Die unsichtbaren Stimmen
Roman
Carolina de Roberts hat mit ihrem Debütroman ein mitreßendes Epos über drei Frauen in Südamerika entworfen.
Alles beginnt mit einem Wunder: Aus einem Baum, aus schwindelnder Höhe, fällt ein Mädchen....
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Produktinformationen zu „Die unsichtbaren Stimmen “
Carolina de Roberts hat mit ihrem Debütroman ein mitreßendes Epos über drei Frauen in Südamerika entworfen.
Alles beginnt mit einem Wunder: Aus einem Baum, aus schwindelnder Höhe, fällt ein Mädchen. Man nennt sie Pajarita, kleiner Vogel. Aus einem verschlafenen Nest am Río Negro verschlägt es Pajarita nach Montevideo, wo sie ganz allein vier Kinder großzieht. Ihre Tochter Eva geht nach Argentinien, lebt als Dichterin in den Kreisen der Bohème von Buenos Aires und findet ihre große Liebe. Evas Tochter Salomé schließt sich den Rebellen im Kampf gegen die Militärdiktatur in Uruguay an und verschwindet für viele Jahre hinter Gefängnismauern.
Fesselnd und voller poetischer Kraft erzählt Carolina De Robertis die Geschichte dreier Generationen von Frauen in Montevideo. Drei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Drei Frauen mit einem unbändigen Drang zu einem selbstbestimmten Leben - gegen alle Widerstände. Drei Frauen, die für die Geschichte Südamerikas im 20. Jahrhundert stehen.
Klappentext zu „Die unsichtbaren Stimmen “
Alles beginnt mit einem Wunder: Aus einem Baum, aus schwindelnder Höhe, fällt ein Mädchen. Man nennt sie Pajarita, kleiner Vogel. Aus einem verschlafenen Nest am Río Negro verschlägt es Pajarita nach Montevideo, wo sie ganz allein vier Kinder großzieht. Ihre Tochter Eva geht nach Argentinien, lebt als Dichterin in den Kreisen der Bohème von Buenos Aires und findet ihre große Liebe. Evas Tochter Salomé schließt sich den Rebellen im Kampf gegen die Militärdiktatur in Uruguay an und verschwindet für viele Jahre hinter Gefängnismauern. Fesselnd und voller poetischer Kraft erzählt Carolina De Robertis die Geschichte dreier Generationen von Frauen in Montevideo. Drei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Drei Frauen mit einem unbändigen Drang zu einem selbstbestimmten Leben - gegen alle Widerstände. Drei Frauen, die für die Geschichte Südamerikas im 20. Jahrhundert stehen.
Alles beginnt mit einem Wunder: Aus einem Baum, aus schwindelnder Höhe, fällt ein Mädchen. Man nennt sie Pajarita, "kleiner Vogel". Aus einem verschlafenen Nest am Río Negro verschlägt es Pajarita nach Montevideo, wo sie ganz allein vier Kinder großzieht. Ihre Tochter Eva geht nach Argentinien, lebt als Dichterin in den Kreisen der Bohème von Buenos Aires und findet ihre große Liebe. Evas Tochter Salomé schließt sich den Rebellen im Kampf gegen die Militärdiktatur in Uruguay an und verschwindet für viele Jahre hinter Gefängnismauern.
Fesselnd und voller poetischer Kraft erzählt Carolina De Robertis die Geschichte dreier Generationen von Frauen in Montevideo. Drei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Drei Frauen mit einem unbändigen Drang zu einem selbstbestimmten Leben - gegen alle Widerstände. Drei Frauen, die für die Geschichte Südamerikas im 20. Jahrhundert stehen.
Fesselnd und voller poetischer Kraft erzählt Carolina De Robertis die Geschichte dreier Generationen von Frauen in Montevideo. Drei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Drei Frauen mit einem unbändigen Drang zu einem selbstbestimmten Leben - gegen alle Widerstände. Drei Frauen, die für die Geschichte Südamerikas im 20. Jahrhundert stehen.
Lese-Probe zu „Die unsichtbaren Stimmen “
Die unsichtbaren Stimmen von Carolina de RobertisPajaritas Bruder Artigas erinnerte sich genau daran, wann Tía Tita zu ihnen gezogen war: Es war 1899 – als Pajarita das erste Mal geboren wurde, vor dem Baum, vor dem Wunder.
In jenem Jahr war Artigas vier geworden, und seine Mutter, La Roja, war bei der Geburt seiner Schwester gestorben. Sie ließ nichts zurück außer einem Meer aus Blut und einem neugeborenen
Kind mit großen schwarzen Augen. Die vorige Geburt hatte auch zu einem Tod geführt, aber damals war es das Kind gewesen, das starb, und Mamá war noch eine Weile dageblieben, um zu kochen und zu singen. Diesmal hörte sie auf, sich zu bewegen. Ihr Blut durchtränkte den Stapel aus Fellen, auf denen die Familie schlief, und die Felle waren für immer ruiniert. Deshalb erschrak Artigas, als er sah, wie sein Vater, Miguel, sich damit das Gesicht rieb und weinte. Seine Haut war rot verschmiert. Das Neugeborene schrie.
Miguel ignorierte es. In dieser Nacht konnte niemand schlafen.
Am Morgen kam Tía Tita und blickte sich in der Hütte um. La Rojas Rinderschädelhocker stand nicht an seinem Platz am Tisch. Miguel hielt ihn mit beiden Händen fest, saß reglos da, zur Wand gedreht. Hinter ihm hockte Artigas auf den verschmierten Fellen, das zappelnde Neugeborene im Arm. Die Kochmulde war kalt und leer; Tía Tita füllte sie mit Holz. Sie schrubbte die Blutflecken von der Wand, machte tortas fritas, schleppte die blutgetränkten Felle nach draußen und rieb die Kleider sauber. Sie fand vier Hügel weiter eine junge Mutter, die das noch namenlose Kind stillen konnte. Esa bebita, dieses Baby, so nannte man die Kleine an den Brunnen von Tacuarembó.
