Die Anatomie des Erwachens
Roman. Ausgezeichnet mit dem Adam Award 2007, Betty Trask Prize 2009 und als Bester Roman 2009 der New Zealand Society of Authors Hubert Church (Montana)
Das Stück ist aufgeführt. Und die Proben beginnen.
Am Anfang steht ein Skandal: Die siebzehnjährige Victoria hat eine Affäre mit ihrem Musiklehrer. Ihre Freundinnen sehen sich durch dieses unerhörte Ereignis auf einen Schlag mit der Macht ihrer...
Am Anfang steht ein Skandal: Die siebzehnjährige Victoria hat eine Affäre mit ihrem Musiklehrer. Ihre Freundinnen sehen sich durch dieses unerhörte Ereignis auf einen Schlag mit der Macht ihrer...
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Produktinformationen zu „Die Anatomie des Erwachens “
Das Stück ist aufgeführt. Und die Proben beginnen.
Am Anfang steht ein Skandal: Die siebzehnjährige Victoria hat eine Affäre mit ihrem Musiklehrer. Ihre Freundinnen sehen sich durch dieses unerhörte Ereignis auf einen Schlag mit der Macht ihrer Weiblichkeit konfrontiert. Plötzlich stehen die Mädchen im Rampenlicht der Öffentlichkeit, in dem die kleinste Bewegung zu einer Darbietung wird und das noch den intimsten Ort in eine Bühne verwandelt. In der Theaterklasse kommt jemand auf die Idee, ein Stück über Victoria und den Musiklehrer zu inszenieren. Die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen geraten unerbittlich in Auflösung. Und schließlich kommt es zwischen Realität und Spiel zur Kollision.
"Die Anatomie des Erwachens" erzählt vom sexuellen Erwachen und von der damit einhergehenden Entfesselung von Kräften, die schwer zu verstehen und noch schwerer zu bändigen sind. Dieses Buch wurde als "die Zukunft des Romans" (Joshua Ferris) gefeiert. Tatsächlich markiert es denAuftritt einer Autorin, die mit ihrer kühnen Vision von der Macht, um die die Welt sich dreht, die Grenzen der Literatur neu vermisst - poetisch, erotisch und subversiv.
Am Anfang steht ein Skandal: Die siebzehnjährige Victoria hat eine Affäre mit ihrem Musiklehrer. Ihre Freundinnen sehen sich durch dieses unerhörte Ereignis auf einen Schlag mit der Macht ihrer Weiblichkeit konfrontiert. Plötzlich stehen die Mädchen im Rampenlicht der Öffentlichkeit, in dem die kleinste Bewegung zu einer Darbietung wird und das noch den intimsten Ort in eine Bühne verwandelt. In der Theaterklasse kommt jemand auf die Idee, ein Stück über Victoria und den Musiklehrer zu inszenieren. Die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen geraten unerbittlich in Auflösung. Und schließlich kommt es zwischen Realität und Spiel zur Kollision.
"Die Anatomie des Erwachens" erzählt vom sexuellen Erwachen und von der damit einhergehenden Entfesselung von Kräften, die schwer zu verstehen und noch schwerer zu bändigen sind. Dieses Buch wurde als "die Zukunft des Romans" (Joshua Ferris) gefeiert. Tatsächlich markiert es denAuftritt einer Autorin, die mit ihrer kühnen Vision von der Macht, um die die Welt sich dreht, die Grenzen der Literatur neu vermisst - poetisch, erotisch und subversiv.
Klappentext zu „Die Anatomie des Erwachens “
Das Stück ist aufgeführt. Und die Proben beginnen.Am Anfang steht ein Skandal: Die siebzehnjährige Victoria hat eine Affäre mit ihrem Musiklehrer. Ihre Freundinnen sehen sich durch dieses unerhörte Ereignis auf einen Schlag mit der Macht ihrer Weiblichkeit konfrontiert. Plötzlich stehen die Mädchen im Rampenlicht der Öffentlichkeit, in dem die kleinste Bewegung zu einer Darbietung wird und das noch den intimsten Ort in eine Bühne verwandelt. In der Theaterklasse kommt jemand auf die Idee, ein Stück über Victoria und den Musiklehrer zu inszenieren. Die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen geraten unerbittlich in Auflösung. Und schließlich kommt es zwischen Realität und Spiel zur Kollision. "Die Anatomie des Erwachens" erzählt vom sexuellen Erwachen und von der damit einhergehenden Entfesselung von Kräften, die schwer zu verstehen und noch schwerer zu bändigen sind. Dieses Buch wurde als "die Zukunft des Romans" (Joshua Ferris) gefeiert. Tatsächlich markiert es den Auftritt einer Autorin, die mit ihrer kühnen Vision von der Macht, um die die Welt sich dreht, die Grenzen der Literatur neu vermisst - poetisch, erotisch und subversiv.
Lese-Probe zu „Die Anatomie des Erwachens “
Die Anatomie des Erwachens von Eleanor CattonEINS
Donnerstag
»Kommt nicht infrage«, sagt sie. »Ich kann einfach keine Schüler ohne musikalische Vorbildung aufnehmen. Meine Unterrichtsmethoden, Mrs Henderson, sind wohl spezieller, als Ihnen, glaube ich, klar ist.« Ein jazziger Rhythmus setzt ein, nur Kleine und Basstrommeln. Sie wirbelt ihren Teelöffel und lässt ihn einmal aufschlagen. »Die Klarinette ist die Kaulquappe des Saxofons, verstehen Sie das? Die Klarinette ist eine schwarz-silberne Samenzelle, und wenn Sie diesen Samen sehr lieben, wächst er eines Tages zum Saxofon heran.« Sie beugt sich über ihren Schreibtisch. »Mrs Henderson. Ihre Tochter ist einfach noch zu jung. Lassen Sie es mich so sagen: An Ihrer Tochter klebt ein dünner Film sauer gewordener Muttermilch wie eine zweite Haut.« Weil Mrs Henderson den Blick gesenkt hält, sagt die Saxofonlehrerin ziemlich barsch: »Hören Sie mich eigentlich, Sie mit Ihrem scharlachroten Strichmund und Ihrem Schrumpfbusen und Ihrer faden Senfbluse?« Mrs Henderson nickt kaum merklich.
Sie hört auf, an ihren Ärmeln herumzuzupfen. »Ich verlange von allen meinen Schülern«, fährt die Saxofonlehrerin fort, »dass sie pubertierend und flaumig und pickelig vor missmutigem Argwohn sind und dass sie in geheimer Wut und Leidenschaft und Unsicherheit und Schwermut vor sich hin kochen. Ich verlange, dass sie vor jeder Stunde mindestens zehn Minuten im Korridor warten und derweil das ihnen angetane Unrecht hätscheln, dass sie selbstquälerisch in ihrer Wertlosigkeit herumbohren, wie man an einem Schorf oder einer Narbe kratzt. Wenn ich Ihre Tochter unterrichten soll, Sie liebe hoffnungslose und unzulängliche Mutter, dann muss sie launisch und durcheinander und tollpatschig und unzufrieden und linkisch sein. Wenn sie erkennt, dass ihr
... mehr
Körper ein Geheimnis ist, ein dunkles, klaffendes Geheimnis, das ihr von Tag zu Tag peinlicher wird, dann kommen Sie wieder. In diesem Punkt müssen Sie mich verstehen. Ich kann keine Kinder unterrichten.« Kuss-Kuss-Kuss macht die Snare in die Stille hinein. »Aber sie möchte Saxofon lernen«, sagt Mrs Henderson endlich beschämt und trotzig zugleich. »Nicht Klarinette.« »Wieso versuchen Sie's nicht an ihrer Schule im Fachbereich Musik?«, sagt die Saxofonlehrerin. Mrs Henderson blickt einen Moment lang finster vor sich hin.
Dann vertauscht sie die Position ihrer überkreuzten Beine und besinnt sich, dass sie ja eine Frage stellen wollte. »Erinnern Sie sich an Namen und Gesichter sämtlicher Schüler, die Sie je unterrichtet haben?« Die Saxofonlehrerin scheint über die Frage erfreut. »Ich erinnere mich an ein einziges Gesicht«, sagt sie. »Es ist kein einzelner Schüler, sondern der Eindruck, den sie alle hinterlassen haben, wie das Negativ eines Fotos, das sich mir wie Säure ins Gedächtnis geätzt hat. Für die Klarinette empfehle ich Henry Soothill«, fügt sie hinzu und reicht eine Karte über den Tisch. »Er ist sehr gut. Er spielt im Symphonieorchester.« »Na gut«, sagt Mrs Henderson mürrisch und nimmt die Karte entgegen.
Donnerstag
Das war um vier. Um fünf klopft es abermals. Die Saxofonlehrerin öffnet die Tür. »Mrs Winter«, sagt sie. »Sie kommen wegen Ihrer Tochter. Kommen Sie herein, lassen Sie uns besprechen, wie wir sie in Halbstundenscheiben zerlegen, die mich Woche für Woche ernähren.« Sie hält die Tür weit auf, damit Mrs Winter hereinhuschen kann. Es ist dieselbe Frau wie zuvor, nur anders gekleidet Winter statt Henderson. Auch sonst hat sich manches verändert, denn die Frau ist ein Profi und hat lange über die Rolle nachgedacht. Zum Beispiel lächelt Mrs Winter nur mit halbem Mund. Mrs Winter nickt immer ein paar Sekunden zu lange. Mrs Winter atmet, wenn sie nachdenkt, leise durch die Zähne ein. Höflich tun beide so, als wüssten sie nicht, dass es dieselbe Frau ist wie zuvor. »Um es gleich zu sagen«, beginnt die Saxofonlehrerin, während sie ihr einen Becher Schwarztee reicht, »ich erlaube nicht, dass Eltern mit im Unterricht sitzen. Ich weiß, diese Praxis ist ein bisschen altmodisch ein Grund dafür ist, dass die Schüler in solcher Gesellschaft nie in Bestform sind. Sie werden rot und schwitzen, und sie lachen zu leicht, und ihre Haltung verändert sich, sie falten sich zusammen wie Blüten. Ein anderer Grund, weshalb ich es gerne sehr privat halte, ist, glaube ich, dass diese Halbstundenscheiben meine Chance sind zu beobachten, und ich will nicht teilen.« »So eine Mutter bin ich sowieso nicht«, sagt Mrs Winter. Sie sieht sich um.
