Der Seewolf
Der Seewolf von Jack London
LESEPROBE
Es war ein Montagmorgen im Januar.Ich hatte das Wochenende
bei einem Freund verbracht undbefand mich auf der
Rückreise durch die Bucht von SanFrancisco.
Die Dampffähre Martinez warnoch ganz neu, legte erst zum
vierten oder fünften Mal die Streckezwischen Sausalito und San
Francisco zurück. Dichter Nebel zogüber die Bucht.
Ich stand auf dem Oberdeck unterhalbdes Lotsenhauses und
hing meinen Gedanken nach. Obwohlich mich allein an Deck
draußen in der feuchtenUndurchdringlichkeit befand, spürte ich
dennoch die Gegenwart des Lotsen unddes Kapitäns in dem gläsernen
Aufbau.
Gut, dass es Spezialisten gab,dachte ich. So war es mir möglich,
meinen Freund zu besuchen, ohneselbst eine Ahnung von
Nebel, Wind, Gezeiten und Navigationzu haben. Stattdessen
konnte ich mich mit amerikanischerLiteratur befassen und Essays
für den »Atlantic« schreiben. Einbehäbiger Mitreisender,
so hatte ich erfreut bemerkt, laseinen meiner Essays, während er
sich sicher über die Bucht schippernließ.
Ich wurde jäh aus meinen Gedankengerissen, als ein rotgesichtiger
Matrose die Kajütentür hinter sichzuschmiss und über das
Deck gestapft kam.
»Bei diesem scheußlichen Wetterwachsen einem ja vorzeitig
graue Haare!«,schimpfte er und nickte zum Lotsenhaus hin.
»Gibt es irgendwelche Probleme?«, fragte ich. »Es scheint doch
alles ganz einfach zu sein: DerKompass gibt die Richtung an und
die Entfernung und Geschwindigkeitsind bekannt. Nichts weiter
als eine Rechenaufgabe.«
»Probleme!«,schnauzte er. »Rechenaufgabe! Und wie steht s
mit Ebbe und Flut hier in der Golden-Gate-Bucht? Und die Strömung
- was ist mit der, he? Horchen Siemal: eine Glockenboje
wir halten genau auf sie zu. SehenSie, sie ändern den
Kurs!«
Aus dem Nebel ertönte der traurigeSchlag einer Glocke und
der Lotse drehte hastig amSteuerrad. Jetzt erklang die Glocke
nicht mehr voraus, sondern querab.Unser eigenes Nebelhorn
gellte heiser.
»Das ist irgendein Fährboot«, meinteder Matrose zu einem
Warnsignal von rechts. »Und das? -Haben Sie das eben gehört?
Von Hand geblasen! Vermutlich einLeichter. Kann der Kerl nicht
aufpassen? Jetzt haben wir denSchlamassel!«
Das unsichtbare Fährboot gab einSignal nach dem anderen,
während das mundgeblaseneHorn wild tutete. Dann erklang ein
schrilles, irrsinniges Dröhnenunmittelbar vor uns und zum Anfassen
nahe. Auf der Martinez schlugein Gong. Unsere Schaufelräder
stoppten, ihr Pulsschlag verebbte,dann griffen sie wieder.
Der schrille Pfeifton drang jetzteher von querab durch den Nebel
und wurde allmählich schwächer, dochunsere Erleichterung
hielt nicht lange an.
»Hallo, da kommt uns jemand in dieQuere«, rief mein Gefährte,
»und zwar ziemlich schnell! Hört unswohl nicht, weil der
Wind uns entgegenbläst.«
»Eine Fähre?«,fragte ich.
Er nickte. »Da drinnen kriegen sie sschon mit der Angst zu
tun.« DerKapitän hatte Kopf und Schultern ins Freie geschoben
und versuchte, mit seinen Blickenden Nebel zu durchdringen.
Auch mein Gefährte starrte besorgtder unsichtbaren Gefahr entgegen.
Dann ging alles sehr schnell. DerNebel teilte sich und der
Bug eines Dampfschiffes tauchte auf.Ich konnte dessen Lotsenhaus
erkennen, aus dem ein Mann lehnte.Er trug einen weißen
Bart und eine blaue Uniform undwirkte beängstigend kühl und
gefasst. Als ob er den genauenZeitpunkt des Zusammenpralls
abschätzen wollte, musterte er unsvöllig ruhig und blieb unbeeindruckt
von dem wütenden Geschrei unseresLotsen.
»Halten Sie sich irgendwo fest!«, brüllte der Matrose mir zu.
Doch die beiden Schiffe stießenzusammen, bevor ich seinem
Rat folgen konnte. Wir musstenmittschiffs getroffen worden
sein, denn ich konnte von meinemStandort aus nichts erkennen.
