Fräulein Smillas Gespür für Schnee
In Kopenhagen wird ein grönländischer Junge tot aufgefunden. Ein Unfall, meint die Polizei. Doch Smilla glaubt dies nicht und stellt auf eigene Faust Nachforschungen an.
Peter Høeg wurde 1957 in Kopenhagen geboren und ist der bekannteste...
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In Kopenhagen wird ein grönländischer Junge tot aufgefunden. Ein Unfall, meint die Polizei. Doch Smilla glaubt dies nicht und stellt auf eigene Faust Nachforschungen an.
Peter Høeg wurde 1957 in Kopenhagen geboren und ist der bekannteste dänische Gegenwartsautor. Zunächst machte er in Schweden eine Ausbildung zum Schauspieler und Tänzer und trat auf verschiedenen skandinavischen Bühnen, aber auch in Afrika auf. Anfang der Achtzigerjahre hängte er die Schauspielerei an den Nagel, um sich fortan ganz dem Schreiben zu widmen. 1988 erschien mit "Vorstellung vom 20. Jahrhundert" sein erster Roman, welcher beim Publikum wie bei den Kritikern positiv aufgenommen wurde. "Fräulein Smillas Gespür für Schnee" (1992) bedeutete dann seinen endgültigen internationalen Durchbruch, wurde in viele Sprachen übersetzt und fünf Jahre später erfolgreich verfilmt.
Wie seine anderen Werke zeichnet sich dieser Roman durch einen spielerischen Umgang mit verschiedenen literarischen Genres aus. Es folgten der Roman "Der Plan von der Abschaffung des Dunkels" (1993) und der Band mit Erzählungen "Von der Liebe und ihren Bedingungen in der Nacht des 19. März 1929" (1996).
Fräulein Smillas Gespür für Schnee von PeterHoeg
LESEPROBE
Es friert, außerordentliche 18 Grad Celsius, und es
schneit. In der Sprache, die nicht mehr meine ist, heißt
der Schnee qa nik, er schichtet sich zu Stapeln, fällt in
großen, fast schwerelosen Kristallen und bedeckt die Erde
mit einer Schicht aus pulverisiertem, weißem Frost.
Das Dezemberdunkel kommt aus dem Grab, das grenzenlos
wirkt wie der Himmel über uns. In dieser Dunkelheit sind
unsere Gesichter nur noch blaß leuchtende Scheiben, aber
trotzdem spüre ich die Mißbilligung des Pastors und desKirchendieners,
die sich gegen meine schwarzen Netzstrümpfe
richtet und gegen Julianes Jammern, das noch dadurchverschlimmert
wird, daß sie heute morgen ein paar Antabus genommen
hat und der Trauer jetzt fast nüchtern begegnet. Sie
denken, sie und ich hätten weder das Wetter noch dietragischen
Umstände respektiert. Dabei sind die Strümpfe und die
Tabletten auf ihre Weise ganz einfach eine Huldigung an die
Kälte und an Jesaja.
Die Frauen um Juliane, der Pastor und der Kirchendiener,
alle sind sie Grönländer, und als wir Guutiga, illimisingen,
Du mein Gott, Julianes Beine unter ihr nachgeben, sie zuweinen
anfängt, dieses Weinen langsam anschwillt, und der Pastor
schließlich auf westgrönländisch mit der Lieblingsstelle
der Herrnhuter bei Paulus von der Erlösung durch das Blut
anfängt, kann man sich bei nur leichter Zerstreutheit nach
Upernavik, Holsteinsborg oder Qaanaaq versetzt fühlen.
Doch aus der Dunkelheit ragen wie ein Schiffssteven die
Gefängnismauern von Vestre Fængsel, wir sind in Kopenhagen.
Der Grönländerfriedhof ist ein Teil des Vestre Kirkegaard.
Mit Jesaja in seinem Sarg ist eine Trauergemeindehierhergekommen,
die aus den Bekannten von Juliane, die sie jetzt
stützen, aus dem Pastor und dem Kirchendiener, demMechaniker
und einer kleinen Gruppe von Dänen besteht, von denen
ich nur den amtlichen Pfleger und den Assessor erkenne.
Der Pastor sagt jetzt irgend etwas, das mich denken läßt,
er müsse Jesaja tatsächlich einmal getroffen haben, obwohl
Juliane, soweit mir bekannt ist, nie in die Kirche geht.Dann
verschwindet seine Stimme, denn nun weinen die Frauen mit
Juliane.
Viele sind gekommen, vielleicht zwanzig, und nun lassen
sie sich von der Trauer wie von einem schwarzen Flußdurchströmen,
in den sie eintauchen und von dem sie sich auf eine
Weise mitreißen lassen, die kein Außenstehender verstehen
kann und niemand, der nicht in Grönland aufgewachsen
ist, und selbst das reicht vielleicht nicht aus. Ich kannihnen
auch nicht folgen.
Zum erstenmal schaue ich den Sarg genauer an. Er ist
sechseckig. Zu einem bestimmten Zeitpunkt nehmenEiskristalle
diese Form an.