Das Studio liegt auf Dachbodenhöhe mit einer Aussicht auf nichts als Spatzen und Schieferplatten. Die Ziegelmauer hinter dem Flügel ist gekalkt, die Steine entblättern sich weiß, als wären sie krank. »Lassen Sie mich Ihnen vom Saxofon erzählen«, sagt die Saxofonlehrerin. An einem Ständer neben dem Flügel hängt ein Altsaxofon. Sie nimmt es und hält es wie eine Fackel. »Das Saxofon ist ein Blasinstrument, das heißt, es wird von Ihrem Atem angetrieben. Es ist interessant, dass bei den alten Lateinern das Wort für >Atem< gleichbedeutend mit >Geist< war. Man hatte einst die Vorstellung, dass Atem und Seele ein und dasselbe seien. Dass Leben nichts anderes bedeute, als von Atem erfüllt zu sein. Wenn Sie, meine Liebe, in dieses Instrument atmen, erwecken Sie es nicht nur zum Leben Sie hauchen ihm Ihr Leben ein.« Mrs Winter nickt lebhaft. Sie nickt ein paar Sekunden zu lange. »Ich stelle allen meinen Schülern die Frage«, sagt die Saxofonlehrerin, »ist euer Leben ein Geschenk, das wertvoll genug ist, um es zu verschenken? Euer normales, nach Vanille schmeckendes Leben, eure Zwei-Minuten-Nudeln nach der Schule, euer Fernsehen bis zehn, eure Kerzen auf der Kommode und eure Gesichtswäsche am Waschbecken?« Sie lächelt und schüttelt den Kopf. »Natürlich nicht, und das liegt daran, dass sie einfach nicht genug gelitten haben, als dass es sich lohnte, ihnen zuzuhören.«
Sie lächelt Mrs Winter, die ihre gelben Knie aneinandergedrückt hat und mit beiden Händen ihren Tee umklammert, freundlich an. »Ich freue mich darauf, Ihre Tochter zu unterrichten«, sagt sie. »Sie schien mir so wunderbar beeindruckbar.« »Ja, nicht wahr, genau das finden wir auch«, sagt Mrs Winter rasch. Die Saxofonlehrerin mustert sie einen Moment, dann sagt sie: »Kehren wir zu dem Augenblick zurück, in dem Sie Ihre Lunge wieder auffüllen müssen, weil Sie Ihren Atem dem Saxofon eingehaucht haben und in Ihrem Körper nichts mehr übrig ist: zu dem Augenblick also, in dem das Sax mit mehr Leben erfüllt ist als Sie. Sie und ich, Mrs Winter, wir wissen, wie es ist, ein Leben in den Händen zu halten. Ich meine keine gewöhnliche Verantwortung wie ein Baby beaufsichtigen oder den Herd hüten oder an der Ampel auf Grün warten , ich meine jemandes Leben, wie wenn Sie eine Porzellanvase in der Hand halten ...«, sie hält ihr Saxofon in die Höhe, die flache Hand unter dem Schalltrichter, »... und wenn Sie wollten, könnten Sie es einfach ... loslassen.«
Donnerstag
An der Wand im Flur hängt ein gerahmtes Schwarz-WeißFoto: Es zeigt einen Mann, der mit gebeugten Schultern, im Mantel, das Kinn eingezogen und den Kragen aufgestellt, mit sich entknotenden Schnürsenkeln eine kurze Treppe hinauf entschwindet. Man sieht weder sein Gesicht noch seine Hände, nur den Mantelrücken und eine halbe Sohle und einen Streifen graue Socke und seinen oberen Hinterkopf. Er wirft einen Schatten an die Wand neben der Treppe, der wie ein halbseitig auseinandergezogenes Akkordeon aussieht. Bei genauerer Betrachtung des Schattens erkennt man, dass der Mann im Hinaufgehen Saxofon spielt, aber er beugt sich so über das Instrument und hält die Ellenbogen so dicht am Körper, dass von hinten nichts davon zu sehen ist. Der Schatten fällt zur Seite hin ab wie ein Feind, spaltet das Bild in zwei Teile und verrät das unter dem Mantel verborgene Sa-Isolde bricht nach den ersten sechs Takten ab. »Ich habe nicht geübt«, sagt sie sofort. »Allerdings habe ich eine Entschuldigung. Wollen Sie sie hören?« Die Saxofonlehrerin sieht sie an und nippt an ihrem Schwarztee. Entschuldigungen sind ihr fast das Liebste. Isolde lässt sich einen Moment Zeit, um ihren Kilt glatt zu streichen und sich vorzubereiten. Sie holt Luft. »Gestern Abend habe ich ferngesehen«, sagt sie, »und mein Pa kommt herein mit todernstem Gesicht und reißt so an seiner Krawatte, als würde er erwürgt, und schließlich nimmt er sie ab und legt sie weg ...« Sie hakt das Saxofon vom Nackengurt los, legt es auf einen Stuhl und lockert theatralisch den Gurt, als wäre er sehr eng gewesen. »... und sagt: Setz dich, obwohl ich schon sitze, und dann reibt er richtig fest die Hände aneinander.« Sie reibt richtig fest die Hände aneinander. »Er sagt: Deine Mutter findet, ich soll es dir noch nicht erzählen, aber deine Schwester wurde in der Schule von einem Lehrer missbraucht.« Sie wirft jetzt einen raschen Blick auf die Saxofonlehrerin und wendet ihn gleich wieder ab. »Und dann fügt er hinzu: sexuell.
Das nur zur Klärung, damit ich nicht meine, der Lehrer hätte sie für private Putzarbeiten missbraucht oder so.« Die Lampen an der Decke sind jetzt abgedunkelt, und Isolde wird nur noch von einem zuckenden Blassblau beleuchtet, einem frostigen Schein, der an den flackernden Schimmer eines Fernsehers erinnert. Die Saxofonlehrerin ist in Schatten getaucht, sodass die eine Hälfte ihres Gesichts eisengrau und die andere bleich und leuchtend ist. »Dann redet er mit einer komisch gepressten leisen Stimme über diesen Mr Saladin oder wie er heißt er leitet die Oberstufen-Jazzband und das Orchester und das Jazzensemble, alles am Mittwochvormittag, eins nach dem anderen. Ich werde ihn bis zur Oberstufe nicht haben, und auch dann nur, wenn ich Jazzband überhaupt machen will, denn das überschneidet sich mit Korbball, und ich werde mich entscheiden müssen. Mein Pa schaut mich also mit einem verschreckten Ausdruck an, so als könnte ich gleich was Verrücktes oder was wirklich Emotionales machen, und er weiß nicht, wie er damit umgehen soll. Ich sage: Woher weißt du das? Und er sagt ...« Sie kauert sich neben dem Stuhl nieder, breitet die Hände weit aus und fährt in ernstem Ton fort: »... Schatz, nach dem, was ich weiß, hat er ganz beiläufig damit angefangen, hat ihr nur gelegentlich mal ganz leicht die Hand auf die Schulter gelegt, so.« Isolde streckt die Hand aus und berührt mit den Fingerspitzen das obere Ende des Saxofons, das seitlich auf dem Stuhl liegt. In dem Moment, als ihre Finger auf das Instrument treffen, setzt ein gleichmäßiger Rhythmus ein, wie ein Pulsschlag. Die Lehrerin rührt sich nicht. »Und später hat er sich manchmal, wenn sie unbeobachtet waren, nahe zu ihr hingebeugt und in ihr Haar geatmet ...« Sie legt die Wange an das Instrument und atmet das Rohr entlang. »... so, wirklich zaghaft und schüchtern, weil er nicht weiß, ob sie es schon will, und er will sich ja nicht lächerlich machen. Aber sie ist freundlich, weil sie ihn irgendwie nett findet, und sie glaubt, dass sie in ihn verknallt ist, und bald geht seine Hand tiefer, tiefer ...«
Ihre Hand schlängelt sich das Saxofon abwärts und streicht die Kante des Schalltrichters entlang. »... bis hinunter, und sie beginnt, das irgendwie zu erwidern, und manchmal lächelt sie ihn im Unterricht an, sodass sein Herz zu rasen anfängt, und wenn sie allein sind, in der Musikalienkammer oder nach der Schule oder wenn sie mit seinem Auto irgendwohin fahren, was sie manchmal tun, wenn sie also allein sind, nennt er sie mein Zigeunermädchen er sagt es dauernd, mein Zigeunermädchen, sagt er , und sie wünscht sich, sie hätte was darauf zu erwidern, etwas, das sie ihm ins Haar flüstern kann, etwas wirklich Besonderes, das noch nie irgendwer gesagt hat.« Die Begleitmusik verstummt. Isolde blickt ihre Lehrerin an und sagt: »Es fällt ihr aber nichts ein.« Das Licht geht wieder ganz normal an. Mit finsterer Miene wirft sich Isolde in einen Sessel. »Aber so oder so«, sagt sie zornig, »ist ihr die Zeit davongelaufen, es ist zu spät, ihre Freundinnen registrieren bereits, wie sie manchmal ist, wie sie manchmal den Kopf zur Seite neigt, wie um zu flirten, und so beginnt sich alles aufzulösen, es fällt in sich zusammen wie ein Kartenhaus.« »Ich verstehe, weshalb du keine Zeit zum Üben hattest«, sagt die Saxofonlehrerin. »Sogar heute Morgen«, sagt Isolde, »wollte ich vor der Schule noch paar Tonleitern oder so spielen, aber kaum habe ich angefangen, schreit sie: Kannst du nicht wenigstens ein Mal Rücksicht nehmen? Und läuft mit diesem Pseudoschluchzen aus dem Zimmer, und ich weiß, dass es pseudo ist, denn wenn es echt wäre, wäre sie nicht weggelaufen, sondern hätte es mir vorführen wollen.«
Isolde gräbt sich das untere Ende ihrer Kiltnadel ins Knie. »Alle behandeln sie wie ein verdammtes Kunstwerk.« »Ist das so ungewöhnlich?«, fragt die Saxofonlehrerin. Isolde wirft ihr einen bösen Blick zu. »Es ist krank«, sagt sie. »Es ist krank, wie wenn Kinder ihre Haustiere wie Menschen anziehen, mit Kleidern und Perücken und allem, und sie dann auf den Hinterbeinen gehen lassen und fotografieren. Genau so ist das, nur noch schlimmer, denn man sieht ihr an, wie sehr sie's genießt.« »Ich bin sicher, dass es deine Schwester nicht genießt«, sagt die Saxofonlehrerin. »Mein Pa sagt, es dauert wahrscheinlich Jahre, bis Mr Saladin ordnungsgemäß verurteilt wird und in den Knast geht«, sagt Isolde. »Dann steht in allen Zeitungen Kindesmissbrauch, aber bis dahin gibt es kein Kind mehr, bis dahin ist sie erwachsen, genau wie er. Das ist so, als hätte jemand absichtlich den Tatort zerstört und stattdessen was Funkelnagelneues hingebaut.« »Isolde«, sagt die Saxofonlehrerin, diesmal mit Nachdruck, »ich bin sicher, sie haben nur deshalb Angst, weil sie wissen, dass die Sünde noch da ist. Sie wissen, dass sie sich in sie eingeschlichen und in ihr festgesetzt hat, dass sie an einem Ort Wurzeln geschlagen hat, von dem niemand was weiß und den niemand je findet. Sie wissen, dass seine Sünde nur eine Tat war, ein dämliches, tödliches Fummeln im hellen, staubigen Mittagspausenlicht, aber die ihre ... Ihre Sünde ist ein Zustand, eine Krankheit, die irgendwo tief drinnen sitzt, jetzt und immerdar.« »Mein Pa glaubt nicht an Sünde«, sagt Isolde. »Wir sind Atheisten.« »Es zahlt sich aus, aufgeschlossen zu sein«, sagt die Saxofonlehrerin. »Jetzt werd ich Ihnen sagen, warum sie so Angst haben«, sagt Isolde. »Sie haben Angst, weil sie jetzt alles weiß, was sie selbst wissen. Sie haben Angst, weil sie keine Geheimnisse mehr haben.« Die Saxofonlehrerin steht abrupt auf und geht zum Fenster. Beide schweigen lange, bis Isolde schließlich wieder spricht. »Mein Pa sagt nur: Ich weiß nicht, wie es passiert ist, Schatz. Wichtig ist, dass es jetzt, nachdem wir Bescheid wissen, nicht mehr vorkommen wird.«