Die Martinez legte sich hartauf die Seite, Holz krachte und zerbarst.
Ich stürzte auf das nasse Deck,hörte Frauen kreischen,
dass mir das Blut in den Aderngefror.
Dann fielen mir die Schwimmwestenein, die in der Kajüte aufbewahrt
wurden, doch in der Tür kamen mirMänner und Frauen
in wilder Panik entgegen, sodass ichzurückgedrängt wurde.
Was während der nächsten Minutenpassierte, weiß ich
nicht mehr, aber ich erinnere michdeutlich daran, dass ich die
Schwimmwesten von den Gestellenzerrte, worauf der rotgesichtige
Matrose hysterische Frauen damitversorgte. Durch das Leck
in der Seite des Schiffs quollgrauer Nebel herein und überall
fanden sich Spuren einer panischenFlucht. Das Geschrei der
Frauen zerrtean meinen Nerven und trieb mich an Deck.
Dort versuchten Männer, die Boote zuWasser zu lassen, aber
die Taue ließen sich nur schwerlösen. Nichts funktionierte! Ein
Boot mit Frauen und Kindern liefvoll Wasser und kenterte. Ein
anderes berührte mit einem Endeschon fast das Wasser, während
das andere noch oben an einer Talje festhing.
Von dem fremden Dampfer, der dieKatastrophe verursacht
hatte, fehlte jede Spur. Doch einigeMänner glaubten, dass sie
von dort mit Sicherheit Boote zuunserer Rettung aussenden
würden.
Ich lief zum unteren Deck. Die Martinezsank schnell. Viele Passagiere
sprangen über Bord. Andere, die sichbereits im Wasser
befanden, flehten darum, dass mansie zurück an Bord holen
möge. Doch niemand kümmerte sich umsie.
Dann ertönte ein Schrei: »Wir sinken!«
In einem Wirrwarr von Leibern sprangauch ich über Bord.
Das Wasser war so kalt, dass esschmerzte. Wie die Kralle des Todes
fuhr mirdie Kälte durch Mark und Bein. Rings um mich herum
zappelten und kämpften Menschen umsÜberleben. Ich
hörte sie schreien. Aber dann hörteich auch das Platschen von
Rudern. Das fremde Schiff hatteseine Boote ausgebracht.
Ich wunderte mich, dass ich nochimmer lebte. Ich hatte kaum
noch ein Gefühl in den Gliedern undeisige Taubheit kroch mir
bis ins Herz. Kleine, schäumendeWellen schwappten über mir
zusammen und füllten meinen Mund.Alle Geräusche wurden
unklar, verschwommen.
Irgendwann - ich weiß nicht, wieviel später - kam ich wieder
zu mir. Entsetzen packte mich. Ichtrieb ganz allein im Wasser,
hörte keine Schreie, kein Rufenmehr, nur das dumpfe Geräusch
der Wellen, das der Nebel erstickte.
Panik überfiel mich. Wohin wurde ichgetrieben? Was, wenn
ich aufs offene Meer hinausgesogen wurde? Und meine Schwimmweste
- wenn sie defekt war? Ich konntekeinen Meter weit
schwimmen!
Nach einer Weile musste ichbewusstlos geworden sein, aber
irgendwann, Jahrhunderte später,erwachte ich und sah beinahe
direkt über mir den Bug einesSchiffes aus dem Nebel tauchen.
Es besaß drei windgeblähte Segel.Ich wollte rufen, doch ich war
zu erschöpft. Dabei ging es um Lebenoder Tod!
Als das Schiff an mirvorüberrauschte, konnte ich einen Mann
am Steuer erkennen und einenanderen, der eine Zigarre rauchte.
Ich sah, wie der Rauch sich zwischenseinen Lippen herauskräuselte,
als er langsam den Kopf drehte undin meine Richtung
blickte. Gott sei Dank bemerkte ermich, sprang ans Steuerrad,
stieß seinen Gefährten zur Seite,wirbelte das Rad herum
Verzweifelt kämpfte ich dagegen an,wieder in der Bewusstlosigkeit
zu versinken. Dann hörte ichRuderschläge, die näher
kamen, und die Rufe eines Mannes:»Warum, zum Teufel, melden
Sie sich nicht?«
Er meint mich, dachte ich, bevormich erneut Finsternis umhüllte.
Zwei Männer knieten neben mir. Einerbearbeitete mit seinen
rauen Händen meinen Oberkörper. Estat höllisch weh.
