Der Chocolatier
DerChocolatier von Philibert Schogt
LESEPROBE
Daalder s Chocolates
»Quäl dich doch nicht so, Schatz«, rief Emma aus der Küche herüber,aber Joop hatte seinen Mantel schon wieder angezogen und knallte die Haustürnoch lauter zu, als er es ohnehin vorgehabt hatte. Finster geradeaus starrendbegab er sich in die St. Clair Avenue, die fünf Minuten entfernteGeschäftsstraße. Dort bot sich ein fröhliches Bild. Die Pflanztröge aus Beton,die man alle soundsoviel Meter auf dem Bürgersteig aufgestellt hatte, waren demvorhergesagten Schnee zum Trotz schon mit Narzissen voll gestopft. Der Frühlingist da, riefen die Penner Joop zu, der Frühling ist da! Als er an der endlosen Fassadevon MegaDeli entlangging, verdüsterte sich sein Blick noch mehr. Wie immerversuchte er die bunt dekorierten Auslagen und die aufdringlichen Werbesprüchezu ignorieren, und er beschleunigte seine Schritte, um nicht im Takt dermunteren Musik zu laufen, die ihn begleitete. Auch die Schranke an der Einfahrtzum Parkplatz trug zu der allgemeinen Feststimmung bei und begrüßte beimHochgehen jeden Autofahrer persönlich mit einem Hipphipphurra. Doch hundertMeter beziehungsweise sieben Pflanztröge weiter war plötzlich Schluss mitlustig. Hier endete der Parkplatz, und die death row begann, wie Joopdie drei kleinen Läden nannte, die in Kürze abgeris- sen werden sollten. Die beidenäußeren, das Lebensmittelgeschäft des Ehepaares Ho und der Eissalon von TonyGraziano, waren in Erwartung der Abrissbirne schon seit einiger Zeit mitBrettern vernagelt. Nur in den mittleren konnte man noch hineinschauen. »Daalder sChocolates« stand bogenförmig an der Schaufensterscheibe. Ein Arbeiter machtesich gerade an dem Pflanztrog zu schaffen, der auch hier vor der Tür stand. Erschlang eine Eisenkette mehrmals darum und zog sie straff. Ein Kollege schwenkteunterdessen den Greifarm eines bereitstehenden Baufahrzeugs heran. Als er Joopbemerkte, bedeutete er ihm, etwas mehr Abstand zu halten. Es war einfachunerhört. Die Pflanztröge waren ein Geschenk von Mega Deli an die Nachbarschaft,ebenso wie die eleganten Art-déco-Straßenlaternen, mit denen sie sich an derNordseite der St. Clair Avenue abwechselten. Das schuf geradezu PariserAtmosphäre, wie eine PR-Mitarbeiterin in einem Brief an die Anwohner gejubelthatte. Einen der Tröge hatte man direkt vor die Tür der Chocolaterie gestellt,sodass Lieferanten mit ihren Stechkarren und ältere Kunden mit ihrenEinkaufstrolleys umständlich manövrieren mussten, um in den Laden zu gelangen.Als Emma den Verantwortlichen bei Mega Deli endlich zu fassen bekam und ihnfragte, ob das Geschenk nicht um ein, zwei Meter versetzt werden könne, hießes, der Rhythmus des Straßenmobiliars müsse gewahrt bleiben. Und jetzt, da manPlatz für die Bulldozer brauchte, wurde das Ding einfach hochgehoben, undschwupp! weg war es. Quäl dich doch nicht so, Liebling. Als spielte sich alles,was hier passierte, nur in seinem Kopf ab. Als sei das alles halb so schlimm,wie Emma ihm immer wieder zu verstehen gab. Du bist jetzt zweiundsechzig, meintesie, in ein paar Jahren wäre doch sowieso Schluss gewesen (ach, ja?). Oder: Dubrauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen, wir haben doch inzwischen Geld genug (alsob es ihm darum ginge). Und er solle sich einmal vorstellen, wie vieldramatischer das Ganze für die Nachbarn sei, die armen Hos, die schon inVietnam so viel durchgemacht hätten, oder Tony Graziano, für den als Italienerauch noch die Familienehre auf dem Spiel stehe. Vielleicht meinte sie es jagut, aber dieses Relativieren zeigte nur allzu deutlich, wie wenig ihr selbstnoch an der Chocolaterie lag. Warum sonst schlief sie Abend für Abend sofortein und schnarchte - wenn auch leise - bis zum nächsten Morgen sorglos durch?Keine Sekunde hatte sie wach gelegen, keine Träne hatte sie über den Untergangvon Daalder s Chocolates vergossen. Nein, um mit diesem Schlag fertig zuwerden, brauchte er sich gar nicht erst an seine Frau zu wenden. Und erst rechtnicht an seinen Sohn Marcel. »Tja, Pa«, war dessen Reaktion gewesen, als erhörte, dass der Abriss genehmigt war. »Das ist nun mal die freie Marktwirtschaft.«Als sie vor dreißig Jahren nach Toronto eingewandert waren, hatten Joop undEmma sich über die schmuddeligen kleinen Läden in der St. Clair Avenue mitihrem undefinierbaren Sortiment gewundert. Geschäfte, zwischen deren Regalenmit vergilbten Glückwunschkarten, Kurzwaren und Plastikspielzeug, Päckchen mitBackmischung und Dosen mit Ananas in dickem Sirup der eine oder andere müdealte Lette, Este oder Ungar umherschlurfte. Wie konnten sich dieseTante-Emma-Läden nur halten, hatten sie sich gefragt. Viele konnten es nicht,wie sich im Lauf der Jahre zeigte. Irgendwann hingen plötzlich Schilder mit derAufschrift »Räumungsverkauf« und »Alles muss raus« an der Schaufensterscheibe.Oder nicht einmal das: Dann war der Laden sang- und klanglos leer geräumt undvernagelt worden. Wo der Inhaber abgeblieben oder ob er überhaupt noch am Lebenwar, wusste niemand so genau zu sagen. Und es kümmerte auch niemanden. So hartund gleichgültig kann die freie Marktwirtschaft sein, sagte Joop dann zu Frauund Sohn. Insgeheim aber platzte er schier vor Stolz. Daalder s Chocolateshatte sich behaupten können. Die gleiche Härte war ihm in der Natur nördlichvon Toronto begegnet. So endlos sich die Wälder dort dehnten, so kümmerlichwaren die Bäume, aus denen sie bestanden. Sie verdrängten einander, um an dasbisschen Sonnenlicht zu gelangen, sie hingen einander im Geäst und starbenlangsam ab, oder sie faulten am Boden vor sich hin und dienten den zahllosenSämlingen, die mit naivem Mut nach oben strebten, als Dünger. Schön waren dieseWälder nicht, fand Joop. Und das Straßenbild, das die St. Clair Avenue mitihren ständig auf- und zumachenden Geschäften bot, war auch nicht schön. Aberer konnte damit leben. Solange er nach Belieben Pralinen herstellen konnte, warer ein zufriedener Mensch. Neunundzwanzig Jahre lang war die Chocolaterie imrauen kanadischen Wirtschaftsklima prächtig gediehen. Bis MegaDeli auf derBildfläche erschien. Der Expansionsdrang dieses Konzerns hatte nichts mehr mitden Naturgesetzen eines kanadischen Waldes zu tun. Nein, was sich hier abspielte,war gnadenloser Kahlschlag, regelrechte Entwaldung.
© List Verlag
Übersetzung: Barbara Heller
- Autor: Philibert Schogt
- 2005, 348 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzer: Barbara Heller
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548604951
- ISBN-13: 9783548604954
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