Mittwoch
»Jazzband wurde also heute Morgen abgesagt«, sagt Bridget. »Es heißt, Mr Saladin kann heute Nachmittag nicht reinkommen. Er muss bei einer Ermittlung helfen.« Sie saugt geräuschvoll an ihrem Blättchen. »Dass es was wirklich Ernstes ist«, sagt sie, »sieht man daran, dass sie zwischen nicht genug und zu viel Information schwanken. Normalerweise hätten sie einfach gesagt: Hört zu, Leute, Jazzband fällt aus, ihr habt drei Minuten, um euer Zeug einzusammeln, raus mit euch, genießt ausnahmsweise die Sonne, los, Abflug!« Dieses Mädchen macht gut Stimmen nach. Eigentlich wollte sie Isolde sein, weil Isolde die bessere Rolle hat, aber dieses Mädchen ist auch blass und schlaksig und zerknautscht und wirkt immer leicht aufgescheucht, lauter Eigenschaften, die zu Isolde nicht passen, und deshalb spielt sie stattdessen Bridget. In Wahrheit ist es genau diese Sehnsucht, eine Isolde zu sein, die sie am meisten als Bridget charakterisiert: Bridget will immer jemand anderes sein. »Sonst«, sagt sie, »hätten sie es genau andersherum gemacht und uns mehr gesagt, als wir wissen müssen, aber absichtlich, damit wir das als Privileg erkennen. Mit weit aufgerissenen Augen hätten sie dieses feierliche heilige Ding durchgezogen, das so geht: Alle mal herhören, Ruhe jetzt, das ist wirklich wichtig. Mr Saladin musste weg, denn ein Angehöriger von ihm ist erkrankt. Okay, die Sache könnte wirklich ernst sein, und wenn beziehungsweise falls er an die Schule zurückkommt, ist es wirklich wichtig, dass ihr Rücksicht nehmt und ihn in Ruhe lasst.«
Das ist eine Theorie, über die Bridget eine Weile nachgedacht hat, und sie strahlt vor Vergnügen darüber. Sie schraubt das Blättchen ab und bläst ein experimentelles Hupen. »Bei einer Ermittlung helfen«, sagt sie verächtlich und macht sich daran, das Mundstück wieder aufzusetzen. »Und sie sind alle extra zusammengekommen, um es zu sagen, alle im Rudel oder was, sie atmen im Chor rasch ein und aus, und dabei huschen ihre Blicke hin und her, und die Direktorin steht als Windbrecherin an der Spitze, wie die Leitgans am spitzen Winkel des V.« »Soweit ich weiß, wechseln sich die Gänse an der Spitze ab«, sagt die Saxofonlehrerin geistesabwesend. »Windbrecher zu sein ist bestimmt ziemlich anstrengend.« Sie durchblättert einen Stapel Noten. Das Bücherregal hinter ihr ist mit alten Manuskripten vollgestopft und schwitzt einzelne Blätter auf den Boden aus. Isolde wäre niemals auf derart abweisende Art von der Saxofonlehrerin unterbrochen worden: Das war einer der Gründe, weshalb Bridget die Rolle gerne gehabt hätte. Mit einem Mal erinnert sie sich wieder, dass sie blass und schlaksig und zerknautscht und durch und durch zweitrangig ist, und sie errötet vor neuer Entschlossenheit, sich die Bühne zurückzuerobern. »Sie schlurfen also herein«, sagt sie, »in V-Formation oder wie auch immer, eine graue Polyesterarmee, und alle bemühen sich total, niemanden richtig anzuschauen und vor allem das riesige klaffende Loch neben dem ersten Altsax zu ignorieren, wo sonst Victoria sitzt.« Bridget sagt »Victoria« mit Nachdruck und unverhohlener Befriedigung. Um sich ihrer Wirkung zu vergewissern, blickt sie zur Saxofonlehrerin hinüber, doch die blättert mit ihren großen blau geäderten Händen in Papieren und zuckt mit keiner Wimper. »Die Türen der Übungsräume haben kleine Fenster aus verstärktem Glas, damit man hineinschauen kann«, sagt Bridget und strengt sich jetzt noch mehr an. Ihre Stimme wird umso lauter, je angestrengter sie ist. »Aber Mr Saladin hat über sein Fenster den Belegungsplan geklebt, sodass man nichts sieht als den Stundenplan und, wenn drinnen das Licht brennt, kleine weiße Leuchtsplitter ringsherum. Wenn Victoria ihre Holzbläserübung hatte, erloschen die Splitter.« »Na, da ist es ja!«, sagt die Saxofonlehrerin und schwenkt eine Handvoll Notenblätter. »>Das alte Schloss< aus den Bildern einer Ausstellung. Ich denke, das wird dich interessieren, Bridget.
Lass uns mal darüber reden, weshalb sich das Saxofon nie so recht als Orchesterinstrument durchgesetzt hat.« Die Saxofonlehrerin ist manchmal selbst über sich empört, wenn sie Bridget auf diese Weise zu peinigen versucht. »Sie strengt sich einfach immer so verzweifelt an«, sagte sie einmal zu Bridgets Mutter. »Das macht es so leicht. Wenn es nicht so offensichtlich wäre, wie sie sich anstrengt, wäre ich versucht, sie etwas mehr zu respektieren.« Bridgets Mutter nickte und nickte und sagte dann: »Ja, wir stellen fest, dass das oft ein Problem ist.« Jetzt sieht die Saxofonlehrerin Bridget an, wie sie vor ihr steht, flachsig und zerknautscht und so verzweifelt angestrengt, und hebt die Brauen. Bridget errötet vor Frustration und überspringt absichtlich alle denkbaren Äußerungen über Mussorgski und Bilder einer Ausstellung und Ravel und die Gründe, weshalb sich das Saxofon nie als Orchesterinstrument durchgesetzt hat. Das alles lässt sie aus und steuert direkt auf eine Textzeile zu, die ihr gefällt. »Sie tun so, als wäre es eine vorbeugende Maßnahme«, sagt sie, noch lauter jetzt. »Wie bei einer Impfung, bei der man dem Körper einen kleinen Vorgeschmack verpasst, damit er Abwehrkräfte gegen die eigentliche Krankheit bildet. Sie sind verschreckt, weil es eine Krankheit ist, die sie noch nie an uns ausprobiert haben, und jetzt versuchen sie, uns zu impfen, ohne uns zu sagen, was das überhaupt für eine Krankheit ist. Sie wollen es uns ganz heimlich injizieren, ohne dass wir was merken. Das wird nicht klappen.« Jetzt sehen sie einander wirklich an. Die Saxofonlehrerin lässt sich einen Moment Zeit, um den Papierstapel an der Kante des Teppichs auszurichten, und fragt dann: »Warum wird es nicht klappen, Bridget?« »Weil wir's gemerkt haben!«, sagt Bridget und atmet laut durch die Nase. »Wir passen auf.«
Montag
Julias Füße scharren ständig, und sie hat einen Schorf am Mund. »Heute Morgen haben sie eine Klassenversammlung einberufen«, sagt sie, »und der Schulpsychologe war auch da und hat sich total aufgeblasen, als wäre er noch nie so wichtig gewesen.« Sie spricht über die Schulter, während sie ihren Instrumentenkoffer öffnet. Die Saxofonlehrerin sitzt in einem kalten Lichtkegel, der durch das Fenster fällt, und sieht die Möwen kreisen und scheißen. Die Wolken hängen tief. »Sie redeten mit dieser leisen Honigstimme, als gingen wir kaputt, wenn sie zu laut sprechen. Sie sagen: Ihr habt ja wohl alle die Gerüchte mitbekommen, die seit letzter Woche im Umlauf sind. Wir müssen jetzt gemeinsam ein paar Dinge durchsprechen, damit wir alle genau wissen, wo wir stehen.« Julia dreht sich auf dem Absatz um, befestigt ihr Sax am Nackengurt und steht einen Moment da, die Hände in die Seiten gestemmt. Das Sax hängt ihr um den Körper wie eine Waffe. »Der Schulpsychologe ist ein Vollidiot«, sagt sie entschieden. »In der Neunten waren ich und Katrina mal bei ihm, weil Alice Franklin in einem Kino Sex hatte, und wir hatten Angst, sie wird eine Schlampe und kriegt aus Versehen Kinder und ruiniert sich ihr Leben. Wir erzählten ihm alles und dass wir Angst hatten, und Katrina weinte sogar.
Er saß bloß da und zwinkerte und nickte dauernd, aber total langsam, so als wäre er auf ein Viertel Geschwindigkeit heruntergeschraubt, und als wirklich alles gesagt war und Katrina auch nicht mehr weinte, zog er seine Schublade auf und holte ein Blatt Papier raus und zeichnete drei Kreise ineinander, und dazu schrieb er Ihr, dann Eure Familie und dann Eure Freunde, und er sagte: So ist es, oder? Und dann sagte er, wir könnten das Blatt behalten, wenn wir wollen.« Julia schnaubt verächtlich und schlägt ihren Plastikordner mit Noten auf. »Was wurde aus Alice Franklin?«, fragt die Saxofonlehrerin. »Och, sie hatte gelogen«, sagt Julia. »Sie hatte nicht Sex in einem Kino.« »Nein.« Julia lässt sich einen Moment Zeit, um die Spinnenbeine des Notenständers zu richten. »Aber warum hat sie denn gelogen?«, fragt die Saxofonlehrerin höflich. Julia macht eine ausladende Armbewegung. »Wahrscheinlich war ihr nur langweilig«, sagt sie. Aus ihrem Mund klingt das Wort erhaben und großartig. »Verstehe«, sagt die Saxofonlehrerin. »Also jedenfalls diese Versammlung. Sie sagen: Vielleicht können wir den Ball ins Rollen bringen, wenn wir fragen, ob sich jemand was vom Herzen reden möchte? Und genau da fängt eines der Mädchen zu weinen an, noch bevor irgendwas wirklich passiert war, und der Schulpsychologe macht sich vor Begeisterung fast in die Hosen und sagt irgendeinen Scheiß wie: Alles, was heute hier gesagt wird, bleibt zwischen diesen vier Wänden. Das Mädchen sondert also irgendeinen Schwachsinn ab, und ihre Freundin ergreift ihre Hand oder macht sonst was Krankes, und dann fangen alle an sich auszuschütten und labern was von Vertrauen und Verrat und Geborgenheit und dass sie Angst haben und durcheinander sind ... und es ist schon klar, dass das ein scheißlanger Vormittag wird.« Julia wirft einen Blick zur Saxofonlehrerin hinüber, um festzustellen, ob ihre Ausdrucksweise eine Wirkung hat, doch die Saxofonlehrerin lächelt nur frostig und wartet.
