Der Absturz

in eine Prestige- und eine Billig-Airline aufspaltete, konnteer einerseits weitere Landerechte erwerben, andererseits seine Personalkostendrastisch senken. Systematisch unterbot er mit den Billigfliegern die Tarife derKonkurrenz so lange, bis sich die Franzosen mit den Briten zusammentaten unddie Italiener der von der Lufthansa beherrschten Sky-Alliance beitraten. Defacto gab es nun nur noch zwei selbstständige Gesellschaften: die Teams vonOleg und Paul. Als Claudine, seine Finanzchefin, herausfand, dass die Briten sichmit abenteuerlichen Finanzmanövern über Wasser hielten, war die Sacheentschieden. »Paula« entfachte eine Diskussion über die Sicherheit imLuftverkehr, und Oleg musste sich unter die Fittiche der Lufthansa begeben. »Gutgemacht«, lobte Coach Alad das siegreiche Team. »Kapitalistenschwein«, grinsteOleg und gab ihm einen Knuff in die Magengrube. Es war das letzte großeManagementspiel vor dem Examen, und die Chancen, dass Paul es bestehen würde,standen nicht schlecht. »Gehen wir einen trinken?«, fragte Claudine und zog ihnzum Ausgang. »Schluckspechte«, antwortete Paul, »geht schon mal voraus, wirtreffen uns bei Freddy.« Während die anderen noch in Gruppen herumstanden und denSpielverlauf diskutierten, verließ er das Computerlab durch den Hinterausgangund lief hinüber ins Gym. Er zog sich um und überlegte, ob er zuerst einbisschen joggen oder mit dem Seil arbeiten sollte. Dann entschied er sich fürden Sandsack, denn das Spiel hatte seine Aggressionen geweckt. Für einen Boxerwaren seine Arme zu dünn, die Schultern zu schmal, die Beine zu ungelenk. Aberer bewegte sich schnell und trainierte konzentriert. Er tänzelte, täuschte links,schlug einen rechten Haken, dann drei schnelle linke Jabs, als sein Handyklingelte. Paul, den seine Freunde auch »Pitt« nannten, weil er demHollywood-Schauspieler Brad Pitt verblüffend ähnlich sah, unterbrach dasTraining. Mit den Zähnen löste er die Schnüre seiner Handschuhe, streifte sieab und bückte sich nach der Sporttasche, die er auf dem Boden abgestellt hatte.Das silberne Nokia lag obenauf. Auf dem Display erkannte er die Büronummer ausDeutschland. »Sie müssen sofort nach Hause kommen«, beschwor ihn die Stimme auseiner Welt, zu der er schon seit Monaten keinen Kontakt mehr gehabt hatte. »Morgenbeginnt das Examen, deshalb kann ich frühestens in einer Woche abreisen«,antwortete er automatisch, bevor er sich darauf besann, dass er erst nach demGrund des Anrufs hätte fragen sollen. »Ihr Vater«, die Stimme hielt inne, »IhrVater ist verunglückt, mit dem Flugzeug!« Es war die Sekretärin, Frau Pfister. Schonwar er versucht, kurz »Na und?« zu antworten, da es nicht das erste Mal war,dass sein Alter eine Bruchlandung hingelegt hatte, als ihm bewusst wurde, dassdie Situation ernst zu sein schien. Also blieb er förmlich. »Und weshalb ist meineAnwesenheit so dringend erforderlich?« Wieder eine Pause. »Weil die Firma inSchwierigkeiten steckt.« Das war neu. Niemand hatte ihm bisher das Gefühlgegeben, dass er gebraucht wurde oder dass es im Umfeld seines Erzeugers soetwas wie »Schwierigkeiten« gab. Als die Stimme der Sekretärin dann noch einleises »Bitte« hinzufügte, wurde ihm klar, dass sein Leben wieder einmal andersverlaufen würde, als er es sich vorgestellt hatte. »Gut, morgen um neun bin ichda.« Er blickte auf die stählerne Daytona, die er zum Training abgenommen undin die Tasche gelegt hatte. 19.30 Uhr. Er könnte fliegen. Die letzte Maschineder Air France ging um 21.30 Uhr. Aber zum Charles de Gaulle brauchte er gutanderthalb Stunden, plus eine halbe zum Einchecken. Und hier musste er dieZelte abbrechen, eine weitere Stunde. Das wurde knapp. Außerdem: der Wagen. Wersollte den abholen? Besser, er gönnte sich selbst das Vergnügen, den Z8 durchdie Nacht zu scheuchen. Und er gewann Zeit. München war in sieben Stunden zuschaffen. Nachdem er geduscht und sich umgezogen hatte, überlegte er, wie er amschnellsten verschwinden konnte. Einen Bogen um Freddy s Bar machen? Er hattezugesagt, also musste er vorbeischauen. Als er unterwegs einer Gruppe frischeingetroffener Studenten begegnete, ging ihm durch den Kopf, wie schnell dieZeit verflogen war. Im Januar hatte er sein Zweizimmer- Apartment im ClosSt-Merry bezogen. Jetzt war es Anfang Dezember, und morgen würde das Examenbeginnen, das ihm den Titel eines Master of Business Administration einbringensollte. Dafür war er hergekommen, dafür hatte er gebüffelt, sieben Tage dieWoche, zwölf Stunden täglich. Und nun musste Paul Kummer, der in Wahrheit PeterKuhn hieß, den Campus ohne Abschluss verlassen. Um den Vater machte er sich imersten Moment wenig Sorgen. Der war unverwüstlich. Und was kümmerte ihn die Firma?Er brauchte sie nicht, so wenig, wie der Alte ihn gebraucht hatte. Er war starkgenug, seinen eigenen Weg zu gehen. Andererseits konnte er ihn nicht hängenlassen. Noch lebte er von seinem Geld. Und wenn ihm doch etwas zugestoßen war?Der Gedanke versetzte ihm einen Stich in der Herzgegend. In der Bar gab es einlautes Hallo, als er auftauchte. Die Meute umringte ihn, und einer aus demunterlegenen Team reichte ihm ein Glas Champagner. Er nippte daran, gab das Glaszurück und hob beide Hände. »Tut mir Leid, Leute!«, rief er ins Getümmel, undfuhr, als der Lärm abgeklungen war, in normaler Lautstärke fort: »Ich kann nichtmit euch feiern, weil ich nach Hause muss. Ein Unglücksfall.« In seinemApartment angekommen, warf er die Sporttasche mit den durchgeschwitztenKlamotten achtlos aufs Bett und schaltete den Fernseher ein, in der Hoffnung,auf eine Nachricht über seinen Vater zu stoßen. Im Teletext fand er lediglich eineAFP-Meldung, dass ein Privatflugzeug über den Alpen vermisst werde. Dann setzteer sich an den Schreibtisch, klappte den Laptop auf und surfte im Internet.Fehlanzeige. Schließlich durchsuchte er seinen elektronischen Briefkasten, undauch da fand er, außer einer Einladung zur Schlussfeier, nichts, was ihmweiterhalf. (...)

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