Ein guter Jahrgang
Doch auch unter diesem blauen Himmel sind die Menschen nicht gegen die Versuchungen des Profits gefeit. Auf dem 20 Hektar großen Weingut, das zu dem baufälligen, aber charmanten Herrenhaus gehört, wird seit acht Jahren heimlich und unter Umgehung aller staatlichen Kontrollen eine Mischung aus Cabernet Sauvignon und Merlot produziert - so genannter »Garagenwein«, für den die Reichen und Schönen Schwindel erregend hohe Geldsummen hinblättern. Als wäre ein solches Weinkomplott nicht schon Gottesprüfung genug für den verwirrten Gentleman, hat sich auch noch eine Amerikanerin auf dem Weingut einquartiert. Sie ist jung, reizend - und auch erbberechtigt.
Ein guter Jahrgang von Peter Mayle
LESEPROBE
Hochsommer in London - als Max Skinner die Rutland Gateentlang und in den Hyde Park lief, fühlten sich die Regentropfen beinahe warmauf der Haut an. Er folgte der Biegung der Serpentine Road, und im grauenZwielicht huschten verschwommene Gestalten vorbei, Menschen, die beschlossenhatten, noch vor dem Frühstück zu leiden. Ihre Gesichter glänzten von Regen undSchweiß, und klatschende, feuchte Fußspuren kennzeichneten die Strecke, die siezurückgelegt hatten.
Dieses Wetter lockte niemanden hinter dem Ofen hervor, vom harten Kern derJogger einmal abgesehen. Es war zu nass für die jungen Mädchen mit denwippenden Brüsten und rosigen Wangen, deren Anblick Max sonst eine kleine,willkommene Abwechslung bot. Zu nass auch für den ortseigenen Blitzer, dernormalerweise im Gebüsch unweit des Musikpavillons mit lüsternem Blick auf derLauer lag, einen Regenmantel griffbereit an der Seite, um seine Blöße zuverhüllen. Zu nass sogar für die beiden Jack-Russel-Terrier, die sich einenSpaß daraus machten, nach jedem Knöchel zu schnappen, der ihren Weg kreuzte.Ihr Herrchen im Schlepptau murmelte kleinlaut Entschuldigungen.
Es war nicht nur zu nass, sondern vielleicht auch zu früh. Max pflegte seitgeraumer Zeit ziemlich spät im Büro zu erscheinen, oft erst um halb acht, undAmis, sein Chef und seine Nemesis, war darüber alles andere als erfreut. HeuteMorgen aber würde sich das Blatt wenden. Max würde als Erster da sein und sichvergewissern, dass es diesem elenden Mistkerl nicht entging! Er hatte ein großesProblem mit seinem Arbeitsleben: Ihm gefiel der Job, aber die Leute waren ihmzuwider, Amis im Besonderen.
Max drehte auf dem höchsten Punkt der Serpentine Road um und lief in RichtungAlbert Memorial zurück, in Gedanken bereits in die Tagesgeschäfte verstrickt.Heute würde die Entscheidung über den Deal fallen, an dem er seit Monatenfeilte; der Abschluss würde ihm einen satten Bonus bescheren, groß genug, umseinen unendlich geduldigen Schneider zu bezahlen und, noch wichtiger, sich dieBank vom Hals zu schaffen. Das gelegentliche leise Grollen der Missbilligungüber die ausufernden Miesen auf seinem Konto war inzwischen wahren Drohbriefengewichen, die ihn ermahnten, in einem so mageren Jahr den Gürtel enger zuschnallen. Auch das würde sich ändern, ganz gewiss. Von einer Welle derZuversicht angespornt, setzte er zum Endspurt durch die Rutland Gate an,schüttelte sich wie ein nasser Hund auf der Schwelle und schloss dieEingangstür des Georgianischen Hauses mit der Stuckfassade auf, das ein Erschließungsunternehmenausgeweidet und in ein, wie es hieß, begehrtes »pieds-à-terre für dynamischeJungmanager« umgewandelt hatte.