Tía Tita blieb bei ihnen, und Artigas war froh darüber; seine Tante war wie ein Ombú-Baum, mit einem kräftigen Stamm und sehr lebendig, auch wenn sie
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schwieg. Artigas rollte sich in ihrem Schatten zusammen. Er schlief, an die warme Rinde ihres Körpers geschmiegt. Die Jahreszeit wechselte von kalt zu heiß und wieder zurück zu kalt. Miguels Herz wurde hart wie Rindfleisch im Rauch. Er fasste die Kleine nicht an. Eines Abends – als der Winterwind durch die Ritzen in der Wand fegte und die Baumwipfel sich draußen vor dem klaren Himmel verbeugten und der Mond so riesengroß aussah, als würde er gleich ein Kalb zur Welt bringen – da weinte das Kind jämmerlich in Titas Armen.
»Mach, dass sie still ist, Tita«, sagte Miguel.
»Es ist der Wind. Und sie bekommt Zähne.«
»Dann bring sie um, die kleine Hure!«
Artigas kauerte im Schatten. Seine namenlose Schwester betrachtete ihren Vater mit großen Augen.
Tita sagte: »Miguel.«
»Halt den Mund.«
»Miguel. Beruhige dich.«
»Ich bin ganz ruhig. Ich habe gesagt, bring sie um.«
Tía Tita schlang die Arme fester um die Kleine und starrte ihren Bruder an, der das Kind anstarrte, welches den Blick nicht abwandte. Artigas verspürte den Drang, sich zu übergeben. Er konnte den Gesichtsausdruck seines Vaters nicht ertragen, diesen Blick, der einen Menschen in Stücke hätte zerschneiden können. Das Feuer wurde schwächer, es knackte und knisterte. Sein Vater drehte sich um und zwängte sich durch den Ledervorhang nach draußen. Artigas stellte sich vor, wie er dort stand, allein, unter der gewölbten Sternenkuppel. Dann hörte er, wie Miguel auf sein Pferd stieg und über die flache Ebene davonritt.
Am nächsten Morgen war die Kleine verschwunden. Obwohl sie alle auf denselben Fellen schliefen, hatte die Familie Torres nichts bemerkt. Eine ausgiebige Suche in der Umgebung brachte kein Ergebnis: keine Krabbelspuren, keine Indizien, keine winzig kleine Leiche. Eine Woche nach ihrem Verschwinden erklärte der allgemeine Tratsch von Tacuarembó das kleine Mädchen für tot – oder, wie die fromme Doña Rosa sich ausdrückte, man glaubte, sie sei von den Engeln in den Himmel getragen worden. Sie war verhungert. Sie war gestorben, weil niemand für sie sorgte. Sie war in den Klauen einer Eule gestorben, unbenannt, unerwünscht. Miguel sagte nichts dazu, er stimmte nicht zu, widersprach aber auch nicht, er weinte nicht, er lächelte nicht.
Nur Tía Tita fahndete weiter nach ihr, im unermüdlichen Trott.
Überall suchte sie: auf den grünen Feldern, den flachen Hügeln, im dichten Gebüsch, bei den hohen oder niedrigen oder schattigen Bäumen, auf den sonnigen Abhängen, die zur Stadt führten, auf der Plaza, in der Kirche, in den drei Steinbrunnen und in den Häusern – den Ranchitos, die über die Landschaft verstreut waren, kleine Würfel mit ausgeschnittenen Fenstern, und die Frauen drinnen schnalzten mit der Zunge und antworteten gestikulierend mit einem Nein. Am Abend braute Tía Tita einen Tee aus Ombú und Ceibo-Blättern. Sie starrte auf die heißen, nassen Formen der Teeblätter und suchte nach einer Botschaft, die ihr den Aufenthaltsort der Kleinen verriet oder wenigstens ihren Tod bestätigte.
Es gab keine Botschaft. Die Suche ging weiter.
Manchmal nahm sie Artigas mit. Eine dieser Unternehmungen veränderte ihn für immer (und viele Jahre später, als er, schon ein älterer Mann, Gewehre durch den Urwald transportierte, fragte er sich, ob er vielleicht ganz normal in Tacuarembó geblieben und dort alt geworden wäre, wenn es diesen Tag nicht gegeben hätte). Es geschah an einem Sonntag, der mit einer Messe in der Stadtkirche begonnen hatte, diesem Ort, den Artigas hasste, weil er ihn immer daran erinnerte, wie er seine Mutter das letzte Mal gesehen hatte, aufgebahrt, in schwarze Tücher gehüllt und mit Blumen bedeckt. Der Priester sprach mit so viel Leidenschaft, dass sich in seinen Mundwinkeln die Spucke sammelte, und Artigas taten die Knie weh. Auf dem Heimweg zog die Tante an den Zügeln und änderte ihre Route, ohne Vorwarnung und ohne Erklärung. Artigas schaute auf die Wiesen und Felder, auf die hohen Eukalyptusbäume, die Schafe in der Ferne. Nirgends eine Spur von seiner Schwester. Sie
ritten schweigend weiter, durch die brütende Sonnenhitze.
Eine Stunde verging. Artigas wurde unruhig. »Tía«, rief er, »wie lange wollen wir noch suchen?« Sie antwortete nicht, verlangsamte auch nicht das Tempo. Ihr Rock zischelte mit seinem leisen Swisch, swisch über das Fell des Pferdes. Vielleicht diente der Umweg ja auch dazu, ein spezielles Kraut, ein seltenes Blatt oder eine bittere Wurzel für einen ihrer Heiltees oder für eine Salbe zu finden. Tía Tita sammelte immer und überall. In der Stadt war sie bekannt dafür, dass sie ihre Röcke raffte bis übers Knie, um die Kräuter tragen zu können, die sie auf fremden Grundstücken gerupft hatte. Die Gardel-Jungen verspotteten Artigas und riefen: Wir haben die Beine deiner Tante gesehen, verschmiert mit Matsch, deine Tante ist verrückt, sie sucht nach toten Kindern. Artigas war zerkratzt und blutverschmiert und als Sieger nach Hause gekommen.