Bridget hätte gescheut und sich gekrümmt und scharlachrot verfärbt und sich danach noch ewig den Kopf zerbrochen, aber Julia ist es egal. Sie grinst nur und verwendet unnötige Sorgfalt darauf, die schlüpfrigen Seiten in den Notenständer zu klemmen. »Nach einer Weile«, fährt Julia fort, »fragt der Schulpsychologe: Was ist Belästigung, Mädchen? Und schaut uns so eifrig und ermutigend an, wie Lehrer immer schauen, wenn sie einerseits intensiv hoffen, dass man die richtige Antwort gibt, und andererseits genauso intensiv hoffen, dass man das Falsche sagt, damit ihnen der Genuss bleibt, das Richtige selber zu sagen. Dann sagt er leise und feierlich, so als teilte er uns was mit, das sonst kein Mensch weiß: Belästigung muss nicht unbedingt Anfassen bedeuten, meine Lieben. Auch Blicke können eine Belästigung sein. Es kann Belästigung sein, wenn euch jemand auf eine Weise ansieht, die euch nicht passt. Ich hebe also die Hand und frage: Wird es zur Belästigung, weil jemand was Bestimmtes beobachtet? Oder weil er sich was vorstellt, während er beobachtet? Alle sehen mich an, und ich werde total rot, und der Schulpsychologe legt seine Fingerspitzen aneinander und sieht mich mit diesem langen Blick an, der besagt: Ich weiß, was du vorhast, du versuchst, diese Vertrauenskiste zu sabotieren, die wir hier aufbauen, und ich werde deine Frage beantworten, weil ich muss, aber ich werde dir nicht die Antwort geben, die du hören willst.« Die Saxofonlehrerin steht endlich auf und ergreift ihr Saxofon, wie um zu sagen: »Genug.« Aber Julia, getrieben von einer seltsamen rotwangigen Eigendynamik, sagt es bereits. Sie sagt: »Ich stelle mir Sachen vor, wenn ich Leute beobachte.«
Freitag
Isolde wartet draußen im Flur. Der 15.30-Uhr-Unterricht nähert sich dem Ende, und sie hört durch die Wand das leise Gemurmel der Saxofonlehrerin. Hier im menschenleeren Flur genießt Isolde die Stille hinter der Bühne, bevor ihr Stichwort fällt und sie anklopfen und eintreten muss. Sie atmet tief ein und schmeckt auf der Zunge die Ruhe und sorglose Ungestörtheit einer gänzlich unbeobachteten Person. Normalerweise wäre sie jetzt von einer Vorunterrichtsfurcht erfüllt, hätte fahrig in ihren Unterlagen geblättert und mit den Noten auf dem Schoß, die gespreizten Hände durch die leere Luft bewegend, pantomimisch geübt. Aber heute denkt sie nicht an den Unterricht. Sie sitzt still da und versucht mit aller Macht, ein geheimes schwellendes Gefühl tief in ihrer Brust einzufangen und zu bewahren. Es ist wie eine kleine Lufttasche, die ihr in den Mund gefahren ist und einen kleinen Schauder über den Rücken gejagt und an der leeren Halbschale ihres Schambeins gezogen hat. Sie spürt ein anhaltendes flaues Gefühl im Bauch und ein Ziehen der Leere im Brustkorb, und mit einem Mal wird ihr siedend heiß. So fühlt sie sich manchmal, wenn sie in der Badewanne liegt oder wenn im Fernsehen Leute sich küssen oder wenn sie im Bett mit den Fingerspitzen die weiche Wölbung ihres Bauchs entlangfährt und sich vorstellt, dass die Hand nicht die ihre ist. Meist sinkt das Gefühl dann unerklärlich abwärts manchmal an der Bushaltestelle oder in der Schlange an der Essensausgabe oder wenn sie auf das Läuten einer Glocke wartet. Sie denkt: Habe ich das gespürt, als ich meine Schwester zum ersten Mal als sexuelles Wesen sah? Als mein Pa meinen Kopf berührte und sagte: »Das wird jetzt eine schwere Zeit, die nächsten Wochen«, und dann ließ er mich weiter fernsehen, und nach einer Weile kam Victoria herein und setzte sich und schaute zu mir herüber, und dann sagte sie: »Fantastisch, jetzt weiß es also jeder.« Und wir saßen da und sahen den Schluss irgendeines drittklassigen Donnerstagabendthrillers, nur konnte ich mich nicht konzentrieren, sondern musste immer nur eines denken:
Wie? Wie hast du es fertiggebracht, den Kopf zu drehen und ihn fest anzusehen und den Hals zu recken und ihn auf den Mund zu küssen? Wie kommt es, dass du nicht gelähmt warst vor Angst und Unschlüssigkeit? Wie konntest du wissen, dass er dich annehmen, an sich ziehen, sich an dich drücken und sogar einen kleinen erstickten Laut von sich geben würde, wie ein Schrei, wie ein Schrei tief im Rachen? Hier im Flur fragt sich Isolde: Habe ich damals, an dem Abend neulich, dieses Gefühl gehabt? Diesen schrillen Schwall Furcht und Sehnsucht, dieses Fahrstuhlabsacken, dieses merkwürdig hinausgezögerte Vorspiel zu einem Niesen? Später wird sie das Gefühl vielleicht als eine objektlose Form der Erregung identifizieren, als eine ungehörige Forderung, die hin und wieder an ihrem Körper zupft, wie wenn eine Saite, obwohl unberührt, in harmonischem Einklang mit einem Klavier in der Nähe mitschwingt. Vielleicht gelangt sie später zu der Erkenntnis, dass das Gefühl ein bisschen so ist wie ein kleiner Anflug von Hunger, nicht das bohrende, übermächtige Verlangen echten Hungers, sondern nur ein kleiner Appetit, der kurz zusticht wie eine Warnung der plötzlich auftritt und gleich wieder verschwindet. Aber bis dahin, bis zu dieser Zeit in kommenden Jahren, wenn sie die Gezeiten und Gelüste ihres Körpers längst kennt und sagen kann: Das ist Frustration und Das ist Verlangen und Das ist Sehnsucht, eine nostalgische sexuelle Sehnsucht, die mich in eine frühere Zeit zurückzieht, bis dahin wird alles klassifiziert sein, wird alles Namen und Gestalt haben, wird der bescheidene Kompass ihrer Begierden umgrenzt von dem, was sie erfahren, was sie erlebt, was sie empfunden hat. Bisher hat Isolde nichts erlebt, und dieses Gefühl bedeutet deshalb nicht Ich muss heute Abend Sex haben oder Ich bin noch randvoll, fließe noch über von gestern Nacht. Es bedeutet weder In wen bin ich verliebt, dass ich dieses Zerren spüre? noch Ich will wieder das Unerreichbare haben. Es ist noch kein Gefühl, das sie in eine Richtung weist. Es ist nur das Gefühl eines Vakuums, einer Leere, die gefüllt werden will. Nichts davon kann man Isolde am Gesicht ablesen: Sie sitzt einfach da im grauen Zwielicht, die Hände im Schoß, und blickt die Wand an.
Montag
»Ich bin nie ganz sicher«, sagt die Saxofonlehrerin, »was wirklich gemeint ist, wenn Mütter sagen: Ich möchte, dass meine Tochter Erfahrungen macht, die mir nicht vergönnt waren. Meiner Erfahrung nach sind die energischsten und aggressivsten Mütter zugleich auch die am wenigsten inspirierten, die unmusikalischsten Seelen, lauter zutiefst erfolglose Frauen, die das Bild der Tochter auf der Brust tragen wie eine Medaille, eine strahlende Ablenkung vom eigenen glanzlosen Ich. Wenn diese Mütter sagen: Sie soll im vollen Umfang erleben, was mir verwehrt war, dann meinen sie in Wirklichkeit: Sie soll würdigen, was ich nicht erleben durfte. Was sie in Wirklichkeit meinen, ist: Der Mangel in meinem Leben tritt umso plastischer hervor, wenn meine Tochter alles hat. Für sich genommen ist mein Leben gewöhnlich und wertlos und nichtig. Aber wenn meine Tochter viele Erfahrungen macht und viele Möglichkeiten hat, dann wird man mir Mitgefühl entgegenbringen: Dann wird die Kargheit meines Lebens nicht Unfähigkeit sein, sondern Opfer. Ich bekomme mehr Mitgefühl und mehr Respekt, wenn ich eine Tochter großziehe, die alles ist, was ich nicht bin.« Die Saxofonlehrerin fährt sich mit der Zunge über die Zähne. Sie sagt: »Die erfolgreichen Mütter musikalische Frauen, sportliche Frauen, gebildete Frauen, zufriedene und lebenslustige Frauen, Frauen, denen nichts verwehrt wurde, Frauen, deren Eltern ihnen einst Unterrichtsstunden bezahlten , die erfolgreichen Mütter sind die zurückhaltendsten, immer. Sie haben es nicht nötig, zu beaufsichtigen oder zu herrschen oder im Namen ihrer Tochter Kämpfe auszutragen. Sie sind von sich erfüllt. Sie ruhen in sich und erwarten deshalb auch bei allen anderen diese Art von Erfülltheit. Sie können zurücktreten und ihre Töchter als eigene Wesen sehen, als etwas Ganzes und daher Unberührbares.« Die Saxofonlehrerin tritt ans Fenster, um die Rollläden herabzulassen. Draußen dämmert es schon.
Dienstag
Mrs Tyke wartet zehn Minuten im Flur, bis die Saxofonlehrerin die Tür öffnet. »Ich wollte mich eigentlich nur mal melden«, sagt sie, sobald sie drinnen sind. »Wegen dieses entsetzlichen Skandals an der Schule. Ich denke an die Mädchen.« »Verstehe«, sagt die Saxofonlehrerin und schenkt zwei Becher Tee ein. Auf dem einen ist das Bild eines Saxofonisten auf einer menschenleeren Insel, und darunter steht: Sax on the Beach. Der andere Becher ist weiß und trägt die Aufschrift: Let's talk about Sax. Die Saxofonlehrerin stellt die Kanne auf ihren Untersetzer zurück und sucht mit Bedacht einen Teelöffel aus. »Mrs Tyke«, sagt sie, »Sie würden, glaube ich, liebend gerne die Hände Ihrer Kinder an Ihrem Rockbund festnähen, nur um sie dauernd bei sich zu haben wenn Sie in Eile wären, würden ihre kleinen Beine in der Luft schwingen, und wenn Sie gemütlich schlenderten, schleiften sie über den Asphalt. Und wenn Sie sich sehr schnell um die eigene Achse drehten, fächerten ihre Kinder sich auf wie ein Sonnenplisseerock. Sie wären eine Göttin mit Korsett und Tournüre, und Ihre Kinder strahlten von Ihnen aus wie lauter anmutige kleine Speichen.« »Ich denke nur an die Mädchen, weiter nichts«, sagt Mrs Tyke. Sie streckt beide Hände aus, um ihren Becher Schwarztee entgegenzunehmen. Die Saxofonlehrerin lässt das Schweigen dahinkriechen, bis Mrs Tyke herausplatzt: »Es macht mir einfach nur Sorgen, mit was für Ideen sie manchmal heimkommt. Solche Ideen hatte sie früher nicht. Sie stecken in ihrer Backe wie eine Walnuss, und wenn sie redet, bekomme ich sie flüchtig zu sehen nur ab und zu, wenn sie den Mund weit aufmacht, ganz kurz, aber es reicht, um mich nervös zu machen. Diese Ideen sind wie ein Gegenstand, den sie mit der Zunge befühlt oder im Mund herumschiebt. Solche Ideen hatte sie früher nicht.« Sie blinzelt der Saxofonlehrerin trübselig zu, dann zuckt sie ratlos die Achseln und zieht den Kopf ein, um ihren Tee zu schlürfen. »Darf ich Ihnen sagen, was meiner Ansicht nach das Problem ist?«, fragt die Saxofonlehrerin mit leiser Honigstimme.