Der Hausmeister des imposanten Bauwerks, ein Zwerg von einem Mann mit demfahlen Teint eines Lebewesens, das in geschlossenen Räumen sein Dasein fristet,blickte von seinem Staubsauger hoch und schnalzte ungehalten mit der Zunge, alser die nassen Fußabdrücke erspähte, die Max auf dem Teppich hinterließ.
»Sie bringen mich noch ins Grab, alles was recht ist! Schauen Sie sich den verdammtenMatsch an, überall auf meinem Axminster!«
»Tut mir Leid, Bert«, entgegnete Max und starrte auf den Teppichboden. »Dauerndvergesse ich, die Schuhe auszuziehen, bevor ich das Haus betrete.«
Bert schniefte. Jedes Mal, wenn es regnete, gab es die gleiche Debatte, und sieendete stets mit der gleichen Frage. Der Hausmeister war ein eifrigerBeobachter des Aktienmarktes und wartete auf eine günstige Gelegenheit, mitHilfe der einen oder anderen Information, die nur Eingeweihten zugänglich war,einen kleinen Insiderhandel zu tätigen. »Haben Sie wenigstens ein paar guteTipps für heute auf Lager?«
Max hielt vor der Fahrstuhltür inne und legte die Finger an die Lippen. »ZumTiefstkurs kaufen. Zum Höchstkurs verkaufen. Aber keiner Menschenseele etwasverraten.«
Bert schüttelte den Kopf. Ganz schön dreist, dieser junge Spund, sich auch nochlustig über ihn zu machen. Aber er war der Einzige im ganzen Haus, der seinenGeburtstag mit einer Flasche Scotch zur Kenntnis nahm, und Weihnachten ließ ersich auch nicht lumpen, steckte ihm immer einen gut gefüllten Briefumschlag zu.Im Grunde kein schlechter Kerl, dachte Bert, als er den Staubsauger über dienassen Matschspuren hin und her schob.
Max Luxusapartment im zweiten Stock war eine Baustelle - oder, wie ein Freund,seines Zeichens Innenarchitekt, mit Blick auf einen lukrativen Auftrag gemeinthatte, eine unvollendete Symphonie. Im Moment wurde es lediglich alsSchlafplatz und nur selten für andere Dinge genutzt. Es enthielt zweierstklassige moderne Gemälde, an die Wand gelehnt, ein paar eckigeavantgardistische Möbelstücke, an denen man sich ständig blaue Flecken holte,einen verstaubten Ficus in beklagenswertem Zustand und eine ganze Batterie vonStereo- und Videogeräten. Obwohl er bereits seit zwei Jahren hier wohnte, hatteMax es erfolgreich vermieden, dem Apartment eine persönliche Note zu verleihen,abgesehen von einem kleinen Stapel Laufschuhe in einer Ecke. Er ging in diewinzige, weitgehend unbenutzte Küche, öffnete den Kühlschrank, der bis auf eineFlasche Wodka und eine Tetra-Packung Orangensaft leer war, und nahm denOrangensaft mit ins Bad.
Heißes Wasser und eiskalter Saft. Die Dusche nach dem Laufen war die täglicheBelohnung für eine seiner wenigen gesundheitszuträglichen Gewohnheiten. Erarbeitete zu hart, aß zu unregelmäßig, was für Junggesellen typisch war,schlief zu wenig und trank mit Sicherheit mehr als die fünf Gläser pro Woche,die der Vertragsarzt der Firma mit scheinheiligem Vergnügen abgesegnet hatte.Aber er absolvierte sein Lauftraining, komme, was da wolle, und er war ja nochjung. Der vierzigste Geburtstag war noch ein paar Jährchen in der Ferne, undbis dahin würde er sein Leben und seine Finanzen soweit auf die Reihe gebrachthaben, dass er häuslich werden und - wer weiß - vielleicht sogar einen zweitenAnlauf wagen könnte, in den Hafen der Ehe einzulaufen.
Er musterte sich im Rasierspiegel. Blaue Augen, nur leicht blutunterlaufen;dunkelbraunes Haar, kurz geschnitten, wie es derzeit Mode war; die Haut straffüber den hohen Wangenknochen. Keine sichtbaren Tränensäcke oder Falten, nochnicht. Könnte schlimmer sein, dachte er, als er über das nasse Badelaken stiegund die Joggingkluft auf den Fußboden des Badezimmers fallen ließ.