Als Tía Tita endlich anhielt, glitt sie vom Pferd und rührte sich nicht von der Stelle. Artigas rutschte ebenfalls auf den Boden. Da standen sie nun auf einem unbekannten Feld. Es gab hier weder Kühe noch Schafe noch Menschen und auch kein kleines Mädchen, das vom Himmel gefallen war, es gab überhaupt nichts, nur Gras und ein paar Ombú-Bäume. Leer. Leer. Schwestern fi ndet man nicht auf leeren Feldern. Kleine Mädchen überleben nicht in der Wildnis. Selbst wenn sie das Kind fi nden würden, wäre es verstümmelt, nur noch weiße Knochen und angefressenes Fleisch, wie das Gerippe eines gerissenen Schafes. Artigas setzte sich hin und starrte auf Tía Titas Rücken, mit dem langen dunklen Zopf, der wie ein Saum zwischen den Schulterblättern nach unten führte. Sie stand so still da, dass es fast unwirklich schien. Er wartete. Nichts geschah. Die Sonne brannte auf sie herunter. Artigas schwitzte, und am liebsten hätte er auf irgendetwas eingeprügelt. Dieses leere, dumme Feld. Diese sengende Sonne. Dieser komisch reglose Rücken von Tante Tita. Er sprang auf. »Tía, was tun wir hier?«
»Wir horchen. Auf die Vögel.« Artigas machte den Mund auf, um diesem Unsinn zu widersprechen, aber er brachte keinen Ton heraus. Denn in der Sekunde, die er brauchte, um Luft zu holen, war es schon geschehen. Es war zu spät, die Geräusche des Feldes überfl uteten seinen Körper, Vögel sangen in der Luft und in den Zweigen, in seinen Knochen sangen die Vögel, und sie sangen, fein und laut und zart, verborgen unter der Haut, verborgen im Laub, sie sagten das Unsagbare mit ihrem Zwitschern und Schluchzen und Rufen, kaum auszuhalten war es, das Feld, die wilden kleinen Kehlen, die offene Welt, die seinen Verstand überstieg. Die Töne taten sich auf, sie leuchteten und verströmten eine geheime Musik, die ihn davontragen konnte und ihn nie wieder zurückbringen würde. Er war erfüllt von Angst und Schrecken und von noch etwas anderem, er hatte das Gefühl, gleich müsste er pinkeln oder weinen, aber es ging nicht. Deshalb vergrub er sein Gesicht im duftenden Gras und horchte auf die Vögel.
Sie fanden kein Kind an jenem Tag. Auch am Neujahrstag war es nicht Tía Tita, und es war auch nicht Artigas, sondern die kleine Carlita Robles, die mit der Neuigkeit auf die Plaza galoppiert kam. Artigas sah ihren nussbraunen Zopf, der hinter ihr her fl og und der die gleiche Farbe hatte wie ihr Pferd und auch genauso glänzte, als wären sie beide in denselben Farbtiegel gefallen. Der Zeitpunkt passte genau. Das Jahrhundert war neun Stunden alt. Die Pflastersteine der Plaza glitzerten in den Strahlen der Morgensonne. Müde Gestalten klammerten sich noch an den Ort des Feierns: schnarchende Trinker, junge Liebende, streunende Hunde, Artigas mit seiner alten Gitarre. Die fromme Doña Rosa war noch nicht wieder aus der Kirche gekommen. Seit Mitternacht war sie dort. Sie fastete seit Weihnachten, damit Gott nur ja kein böses Wunder schickte, ein Massaker oder die Cholera oder eine Flut von Untreue (allerdings nahm niemand ihre Bemühungen allzu ernst, denn drei Jahre zuvor war ihr Sohn mit den Rebellentruppen von Aparicio Saravia verschwunden, und seither war sie wie besessen vom Fasten und Beten. Wenn ihr Mann sie nicht finden konnte, ritt er zur Kirche, dort traf er seine Frau immer an, wie sie kniete und betete, und dann nahm er sie mit nach Hause, damit sie ihm sein Essen kochte. So ein geduldiger Mann, sagten die Leute. Kein leichtes Schicksal, wenn man ausgerechnet von Gott die Frau weggenommen bekam). »Ich hab’s gefunden – das Wunder!«, rief Carlita. »Im Baum sitzt ein Kind!«
Artigas hörte auf, Gitarre zu spielen, die Paare hörten auf, sich zu küssen, und Alfonso, der Ladenbesitzer, hob seinen besoffenen Kopf von der Bank.
»Bist du dir sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher.«
»Dann wollen wir es uns mal ansehen.«
Sie gingen zuerst in die Kirche, um Doña Rosa Bescheid zu sagen. Bunte Lichttupfer tanzten über ihre Köpfe, über Kirchenbänke und Gänge und über Doña Rosas fromm gebeugten Rücken. Carlita tauchte die Finger ins Weihwasser und machte das Kreuzzeichen. Artigas tat es ihr nach, um ihr zu gefallen (sie war so hübsch).
»Doña Rosa«, flüsterte Carlita. »Das Wunder. In einem Ceibo- Baum sitzt ein kleines Kind!«
Doña Rosa blickte von ihrem Rosenkranz auf. »Ein kleines Kind?«
»Ja.«
»Ach.« Sie runzelte die Stirn. »Was für ein Segen.«
Sie ritten den ungeteerten Weg entlang, bis zum östlichen Rand des Städtchens. Artigas spürte die heißen Pferdemuskeln unter seinen Schenkeln. Die schlaflose Nacht hatte eine hellwache Erschöpfung in ihm hinterlassen, und er hatte keine Lust, sich auszuruhen. Er würde mit seinem Pferd zum Stadtrand reiten, er würde mit seinem Pferd bis ans Ende der Welt reiten, ein neues Jahrhundert hatte begonnen, er würde reiten, immer weiter reiten, und das kleine Kind könnte seine – nein, das war unmöglich, das ging nicht –, aber wenn doch? Wie herrlich die Farben um ihn herum leuchteten, das Grün und das Gold des Sommergrases, der heiße blaue Morgenhimmel, das dunkle Braun der Ranchitos, aus denen immer mehr Leute strömten, um sich dem Ritt anzuschließen. Frauen mit Kopftüchern streckten die Köpfe durch die mit Vorhängen verhängten Türen, um die Neuigkeiten zu hören, und ließen dann die Glut im Herd allein zurück. Männer, die in der Sonne Mate tranken, banden ihre Pferde los und hoben ihre Kinder in den Sattel.