»Ich glaube, es kommt Ihnen ein bisschen so vor, als hätte dieser entsetzliche Mann an der Schule, dieser niederträchtige und widerliche Mann einen dicken fetten Fingerabdruck auf Ihren Brillengläsern hinterlassen, und egal, wohin Sie schauen, Sie sehen immer nur seine Finger.« Sie steht auf, um auf und ab zu gehen. »Ich weiß, Sie wollten, dass Ihre Tochter auf die gewöhnliche Weise dahinterkommt. Hinter dem Fahrradschuppen zum Beispiel oder unter der Tribüne des Rugbyplatzes oder in Biologie: Fakten mit Filzstift an der Weißwandtafel. Sie wollten, dass sie heimlich in Zeitschriften blättert und verbotene Filme ansieht. Sie wollten, dass sie mit einem blinden, klebrigen Gefummel im Wohnzimmer von Freundinneneltern anfängt, an einem Samstagabend, während die Freundinnen sich draußen in Blumentöpfe übergeben. Das hätte mehr als einmal passieren können. Es hätte eine Phase werden können. Aber darauf wären Sie vorbereitet gewesen.« Während Mrs Tyke die Saxofonlehrerin beobachtet, lässt sie zu, dass sich etwas in ihr Gesicht stiehlt, nichts so Rohes und Kühnes wie Einsicht oder Erkenntnis, sondern etwas, das sich nur als ein Erschlaffen ihrer Züge bemerkbar macht, ein winziges Nachlassen. Es ist eine hervorragende Darbietung, bei der die Saxofonlehrerin beinahe vergisst, dass sie spielt. »Und schließlich, vielleicht in der zwölften Klasse, sollte sie einen Freund haben, einen scharwenzelnden, oberflächlichen Knaben, den Sie nicht wirklich mögen, und am Ende wollten Sie die beiden erwischen, wenn Sie früher nach Hause kommen, weil Sie ein komisches Gefühl hatten, und dann finden Sie die zwei auf dem Sofa oder auf dem Boden oder in ihrem Zimmer zwischen den Teddybären und ihren rosaroten Rüschenkissen, die sie eigentlich nicht leiden kann, aber doch nicht wegwirft. Ich respektiere alles, was Sie sich für Ihre Tochter wünschen«, sagt die Saxofonlehrerin. »Ich stelle mir vor, dass es genau das ist, was sich jede gute Mutter wünscht.
Wie entsetzlich, dass dieser bösartige kleine Mann so heimtückisch die Unschuld Ihrer Tochter geraubt hat, ohne sie auch nur ein einziges Mal anzufassen, sondern einfach, indem er ihr seine schmutzigen kleinen Geheimnisse in den Hals stopft wie Bonbons aus einer braunen Papiertüte. Aber eines müssen Sie sich unbedingt klarmachen, meine Liebe«, raunt sie, »nämlich dass dieser kleine Vorgeschmack, den Ihre Tochter bekommen hat, ein Vorgeschmack darauf ist, was sein könnte. Sie hat ihn geschluckt. Er ist jetzt in ihr.«
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Dann vertauscht sie die Position ihrer überkreuzten Beine und besinnt sich, dass sie ja eine Frage stellen wollte. »Erinnern Sie sich an Namen und Gesichter sämtlicher Schüler, die Sie je unterrichtet haben?« Die Saxofonlehrerin scheint über die Frage erfreut. »Ich erinnere mich an ein einziges Gesicht«, sagt sie. »Es ist kein einzelner Schüler, sondern der Eindruck, den sie alle hinterlassen haben, wie das Negativ eines Fotos, das sich mir wie Säure ins Gedächtnis geätzt hat. Für die Klarinette empfehle ich Henry Soothill«, fügt sie hinzu und reicht eine Karte über den Tisch. »Er ist sehr gut. Er spielt im Symphonieorchester.« »Na gut«, sagt Mrs Henderson mürrisch und nimmt die Karte entgegen.
Donnerstag
Das war um vier. Um fünf klopft es abermals. Die Saxofonlehrerin öffnet die Tür. »Mrs Winter«, sagt sie. »Sie kommen wegen Ihrer Tochter. Kommen Sie herein, lassen Sie uns besprechen, wie wir sie in Halbstundenscheiben zerlegen, die mich Woche für Woche ernähren.« Sie hält die Tür weit auf, damit Mrs Winter hereinhuschen kann. Es ist dieselbe Frau wie zuvor, nur anders gekleidet Winter statt Henderson. Auch sonst hat sich manches verändert, denn die Frau ist ein Profi und hat lange über die Rolle nachgedacht. Zum Beispiel lächelt Mrs Winter nur mit halbem Mund. Mrs Winter nickt immer ein paar Sekunden zu lange. Mrs Winter atmet, wenn sie nachdenkt, leise durch die Zähne ein. Höflich tun beide so, als wüssten sie nicht, dass es dieselbe Frau ist wie zuvor. »Um es gleich zu sagen«, beginnt die Saxofonlehrerin, während sie ihr einen Becher Schwarztee reicht, »ich erlaube nicht, dass Eltern mit im Unterricht sitzen. Ich weiß, diese Praxis ist ein bisschen altmodisch ein Grund dafür ist, dass die Schüler in solcher Gesellschaft nie in Bestform sind. Sie werden rot und schwitzen, und sie lachen zu leicht, und ihre Haltung verändert sich, sie falten sich zusammen wie Blüten. Ein anderer Grund, weshalb ich es gerne sehr privat halte, ist, glaube ich, dass diese Halbstundenscheiben meine Chance sind zu beobachten, und ich will nicht teilen.« »So eine Mutter bin ich sowieso nicht«, sagt Mrs Winter. Sie sieht sich um.
Das Studio liegt auf Dachbodenhöhe mit einer Aussicht auf nichts als Spatzen und Schieferplatten. Die Ziegelmauer hinter dem Flügel ist gekalkt, die Steine entblättern sich weiß, als wären sie krank. »Lassen Sie mich Ihnen vom Saxofon erzählen«, sagt die Saxofonlehrerin. An einem Ständer neben dem Flügel hängt ein Altsaxofon. Sie nimmt es und hält es wie eine Fackel. »Das Saxofon ist ein Blasinstrument, das heißt, es wird von Ihrem Atem angetrieben. Es ist interessant, dass bei den alten Lateinern das Wort für >Atem< gleichbedeutend mit >Geist< war. Man hatte einst die Vorstellung, dass Atem und Seele ein und dasselbe seien. Dass Leben nichts anderes bedeute, als von Atem erfüllt zu sein. Wenn Sie, meine Liebe, in dieses Instrument atmen, erwecken Sie es nicht nur zum Leben Sie hauchen ihm Ihr Leben ein.« Mrs Winter nickt lebhaft. Sie nickt ein paar Sekunden zu lange. »Ich stelle allen meinen Schülern die Frage«, sagt die Saxofonlehrerin, »ist euer Leben ein Geschenk, das wertvoll genug ist, um es zu verschenken? Euer normales, nach Vanille schmeckendes Leben, eure Zwei-Minuten-Nudeln nach der Schule, euer Fernsehen bis zehn, eure Kerzen auf der Kommode und eure Gesichtswäsche am Waschbecken?« Sie lächelt und schüttelt den Kopf. »Natürlich nicht, und das liegt daran, dass sie einfach nicht genug gelitten haben, als dass es sich lohnte, ihnen zuzuhören.«
Sie lächelt Mrs Winter, die ihre gelben Knie aneinandergedrückt hat und mit beiden Händen ihren Tee umklammert, freundlich an. »Ich freue mich darauf, Ihre Tochter zu unterrichten«, sagt sie. »Sie schien mir so wunderbar beeindruckbar.« »Ja, nicht wahr, genau das finden wir auch«, sagt Mrs Winter rasch. Die Saxofonlehrerin mustert sie einen Moment, dann sagt sie: »Kehren wir zu dem Augenblick zurück, in dem Sie Ihre Lunge wieder auffüllen müssen, weil Sie Ihren Atem dem Saxofon eingehaucht haben und in Ihrem Körper nichts mehr übrig ist: zu dem Augenblick also, in dem das Sax mit mehr Leben erfüllt ist als Sie. Sie und ich, Mrs Winter, wir wissen, wie es ist, ein Leben in den Händen zu halten. Ich meine keine gewöhnliche Verantwortung wie ein Baby beaufsichtigen oder den Herd hüten oder an der Ampel auf Grün warten , ich meine jemandes Leben, wie wenn Sie eine Porzellanvase in der Hand halten ...«, sie hält ihr Saxofon in die Höhe, die flache Hand unter dem Schalltrichter, »... und wenn Sie wollten, könnten Sie es einfach ... loslassen.«
Donnerstag
An der Wand im Flur hängt ein gerahmtes Schwarz-WeißFoto: Es zeigt einen Mann, der mit gebeugten Schultern, im Mantel, das Kinn eingezogen und den Kragen aufgestellt, mit sich entknotenden Schnürsenkeln eine kurze Treppe hinauf entschwindet. Man sieht weder sein Gesicht noch seine Hände, nur den Mantelrücken und eine halbe Sohle und einen Streifen graue Socke und seinen oberen Hinterkopf. Er wirft einen Schatten an die Wand neben der Treppe, der wie ein halbseitig auseinandergezogenes Akkordeon aussieht. Bei genauerer Betrachtung des Schattens erkennt man, dass der Mann im Hinaufgehen Saxofon spielt, aber er beugt sich so über das Instrument und hält die Ellenbogen so dicht am Körper, dass von hinten nichts davon zu sehen ist. Der Schatten fällt zur Seite hin ab wie ein Feind, spaltet das Bild in zwei Teile und verrät das unter dem Mantel verborgene Sa-Isolde bricht nach den ersten sechs Takten ab. »Ich habe nicht geübt«, sagt sie sofort. »Allerdings habe ich eine Entschuldigung. Wollen Sie sie hören?« Die Saxofonlehrerin sieht sie an und nippt an ihrem Schwarztee. Entschuldigungen sind ihr fast das Liebste. Isolde lässt sich einen Moment Zeit, um ihren Kilt glatt zu streichen und sich vorzubereiten. Sie holt Luft. »Gestern Abend habe ich ferngesehen«, sagt sie, »und mein Pa kommt herein mit todernstem Gesicht und reißt so an seiner Krawatte, als würde er erwürgt, und schließlich nimmt er sie ab und legt sie weg ...« Sie hakt das Saxofon vom Nackengurt los, legt es auf einen Stuhl und lockert theatralisch den Gurt, als wäre er sehr eng gewesen. »... und sagt: Setz dich, obwohl ich schon sitze, und dann reibt er richtig fest die Hände aneinander.« Sie reibt richtig fest die Hände aneinander. »Er sagt: Deine Mutter findet, ich soll es dir noch nicht erzählen, aber deine Schwester wurde in der Schule von einem Lehrer missbraucht.« Sie wirft jetzt einen raschen Blick auf die Saxofonlehrerin und wendet ihn gleich wieder ab. »Und dann fügt er hinzu: sexuell.