Fünf Minuten später war er gewappnet, in der Einheitskluft des dynamischenJungmanagers das Finanzuniversum zu erobern: dunkler Anzug, dunkelblaues Hemd,dunkle Krawatte, klotzige Uhr, für Tiefseetaucher entworfen, die Wertdarauflegten, pünktlich aufzutauchen. Handy und Autoschlüssel hatte er dabei.Er eilte mit eingezogenem Kopf durch den Nieselregen und stieg in den schwarzenBMW, ein absolutes Muss für alle, die in der City arbeiten - derverkehrsreichen Innenstadt Londons -, wo er heute endlich den seit langemerwarteten Deal unter Dach und Fach bringen würde. Und danach den Bonus.Anschließend würde er seinem Apartment den letzten Schliff geben, sich einePutzfrau zulegen, die es makellos rein hielt, und ein paar Tage Urlaub nehmen,um nach St. Tropez abzudüsen, bevor die Strandsirenen nach Paris zurückkehrten.Nicht einmal die Wettervorhersage im Radio - vereinzelte Schauer, gefolgt vongelegentlichen schweren Regenfällen, unter Umständen sogar Hagel - konnte seinegute Laune beeinträchtigen. Es würde ein guter Tag werden.
So früh am Tage hätten zwanzig Minuten eigentlich ausreichen müssen, in diegeheiligten Hallen von Lawton Brothers zu gelangen. Selbige befanden sich amoberen Ende der Threadneedle Street - »ein Katzensprung für die Bank ofEngland«, pflegte der dienstältere Lawton-Bruder seinen potenziellen Klientenmit stolzgeschwellter Brust zu sagen. Das Unternehmen war in den achtzigerJahren gegründet worden und hatte in den neunziger Jahren mit der ganzenBranche beispiellos geboomt. Mit Fusionen und Akquisitionen, mit Ein- undAbtauchmanövern hatte es sich den Ruf erworben, ertragsschwache, abersubstanzstarke Firmen mit einer Unverfrorenheit auszuschlachten, um die es vonvielen Konkurrenten mit mehr Moral und Herz beneidet wurde. Nun wurde LawtonBrothers in der Finanzpresse wegen seiner stählernen, effizienten Führungsriegeoft als Aushängeschild der Branche gepriesen, bestens angepasst an die neuenrauen Zeiten. Der Führungsnachwuchs, der die Lehrzeit bei Lawtons überlebte,war abgehärtet und fähig, sich überall zu behaupten.
Als Max den Ludgate Hill hinunterfuhr, läutete sein Handy. Es war noch nichtganz halb sieben.
»Haben wir uns heute Morgen freigenommen, oder was?« Es war Amis Stimme,näselnd und aggressiv. Er wartete die Antwort gar nicht erst ab. »Wir müssenmiteinander reden. Sehen Sie zu, dass Sie spätestens bis zur Mittagspause hiersind. Tracy wird Ihnen sagen, in welchem Restaurant Sie mich finden.«
War wohl nichts mit meinem guten Tag, dachte Max. Doch wenn er ehrlich war,musste er sich eingestehen, dass kein Tag hundertprozentig gut sein konnte, andem sein Vorgesetzter anwesend war. Die wechselseitige Abneigung hatte schonbei der ersten Begegnung der beiden Männer in der Luft gelegen, als Amis, nachdreijährigem Aufenthalt frisch aus New York zurückgekehrt, wie ein siegreicherFeldherr Einzug gehalten hatte, um die Leitung der Londoner Niederlassung zuübernehmen. Ihr Verhältnis zueinander war von Anfang an voller Spannungengewesen, wie es in England so oft der Fall ist, wenn zwei nicht die gleicheSprache, sondern ein Englisch mit völlig unterschiedlicher Aussprache pflegen.