Bald war die Gruppe zweimal so groß, und sie verdoppelte sich noch einmal, wie ein Heer, das durch die Städte zieht. Als sie zu dem Ceibo-Baum gelangten, hatte die Sonne bereits den Zenit überschritten und begann zu sinken. Der Baum erhob sich über dem östlichen Brunnen, und ganz oben, dreißig Meter über der Erde, hockte, an einen dünnen Ast geklammert, ein kleines Mädchen. Sie war ungefähr ein Jahr alt. Ihre Haut war zwei Schattierungen heller als heiße Schokolade, sie hatte hohe Wangenknochen und zerzauste Haare, die ihr bis zur nackten Taille reichten. Ihre Augen waren rund und schimmerten feucht wie Geburtstagskuchen. Sie machte nicht den Eindruck, als fürchtete sie sich, und sie schien auch nicht herunterklettern zu wollen.
Artigas legte den Kopf in den Nacken. Er wollte unbedingt den Blick des Kindes auf sich lenken. Mírame, dachte er, sieh mich an.
»Sie ist eine Hexe«, sagte eine Frau.
»Eine bruja hat uns eine brujita geschickt!«
»Seid nicht albern«, schimpfte Doña Rosa. »Sie ist ein Engel! Sie ist gekommen, um Tacuarembó zu segnen.«
»Womit denn? Mit einem Regen aus Kinder-Kaka?«
»Sie ist kein Engel – sie ist ein Kind.«
»Ein schmutziges Kind.«
»Vielleicht ist sie eins von Garibaldis Bälgern. Die kraxeln ständig auf Bäume.«
»Nur Garibaldis Jungen tun das.«
»Und sie klettern nur auf Ombús.«
»Stimmt. Wie soll denn irgendjemand diesen Stamm hochklettern? «
Fünfzig Einwohner von Tacuarembó starrten zu dem kleinen Mädchen hinauf. Der Baum sah aus, als wäre es völlig unmöglich, dort hochzusteigen. Wäre es ein Ombú, so wie sie hier in der Gegend wuchsen, mit niedrigen, einladenden Ästen, hätte es kein Wunder gegeben, keine Legende, die man neunzig Jahre lang weitertrug.
Aber dieser Baum hier war der höchste Ceibo weit und breit, es gab keinen höheren in Tacuarembó, und seine niedrigsten Äste befanden sich viele Meter über dem Erdboden. Niemand konnte sich vorstellen, dass eine erwachsene Frau es schaffen würde, mit einem Kind im Arm nach oben zu klettern. Und das Kind allein erst recht nicht!
»Na gut. Doña Rosa, hier hast du dein Wunder.«
»Unser Wunder.«
»Wunder sind Wunder, was soll man da noch sagen?«
»Man kann nur Gott danken.«
»Wenn du meinst.«
»Ja, genau das meine ich.«
»Reg dich nicht auf.«
»Ist schon gut.«
»Hört zu – wir sollten uns jetzt nicht streiten.«
»Wir müssen die Kleine irgendwie herunterholen.«
»Mit einer Leiter!«
»Wir könnten sie aus dem Baum schütteln.«
»Es gibt keine Leiter, die hoch genug ist – ich weiß es, ich habe sie alle gemacht.«
»Ich kann hochklettern –«
»Du kommst doch kaum noch auf dein Pferd, hombre!«
»Vielleicht sollten wir auf ein Zeichen warten und –«
»– und? Sie noch ein Jahrhundert im Baum hocken lassen, was?«
Die Kleine thronte hoch oben über dem Lärm, teilnahmslos, ohne sich zu rühren. Artigas dachte wieder: Mírame. Sie drehte den Kopf hin und her, hin und her, und ihre Blicke begegneten sich. Du. Du. Ihre Blicke hatten Kraft, ihre Blicke waren wie ein Zweig zwischen ihnen, unsichtbar und unzerbrechlich, so schien es jedenfalls.
»Ich kenne sie!«, rief Artigas. »Sie ist meine Schwester.«
Fünfzig Gesichter wandten sich nach dem Jungen um.
»Deine Schwester?«
»Welche Schwester?«
»Ach … er meint …«
»Der Arme.«
»Der Arme!«
»Hör zu, Artigas.« Carlita Robles kniete neben ihm nieder. »Das kann sie nicht sein.«
»Warum nicht?«
»Sie ist schon zu lange fort.«
»Sie hätte nicht überlebt.«
»Kleine Mädchen können nicht alleine überleben.«
»Aber sie hat überlebt«, sagte Artigas.
Carlita und Doña Rosa schauten sich an.
»Außerdem«, fügte Artigas hinzu, »wenn die Kleine nicht meine Schwester ist, wo kommt sie dann her?«
Doña Rosa öffnete den Mund – und klappte ihn wieder zu. Niemand sagte ein Wort. Artigas schaute nach oben, zu dem kleinen Mädchen da oben im Baum. Sie erwiderte seinen Blick. Sie war weit weg, dem Himmel ganz nah, aber er hätte schwören können, dass er ihre Augen genau erkennen konnte: dunkle Teiche, hellwach, rote Äderchen im Weißen. Artigas stellte sich vor, er würde nach oben klettern, um sie zu begrüßen. »Warte auf mich!«, rief er hinauf ins Laub.
Er stieg auf sein Pferd und galoppierte den Hügel hinunter.