Das nur zur Klärung, damit ich nicht meine, der Lehrer hätte sie für private Putzarbeiten missbraucht oder so.« Die Lampen an der Decke sind jetzt abgedunkelt, und Isolde wird nur noch von einem zuckenden Blassblau beleuchtet, einem frostigen Schein, der an den flackernden Schimmer eines Fernsehers erinnert. Die Saxofonlehrerin ist in Schatten getaucht, sodass die eine Hälfte ihres Gesichts eisengrau und die andere bleich und leuchtend ist. »Dann redet er mit einer komisch gepressten leisen Stimme über diesen Mr Saladin oder wie er heißt er leitet die Oberstufen-Jazzband und das Orchester und das Jazzensemble, alles am Mittwochvormittag, eins nach dem anderen. Ich werde ihn bis zur Oberstufe nicht haben, und auch dann nur, wenn ich Jazzband überhaupt machen will, denn das überschneidet sich mit Korbball, und ich werde mich entscheiden müssen. Mein Pa schaut mich also mit einem verschreckten Ausdruck an, so als könnte ich gleich was Verrücktes oder was wirklich Emotionales machen, und er weiß nicht, wie er damit umgehen soll. Ich sage: Woher weißt du das? Und er sagt ...« Sie kauert sich neben dem Stuhl nieder, breitet die Hände weit aus und fährt in ernstem Ton fort: »... Schatz, nach dem, was ich weiß, hat er ganz beiläufig damit angefangen, hat ihr nur gelegentlich mal ganz leicht die Hand auf die Schulter gelegt, so.« Isolde streckt die Hand aus und berührt mit den Fingerspitzen das obere Ende des Saxofons, das seitlich auf dem Stuhl liegt. In dem Moment, als ihre Finger auf das Instrument treffen, setzt ein gleichmäßiger Rhythmus ein, wie ein Pulsschlag. Die Lehrerin rührt sich nicht. »Und später hat er sich manchmal, wenn sie unbeobachtet waren, nahe zu ihr hingebeugt und in ihr Haar geatmet ...« Sie legt die Wange an das Instrument und atmet das Rohr entlang. »... so, wirklich zaghaft und schüchtern, weil er nicht weiß, ob sie es schon will, und er will sich ja nicht lächerlich machen. Aber sie ist freundlich, weil sie ihn irgendwie nett findet, und sie glaubt, dass sie in ihn verknallt ist, und bald geht seine Hand tiefer, tiefer ...«
Ihre Hand schlängelt sich das Saxofon abwärts und streicht die Kante des Schalltrichters entlang. »... bis hinunter, und sie beginnt, das irgendwie zu erwidern, und manchmal lächelt sie ihn im Unterricht an, sodass sein Herz zu rasen anfängt, und wenn sie allein sind, in der Musikalienkammer oder nach der Schule oder wenn sie mit seinem Auto irgendwohin fahren, was sie manchmal tun, wenn sie also allein sind, nennt er sie mein Zigeunermädchen er sagt es dauernd, mein Zigeunermädchen, sagt er , und sie wünscht sich, sie hätte was darauf zu erwidern, etwas, das sie ihm ins Haar flüstern kann, etwas wirklich Besonderes, das noch nie irgendwer gesagt hat.« Die Begleitmusik verstummt. Isolde blickt ihre Lehrerin an und sagt: »Es fällt ihr aber nichts ein.« Das Licht geht wieder ganz normal an. Mit finsterer Miene wirft sich Isolde in einen Sessel. »Aber so oder so«, sagt sie zornig, »ist ihr die Zeit davongelaufen, es ist zu spät, ihre Freundinnen registrieren bereits, wie sie manchmal ist, wie sie manchmal den Kopf zur Seite neigt, wie um zu flirten, und so beginnt sich alles aufzulösen, es fällt in sich zusammen wie ein Kartenhaus.« »Ich verstehe, weshalb du keine Zeit zum Üben hattest«, sagt die Saxofonlehrerin. »Sogar heute Morgen«, sagt Isolde, »wollte ich vor der Schule noch paar Tonleitern oder so spielen, aber kaum habe ich angefangen, schreit sie: Kannst du nicht wenigstens ein Mal Rücksicht nehmen? Und läuft mit diesem Pseudoschluchzen aus dem Zimmer, und ich weiß, dass es pseudo ist, denn wenn es echt wäre, wäre sie nicht weggelaufen, sondern hätte es mir vorführen wollen.«
Isolde gräbt sich das untere Ende ihrer Kiltnadel ins Knie. »Alle behandeln sie wie ein verdammtes Kunstwerk.« »Ist das so ungewöhnlich?«, fragt die Saxofonlehrerin. Isolde wirft ihr einen bösen Blick zu. »Es ist krank«, sagt sie. »Es ist krank, wie wenn Kinder ihre Haustiere wie Menschen anziehen, mit Kleidern und Perücken und allem, und sie dann auf den Hinterbeinen gehen lassen und fotografieren. Genau so ist das, nur noch schlimmer, denn man sieht ihr an, wie sehr sie's genießt.« »Ich bin sicher, dass es deine Schwester nicht genießt«, sagt die Saxofonlehrerin. »Mein Pa sagt, es dauert wahrscheinlich Jahre, bis Mr Saladin ordnungsgemäß verurteilt wird und in den Knast geht«, sagt Isolde. »Dann steht in allen Zeitungen Kindesmissbrauch, aber bis dahin gibt es kein Kind mehr, bis dahin ist sie erwachsen, genau wie er. Das ist so, als hätte jemand absichtlich den Tatort zerstört und stattdessen was Funkelnagelneues hingebaut.« »Isolde«, sagt die Saxofonlehrerin, diesmal mit Nachdruck, »ich bin sicher, sie haben nur deshalb Angst, weil sie wissen, dass die Sünde noch da ist. Sie wissen, dass sie sich in sie eingeschlichen und in ihr festgesetzt hat, dass sie an einem Ort Wurzeln geschlagen hat, von dem niemand was weiß und den niemand je findet. Sie wissen, dass seine Sünde nur eine Tat war, ein dämliches, tödliches Fummeln im hellen, staubigen Mittagspausenlicht, aber die ihre ... Ihre Sünde ist ein Zustand, eine Krankheit, die irgendwo tief drinnen sitzt, jetzt und immerdar.« »Mein Pa glaubt nicht an Sünde«, sagt Isolde. »Wir sind Atheisten.« »Es zahlt sich aus, aufgeschlossen zu sein«, sagt die Saxofonlehrerin. »Jetzt werd ich Ihnen sagen, warum sie so Angst haben«, sagt Isolde. »Sie haben Angst, weil sie jetzt alles weiß, was sie selbst wissen. Sie haben Angst, weil sie keine Geheimnisse mehr haben.« Die Saxofonlehrerin steht abrupt auf und geht zum Fenster. Beide schweigen lange, bis Isolde schließlich wieder spricht. »Mein Pa sagt nur: Ich weiß nicht, wie es passiert ist, Schatz. Wichtig ist, dass es jetzt, nachdem wir Bescheid wissen, nicht mehr vorkommen wird.«
Mittwoch
»Jazzband wurde also heute Morgen abgesagt«, sagt Bridget. »Es heißt, Mr Saladin kann heute Nachmittag nicht reinkommen. Er muss bei einer Ermittlung helfen.« Sie saugt geräuschvoll an ihrem Blättchen. »Dass es was wirklich Ernstes ist«, sagt sie, »sieht man daran, dass sie zwischen nicht genug und zu viel Information schwanken. Normalerweise hätten sie einfach gesagt: Hört zu, Leute, Jazzband fällt aus, ihr habt drei Minuten, um euer Zeug einzusammeln, raus mit euch, genießt ausnahmsweise die Sonne, los, Abflug!« Dieses Mädchen macht gut Stimmen nach. Eigentlich wollte sie Isolde sein, weil Isolde die bessere Rolle hat, aber dieses Mädchen ist auch blass und schlaksig und zerknautscht und wirkt immer leicht aufgescheucht, lauter Eigenschaften, die zu Isolde nicht passen, und deshalb spielt sie stattdessen Bridget. In Wahrheit ist es genau diese Sehnsucht, eine Isolde zu sein, die sie am meisten als Bridget charakterisiert: Bridget will immer jemand anderes sein. »Sonst«, sagt sie, »hätten sie es genau andersherum gemacht und uns mehr gesagt, als wir wissen müssen, aber absichtlich, damit wir das als Privileg erkennen. Mit weit aufgerissenen Augen hätten sie dieses feierliche heilige Ding durchgezogen, das so geht: Alle mal herhören, Ruhe jetzt, das ist wirklich wichtig. Mr Saladin musste weg, denn ein Angehöriger von ihm ist erkrankt. Okay, die Sache könnte wirklich ernst sein, und wenn beziehungsweise falls er an die Schule zurückkommt, ist es wirklich wichtig, dass ihr Rücksicht nehmt und ihn in Ruhe lasst.«
Das ist eine Theorie, über die Bridget eine Weile nachgedacht hat, und sie strahlt vor Vergnügen darüber. Sie schraubt das Blättchen ab und bläst ein experimentelles Hupen. »Bei einer Ermittlung helfen«, sagt sie verächtlich und macht sich daran, das Mundstück wieder aufzusetzen. »Und sie sind alle extra zusammengekommen, um es zu sagen, alle im Rudel oder was, sie atmen im Chor rasch ein und aus, und dabei huschen ihre Blicke hin und her, und die Direktorin steht als Windbrecherin an der Spitze, wie die Leitgans am spitzen Winkel des V.« »Soweit ich weiß, wechseln sich die Gänse an der Spitze ab«, sagt die Saxofonlehrerin geistesabwesend. »Windbrecher zu sein ist bestimmt ziemlich anstrengend.« Sie durchblättert einen Stapel Noten. Das Bücherregal hinter ihr ist mit alten Manuskripten vollgestopft und schwitzt einzelne Blätter auf den Boden aus. Isolde wäre niemals auf derart abweisende Art von der Saxofonlehrerin unterbrochen worden: Das war einer der Gründe, weshalb Bridget die Rolle gerne gehabt hätte. Mit einem Mal erinnert sie sich wieder, dass sie blass und schlaksig und zerknautscht und durch und durch zweitrangig ist, und sie errötet vor neuer Entschlossenheit, sich die Bühne zurückzuerobern. »Sie schlurfen also herein«, sagt sie, »in V-Formation oder wie auch immer, eine graue Polyesterarmee, und alle bemühen sich total, niemanden richtig anzuschauen und vor allem das riesige klaffende Loch neben dem ersten Altsax zu ignorieren, wo sonst Victoria sitzt.« Bridget sagt »Victoria« mit Nachdruck und unverhohlener Befriedigung. Um sich ihrer Wirkung zu vergewissern, blickt sie zur Saxofonlehrerin hinüber, doch die blättert mit ihren großen blau geäderten Händen in Papieren und zuckt mit keiner Wimper. »Die Türen der Übungsräume haben kleine Fenster aus verstärktem Glas, damit man hineinschauen kann«, sagt Bridget und strengt sich jetzt noch mehr an. Ihre Stimme wird umso lauter, je angestrengter sie ist. »Aber Mr Saladin hat über sein Fenster den Belegungsplan geklebt, sodass man nichts sieht als den Stundenplan und, wenn drinnen das Licht brennt, kleine weiße Leuchtsplitter ringsherum. Wenn Victoria ihre Holzbläserübung hatte, erloschen die Splitter.« »Na, da ist es ja!«, sagt die Saxofonlehrerin und schwenkt eine Handvoll Notenblätter. »>Das alte Schloss< aus den Bildern einer Ausstellung. Ich denke, das wird dich interessieren, Bridget.