Max war das Produkt einer unbedeutenden, aber deshalb nicht minder elitärenPublic School und einer Mittelklasse-Idylle in der heilen grünen Welt der Bergevon Surrey. Amis stammte aus den düsteren Außenbezirken Südlondons, einer Weltfür sich, die weder heil noch grün war. Sie waren weniger als zwanzig Meilenvoneinander entfernt aufgewachsen, und doch trennten sie Welten. Max bildetesich ein, vor jedem Anflug von Snobismus gefeit zu sein. Amis bildete sich ein,keinerlei Komplexe zu haben. Sie irrten beide. Jeder erkannte widerstrebend dieFähigkeiten des anderen an, und so lernten sie, einander zu ertragen, mit Müheund Not.
Während er den BMW in seinen Tiefgaragen-Parkplatz einfädelte, zerbrach sichMax den Kopf darüber, was der Grund für die heutige Besprechung sein könnte.Das Mittagessen bei Lawtons bestand normalerweise aus einem Sandwich amSchreibtisch, die Augen unbeirrt auf den Bildschirm des Computers geheftet. EinLunch war »etwas für Weicheier«, wie Amis mit einer Redewendung erklärte, dieer vermutlich aus New York importiert hatte. Und jetzt redete er von einemrichtigen Mittagessen mit Messer und Gabel - einem Weicheier-Lunch - in einemrichtigen Restaurant. Sonderbar. Max stand immer noch vor einem Rätsel, als eraus dem Fahrstuhl trat und sich den Weg durch das Labyrinth der Raumteiler zuseinem eigenen Büro bahnte.
Lawtons nahm eine ganze Etage des Glas- und Betonkastens ein. Mit Ausnahme derin Mahagoni und Leder gehaltenen weitläufigen Suite, in der die beiden Brüderresidierten, spiegelte die Ausstattung der Büros die Philosophie desUnternehmens wider: kein Schnickschnack, keine ästhetischen Finessen. Manbefand sich schließlich in einer Fabrik, in der Geld am Fließband produziertwurde und Zucht und Ordnung herrschten. Die Lawtons hatten die Gewohnheit, ihreKlientel auf einen Rundgang durch den so genannten Maschinenraum mitzunehmen,um einen Blick auf die Belegschaft bei der Arbeit zu werfen. »Da sind sie,vierzig der hellsten Köpfe in der City. Und sie denken ausnahmslos über dieLösung Ihres Problems nach.«
Da ihm der Anruf offenbar nicht ausreichend erschienen war, hatte Amis nocheins draufgesattelt und Max per E-Mail ermahnt, nicht zu spät zum Lunch zukommen. Max löste den Blick vom Bildschirm und sah zu dem von Glaswändenumgebenen Eckbüro hinüber, wo man Amis normalerweise hin und her marschierensah, den Telefonhörer ans Ohr geklemmt, aber heute Morgen war der gläserneKäfig leer. Der Vogel war offenbar ausgeflogen, zum Frühstück mit einem Kunden,dem er Honig ums Maul zu schmieren gedachte; oder er nahm Unterricht, um seineRedegewandtheit zu verbessern.
Max hängte seine Jacke auf und machte sich ans Werk, ging ein allerletztes Maldie Zahlen für TransAx und Richardson Bell durch, die beiden Unternehmen, derengeheime, magische Kräfte er einem der größten Lawton-Kunden verhökern wollte.Wenn das Geschäft über die Bühne ging, konnte er mit einem Bonus rechnen, dernach seinem Kalkül die Jahresbezüge eines Premierministers beträchtlichüberstieg. Er prüfte die Zahlen doppelt und dreifach, und jedes Mal kam erunter dem Strich zu den richtigen Ergebnissen. Nun war er bereit, den Brüderndas gesamte Konzept zu präsentieren. Sie mussten nur noch grünes Licht geben,und schon wäre er um eine sechsstellige Summe reicher. Er lehnte sich in seinemStuhl zurück, reckte sich und warf einen Blick auf seine Uhr. Es war kurz nachzwölf, und ihm fiel siedend heiß ein, dass er keine Ahnung hatte, wohin er zumLunch zitiert worden war.
Er eilte durch den Gang zum Glaskäfig hinüber, wo Tracy, eine energische undgut aufgepolsterte junge Frau, auf ihrem Posten war und Wache schob. Sie warunlängst von Amis Sekretärin zu seiner persönlichen Assistentin befördertworden (ein Schritt nach oben auf der Karriereleiter und, wie man im Büromunkelte, eine unmittelbare Folge des verruchten Wochenendes, das sie mit Amisin Paris verbracht hatte). Bedauerlicherweise hatte der Aufstieg ihremCharakter geschadet: Sie war hochnäsig und selbstüberheblich geworden.
