Die weisse Straße / Charlie Parker Bd.4
Sie kommen in ihren Pickups und Personenwagen, ziehen in der klaren Nachtluft blaue Rauchschwaden hinter sich her, wie Flecken auf der Seele. Sie kommen mit ihren Frauen und Kindern, mit ihren Liebhabern und Geliebten, reden über die Ernte, das Vieh und die Reisen, die sie unternehmen wollen, über Kirchenglocken und Sonntagsschulen, Hochzeitskleider und die Namen der noch ungeborenen Kinder, darüber, wer dies und wer jenes gesagt hat, über kleine und große Dinge, das Lebensblut von tausend Kleinstädten, die nicht anders sind als ihre.
Sie kommen mit Speisen und Getränken, und der Geruch nach gebratenen Hühnern und frischgebackenen Kuchen macht ihnen den Mund wäßrig. Sie kommen mit schmutzigen Nägeln und Bierfahnen. Sie kommen in gebügelten Hemden und bedruckten Kleidern, mit gekämmten und zerzausten Haaren. Sie kommen mit Freude im Herzen, mit einer Rachsucht und Erregung, die sich wie eine Schlange in ihrem Bauch ringelt.Sie kommen, um den brennenden Mann zu sehen.
Von seinem Hocker am Fenster aus betrachtete Cebert die vorfahrenden Autos und hielt Ausschau nach auswärtigen Nummernschildern, damit er den Insassen einen Empfang nach guter alter Südstaatenart bereiten, vielleicht etwas Kaffee und ein paar Donuts verkaufen oder ihnen einige Landkarten andrehen konnte, deren von der Sonne vergilbte Einbände darauf hindeuteten, daß sie nur noch von begrenztem Nutzen waren.
Cebert kleidete sich seiner Rolle entsprechend. Er trug eine blaue Latzhose, auf deren linker Brustseite sein Name gestickt war, und eine Kappe von der Viehfuttergenossenschaft, die wie ein nachträglicher Einfall auf seinem Hinterkopf saß. Er hatte weiße Haare und einen langen Schnurrbart, der sich von der Oberlippe nach unten ringelte, so daß die beiden Spitzen fast am Kinn zusammenstießen. Cebert sehe damit aus, als wäre ihm ein Vogel in die Nase geflogen, sagten die Leute hinter seinem Rücken, aber das war nicht böse gemeint. Ceberts Familie hatte seit Generationen in dieser Gegend gelebt, und Cebert war einer der ihren. Im Schaufenster seiner Tankstelle warb er für Picknicks und Sonderangebote der Bäckerei und spendete für jede gute Sache, die ihm unterkam. Wenn er sich wie Opa Walton kleidete und benahm, weil er dadurch vielleicht ein bißchen mehr Benzin und ein paar Schokoriegel zusätzlich verkaufte, na dann viel Glück.
Über dem hölzernen Ladentisch, hinter dem Cebert tagein, tagaus saß, sieben Tage die Woche, unterstützt von seiner Frau und seinem Sohn, hing ein Schwarzes Brett mit der Aufschrift: »Schaut, wer alles da war!« Hunderte von Visitenkarten waren an die Tafel gepinnt. An den Wänden, den Fensterrahmen und an der Tür, die in Ceberts kleines Büro führte, hingen weitere Karten. Tausende kleiner Vertreter und Handlungsreisende, die durch Georgia kamen, um irgendwo Fotokopierertinte oder Haarpflegemittel zu verkaufen, hatten dem alten Cebert ihre Visitenkarten überreicht und damit ein Andenken an ihren Besuch in der »freundlichsten kleinen Tankstelle im Süden« hinterlassen. Cebert nahm nie eine ab, so daß sich Karte auf Karte türmte, wie Schichten aus abgelagertem Gestein. Klar, einige waren im Lauf der Jahre abgefallen oder hinter die Kühlschränke gerutscht, aber die meisten waren noch da, und wenn Vertreter A. oder Handlungsreisender B. Jahre später wieder vorbeikam, vielleicht mit ein, zwei Sprößlingen im Schlepptau, war es gut möglich, daß sie ihre Karten unter Hunderten anderer fanden, wie eine Erinnerung an das Leben, das sie einst geführt hatten, an die Männer, die sie einst waren.
Doch die beiden Männer, die an diesem Nachmittag um kurz vor fünf volltankten und Wasser in den dampfenden Kühler ihres schrottigen Taurus kippten, waren nicht der Typ, der Visitenkarten hinterläßt. Cebert sah das sofort, meinte zu spüren, wie etwas in seinem Bauch nachgab, als sie ihm einen kurzen Blick zuwarfen. Ihre ganze Haltung hatte etwas Bedrohliches an sich, kündete kaum verhohlen von einer tödlichen Gefahr, die ebenso eindeutig war wie ein gespannter Revolver oder eine blanke Klinge. Cebert nickte ihnen nur knapp zu, als sie eintraten, und selbstverständlich bat er sie nicht um eine Karte. Diese Männer wollten nicht, daß man sich an sie erinnerte, und wenn man schlau war, so wie Cebert, dann vergaß man sie am besten, sobald sie ihr Benzin bezahlt hatten (in bar natürlich) und sich der letzte Staub, den ihr Auto aufwirbelte, wieder gelegt hatte.
