
Zu Tode erschrocken wich der Steinmetz zurück, er wusste nicht, was er tun sollte, und blickte Hilfe suchend um sich. Aber da war niemand, der ihm zu Hilfe eilte. Mit dem Zeigefinger deutete Gelasius auf seinen geöffneten Mund und gab gurgelnde, lallende Laute von sich wie ein Blöder aus dem Siechenhaus. Jetzt erst begriff der Steinmetz, ja er konnte es deutlich sehen: Man hatte dem Bußprediger die Zunge herausgeschnitten.
Der Steinmetz sah Gelasius fragend an. Wer hatte den Bußprediger auf so grausame Weise mundtot gemacht?
Gelasius krümmte seine blutverschmierten zitternden Zeigefinger und legte sie links und rechts an die Stirne. Und damit er sicher sein konnte, dass ihn der Steinmetz verstand, legte er seine Rechte an seinen Hintern und deutete eine Bewegung an, als wollte er einen langen Schwanz beschreiben.
Dann hob er seinen Blick ein letztes Mal, und in seinen Augen stand das Grauen.
Der Steinmetz bekreuzigte sich und stürzte in Panik davon. Wie hätte er auch ahnen können, dass es für das Unheil, das über die Städte eingebrochen war und die Menschen in Angst und Schrecken versetzte, eine durchaus natürliche Erklärung gab, die ihren Ursprung in einer verschlossenen Schatulle hatte, die - der Büchse einer Pandora gleich -, einmal geöffnet, das ganze Land in Aufruhr versetzen sollte. Enthielt sie doch ein Stück Papier, für das viele zu morden bereit gewesen wären. Im Namen des Herrn oder ohne ihn.
Hätte der Steinmetz gewusst, was zwölf Jahre zuvor, Anno Domini 1400, geschehen war, hätte er begriffen. Doch so begriff er nichts. Keiner konnte all das begreifen. Und die Angst ist ein schlechter Ratgeber.
(Seite 7-17)
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Autoren-Porträt von Philipp Vandenberg
Philipp Vandenberg, geb. 1941 in Breslau, landete gleich mit seinem ersten Buch einen Erfolg: 'Der Fluch der Pharaonen' (1973) wurde ein Weltbestseller. Es folgten zahlreiche spannende Sachbücher und Thriller, die oft einen archäologischen Hintergrund haben. Vandenbergs Bücher wurden bisher in 31 Sprachen übersetzt, darunter, neben allen Weltsprachen, ins Türkische, Bulgarische, Mazedonische und Rumänische. Der Autor lebt abwechselnd in Baiernrain und im Folterturm von Deutschlands längster Burganlage in Burghausen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Philipp Vandenberg
- 2006, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785722249
- ISBN-13: 9783785722244
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