Max hockte sich auf die Kante ihres Schreibtisches und deutete mit einemKopfnicken auf das verwaiste Büro. »Steht die Verabredung zum Lunch noch, oderist er damit beschäftigt, die Börse aufzumischen?«
Tracy machte ein Gesicht, als würde sie ihm gleich ein saftiges Strafmandatwegen Parken im Halteverbot verpassen. »Mr. Amis erwartet Sie in The LeadenhallCellars. Punkt halb eins. Sorgen Sie dafür, dass Sie nicht zu spät kommen.«
Max runzelte die Stirn. Das Cellars, ehemals eine Lagerhalle des alten Marktesvon Leadenhall, war geadelt und in eine edle Wine Bar umgewandelt worden, wosich die jung-dynamischen Finanzhaie der City während der Mittagspause trafen,um einen stärkenden kleinen Imbiss zu sich zu nehmen - einen Fetzen rotesFleisch und einen kräftigen Stilton-Käse. Hier tranken sie überteuertenBordeaux und wappneten sich mit einem bekanntermaßen gehaltvollen Glas Portweinfür die Unbilden des Nachmittags. Trotz der nackten Backsteinwände und derSägespäne auf dem Fußboden gehörte das Lokal zu der teuerste GourmettempelnLondons.
»Er plündert wohl seine Ersparnisse«, sagte Max. »Haben Sie eine Ahnung, worumes geht?«
Tracy blickte auf ihren Schreibtisch und schichtete Unterlagen um. »Bedaure.«Ihr beiläufiger Ton war alles andere als überzeugend, fand Max.
»Tracy, ich wollte Sie schon die ganze Zeit etwas fragen.«
Sie sah hoch.
»Wie war s eigentlich in Paris?«
Es stimmte also. Sie wurde feuerrot, und zufrieden ging Max in sein Büro, umJacke und Regenschirm zu holen und sich für einen Spurt durch den Regen bis zurLeadenhall Street zu rüsten. Im Ausgang des Gebäudes zögerte er einenAugenblick, bevor er sich in das Dickicht der überdimensionalen Golfschirmestürzte - ein Accessoire, das im Sommer in Mode gekommen war -, die überall wiebunte Pilze aus dem Boden schossen und den Gehsteig in einen Parcours mitHindernissen verwandelten, die sich nur langsam und schwer nehmen ließen. KeineFrage, er würde zu spät kommen.
Als er das rappelvolle Gewölbe betrat, saß Amis bereits am Tisch, das Handy amOhr. Im Laufe der Zeit, die er unter den Vordenkern und Quertreibern der WallStreet verbracht hatte, hatte er sich einige ihrer auffallenden modischenVorlieben angeeignet - das herausfordernd gestreifte Hemd mit dem weißenKragen, die scharlachroten Hosenträger, die mit Bullen und Bären gesprenkelteKrawatte, Sinnbild der Hausse- und Baissemanöver an der Börse -, dekorativeSchnörkel, die so gar nicht zu dem harten, schmallippigen Gesicht und demBürstenhaarschnitt eines Sträflings passten. Was er auch anzog, er sah immerwie ein Kerl aus, der einiges auf dem Kerbholz hatte. Aber er war ein Genie,wenn es darum ging, ein gutes Geschäft auszubaldowern, und deshalb stand er beiden Lawton-Brüdern hoch im Kurs.
