Die Meerfrau
Eine Insel vor South Carolina: Jessie Sullivan kehrt hierher zurück, weil ihre Mutter Hilfe braucht. Sie hat sich, vermutlich in religiösem Wahn, selbst Leid zugefügt und leidet offensichtlich unter der Last eines schrecklichen Geheimnisses. Jessie, die seit Jahren nicht mehr auf der Insel war, pflegt ihre Mutter, versucht dem Geheimnis auf die Spur zu kommen und unternimmt lange einsame Wanderungen. Sie lässt sich einfangen von der Magie der Insel mit dem alten Kloster und der rauen Landschaft. Sie beginnt wieder zu malen und fügt sich ein in die Gemeinschaft der Inselfrauen. Da begegnet sie einem Mann, der ihr Leben von einer Minute auf die andere auf den Kopf stellen wird: dem Mönch Pater Thomas, der kurz davor steht, sein ewiges Gelübde abzulegen. Die beiden stürzen sich in eine leidenschaftliche Liebesbeziehung. Jessie will ihre langjährige Ehe nicht gefährden, und fragt sich immer wieder, ob sie das Recht hat, Pater Thomas von seinem vorgezeichneten Weg abzubringen. Doch die Sehnsucht nach einem Seelenverwandten, nach Sinnlichkeit und Spiritualität droht über die Vernunft zu siegen. Irgendwann braucht ihre Mutter sie nicht mehr, das Geheimnis ist gelöst. Jessie muss jetzt eine folgenschwere Entscheidung treffen ...
"Eine wunderbare Lektüre! Sue Monk Kidds Schreiben ist seelenvoll, ihre Themen sind Herzensdinge und Familiengeheimnisse." The San Francisco Chronicle
Die Meerfrau vonSue Monk Kidd
LESEPROBE
KAPITEL1
Eswar der 17. Februar 1988, ich schlug die Augen auf.
Eineganze Reihe von Geräuschen hatte mich geweckt: Erst
hattedas Telefon auf der anderen Seite des Bettes angefangen
zuklingeln, es hatte uns um 5.04 Uhr aus dem Schlaf
gerissen,und das konnte eigentlich nur Unheil bedeuten.
Dannhatte ich gehört, wie der Regen auf das Dach unseres
alten,viktorianischen Hauses trommelte, wie das Wasser
rauschendseinen Weg durch Rinnen und Rohre in den
Grundfand, und schließlich war es das Pusten gewesen, das
Hughmit der Unterlippe macht, wenn er ausatmet, ein vollkommen
gleichmäßigerRhythmus, wie ein Metronom.
ZwanzigJahre regelmäßiges Pusten. Ich hörte es ja selbst
dannschon, wenn er nicht schlief, wenn er nach dem Essen
inseinem Ledersessel saß und sich durch den Stapel der
Fachzeitschriftfür Psychiatrie las, der vom Boden emporwuchs.
SeinPusten war der Takt, der mein Leben bestimmte.
DasTelefon klingelte erneut, und ich lag da und wartete
darauf,dass Hugh abnahm. Sicher war das einer seiner Patienten,
vermutlichder paranoide Schizophrene, der schon
gesternAbend angerufen hatte, weil er davon überzeugt
war,die CIA würde ihn in ein Regierungsgebäude in Atlanta
verschleppen.
Beimdritten Klingeln griff Hugh nach dem Hörer. »Ja,
hallo«,sagte er, seine Stimme klang heiser, kam aus den Tiefen
desSchlafs.
Ichdrehte mich weg und sah auf das fahle, wässrige
Licht,das durch das Fenster drang. Mir fiel ein, dass
Aschermittwochwar, und mich überfiel das unausweichliche
Schuldgefühl.
MeinVater war an einem Aschermittwoch gestorben, ich
wardamals neun Jahre alt gewesen, und sein Tod die Folge
einerunseligen Verkettung von Umständen, die, was niemand
jewirklich begriffen hatte, ich in Gang gesetzt hatte:
Ichwar an allem schuld.
Aufseinem Boot war ein Feuer ausgebrochen, der Treibstofftank
warexplodiert - so hatte es jedenfalls damals geheißen.