Tía Tita saß vor der Hütte, als er kam, und rupfte ein Huhn. Er stieg schnell ab und erzählte ihr alles. Er erzählte von der morgendlichen Plaza, von den Leuten, die sich um den Ceibo-Baum versammelt hatten, von dem Kind hoch oben in den Zweigen. Tía Tita hörte ihm zu. Sie wandte ihr Gesicht zur Sonne. Ihre Lippen bewegten sich, ohne ein Geräusch. Dann rieb sie sich die Hände an ihrer Schürze trocken und band die Schürze ab. »Gehen wir.«
Als sie zu dem Ceibo-Baum kamen, hatten die meisten der Einwohner einen dichten Ring um den Baum gebildet. Mütter hatten ihre Kinder geholt, die Kinder hatten ihre Urgroßeltern angeschleppt, Männer ihre Frauen, die streunenden Hunde von der Plaza hatten die anderen streunenden Hunde alarmiert. Pferde grasten. Doña Rosa hatte den vorderen Teil ihres Kleides geopfert, um auf dem Boden zu knien und den Rosenkranz zu beten, der vor sechzehn Jahren vom Papst gesegnet worden war. Der Sohn des Ladenbesitzers holte seine Holzfl öte hervor. Die Hunde bellten und winselten. Mehrere Mate-Krüge und Körbe mit Empanadas wanderten von Hand zu Hand. Streitigkeiten brachen aus, endeten und flammten wieder auf – über das Mädchen im Baum, über das Gebäck, darüber, wer wie viel trank und wer was mit wem in der Nacht auf der Plaza gemacht hatte. Das kleine Mädchen blickte unbeirrt aus der Höhe hinab auf das Treiben. Die Zweige umschlossen sie wie die Arme eines Beschützers.
Tía Tita und Artigas rutschten von dem gemeinsamen Sattel. Tía Tita war nicht groß, aber sie war eine gebieterische Erscheinung mit energischem Kinn, die Gehorsam forderte. »Lasst uns allein«, sagte sie, den Blick auf das kleine Mädchen gerichtet, aber an die Menge gewandt. Niemand wollte etwas verpassen, keiner hatte Lust zu gehen und einen anderen das Problem lösen zu lassen. Aber Tía Tita – diese seltsame, unberechenbare Frau, die man immer holte, um die Gebrechen alter Männer zu kurieren und den Schaum vor dem Mund der Soldaten zu heilen –, gegen Tía Tita konnte man sich nicht so leicht behaupten. Langsam, widerstrebend zerstreute sich die Menge.
»Du auch, Artigas.«
Er gehorchte. Wieder spürte er warm die Muskeln des Pferdes. Die Luft war heiß, zäh und schwer. Er gesellte sich zu einer Gruppe, die sich im Schatten eines Ombú-Baumes versammelt hatte, und drehte sich um, damit er vom Sattel aus alles beobachten konnte: Tita und der kleine Punkt da oben im Baum, dieses Mädchen, reglos und dunkel vor dem unerbittlichen Himmel. Tita hob die Arme und schien zu warten. Dann wogte die Baumspitze, die Blätter rauschten, und etwas bewegte sich blitzschnell abwärts. Titas Arme umschlossen das Kind und drückten es an ihre Brust. Artigas sah, wie seine Tante sich von dem Baum entfernte und zu Fuß heimwärts strebte. Als der Mond aufgegangen war, kannten alle Einwohner des Städtchens Tacuarembó die Geschichte von dem Sturz, der sich in einen Flug verwandelt hatte, oder von dem Flug, der zu einem Sturz geworden war.
Sie nannten das Mädchen Pajarita. Kleiner Vogel.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009
»Mach, dass sie still ist, Tita«, sagte Miguel.
»Es ist der Wind. Und sie bekommt Zähne.«
»Dann bring sie um, die kleine Hure!«
Artigas kauerte im Schatten. Seine namenlose Schwester betrachtete ihren Vater mit großen Augen.
Tita sagte: »Miguel.«
»Halt den Mund.«
»Miguel. Beruhige dich.«
»Ich bin ganz ruhig. Ich habe gesagt, bring sie um.«
Tía Tita schlang die Arme fester um die Kleine und starrte ihren Bruder an, der das Kind anstarrte, welches den Blick nicht abwandte. Artigas verspürte den Drang, sich zu übergeben. Er konnte den Gesichtsausdruck seines Vaters nicht ertragen, diesen Blick, der einen Menschen in Stücke hätte zerschneiden können. Das Feuer wurde schwächer, es knackte und knisterte. Sein Vater drehte sich um und zwängte sich durch den Ledervorhang nach draußen. Artigas stellte sich vor, wie er dort stand, allein, unter der gewölbten Sternenkuppel. Dann hörte er, wie Miguel auf sein Pferd stieg und über die flache Ebene davonritt.
Am nächsten Morgen war die Kleine verschwunden. Obwohl sie alle auf denselben Fellen schliefen, hatte die Familie Torres nichts bemerkt. Eine ausgiebige Suche in der Umgebung brachte kein Ergebnis: keine Krabbelspuren, keine Indizien, keine winzig kleine Leiche. Eine Woche nach ihrem Verschwinden erklärte der allgemeine Tratsch von Tacuarembó das kleine Mädchen für tot – oder, wie die fromme Doña Rosa sich ausdrückte, man glaubte, sie sei von den Engeln in den Himmel getragen worden. Sie war verhungert. Sie war gestorben, weil niemand für sie sorgte. Sie war in den Klauen einer Eule gestorben, unbenannt, unerwünscht. Miguel sagte nichts dazu, er stimmte nicht zu, widersprach aber auch nicht, er weinte nicht, er lächelte nicht.
Nur Tía Tita fahndete weiter nach ihr, im unermüdlichen Trott.
Überall suchte sie: auf den grünen Feldern, den flachen Hügeln, im dichten Gebüsch, bei den hohen oder niedrigen oder schattigen Bäumen, auf den sonnigen Abhängen, die zur Stadt führten, auf der Plaza, in der Kirche, in den drei Steinbrunnen und in den Häusern – den Ranchitos, die über die Landschaft verstreut waren, kleine Würfel mit ausgeschnittenen Fenstern, und die Frauen drinnen schnalzten mit der Zunge und antworteten gestikulierend mit einem Nein. Am Abend braute Tía Tita einen Tee aus Ombú und Ceibo-Blättern. Sie starrte auf die heißen, nassen Formen der Teeblätter und suchte nach einer Botschaft, die ihr den Aufenthaltsort der Kleinen verriet oder wenigstens ihren Tod bestätigte.
Es gab keine Botschaft. Die Suche ging weiter.