Er beendete sein Gespräch und sah demonstrativ auf seine goldene Uhr, die nochklobiger als die von Max war und deren Zifferblatt mit einem Sammelsurium vonFunktionen ausgestattet war: Tiefenmesser, Zeitmesser und, alsSonderausstattung, eine PC-Schnittstelle, um die Höhen und Tiefen desautomatischen Quotierungssystems NASDAQ zu verfolgen. »Was war los mit Ihnen?Haben Sie sich verirrt?«
Max schenkte sich ein Glas Rotwein aus der Flasche ein, die auf dem Tischstand. »Tut mir Leid. Schirmstau in der Leadenhall Street.«
Amis grunzte, winkte eine Bedienung herbei und wirkte mit einem Mal aufgeräumt.»Wissen Sie, was mich glücklich machen würde, Schätzchen?« Er zwinkerte ihr zuund bedachte sie mit einem anzüglichen Grinsen. »Ein schönes saftigesSirloin-Steak, gut durchgebraten, ohne einen Tropfen Blut. Davon fließt inmeinem Büro genug.« Die Bedienung gab sich redliche Mühe zu lächeln. »DazuPommes frites. Und als Nachspeise nehme ich die crème brulée.« Sein Handyzirpte, und er nahm das Gespräch an und begann zu murmeln, während Max Lammkotelettsund Salat bestellte.
Amis legte das Telefon auf den Tisch und trank einen kräftigen Schluck Wein.»Also«, sagte er. »Dann klären Sie mich mal über den derzeitigen Stand derDinge mit TransAx und Richardson Bell auf.«
Während der nächsten halben Stunde betete Max die Litanei derUnternehmenszahlen und Unternehmensprognosen, seine Analyse derUnternehmensführung und die Möglichkeiten herunter, sich durch Raub undPlünderung der firmeneigenen Vermögenswerte eine goldene Nase zu verdienen,Strategien, die er seit Beginn des Jahres ausgetüftelt hatte. Amis aß vonAnfang bis Ende der Präsentation, machte sich Notizen auf einem Block, derneben seinem Teller lag, trug aber weder mit einer Frage noch mit einerMeinungsäußerung zum Gespräch bei.
Als Max seinen Monolog beendet hatte, schob er die Reste seines kaltenLammkoteletts mit dem gelierten Fett beiseite. »Das war s. Haben wir unsdeswegen zum Mittagessen getroffen?«
»Nicht wirklich.« Amis erforschte die Schlupfwinkel seiner Backenzähne miteinem Zahnstocher und prüfte seinen Fund mit einem Ausdruck verhaltenenInteresses. Ganz offensichtlich genoss er es, Max auf die Folter zu spannen.
Die Kellnerin kam, um die Teller abzuräumen, was das Stichwort zu sein schien,auf das Amis gewartet hatte. »Ich habe mich mit den Brüdern unterhalten«, sagteer. »Und sie teilen meine Besorgnis.«
»Wovon reden Sie?«
»Ihre Leistungen, mein Freund. Ihre Arbeitsproduktivität. Sie sind dieses Jahrwie ein Kriegsveteran herumgelaufen. Ein Trauerspiel.«
»Sie wissen, womit ich das letzte halbe Jahr beschäftigt war - das reinstePuzzlespiel, ich habe es Ihnen gerade geschildert.« Max musste sichzusammenreißen, um nicht laut zu werden. »Und Sie wissen verdammt gut, dasssich Transaktionen dieser Größenordnung nicht übers Knie brechen lassen. GutDing will Weile haben.«
Amis begrüßte die Ankunft seiner crème brulée, indem er der Bedienung abermalszuzwinkerte. »Das zieht nicht bei mir, mein Freund, das zieht nicht. Wollen Siewissen, woran es hapert?« Er musterte Max und nickte zwei oder drei Mal. »IhrPrivatleben kommt Ihnen in die Quere. Zu viele Nächte, die Sie sich um dieOhren schlagen, zu viele Weiberröcke, denen Sie nachjagen. Sie haben IhrenKillerinstinkt verloren.« Er nahm den Löffel und versetzte seinem Dessert denTodesstoß, mitten durchs Herz.
© Blessing
Übersetzung: Ursula Bischoff
Autoren-Porträt von Peter Mayle
Peter Mayle, Jahrgang 1939, war fünfzehn Jahre langerfolgreich in der Werbung tätig, bevor er 1975 der Branche den Rücken kehrteund zu schreiben begann. Seine Bücher wurden in zweiundzwanzig Sprachenübersetzt und stehen in England, den USA und Deutschland seit Jahren auf denBestsellerlisten.