Wrackteilewaren erst Wochen später an den Strand
gespültworden, und darunter war auch der Teil des Hecks
gewesen,auf dem Jes-Sea geschrieben stand. Er hatte das
Bootnach mir benannt, nicht nach meinem Bruder, noch
nichteinmal nach meiner Mutter, die er abgöttisch geliebt
hatte,sondern nach mir, Jessie.
Ichschloss die Augen und sah ölige Flammen und grelles,
orangefarbenesLicht. In einem Artikel in der Tageszeitung
vonCharleston hatte gestanden, die Umstände der Explosion
wärenfragwürdig, und es hatte sogar eine Untersuchung
gegeben,die jedoch zu keinem Ergebnis geführt
hatte- all das wusste Mike und ich aber nur, weil wir den
Zeitungsausschnittin einer Schublade des Frisiertisches
meinerMutter entdeckt hatten, ein merkwürdiger, geheimnisvoller
Hort,der zerrissene Rosenkränze, alte Heiligenmedaillons,
Heiligenbildchenund eine kleine Jesusstatue,
dienur einen Arm hatte, beherbergte. Mutter wäre wohl
niemalsauf die Idee gekommen, dass wir eines Tages in
ihrenkleinen Friedhof der Heiligtümer eindringen würden.
Ichwar fast jeden Tag an diesen furchtbringenden
Schreingegangen, ein ganzes Jahr lang. Ich war wie beses-
sengewesen, hatte den Zeitungsartikel immer und immer
wiedergelesen, vor allem den einen, entscheidenden Satz:
»DiePolizei nimmt an, dass ein Funken aus der Pfeife ein
Leckin der Treibstoffleitung entzündet hat.«
Ichwar es gewesen. Ich hatte ihm die Pfeife zum Vatertag
geschenkt.Davor hatte er niemals geraucht.
Ichkonnte bis heute nicht an meinen Vater denken, ohne
dassmir dabei das Wort »fragwürdig« in den Sinn gekommen
wäre.Ich musste immerzu daran denken, dass er an jenem
Tagzu Asche geworden war, an dem sich andere Menschen
-ich, Mike und meine Mutter - in der Kirche ein
Kreuzaus Asche auf die Stirn zeichnen lassen. Eine weitere
Ironiedes Schicksals in dieser langen Verquickung merkwürdiger,
dunklerEreignisse.
»Abersicher erinnere ich mich«, hörte ich Hugh am Telefon
sagen,und seine Stimme holte mich schlagartig in die
Wirklichkeitzurück - der Anruf, der trübe Morgen. »Uns
hiergeht es gut. Wie geht es denn bei euch so?«
Dasklang nicht nach einem Patienten. Und es war auch
ganzsicher nicht Dee, unsere Tochter. Dafür war er viel zu
förmlich.Ich fragte mich, ob es womöglich einer von Hughs
Kollegenwar. Oder ein Arzt aus dem Krankenhaus. Gelegentlich
riefeiner an, um sich über einen Fall zu beraten,
abergewöhnlich nicht um fünf Uhr morgens.
Ichschlüpfte unter der Decke hervor und ging barfuß hinüber
zumFenster, um zu sehen, wie groß die Gefahr war,
dassder Regen wieder einmal den Keller überfluten und
unserenHeißwasserkessel außer Gefecht setzen würde. Ich
starrtehinaus auf die kalte, körnige Sintflut, den bläulichen
Nebel,auf die Straße, in der das Wasser anschwoll. Ich
schauderteund wünschte mir, das Haus wäre einfacher zu
beheizen.
Ichhatte Hugh damals fast um den Verstand gebracht, als
ichihn gedrängt hatte, dieses riesige, unpraktische Haus zu
kaufen,und obwohl wir jetzt schon seit sieben Jahren darin
wohnten,weigerte ich mich immer noch, irgendetwas daran
zubemängeln. Ich fand die fünf Meter hohen Decken
unddie farbigen Glasfenster wundervoll. Und den kleinen
Turm- Gott, was liebte ich diesen Turm! Wie viele Häuser
konntenschon mit so etwas aufwarten? Man musste eine
Wendeltreppeerklimmen, um in mein Atelier zu gelangen,
eswar im ausgebauten Dachboden auf der dritten Etage,
mitDachschrägen und einem Oberlicht - so fern ab von der
Weltund so verwunschen, dass Dee es den »Rapunzelturm«
getaufthatte. Sie zog mich immer damit auf. »He, Mom,
wannlässt du endlich dein Haar herunter?«
Deesagte das zwar nur zum Spaß, aber wir wussten beide,
wassie eigentlich damit meinte - nämlich, dass ich allmählich
verstaubte.Dass ich mich hinter einer schützenden
Wandaus Bequemlichkeit und Gewohnheit verbarg. Als sie
zuWeihnachten bei uns gewesen war, hatte ich für sie einen
Comicvon Gary Larson an den Kühlschrank gepinnt: DIE
BESTEMUTTER DER WELT. Auf dem Bild standen zwei Kühe
aufeiner idyllischen Weide, und eine von ihnen sagte:
»Mirist egal, was all die anderen sagen, ich jedenfalls
binnicht glücklich.« Es war als kleiner Scherz gedacht, für
Dee.