Manchmal nahm sie Artigas mit. Eine dieser Unternehmungen veränderte ihn für immer (und viele Jahre später, als er, schon ein älterer Mann, Gewehre durch den Urwald transportierte, fragte er sich, ob er vielleicht ganz normal in Tacuarembó geblieben und dort alt geworden wäre, wenn es diesen Tag nicht gegeben hätte). Es geschah an einem Sonntag, der mit einer Messe in der Stadtkirche begonnen hatte, diesem Ort, den Artigas hasste, weil er ihn immer daran erinnerte, wie er seine Mutter das letzte Mal gesehen hatte, aufgebahrt, in schwarze Tücher gehüllt und mit Blumen bedeckt. Der Priester sprach mit so viel Leidenschaft, dass sich in seinen Mundwinkeln die Spucke sammelte, und Artigas taten die Knie weh. Auf dem Heimweg zog die Tante an den Zügeln und änderte ihre Route, ohne Vorwarnung und ohne Erklärung. Artigas schaute auf die Wiesen und Felder, auf die hohen Eukalyptusbäume, die Schafe in der Ferne. Nirgends eine Spur von seiner Schwester. Sie
ritten schweigend weiter, durch die brütende Sonnenhitze.
Eine Stunde verging. Artigas wurde unruhig. »Tía«, rief er, »wie lange wollen wir noch suchen?« Sie antwortete nicht, verlangsamte auch nicht das Tempo. Ihr Rock zischelte mit seinem leisen Swisch, swisch über das Fell des Pferdes. Vielleicht diente der Umweg ja auch dazu, ein spezielles Kraut, ein seltenes Blatt oder eine bittere Wurzel für einen ihrer Heiltees oder für eine Salbe zu finden. Tía Tita sammelte immer und überall. In der Stadt war sie bekannt dafür, dass sie ihre Röcke raffte bis übers Knie, um die Kräuter tragen zu können, die sie auf fremden Grundstücken gerupft hatte. Die Gardel-Jungen verspotteten Artigas und riefen: Wir haben die Beine deiner Tante gesehen, verschmiert mit Matsch, deine Tante ist verrückt, sie sucht nach toten Kindern. Artigas war zerkratzt und blutverschmiert und als Sieger nach Hause gekommen.
Als Tía Tita endlich anhielt, glitt sie vom Pferd und rührte sich nicht von der Stelle. Artigas rutschte ebenfalls auf den Boden. Da standen sie nun auf einem unbekannten Feld. Es gab hier weder Kühe noch Schafe noch Menschen und auch kein kleines Mädchen, das vom Himmel gefallen war, es gab überhaupt nichts, nur Gras und ein paar Ombú-Bäume. Leer. Leer. Schwestern fi ndet man nicht auf leeren Feldern. Kleine Mädchen überleben nicht in der Wildnis. Selbst wenn sie das Kind fi nden würden, wäre es verstümmelt, nur noch weiße Knochen und angefressenes Fleisch, wie das Gerippe eines gerissenen Schafes. Artigas setzte sich hin und starrte auf Tía Titas Rücken, mit dem langen dunklen Zopf, der wie ein Saum zwischen den Schulterblättern nach unten führte. Sie stand so still da, dass es fast unwirklich schien. Er wartete. Nichts geschah. Die Sonne brannte auf sie herunter. Artigas schwitzte, und am liebsten hätte er auf irgendetwas eingeprügelt. Dieses leere, dumme Feld. Diese sengende Sonne. Dieser komisch reglose Rücken von Tante Tita. Er sprang auf. »Tía, was tun wir hier?«
»Wir horchen. Auf die Vögel.« Artigas machte den Mund auf, um diesem Unsinn zu widersprechen, aber er brachte keinen Ton heraus. Denn in der Sekunde, die er brauchte, um Luft zu holen, war es schon geschehen. Es war zu spät, die Geräusche des Feldes überfl uteten seinen Körper, Vögel sangen in der Luft und in den Zweigen, in seinen Knochen sangen die Vögel, und sie sangen, fein und laut und zart, verborgen unter der Haut, verborgen im Laub, sie sagten das Unsagbare mit ihrem Zwitschern und Schluchzen und Rufen, kaum auszuhalten war es, das Feld, die wilden kleinen Kehlen, die offene Welt, die seinen Verstand überstieg. Die Töne taten sich auf, sie leuchteten und verströmten eine geheime Musik, die ihn davontragen konnte und ihn nie wieder zurückbringen würde. Er war erfüllt von Angst und Schrecken und von noch etwas anderem, er hatte das Gefühl, gleich müsste er pinkeln oder weinen, aber es ging nicht. Deshalb vergrub er sein Gesicht im duftenden Gras und horchte auf die Vögel.
Sie fanden kein Kind an jenem Tag. Auch am Neujahrstag war es nicht Tía Tita, und es war auch nicht Artigas, sondern die kleine Carlita Robles, die mit der Neuigkeit auf die Plaza galoppiert kam. Artigas sah ihren nussbraunen Zopf, der hinter ihr her fl og und der die gleiche Farbe hatte wie ihr Pferd und auch genauso glänzte, als wären sie beide in denselben Farbtiegel gefallen. Der Zeitpunkt passte genau. Das Jahrhundert war neun Stunden alt. Die Pflastersteine der Plaza glitzerten in den Strahlen der Morgensonne. Müde Gestalten klammerten sich noch an den Ort des Feierns: schnarchende Trinker, junge Liebende, streunende Hunde, Artigas mit seiner alten Gitarre. Die fromme Doña Rosa war noch nicht wieder aus der Kirche gekommen. Seit Mitternacht war sie dort. Sie fastete seit Weihnachten, damit Gott nur ja kein böses Wunder schickte, ein Massaker oder die Cholera oder eine Flut von Untreue (allerdings nahm niemand ihre Bemühungen allzu ernst, denn drei Jahre zuvor war ihr Sohn mit den Rebellentruppen von Aparicio Saravia verschwunden, und seither war sie wie besessen vom Fasten und Beten. Wenn ihr Mann sie nicht finden konnte, ritt er zur Kirche, dort traf er seine Frau immer an, wie sie kniete und betete, und dann nahm er sie mit nach Hause, damit sie ihm sein Essen kochte. So ein geduldiger Mann, sagten die Leute. Kein leichtes Schicksal, wenn man ausgerechnet von Gott die Frau weggenommen bekam). »Ich hab’s gefunden – das Wunder!«, rief Carlita. »Im Baum sitzt ein Kind!«
Artigas hörte auf, Gitarre zu spielen, die Paare hörten auf, sich zu küssen, und Alfonso, der Ladenbesitzer, hob seinen besoffenen Kopf von der Bank.