Interview mit Peter Mayle
PeterMayle war Kellner, Busfahrer und erfolgreicher Werbetexter in England bevor er1975 seinen Job aufgab und in die Provence zog. Pünktlich zu seinem 65.Geburtstag am 14. Juni 2004 erschien sein neuer Roman „Ein guter Jahrgang“.
Warumhaben Sie Ihr Leben in England aufgegeben und sind in die Provence gezogen?
Seitmeinem ersten Urlaub in Südfrankreich vor mehr als 30 Jahren, hatte ichden Wunsch, hier zu leben. Ich dachte immer, dass ich wohl eines Tages an derCote d'Azur enden würde, aber der Zufall brachte mich an den Luberon, es war sozusagen Liebe auf denersten Blick. Die Landschaft, die wunderschönen alten Städte wie Aixund Avignon, die 300 Sonnentage im Jahr, das Essen, der Wein, die Menschen, diehier leben - das alles liebte ich sehr. Das war einige Jahre bevor ich dorthinzog, aber das Warten hat sich gelohnt. Und es war eine der wenigenGelegenheiten in meinem Leben, bei denen sich herausgestellt hat, dass dieRealität besser war, als die Erwartung.
Warumhaben Sie angefangen Bücher zu schreiben?
Ichhabe angefangen Bücher zu schreiben, weil ich gerne schreibe, zum Teilaber auch, weil mir die Unabhängigkeit eines Autors sehr gut gefällt- kein Chef (außer meinen Lesern), keine Bürozeiten, keine Meetings;und man kann wählen, wo man wohnen will. Es ist ein großartigesLeben, aber man braucht eine ziemliche Menge an Selbstdisziplin und vielGlück.
Warumhaben Sie die Provence dann 1997 verlassen und sind nach Long Island gezogen?Was brachte Sie zurück nach Frankreich?
Wirwollten den täglichen Besuchen von Lesern, Fotografen, Journalisten undden Busladungen von Touristen entkommen. Unerträglich. Also sind wirumgezogen, haben unser Haus in Ménerbes verkauft, richteten uns inAmerika ein und hatten Heimweh nach der Provence. Als wir dann zurückkamen, zogen wir in ein abgelegeneres Haus. Darin leben wir glücklich undmehr oder weniger anonym.
Wieentstehen Ihre Ideen für Ihre Romane? Vor allem für „Ein guterJahrgang“?
MeineIdeen für die Bücher entstehen immer aus meiner Begeisterung fürdie Dinge, zum Beispiel für Wein. Außerdem interessieren michintelligente, nicht gewalttätige Verbrechen. Wenn man dann noch dieMöglichkeiten für kleine Betrügereien hinzufügt, die es imWeingeschäft gibt, hat man schon das Rezept für „Ein guterJahrgang“.
Wasfür ein Charakter ist Max Skinner? Was haben Sie mit ihm gemein?
MaxSkinner und ich haben viel gemein. Wir mögen beide Wein, Sonne,hübsche Mädchen und ein Leben, das nicht vom Überleben inriesigen Unternehmen abhängt. Wir haben einen ähnlichen Sinn fürHumor und eine ähnliche Vorliebe für Frankreich und diefranzösische Sprache. Auf jeden Fall steckt viel von mir in ihm (aberleider ist er wesentlich jünger!).
Wassind die grundsätzlichen Unterschiede in der Lebensweise in England, USAund Frankreich?
Für mich liegt der große Unterschiedzwischen Frankreich und den anderen Ländern, in denen ich gelebt habe, inder Begabung der Franzosen, den Moment zu genießen. Man hat immer Zeit -zumindest in der Provence - die kleinen Freuden des täglichen Lebens zuwürdigen: einen Sonnenuntergang, das besondere Blau des Himmels nach demMistral (Nordwestwind),das Sitzen beim Café auf einer Terrasse. Die Franzosen sindaußerdem sehr höflich, was ich sehr schön finde. Und sie machenaus der täglichen Notwendigkeit des Essens ein Vergnügen. Vive laFrance!
Die Fragen stellte Avan Sidiq / lorenzspringermedien
- Autor: Peter Mayle
- 2004, 1, 287 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Bischoff, Ursula
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896671251
- ISBN-13: 9783896671257
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