Lass uns mal darüber reden, weshalb sich das Saxofon nie so recht als Orchesterinstrument durchgesetzt hat.« Die Saxofonlehrerin ist manchmal selbst über sich empört, wenn sie Bridget auf diese Weise zu peinigen versucht. »Sie strengt sich einfach immer so verzweifelt an«, sagte sie einmal zu Bridgets Mutter. »Das macht es so leicht. Wenn es nicht so offensichtlich wäre, wie sie sich anstrengt, wäre ich versucht, sie etwas mehr zu respektieren.« Bridgets Mutter nickte und nickte und sagte dann: »Ja, wir stellen fest, dass das oft ein Problem ist.« Jetzt sieht die Saxofonlehrerin Bridget an, wie sie vor ihr steht, flachsig und zerknautscht und so verzweifelt angestrengt, und hebt die Brauen. Bridget errötet vor Frustration und überspringt absichtlich alle denkbaren Äußerungen über Mussorgski und Bilder einer Ausstellung und Ravel und die Gründe, weshalb sich das Saxofon nie als Orchesterinstrument durchgesetzt hat. Das alles lässt sie aus und steuert direkt auf eine Textzeile zu, die ihr gefällt. »Sie tun so, als wäre es eine vorbeugende Maßnahme«, sagt sie, noch lauter jetzt. »Wie bei einer Impfung, bei der man dem Körper einen kleinen Vorgeschmack verpasst, damit er Abwehrkräfte gegen die eigentliche Krankheit bildet. Sie sind verschreckt, weil es eine Krankheit ist, die sie noch nie an uns ausprobiert haben, und jetzt versuchen sie, uns zu impfen, ohne uns zu sagen, was das überhaupt für eine Krankheit ist. Sie wollen es uns ganz heimlich injizieren, ohne dass wir was merken. Das wird nicht klappen.« Jetzt sehen sie einander wirklich an. Die Saxofonlehrerin lässt sich einen Moment Zeit, um den Papierstapel an der Kante des Teppichs auszurichten, und fragt dann: »Warum wird es nicht klappen, Bridget?« »Weil wir's gemerkt haben!«, sagt Bridget und atmet laut durch die Nase. »Wir passen auf.«
Montag
Julias Füße scharren ständig, und sie hat einen Schorf am Mund. »Heute Morgen haben sie eine Klassenversammlung einberufen«, sagt sie, »und der Schulpsychologe war auch da und hat sich total aufgeblasen, als wäre er noch nie so wichtig gewesen.« Sie spricht über die Schulter, während sie ihren Instrumentenkoffer öffnet. Die Saxofonlehrerin sitzt in einem kalten Lichtkegel, der durch das Fenster fällt, und sieht die Möwen kreisen und scheißen. Die Wolken hängen tief. »Sie redeten mit dieser leisen Honigstimme, als gingen wir kaputt, wenn sie zu laut sprechen. Sie sagen: Ihr habt ja wohl alle die Gerüchte mitbekommen, die seit letzter Woche im Umlauf sind. Wir müssen jetzt gemeinsam ein paar Dinge durchsprechen, damit wir alle genau wissen, wo wir stehen.« Julia dreht sich auf dem Absatz um, befestigt ihr Sax am Nackengurt und steht einen Moment da, die Hände in die Seiten gestemmt. Das Sax hängt ihr um den Körper wie eine Waffe. »Der Schulpsychologe ist ein Vollidiot«, sagt sie entschieden. »In der Neunten waren ich und Katrina mal bei ihm, weil Alice Franklin in einem Kino Sex hatte, und wir hatten Angst, sie wird eine Schlampe und kriegt aus Versehen Kinder und ruiniert sich ihr Leben. Wir erzählten ihm alles und dass wir Angst hatten, und Katrina weinte sogar.
Er saß bloß da und zwinkerte und nickte dauernd, aber total langsam, so als wäre er auf ein Viertel Geschwindigkeit heruntergeschraubt, und als wirklich alles gesagt war und Katrina auch nicht mehr weinte, zog er seine Schublade auf und holte ein Blatt Papier raus und zeichnete drei Kreise ineinander, und dazu schrieb er Ihr, dann Eure Familie und dann Eure Freunde, und er sagte: So ist es, oder? Und dann sagte er, wir könnten das Blatt behalten, wenn wir wollen.« Julia schnaubt verächtlich und schlägt ihren Plastikordner mit Noten auf. »Was wurde aus Alice Franklin?«, fragt die Saxofonlehrerin. »Och, sie hatte gelogen«, sagt Julia. »Sie hatte nicht Sex in einem Kino.« »Nein.« Julia lässt sich einen Moment Zeit, um die Spinnenbeine des Notenständers zu richten. »Aber warum hat sie denn gelogen?«, fragt die Saxofonlehrerin höflich. Julia macht eine ausladende Armbewegung. »Wahrscheinlich war ihr nur langweilig«, sagt sie. Aus ihrem Mund klingt das Wort erhaben und großartig. »Verstehe«, sagt die Saxofonlehrerin. »Also jedenfalls diese Versammlung. Sie sagen: Vielleicht können wir den Ball ins Rollen bringen, wenn wir fragen, ob sich jemand was vom Herzen reden möchte? Und genau da fängt eines der Mädchen zu weinen an, noch bevor irgendwas wirklich passiert war, und der Schulpsychologe macht sich vor Begeisterung fast in die Hosen und sagt irgendeinen Scheiß wie: Alles, was heute hier gesagt wird, bleibt zwischen diesen vier Wänden. Das Mädchen sondert also irgendeinen Schwachsinn ab, und ihre Freundin ergreift ihre Hand oder macht sonst was Krankes, und dann fangen alle an sich auszuschütten und labern was von Vertrauen und Verrat und Geborgenheit und dass sie Angst haben und durcheinander sind ... und es ist schon klar, dass das ein scheißlanger Vormittag wird.« Julia wirft einen Blick zur Saxofonlehrerin hinüber, um festzustellen, ob ihre Ausdrucksweise eine Wirkung hat, doch die Saxofonlehrerin lächelt nur frostig und wartet.
Bridget hätte gescheut und sich gekrümmt und scharlachrot verfärbt und sich danach noch ewig den Kopf zerbrochen, aber Julia ist es egal. Sie grinst nur und verwendet unnötige Sorgfalt darauf, die schlüpfrigen Seiten in den Notenständer zu klemmen. »Nach einer Weile«, fährt Julia fort, »fragt der Schulpsychologe: Was ist Belästigung, Mädchen? Und schaut uns so eifrig und ermutigend an, wie Lehrer immer schauen, wenn sie einerseits intensiv hoffen, dass man die richtige Antwort gibt, und andererseits genauso intensiv hoffen, dass man das Falsche sagt, damit ihnen der Genuss bleibt, das Richtige selber zu sagen. Dann sagt er leise und feierlich, so als teilte er uns was mit, das sonst kein Mensch weiß: Belästigung muss nicht unbedingt Anfassen bedeuten, meine Lieben. Auch Blicke können eine Belästigung sein. Es kann Belästigung sein, wenn euch jemand auf eine Weise ansieht, die euch nicht passt. Ich hebe also die Hand und frage: Wird es zur Belästigung, weil jemand was Bestimmtes beobachtet? Oder weil er sich was vorstellt, während er beobachtet? Alle sehen mich an, und ich werde total rot, und der Schulpsychologe legt seine Fingerspitzen aneinander und sieht mich mit diesem langen Blick an, der besagt: Ich weiß, was du vorhast, du versuchst, diese Vertrauenskiste zu sabotieren, die wir hier aufbauen, und ich werde deine Frage beantworten, weil ich muss, aber ich werde dir nicht die Antwort geben, die du hören willst.« Die Saxofonlehrerin steht endlich auf und ergreift ihr Saxofon, wie um zu sagen: »Genug.« Aber Julia, getrieben von einer seltsamen rotwangigen Eigendynamik, sagt es bereits. Sie sagt: »Ich stelle mir Sachen vor, wenn ich Leute beobachte.«
Freitag
Isolde wartet draußen im Flur. Der 15.30-Uhr-Unterricht nähert sich dem Ende, und sie hört durch die Wand das leise Gemurmel der Saxofonlehrerin. Hier im menschenleeren Flur genießt Isolde die Stille hinter der Bühne, bevor ihr Stichwort fällt und sie anklopfen und eintreten muss. Sie atmet tief ein und schmeckt auf der Zunge die Ruhe und sorglose Ungestörtheit einer gänzlich unbeobachteten Person. Normalerweise wäre sie jetzt von einer Vorunterrichtsfurcht erfüllt, hätte fahrig in ihren Unterlagen geblättert und mit den Noten auf dem Schoß, die gespreizten Hände durch die leere Luft bewegend, pantomimisch geübt. Aber heute denkt sie nicht an den Unterricht. Sie sitzt still da und versucht mit aller Macht, ein geheimes schwellendes Gefühl tief in ihrer Brust einzufangen und zu bewahren. Es ist wie eine kleine Lufttasche, die ihr in den Mund gefahren ist und einen kleinen Schauder über den Rücken gejagt und an der leeren Halbschale ihres Schambeins gezogen hat. Sie spürt ein anhaltendes flaues Gefühl im Bauch und ein Ziehen der Leere im Brustkorb, und mit einem Mal wird ihr siedend heiß. So fühlt sie sich manchmal, wenn sie in der Badewanne liegt oder wenn im Fernsehen Leute sich küssen oder wenn sie im Bett mit den Fingerspitzen die weiche Wölbung ihres Bauchs entlangfährt und sich vorstellt, dass die Hand nicht die ihre ist. Meist sinkt das Gefühl dann unerklärlich abwärts manchmal an der Bushaltestelle oder in der Schlange an der Essensausgabe oder wenn sie auf das Läuten einer Glocke wartet. Sie denkt: Habe ich das gespürt, als ich meine Schwester zum ersten Mal als sexuelles Wesen sah? Als mein Pa meinen Kopf berührte und sagte: »Das wird jetzt eine schwere Zeit, die nächsten Wochen«, und dann ließ er mich weiter fernsehen, und nach einer Weile kam Victoria herein und setzte sich und schaute zu mir herüber, und dann sagte sie: »Fantastisch, jetzt weiß es also jeder.« Und wir saßen da und sahen den Schluss irgendeines drittklassigen Donnerstagabendthrillers, nur konnte ich mich nicht konzentrieren, sondern musste immer nur eines denken:
Wie? Wie hast du es fertiggebracht, den Kopf zu drehen und ihn fest anzusehen und den Hals zu recken und ihn auf den Mund zu küssen? Wie kommt es, dass du nicht gelähmt warst vor Angst und Unschlüssigkeit? Wie konntest du wissen, dass er dich annehmen, an sich ziehen, sich an dich drücken und sogar einen kleinen erstickten Laut von sich geben würde, wie ein Schrei, wie ein Schrei tief im Rachen? Hier im Flur fragt sich Isolde: Habe ich damals, an dem Abend neulich, dieses Gefühl gehabt? Diesen schrillen Schwall Furcht und Sehnsucht, dieses Fahrstuhlabsacken, dieses merkwürdig hinausgezögerte Vorspiel zu einem Niesen? Später wird sie das Gefühl vielleicht als eine objektlose Form der Erregung identifizieren, als eine ungehörige Forderung, die hin und wieder an ihrem Körper zupft, wie wenn eine Saite, obwohl unberührt, in harmonischem Einklang mit einem Klavier in der Nähe mitschwingt. Vielleicht gelangt sie später zu der Erkenntnis, dass das Gefühl ein bisschen so ist wie ein kleiner Anflug von Hunger, nicht das bohrende, übermächtige Verlangen echten Hungers, sondern nur ein kleiner Appetit, der kurz zusticht wie eine Warnung der plötzlich auftritt und gleich wieder verschwindet. Aber bis dahin, bis zu dieser Zeit in kommenden Jahren, wenn sie die Gezeiten und Gelüste ihres Körpers längst kennt und sagen kann: Das ist Frustration und Das ist Verlangen und Das ist Sehnsucht, eine nostalgische sexuelle Sehnsucht, die mich in eine frühere Zeit zurückzieht, bis dahin wird alles klassifiziert sein, wird alles Namen und Gestalt haben, wird der bescheidene Kompass ihrer Begierden umgrenzt von dem, was sie erfahren, was sie erlebt, was sie empfunden hat. Bisher hat Isolde nichts erlebt, und dieses Gefühl bedeutet deshalb nicht Ich muss heute Abend Sex haben oder Ich bin noch randvoll, fließe noch über von gestern Nacht. Es bedeutet weder In wen bin ich verliebt, dass ich dieses Zerren spüre? noch Ich will wieder das Unerreichbare haben. Es ist noch kein Gefühl, das sie in eine Richtung weist. Es ist nur das Gefühl eines Vakuums, einer Leere, die gefüllt werden will. Nichts davon kann man Isolde am Gesicht ablesen: Sie sitzt einfach da im grauen Zwielicht, die Hände im Schoß, und blickt die Wand an.