»Bist du dir sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher.«
»Dann wollen wir es uns mal ansehen.«
Sie gingen zuerst in die Kirche, um Doña Rosa Bescheid zu sagen. Bunte Lichttupfer tanzten über ihre Köpfe, über Kirchenbänke und Gänge und über Doña Rosas fromm gebeugten Rücken. Carlita tauchte die Finger ins Weihwasser und machte das Kreuzzeichen. Artigas tat es ihr nach, um ihr zu gefallen (sie war so hübsch).
»Doña Rosa«, flüsterte Carlita. »Das Wunder. In einem Ceibo- Baum sitzt ein kleines Kind!«
Doña Rosa blickte von ihrem Rosenkranz auf. »Ein kleines Kind?«
»Ja.«
»Ach.« Sie runzelte die Stirn. »Was für ein Segen.«
Sie ritten den ungeteerten Weg entlang, bis zum östlichen Rand des Städtchens. Artigas spürte die heißen Pferdemuskeln unter seinen Schenkeln. Die schlaflose Nacht hatte eine hellwache Erschöpfung in ihm hinterlassen, und er hatte keine Lust, sich auszuruhen. Er würde mit seinem Pferd zum Stadtrand reiten, er würde mit seinem Pferd bis ans Ende der Welt reiten, ein neues Jahrhundert hatte begonnen, er würde reiten, immer weiter reiten, und das kleine Kind könnte seine – nein, das war unmöglich, das ging nicht –, aber wenn doch? Wie herrlich die Farben um ihn herum leuchteten, das Grün und das Gold des Sommergrases, der heiße blaue Morgenhimmel, das dunkle Braun der Ranchitos, aus denen immer mehr Leute strömten, um sich dem Ritt anzuschließen. Frauen mit Kopftüchern streckten die Köpfe durch die mit Vorhängen verhängten Türen, um die Neuigkeiten zu hören, und ließen dann die Glut im Herd allein zurück. Männer, die in der Sonne Mate tranken, banden ihre Pferde los und hoben ihre Kinder in den Sattel.
Bald war die Gruppe zweimal so groß, und sie verdoppelte sich noch einmal, wie ein Heer, das durch die Städte zieht. Als sie zu dem Ceibo-Baum gelangten, hatte die Sonne bereits den Zenit überschritten und begann zu sinken. Der Baum erhob sich über dem östlichen Brunnen, und ganz oben, dreißig Meter über der Erde, hockte, an einen dünnen Ast geklammert, ein kleines Mädchen. Sie war ungefähr ein Jahr alt. Ihre Haut war zwei Schattierungen heller als heiße Schokolade, sie hatte hohe Wangenknochen und zerzauste Haare, die ihr bis zur nackten Taille reichten. Ihre Augen waren rund und schimmerten feucht wie Geburtstagskuchen. Sie machte nicht den Eindruck, als fürchtete sie sich, und sie schien auch nicht herunterklettern zu wollen.
Artigas legte den Kopf in den Nacken. Er wollte unbedingt den Blick des Kindes auf sich lenken. Mírame, dachte er, sieh mich an.
»Sie ist eine Hexe«, sagte eine Frau.
»Eine bruja hat uns eine brujita geschickt!«
»Seid nicht albern«, schimpfte Doña Rosa. »Sie ist ein Engel! Sie ist gekommen, um Tacuarembó zu segnen.«
»Womit denn? Mit einem Regen aus Kinder-Kaka?«
»Sie ist kein Engel – sie ist ein Kind.«
»Ein schmutziges Kind.«
»Vielleicht ist sie eins von Garibaldis Bälgern. Die kraxeln ständig auf Bäume.«
»Nur Garibaldis Jungen tun das.«
»Und sie klettern nur auf Ombús.«
»Stimmt. Wie soll denn irgendjemand diesen Stamm hochklettern? «
Fünfzig Einwohner von Tacuarembó starrten zu dem kleinen Mädchen hinauf. Der Baum sah aus, als wäre es völlig unmöglich, dort hochzusteigen. Wäre es ein Ombú, so wie sie hier in der Gegend wuchsen, mit niedrigen, einladenden Ästen, hätte es kein Wunder gegeben, keine Legende, die man neunzig Jahre lang weitertrug.
Aber dieser Baum hier war der höchste Ceibo weit und breit, es gab keinen höheren in Tacuarembó, und seine niedrigsten Äste befanden sich viele Meter über dem Erdboden. Niemand konnte sich vorstellen, dass eine erwachsene Frau es schaffen würde, mit einem Kind im Arm nach oben zu klettern. Und das Kind allein erst recht nicht!
»Na gut. Doña Rosa, hier hast du dein Wunder.«
»Unser Wunder.«
»Wunder sind Wunder, was soll man da noch sagen?«
»Man kann nur Gott danken.«
»Wenn du meinst.«
»Ja, genau das meine ich.«
»Reg dich nicht auf.«
»Ist schon gut.«
»Hört zu – wir sollten uns jetzt nicht streiten.«
»Wir müssen die Kleine irgendwie herunterholen.«
»Mit einer Leiter!«
»Wir könnten sie aus dem Baum schütteln.«
»Es gibt keine Leiter, die hoch genug ist – ich weiß es, ich habe sie alle gemacht.«
»Ich kann hochklettern –«
»Du kommst doch kaum noch auf dein Pferd, hombre!«
»Vielleicht sollten wir auf ein Zeichen warten und –«
»– und? Sie noch ein Jahrhundert im Baum hocken lassen, was?«
Die Kleine thronte hoch oben über dem Lärm, teilnahmslos, ohne sich zu rühren. Artigas dachte wieder: Mírame. Sie drehte den Kopf hin und her, hin und her, und ihre Blicke begegneten sich. Du. Du. Ihre Blicke hatten Kraft, ihre Blicke waren wie ein Zweig zwischen ihnen, unsichtbar und unzerbrechlich, so schien es jedenfalls.