Icherinnere mich, dass Hugh darüber gelacht hatte.
Hugh,der sonst in anderen las, als wären sie menschliche
Rorschachtests,ausgerechnet Hugh hatte nichts darin gesehen.
Deedagegen hatte außergewöhnlich lange vor dem
Bildgestanden und mich dann mit einem vielsagenden
Blickangesehen. Sie hatte es gar nicht zum Lachen gefunden.
Undganz ehrlich gesagt, ich war auch nicht glücklich, ich
warirgendwie rastlos geworden. Es hatte im Herbst angefangen
-dieses unbestimmte Gefühl, dass die Zeit vergeht,
dassmein Leben immer weiter aufgeschoben wird, dass ich
eingesperrtbin. Ich wollte nicht einmal mehr hoch in mein
Atelier.Das unfassbare Unbehagen vermeintlich glücklicher
Küheauf der saftigen, grünen Weide. Die das ständige
Wiederkäuenso satt haben.
ImWinter hatte sich das Gefühl dann noch verstärkt. Ich
brauchtenur einen der Nachbarn joggen zu sehen, und
schonstellte ich mir vor, er würde für eine Klettertour am
Kilimandscharotrainieren. Dann hatte ich mir von einer
Freundinaus meinem Bücherclub auch noch die detailgetreue
Beschreibungihres ersten Bungeesprungs anhören
müssen,sie war in Australien todesmutig von einer Brücke
gesprungen.Und dann - das war das Schlimmste gewesen -
warim Fernsehen ein Bericht über eine unerschrockene
Fraugekommen, die ganz alleine durch das tiefe Blau Griechenlands
reiste.Ich war von dem Feuerwerk an Lebensfreude,
dasaus diesen Abenteuern sprühte, überwältigt
worden,von diesem Strom kraftvoller Lebendigkeit, von
diesemunruhigen Blut, oder was es auch war, das diese
Menschenmitriss. Ich hatte ganz deutlich gespürt, dass mir
dasGefühl der Grenzenlosigkeit fehlte, mir gingen all die
außergewöhnlichenDinge ab, die andere Menschen in
ihremLeben machten - obwohl ich, wenn ich ehrlich zu
mirselber war, eigentlich nichts von alledem tun wollte. Ich
hättedamals nicht sagen können, was ich eigentlich wollte,
aberin mir war ein unbestimmtes schmerzhaftes Verlangen.
Ichspürte es auch an jenem Morgen. Als ich am Fenster
stand,kündigte es sich wieder grummelnd und verstohlen
an.Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Hugh
schienzu glauben, dass mein kleines Stimmungstief - oder
wasich sonst hatte - damit zusammenhing, dass Dee jetzt
aufdem College war. Er war tatsächlich mit dem Klischee
vonKindern angekommen, die flügge werden und das Nest
verlassen.