Montag
»Ich bin nie ganz sicher«, sagt die Saxofonlehrerin, »was wirklich gemeint ist, wenn Mütter sagen: Ich möchte, dass meine Tochter Erfahrungen macht, die mir nicht vergönnt waren. Meiner Erfahrung nach sind die energischsten und aggressivsten Mütter zugleich auch die am wenigsten inspirierten, die unmusikalischsten Seelen, lauter zutiefst erfolglose Frauen, die das Bild der Tochter auf der Brust tragen wie eine Medaille, eine strahlende Ablenkung vom eigenen glanzlosen Ich. Wenn diese Mütter sagen: Sie soll im vollen Umfang erleben, was mir verwehrt war, dann meinen sie in Wirklichkeit: Sie soll würdigen, was ich nicht erleben durfte. Was sie in Wirklichkeit meinen, ist: Der Mangel in meinem Leben tritt umso plastischer hervor, wenn meine Tochter alles hat. Für sich genommen ist mein Leben gewöhnlich und wertlos und nichtig. Aber wenn meine Tochter viele Erfahrungen macht und viele Möglichkeiten hat, dann wird man mir Mitgefühl entgegenbringen: Dann wird die Kargheit meines Lebens nicht Unfähigkeit sein, sondern Opfer. Ich bekomme mehr Mitgefühl und mehr Respekt, wenn ich eine Tochter großziehe, die alles ist, was ich nicht bin.« Die Saxofonlehrerin fährt sich mit der Zunge über die Zähne. Sie sagt: »Die erfolgreichen Mütter musikalische Frauen, sportliche Frauen, gebildete Frauen, zufriedene und lebenslustige Frauen, Frauen, denen nichts verwehrt wurde, Frauen, deren Eltern ihnen einst Unterrichtsstunden bezahlten , die erfolgreichen Mütter sind die zurückhaltendsten, immer. Sie haben es nicht nötig, zu beaufsichtigen oder zu herrschen oder im Namen ihrer Tochter Kämpfe auszutragen. Sie sind von sich erfüllt. Sie ruhen in sich und erwarten deshalb auch bei allen anderen diese Art von Erfülltheit. Sie können zurücktreten und ihre Töchter als eigene Wesen sehen, als etwas Ganzes und daher Unberührbares.« Die Saxofonlehrerin tritt ans Fenster, um die Rollläden herabzulassen. Draußen dämmert es schon.
Dienstag
Mrs Tyke wartet zehn Minuten im Flur, bis die Saxofonlehrerin die Tür öffnet. »Ich wollte mich eigentlich nur mal melden«, sagt sie, sobald sie drinnen sind. »Wegen dieses entsetzlichen Skandals an der Schule. Ich denke an die Mädchen.« »Verstehe«, sagt die Saxofonlehrerin und schenkt zwei Becher Tee ein. Auf dem einen ist das Bild eines Saxofonisten auf einer menschenleeren Insel, und darunter steht: Sax on the Beach. Der andere Becher ist weiß und trägt die Aufschrift: Let's talk about Sax. Die Saxofonlehrerin stellt die Kanne auf ihren Untersetzer zurück und sucht mit Bedacht einen Teelöffel aus. »Mrs Tyke«, sagt sie, »Sie würden, glaube ich, liebend gerne die Hände Ihrer Kinder an Ihrem Rockbund festnähen, nur um sie dauernd bei sich zu haben wenn Sie in Eile wären, würden ihre kleinen Beine in der Luft schwingen, und wenn Sie gemütlich schlenderten, schleiften sie über den Asphalt. Und wenn Sie sich sehr schnell um die eigene Achse drehten, fächerten ihre Kinder sich auf wie ein Sonnenplisseerock. Sie wären eine Göttin mit Korsett und Tournüre, und Ihre Kinder strahlten von Ihnen aus wie lauter anmutige kleine Speichen.« »Ich denke nur an die Mädchen, weiter nichts«, sagt Mrs Tyke. Sie streckt beide Hände aus, um ihren Becher Schwarztee entgegenzunehmen. Die Saxofonlehrerin lässt das Schweigen dahinkriechen, bis Mrs Tyke herausplatzt: »Es macht mir einfach nur Sorgen, mit was für Ideen sie manchmal heimkommt. Solche Ideen hatte sie früher nicht. Sie stecken in ihrer Backe wie eine Walnuss, und wenn sie redet, bekomme ich sie flüchtig zu sehen nur ab und zu, wenn sie den Mund weit aufmacht, ganz kurz, aber es reicht, um mich nervös zu machen. Diese Ideen sind wie ein Gegenstand, den sie mit der Zunge befühlt oder im Mund herumschiebt. Solche Ideen hatte sie früher nicht.« Sie blinzelt der Saxofonlehrerin trübselig zu, dann zuckt sie ratlos die Achseln und zieht den Kopf ein, um ihren Tee zu schlürfen. »Darf ich Ihnen sagen, was meiner Ansicht nach das Problem ist?«, fragt die Saxofonlehrerin mit leiser Honigstimme.
»Ich glaube, es kommt Ihnen ein bisschen so vor, als hätte dieser entsetzliche Mann an der Schule, dieser niederträchtige und widerliche Mann einen dicken fetten Fingerabdruck auf Ihren Brillengläsern hinterlassen, und egal, wohin Sie schauen, Sie sehen immer nur seine Finger.« Sie steht auf, um auf und ab zu gehen. »Ich weiß, Sie wollten, dass Ihre Tochter auf die gewöhnliche Weise dahinterkommt. Hinter dem Fahrradschuppen zum Beispiel oder unter der Tribüne des Rugbyplatzes oder in Biologie: Fakten mit Filzstift an der Weißwandtafel. Sie wollten, dass sie heimlich in Zeitschriften blättert und verbotene Filme ansieht. Sie wollten, dass sie mit einem blinden, klebrigen Gefummel im Wohnzimmer von Freundinneneltern anfängt, an einem Samstagabend, während die Freundinnen sich draußen in Blumentöpfe übergeben. Das hätte mehr als einmal passieren können. Es hätte eine Phase werden können. Aber darauf wären Sie vorbereitet gewesen.« Während Mrs Tyke die Saxofonlehrerin beobachtet, lässt sie zu, dass sich etwas in ihr Gesicht stiehlt, nichts so Rohes und Kühnes wie Einsicht oder Erkenntnis, sondern etwas, das sich nur als ein Erschlaffen ihrer Züge bemerkbar macht, ein winziges Nachlassen. Es ist eine hervorragende Darbietung, bei der die Saxofonlehrerin beinahe vergisst, dass sie spielt. »Und schließlich, vielleicht in der zwölften Klasse, sollte sie einen Freund haben, einen scharwenzelnden, oberflächlichen Knaben, den Sie nicht wirklich mögen, und am Ende wollten Sie die beiden erwischen, wenn Sie früher nach Hause kommen, weil Sie ein komisches Gefühl hatten, und dann finden Sie die zwei auf dem Sofa oder auf dem Boden oder in ihrem Zimmer zwischen den Teddybären und ihren rosaroten Rüschenkissen, die sie eigentlich nicht leiden kann, aber doch nicht wegwirft. Ich respektiere alles, was Sie sich für Ihre Tochter wünschen«, sagt die Saxofonlehrerin. »Ich stelle mir vor, dass es genau das ist, was sich jede gute Mutter wünscht.
Wie entsetzlich, dass dieser bösartige kleine Mann so heimtückisch die Unschuld Ihrer Tochter geraubt hat, ohne sie auch nur ein einziges Mal anzufassen, sondern einfach, indem er ihr seine schmutzigen kleinen Geheimnisse in den Hals stopft wie Bonbons aus einer braunen Papiertüte. Aber eines müssen Sie sich unbedingt klarmachen, meine Liebe«, raunt sie, »nämlich dass dieser kleine Vorgeschmack, den Ihre Tochter bekommen hat, ein Vorgeschmack darauf ist, was sein könnte. Sie hat ihn geschluckt. Er ist jetzt in ihr.«
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Autoren-Porträt von Eleanor Catton
Eleanor Catton, Jg. 1985, wurde in Kanada geboren. Als sie 13 Jahre alt war, zog ihre Familie nach Neuseeland, wo sie später an der Canterbury University und der Victoria University studierte.Barbara Schaden, Jahrgang 1959, studierte Romanistik und Turkolgoie in Wien und München. Nach ein paar Jahren in der Filmbranche und im Verlagslektorat seit 1992 freiberufliche Übersetzerin, u.a. von Patricia Duncker, Margaret Atwood, Nadine Gordimer, Jean-Claude Guillebrand, MaurizioMaggiani, Fleur Jaeggy, Kazuo Ishiguro und Cindy Dyson.
Bibliographische Angaben
- Autor: Eleanor Catton
- 2010, 397 Seiten, Maße: 13,3 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schaden, Barbara
- Übersetzer: Barbara Schaden
- Verlag: ARCHE VERLAG
- ISBN-10: 3716026328
- ISBN-13: 9783716026328
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