»Das reicht, Yonson«,sagte der andere. »Du rubbelst dem
Herrn sonst die ganze Haut ab!«
Der Kerl namens Yonson,ein vierschrötiger skandinavischer
Bursche, richtete sich auf. SeinGefährte stammte offensichtlich
aus London, so wie er sprach. Erhatte ein hübsches, beinahe
weiblich wirkendes Gesicht. Auf demKopf trug er eine schmutzige
Mütze, und eine genauso schmutzigeSchürze wies ihn als
Koch der verdreckten Kombüse aus, inder ich mich befand. Mühsam
setzte ich mich auf und Yonson half mir auf die Füße. Der
Koch reichte mir grinsend einendampfenden Becher.
»Hier, der wird Ihnen guttun.«
Der Kaffee schmeckte absolutscheußlich, aber seine Wärme
weckte meine Lebensgeister. Währendich trank, betrachtete
ich meine wunde Brust und wendetemich an den Skandinavier.
»Vielen Dank, MrYonson.«
Er musterte seine schwielige Hand.»Mein Name ist Johnson,
nicht Yonson.«Sein Englisch war ausgezeichnet, wenn auch etwas
schleppend, und seine blauen Augenblickten offen und männlich.
Ich mochte ihn auf Anhieb.
»Danke, MrJohnson«, berichtigte ich mich und streckte ihm
meine Hand entgegen.
Erst zögerte er etwas verlegen, dochdann ergriff er sie, um sie
herzhaft zu schütteln.
»Haben Sie trockene Sachen für mich?«, fragte ich den Koch.
»Ja, Sir. Ich laufe gleich runterund hole ein paar von meinen
Klamotten, wenn es Ihnen nichtsausmacht.«
»Und wo befinde ich mich hier?«, wandte ich mich an Johnson,
den ich für einen Matrosen hielt.»Was ist das hier für ein
Schiff und wohin fährt es?«
»Nach Südwesten - es ist der SchonerGhost, unterwegs nach
Japan zur Robbenjagd.«
»Und wer ist der Kapitän? Ich mussihn sprechen, sobald ich
angezogen bin.«
Johnson suchte nach den richtigenWorten. Er schien sich gar
nicht wohl in seiner Haut zu fühlen.»Der Kapitän heißt Wolf
Larsen, jedenfalls nennen ihn alleso. Aber seien Sie vorsichtig!
Er spielt heute Morgen verrückt. DerSteuermann «
Da tauchte der Koch wieder auf.»Schwing die Hufe, Yonson!
Der Alte verlangt an Deck nach dir.«
Gehorsam drehte sich Johnson zurTür, wobei er mir noch einen
warnenden Blick zuwarf.
Der Koch trug ein unappetitlichaussehendes Bündel von Kleidungsstücken
über dem Arm, das einen säuerlichenGeruch verströmte.
»Das Zeug ist nass weggeräumtworden«, erklärte er. »Hoffentlich
bleibt Ihnen so etwas in Zukunfterspart. Habe doch gleich
gemerkt, dass Sie etwas Besseressind.«
Mein neues Outfit bestand aus einembilligen Baumwollhemd
voller eingetrockneter Blutflecken,einer verwaschenen Überziehhose,
an der das eine Bein kürzer war alsdas andere, und einem
Paar Arbeitsstiefeln. Dazu erhieltich eine lächerliche Kappe und
eine viel zu kleine, schmutzigeJacke.
Ich fand den Koch von Anfang annicht sympathisch, und als
er mir jetzt beim Anziehen half,wuchs meine Abneigung noch.
Es drängte mich hinaus an diefrische Luft. Außerdem musste ich
mich dringend darum kümmern, dassich an Land gebracht
wurde.
»Wem habe ich für dieseKostbarkeiten zu danken?«, fragte
ich.
Der Kerl grinste übertrieben demütigund schien auf ein Trinkgeld
zu warten.
»Mugridge,Sir«, flötete er, »Thomas Mugridge, Sir, stets zu
Ihren Diensten.«
»Okay, Thomas, ich werde an Siedenken, wenn meine Sachen
getrocknet sind.«
»Vielen Dank, Sir«, sagte er unterwürfig.
Ich ging hinaus an Deck. Ich fühltemich noch reichlich
schwach auf den Beinen, während dasSchiff von den Wellen des
Pazifiks geschaukelt wurde. DerNebel war verschwunden und
die Sonne glitzerte auf derWasseroberfläche. Ich spähte nach
Osten, wo Kalifornien liegen musste,aber außer ein paar Nebelbänken
konnte ich nichts entdecken. ImNorden, gar nicht weit
entfernt, erhob sich eine Felsgruppemit einem Leuchtturm darauf.
Und im Südwesten, fast auf unseremKurs, sichtete ich ein
paar Segel. ( )
© cbjVerlag
Übersetzung: Barbara Dieck
- Autor: Jack London
- Altersempfehlung: 10 - 12 Jahre
- 2006, 207 Seiten, Maße: 14 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: cbj
- ISBN-10: 3570132544
- ISBN-13: 9783570132548
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