Nun senken sie ihn in die Erde. Er ist aus dunklem Holz
und sieht sehr klein aus, es liegt bereits eine SchichtSchnee
darauf. Die Flocken sind groß wie kleine Federn, so ist der
Schnee nun mal, er ist nicht notwendigerweise kalt. Indiesem
Augenblick weint der Himmel um Jesaja, und die Tränen
werden zu einem Frostflaum, der sich auf ihn legt. Es istdas
All, das auf diese Weise eine Decke über ihn zieht, damit er
nie mehr frieren muß.
In dem Moment, als der Pastor Erde auf den Sarg geworfen
hat und wir uns eigentlich umdrehen und gehen sollten,entsteht
eine Stille, die endlos lang wirkt. In dieser Stilleschweigen
die Frauen, niemand rührt sich, es ist eine Stille, die
darauf wartet, daß etwas zerbirst. Von mir aus gesehengeschehen
zwei Dinge.
Das erste ist, daß Juliane auf die Knie fällt, das Gesichtgegen
die Erde preßt und die Frauen sie in Ruhe lassen.
Das zweite Ereignis ist ein innerliches, es ist in mir, und
was da aufbricht, ist eine Einsicht.
Ich muß die ganze Zeit über ein weitreichendes Abkommen
mit Jesaja gehabt haben: daß ich ihn nicht im Stich lassen
werde, niemals, auch jetzt nicht. Wir wohnen im WeißenSchnitt.
Auf einem Grundstück, das man der Wohnungsbaugesellschaft
geschenkt hat, hat sie ein paar vorfabrizierte
Schachteln aus weißem Beton aufeinandergestapelt, für die
sie vom Verein zur Verschönerung der Hauptstadt eine Prämie
erhalten hat.
Das Ganze, einschließlich Prämie, macht einen billigen
und notdürftigen Eindruck; die Mieten allerdings haben
nichts Kleinliches, sie sind so hoch, daß hier nur Leutewohnen
können wie Juliane, für die der Staat aufkommt, oder wie
der Mechaniker, der nehmen mußte, was er kriegen konnte,
oder die eher marginalen Existenzen wie zum Beispiel ich.
Die Leute haben offenbar sehr gut begriffen, was Leukotomie
ist. So ist der Spitzname für uns, die hier wohnen; das ist
zwar verletzend, im großen und ganzen aber korrekt.
Es gibt Gründe dafür, hier einzuziehen, und Gründe, hier
auch wohnen zu bleiben. Mit der Zeit ist das Wasser für mich
wichtig geworden. Der Weiße Schnitt liegt direkt amKopenhagener
Hafen. In diesem Winter konnte ich sehen, wie sich
das Eis bildete.
Der Frost setzte im November ein. Ich habe Respekt vor
dem dänischen Winter. Die Kälte - nicht die meßbare, die auf
dem Thermometer, sondern die erlebte - hängt mehr von der
Windstärke und vom Feuchtigkeitsgrad der Luft ab als davon,
wie kalt es ist. Ich habe in Dänemark mehr gefroren als je
in Thule. Sobald die ersten klammen Regenschauer mir und
dem November ein nasses Handtuch ins Gesicht peitschen,
begegne ich ihnen mit pelzgefütterten Capucines, schwarzen
Alpakaleggings, langem Schottenrock, Pullover und einem
Cape aus schwarzem Goretex.
Dann fällt die Temperatur alljährlich. Irgendwann hat die
Meeresoberfläche minus 1,8 Grad Celsius, die erstenKristalle
bilden sich, eine kurzlebige Haut, die der Wind und
die Wellen zu frazil Eis zerschlagen, das zu dem seifigenMus
verknetet wird, das man Breieis, grease ice, nennt; esbildet
allmählich freitreibende Platten, pancake ice, das dann an
einem Sonntag in einer kalten Mittagsstunde zu einerzusammenhängenden
Schicht gefriert.
Es wird kälter, und ich freue mich, denn ich weiß, daß der
Frost jetzt zugelegt hat, das Eis bleibt liegen, und dieKristalle
haben Brücken gebildet und das Salzwasser in Hohlräumen
eingekapselt, die eine Struktur haben wie die Adern eines
Baumes, durch die langsam die Flüssigkeit hindurchsickert;
daran denkt kaum jemand, der zur Marineinsel Holmenhinüberschaut,
es ist aber ein Argument für die Ansicht, daß Eis
und Leben auf mehrfache Weise zusammenhängen.
Wenn ich auf die Knippelsbrücke komme, ist das Eisnormalerweise
das erste, wonach ich Ausschau halte. An diesem
Tag im Dezember aber sehe ich etwas anderes. Ich sehe das
Licht.
© 2004 by Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Übersetzung:Monika Wesemann
- Autor: Peter Hoeg
- 2005, 502 Seiten, Maße: 13,2 x 21 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- Verlag: Süddeutsche Zeitung / Bibliothek
- ISBN-10: 3937793372
- ISBN-13: 9783937793375
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