»Ich kenne sie!«, rief Artigas. »Sie ist meine Schwester.«
Fünfzig Gesichter wandten sich nach dem Jungen um.
»Deine Schwester?«
»Welche Schwester?«
»Ach … er meint …«
»Der Arme.«
»Der Arme!«
»Hör zu, Artigas.« Carlita Robles kniete neben ihm nieder. »Das kann sie nicht sein.«
»Warum nicht?«
»Sie ist schon zu lange fort.«
»Sie hätte nicht überlebt.«
»Kleine Mädchen können nicht alleine überleben.«
»Aber sie hat überlebt«, sagte Artigas.
Carlita und Doña Rosa schauten sich an.
»Außerdem«, fügte Artigas hinzu, »wenn die Kleine nicht meine Schwester ist, wo kommt sie dann her?«
Doña Rosa öffnete den Mund – und klappte ihn wieder zu. Niemand sagte ein Wort. Artigas schaute nach oben, zu dem kleinen Mädchen da oben im Baum. Sie erwiderte seinen Blick. Sie war weit weg, dem Himmel ganz nah, aber er hätte schwören können, dass er ihre Augen genau erkennen konnte: dunkle Teiche, hellwach, rote Äderchen im Weißen. Artigas stellte sich vor, er würde nach oben klettern, um sie zu begrüßen. »Warte auf mich!«, rief er hinauf ins Laub.
Er stieg auf sein Pferd und galoppierte den Hügel hinunter.
Tía Tita saß vor der Hütte, als er kam, und rupfte ein Huhn. Er stieg schnell ab und erzählte ihr alles. Er erzählte von der morgendlichen Plaza, von den Leuten, die sich um den Ceibo-Baum versammelt hatten, von dem Kind hoch oben in den Zweigen. Tía Tita hörte ihm zu. Sie wandte ihr Gesicht zur Sonne. Ihre Lippen bewegten sich, ohne ein Geräusch. Dann rieb sie sich die Hände an ihrer Schürze trocken und band die Schürze ab. »Gehen wir.«
Als sie zu dem Ceibo-Baum kamen, hatten die meisten der Einwohner einen dichten Ring um den Baum gebildet. Mütter hatten ihre Kinder geholt, die Kinder hatten ihre Urgroßeltern angeschleppt, Männer ihre Frauen, die streunenden Hunde von der Plaza hatten die anderen streunenden Hunde alarmiert. Pferde grasten. Doña Rosa hatte den vorderen Teil ihres Kleides geopfert, um auf dem Boden zu knien und den Rosenkranz zu beten, der vor sechzehn Jahren vom Papst gesegnet worden war. Der Sohn des Ladenbesitzers holte seine Holzfl öte hervor. Die Hunde bellten und winselten. Mehrere Mate-Krüge und Körbe mit Empanadas wanderten von Hand zu Hand. Streitigkeiten brachen aus, endeten und flammten wieder auf – über das Mädchen im Baum, über das Gebäck, darüber, wer wie viel trank und wer was mit wem in der Nacht auf der Plaza gemacht hatte. Das kleine Mädchen blickte unbeirrt aus der Höhe hinab auf das Treiben. Die Zweige umschlossen sie wie die Arme eines Beschützers.
Tía Tita und Artigas rutschten von dem gemeinsamen Sattel. Tía Tita war nicht groß, aber sie war eine gebieterische Erscheinung mit energischem Kinn, die Gehorsam forderte. »Lasst uns allein«, sagte sie, den Blick auf das kleine Mädchen gerichtet, aber an die Menge gewandt. Niemand wollte etwas verpassen, keiner hatte Lust zu gehen und einen anderen das Problem lösen zu lassen. Aber Tía Tita – diese seltsame, unberechenbare Frau, die man immer holte, um die Gebrechen alter Männer zu kurieren und den Schaum vor dem Mund der Soldaten zu heilen –, gegen Tía Tita konnte man sich nicht so leicht behaupten. Langsam, widerstrebend zerstreute sich die Menge.
»Du auch, Artigas.«
Er gehorchte. Wieder spürte er warm die Muskeln des Pferdes. Die Luft war heiß, zäh und schwer. Er gesellte sich zu einer Gruppe, die sich im Schatten eines Ombú-Baumes versammelt hatte, und drehte sich um, damit er vom Sattel aus alles beobachten konnte: Tita und der kleine Punkt da oben im Baum, dieses Mädchen, reglos und dunkel vor dem unerbittlichen Himmel. Tita hob die Arme und schien zu warten. Dann wogte die Baumspitze, die Blätter rauschten, und etwas bewegte sich blitzschnell abwärts. Titas Arme umschlossen das Kind und drückten es an ihre Brust. Artigas sah, wie seine Tante sich von dem Baum entfernte und zu Fuß heimwärts strebte. Als der Mond aufgegangen war, kannten alle Einwohner des Städtchens Tacuarembó die Geschichte von dem Sturz, der sich in einen Flug verwandelt hatte, oder von dem Flug, der zu einem Sturz geworden war.
Sie nannten das Mädchen Pajarita. Kleiner Vogel.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009
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Autoren-Porträt von Carolina De Robertis
Carolina De Robertis wurde 1975 geboren. Sie wuchs in England, der Schweiz und Kalifornien auf. Ihre Eltern stammen aus Uruguay. Die Autorin lebt in Oakland, Kalifornien, wo sie als Autorin und als Übersetzerin arbeitet.Adelheid Zöfel lebt und übersetzt in Freiburg im Breisgau. Zu den von ihr übersetzten Autoren gehören u.a. Marisha Pessl, Chuck Klosterman, David Gilmour, Janice Deaner und Louise Erdrich.
Bibliographische Angaben
- Autor: Carolina De Robertis
- 2009, 3, 461 Seiten, Maße: 14,7 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Zöfel, Adelheid; Holfelder-von der Tann, Cornelia
- Übersetzer: Cornelia Holfelder-Von Der Tann, Adelheid Zöfel
- Verlag: FISCHER Krüger
- ISBN-10: 3810507997
- ISBN-13: 9783810507990
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