Eine kurze Geschichte des Fortschritts
Einekurze Geschichte des Fortschritts von Ronald Wright
LESEPROBE
GauginsFragen
Derfranzösische Maler und Schriftsteller Paul Gauguin - in den meistenDarstellungen ein verrückter, bösartiger und gefährlicher Zeitgenosse - littunter einem akuten kosmologischen Schwindel, den die Werke Darwins und weitererviktorianischer Naturforscher in ihm ausgelöst hatten.
In denneunziger Jahren des 19. Jahrhunderts flüchtete Gauguin aus Paris. Er ließseine Familie im Stich, aber auch eine Karriere als Börsenmakler und Spekulant,um in tropischen Gefilden eingeborene Mädchen zu malen (und mit ihnen ins Bettzu gehen). Wie viele problembeladene Seelen konnte er sich selbst nicht soleicht entkommen, sosehr er sich auch mit Hilfe von Alkohol und Opium darumbemühte. Im Zentrum seiner Unrast stand das Verlangen, den «Wilden» zu finden,wie er es nannte - den primitiven, den ursprünglichen Mann (und sein weiblichesPendant), das Menschsein im Rohzustand, die flüchtige Essenz unserer Art. DieseSuche führte ihn schließlich nach Tahiti und auf andere Südseeinseln, wo unterdem Firnis von Kreuz und Trikolore noch Spuren einer Welt vor dem erstenKontakt mit Europäern - in seinen Augen Spuren einer unbefleckten Welt - zu findenwaren.
Im Jahr1897 ging ein Postdampfer in Tahiti vor Anker, der ihm eine schlimme Nachrichtbrachte. Gauguins Lieblingskind, Aline, war plötzlich an einer Lungenentzündunggestorben. Nach Monaten der Krankheit, Geldnot und Verzweiflung bis zu Selbstmordgedankenschuf der Künstler aus seiner Trauer ein großes Gemälde', dem Konzept nach eherein Wandbild als eine Leinwand, in dem er - wie das ganze viktorianischeZeitalter - neue Antworten auf das Rätsel unserer Existenz forderte. Mit kräftigenStrichen schrieb er den Titel auf das Bild: drei kindliche Fragen, einfach,aber dennoch tiefgründig: D'Oú Venons Nous? Que Sommes Nous? Oú allons Nous? Woher kommen wir? Was sind wir?Wohin gehen wir?
Das Werkist ein breitfomatiges Panorama rätselhafter Figuren inmitten einer Szenerie,bei der es sich um die Haine eines heidnischen Tahitis oder einen wildwüchsigenGarten Eden handeln könnte: Gläubige oder Götter, Katzen, Vögel, eine ruhende Ziege,ein großes Götzenbild mit ernstem Gesichtsausdruck und erhobenen Händen, dieins Jenseits zu weisen scheinen, eine Zentralfigur, die Früchte pflückt; eineEva, die Mutter der Menschheit, keine üppige Unschuldige wie andere Frauen inGauguins Gemälden, sondern eine verblühte alte Vettel mit durchdringendemBlick, inspiriert von einer peruanischen Mumie. Eine andere Figur dreht sicherstaunt zu einem jungen Menschenpaar um, das, so schreibt der Künstler, «eswagt, über sein Schicksal nachzudenken».2
Gauguinsdritte Frage - Wohin gehen wir? - ist es, mit der ich mich in diesem Buchbeschäftigen möchte. Sie mag unbeantwortbar scheinen. Wer kann schonvorhersagen, welchen Lauf das menschliche Geschick in Zukunft nehmen wird? Ichglaube jedoch, wir können diese Frage beantworten, zumindest in grobenZügen, wenn es uns gelingt, zunächst die beiden anderen Fragen zu beantworten.Wenn wir klar erkennen, was wir sind und was wir getan haben, können wirmenschliche Verhaltensweisen ausmachen, die sich durch viele Zeiten undKulturen ziehen. Diese Erkenntnis kann uns sagen, was wir wahrscheinlich tunwerden, wohin wir von hier wahrscheinlich gehen werden.
UnsereZivilisation, die das meiste ihrer Vorläufer in sich birgt, ist ein großesSchiff, das mit Volldampf in die Zukunft steuert. Es bewegt sich schneller,weiter und ist stärker beladen als je zuvor. Wir können vielleicht nicht jedesRiff und jedes Risiko voraussehen, aber wenn wir seine Kompasspeilung und seineGeschwindigkeit berechnen und seine Konstruktionspläne, seineSicherheitsprobleme und die Fähigkeiten seiner Crew berücksichtigen, könnenwir, so denke ich, einen klugen Kurs zwischen den Untiefen und Klippen steuern,die sich vor uns abzeichnen.
Und ichglaube, wir müssen dies unverzüglich tun, denn auf unserem Weg haben wirbereits allzu viele Wracks zurückgelassen. Das Schiff, auf dem wir uns nunbefinden, ist nicht nur das größte, das es jemals gab, es ist auch das einzige,das noch übrig ist. Die Zukunft all dessen, was wir erreichten, seit wirIntelligenz entwickelt haben, hängt von der Weisheit unserer Handlungen in dennächsten paar Jahren ab. Wie alle Geschöpfe haben Menschen ihren Weg in derWelt bisher durch Versuch und Irrtum gefunden; im Gegensatz zu allen anderenGeschöpfen ist unsere Präsenz jedoch so gewaltig, dass Irrtum ein Luxus ist,den wir uns nicht länger leisten können. Die Welt ist zu klein geworden, alsdass sie uns einen großen Fehler noch verzeihen würde.
(...)
© RowohltVerlag GmbH
Übersetzung:Monika Niehaus-Osterloh
- Autor: Ronald Wright
- 2006, 2. Aufl., 208 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Monika Niehaus-Osterloh
- Verlag: Rowohlt, Hamburg
- ISBN-10: 3498073567
- ISBN-13: 9783498073565
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