LetztesJahr im Herbst waren Hugh und ich, nachdem wir
Deeim Vanderbilt College gut untergebracht hatten, nach
Hausegerast, damit er pünktlich beim »Waverly Harris
Herrenturnier«zugunsten der Krebshilfe antreten konnte,
dessentwegener schon den ganzen Sommer über nervös gewesen
war.Drei Monate lang war er zweimal in der Woche
unerschrockenin die Hitze des Sommers von Georgia hinausgetreten
undhatte mit seinem teuren Prince Graphit-
Schlägertrainiert. Und dann hatte ich den ganzen Nachhauseweg
übergeweint. Ich hatte immer noch Dee vor mir gesehen,
wiesie vor ihrem Schlaftrakt gestanden und uns
nachgewunkenhatte, als wir losgefahren waren. Sie hatte
ihrAuge und ihre Brust berührt und dann auf uns gezeigt -
dashatte sie als kleines Mädchen immer gemacht. Auge,
Herz,du. Es hatte mich umgehauen. Als wir zu Hause angekommen
waren,hatte Hugh trotz meiner Widerrede
Scottangerufen, seinen Partner beim Doppel, und ihn gebeten,
seinenPlatz beim Turnier einzunehmen. Hugh war
dannbei mir zu Hause geblieben und hatte sich mit mir einen
Filmangesehen. Ein Offizier und Gentleman. Und er
hattesich auch noch wirklich große Mühe gegeben, so zu
tun,als hätte ihm der Film gefallen.
Dietiefe Traurigkeit, die an jenem Tag im Auto über mich
gekommenwar, hatte noch einige Wochen lang über mir gedräut,
aberdann hatte sie sich verzogen. Natürlich vermisste
ichDee - das war gar keine Frage - aber ich wollte nicht
glauben,dass dies allein die Ursache war.
Vorein paar Wochen hatte mich Hugh dann dazu gedrängt,
Dr.Ilg zu konsultieren, eine Kollegin aus seiner Praxis.
Ichhatte mich mit dem Argument geweigert, dass sie in
ihremBüro einen Papagei hielt.
Ichwusste, dass ich ihn damit wahnsinnig machen konnte.
Natürlichwar das nicht der wahre Grund - ich habe
nichtsgegen Leute mit Papageien, es sei denn, sie zwingen
siein zu kleine Käfige. Ich benutzte die alberne Ausrede mit
demPapagei lediglich, um Hugh zu zeigen, dass ich seinen
Vorschlagnicht ernst nahm. Es war eine der wenigen Gelegenheiten,
beidenen ich mich seinem Willen nicht beugte.
»Siehat einen Papagei, na, und wenn schon?«, sagte er.
»Duwürdest gut mir ihr klarkommen.« Vermutlichwürde
ichdas sogar, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen,
soweit zu gehen - all das Herumgestochere in der Buchstabensuppe
derKindheit, aus der dann einzelne Buchstaben
herausgefischtwerden in der Hoffnung, dass sie sich zu erhellenden
Sätzenzusammenfügen lassen, die erklären, warum
sichdie Dinge so und nicht anders entwickelt haben.
Gelegentlichjedoch malte ich mir im Geiste Sitzungen
mitDr. Ilg aus. Darin erzählte ich ihr von meinem Vater,
undsie machte sich grunzend Notizen auf einem kleinen
Block- mehr tat sie nicht. Ihren Vogel stellte ich mir als einen
strahlendweißen Kakadu vor, der auf der Rückenlehne
ihresStuhls saß und alle möglichen ungeheuerlichen Kommentare
ausstieß,ein endloser Widerhall, wie der Chor einer
griechischenTragödie: »Du gibst dir die Schuld, du
gibstdir die Schuld, du gibst dir die Schuld.«
Vorkurzem, keine Ahnung, was da in mich gefahren war,
hatteich Hugh von meinen imaginären Sitzungen mit Dr.
Ilgerzählt, selbst von dem Papagei. Er hatte gelächelt.
»Vielleichtsolltest du dir lieber einen Termin bei dem Vogel
gebenlassen«, hatte er gemeint. »Deine Dr. Ilg klingt ja wie
einvölliger Trottel.«
Hughlag im Bett und hörte der Person am anderen Ende
derLeitung zu und gab etwas wie »hm-hm, aha-aha« von
sich.Sein Gesicht hatte sich zu dem Ausdruck verschlossen,
denDee »Das Große Stirnrunzeln« nannte, eine Miene
konzentriertenund angestrengten Zuhörens, bei der man
beinahesehen konnte, wie die verschiedenen Kolben in seinem
Gehirnarbeiteten, sich abwechselnd hoben und senkten:
Freud, Jung, Adler, Horney, Winnicott. ( )
© btb Verlag
Übersetzung: Astrid Mania
- Autor: Sue Monk Kidd
- 2005, 1, 382 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Mania, Astrid
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442751632
- ISBN-13: 9783442751631
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Meerfrau".
Kommentar verfassen