Denn wenn man sich igendwann später doch an sie erinnerte, vielleicht, wenn die Cops vorbeikamen und einem eine Beschreibung vorhielten, na ja, dann erfuhren sie es vielleicht und erinnerten sich ebenfalls an einen. Und wenn das nächste Mal jemand beim alten Cebert vorbeischaute, hatte er Blumen dabei, und der alte Cebert konnte nicht mehr mit ihm plauschen oder ihm verblichene Straßenkarten verkaufen, weil der alte Cebert nämlich tot war und sich keine Gedanken mehr über vergilbendes Inventar und abblätternde Farbe machen mußte.
Daher nahm Cebert das Geld und sah zu, wie der kleinere, der schmächtige Weiße, der Wasser nachgefüllt hatte, als sie vor der Tankstelle hielten, die billigen CDs und das spärliche Sortiment Taschenbücher durchging, die Cebert in einem Ständer an der Tür anbot. Der andere Mann, der große Schwarze mit dem schwarzen Hemd und den Designerjeans, blickte beiläufig an die Decke, in die Ecken und zu den Regalen hinter dem Ladentisch, auf denen Zigaretten gestapelt waren. Als er sich davon überzeugt hatte, daß nirgendwo eine Kamera war, holte er seine Brieftasche heraus und zählte mit den in Lederhandschuhen steckenden Fingern zwei Zehner für das Benzin und zwei Soda ab. Dann wartete er schweigend, während Cebert wechselte. Ihr Auto war der einzige Wagen an den Zapfsäulen. Es hatte New Yorker Kennzeichen, war aber ziemlich schmutzig, so daß Cebert außer der Marke, der Farbe und der Freiheitsstatue, die aus dem Dreck spitzte, nicht viel sehen konnte.
»Braucht ihr eine Karte?« fragte Cebert erwartungsvoll. »Einen Touristenführer vielleicht?«»Nein, danke«, sagte der Schwarze.
Cebert wühlte in der Kasse herum. Aus irgendeinem Grund zitterten ihm mit einem Mal die Hände. Nervös stellte er fest, daß er genau das dämliche Gespräch führte, das er unter allen Umständen hatte vermeiden wollen. Er hatte das Gefühl, als stünde er neben sich und sehe zu, wie sich ein alter Narr mit einem herabhängenden Schnurrbart vorzeitig ins Grab quatschte.»Bleibt ihr hier in der Gegend?«»Nein.«»Ich nehme an, dann wird man sich nicht mehr sehen.«»Möglicherweise nicht.«
Der Mann schlug einen Tonfall an, bei dem Cebert unwillkürlich von der Kasse aufblickte. Seine Hände waren feucht. Er schnippte mit dem Zeigefinger einen Quarter hoch und spürte, wie er durch seine hohle rechte Hand flutschte, bevor er wieder scheppernd in der Schublade landete. Der Schwarze stand nach wie vor ganz lässig auf der anderen Seite des Ladentisches, aber Cebert hatte plötzlich einen Druck im Hals, den er sich nicht recht erklären konnte. Es war, als ob der Kunde zweierlei Gestalt hätte, die eine in schwarzem Hemd, schwarzen Jeans und mit einem weichen Südstaatenzungenschlag, die andere ein unsichtbares Wesen, das irgendwie hinter den Ladentisch gelangt war und Cebert jetzt langsam die Luftröhre abdrückte.
»Aber vielleicht kommen wir auch irgendwann wieder vorbei«, fuhr er fort. »Sind Sie dann noch da?«»Das will ich doch hoffen«, krächzte Cebert.»Meinen Sie, Sie können sich an uns erinnern?«
Er stellte die Frage leichthin, vielleicht sogar mit einem angedeuteten Lächeln, aber was er damit meinte, war unmißverständlich.
Cebert schluckte. »Mister«, sagte er. »Ich hab euch schon vergessen.«
Daraufhin nickte der Schwarze, und er und sein Begleiter gingen, aber Cebert atmete erst wieder auf, als ihr Wagen außer Sicht war und der Schatten des Schildes wieder auf den leeren Vorplatz fiel.
Und als zwei Tage später die Cops kamen und sich nach den Männern erkundigten, schüttelte Cebert den Kopf und sagte, er kenne diese Männer nicht, könne sich auch nicht entsinnen, ob zwei Typen wie die in dieser Woche vorbeigekommen wären. Teufel noch mal, jede Menge Leute, die zur 301 oder zum Interstate unterwegs waren, kamen hier vorbei, hier ging’s ständig zu wie beim Einlaß zu Disney World. Und außerdem schaun die Schwarzen alle gleich aus, Sie wissen doch, wie’s is. Er spendierte den Cops Kaffee und Twinkies und schickte sie dann weiter, und zum zweiten Mal in dieser Woche dauerte es eine Weile, bis ihm auffiel, daß er die Luft anhielt.
Er drehte sich um und betrachtete die Visitenkarten, die an das einstmals blanke Stück Wand geheftet waren, beugte sich dann vor und blies den Staub von der untersten Reihe. Der Name Edward Boatner kam zum Vorschein. Der Karte zufolge verkaufte Edward Maschinenteile für eine Firma in Hattiesburg, Mississippi. Tja, wenn Edward wieder vorbeikam, konnte er einen Blick auf seine Karte werfen. Sie hing noch da, weil Edward wollte, daß man sich an ihn erinnerte.
Aber wenn jemand nicht wollte, daß man sich an ihn erinnerte, dann konnte sich Cebert auch nicht an ihn erinnern.Er mochte zwar freundlich sein, aber dumm war er nicht. © Ullstein Buchverlage
- Autor: John Connolly
- 2008, 479 Seiten, Maße: 11,8 x 18,8 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Georg
- Übersetzer: Georg Schmidt
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548267890
- ISBN-13: 9783548267890
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