Lektionen des Lebens
Ein Reisetagebuch
"Wer kann uns glücklich machen? Nur wir selbst."Helene Grimaud: Die französische Starpianistin Helene Grimaud ist sich am Höhepunkt ihrer Karriere selbst fremd geworden."Lektionen des Lebens"ist der bewegende Bericht einer vielschichtigen Reise hin zu neuer...
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Produktinformationen zu „Lektionen des Lebens “
"Wer kann uns glücklich machen? Nur wir selbst."Helene Grimaud: Die französische Starpianistin Helene Grimaud ist sich am Höhepunkt ihrer Karriere selbst fremd geworden."Lektionen des Lebens"ist der bewegende Bericht einer vielschichtigen Reise hin zu neuer schöpferischer Kraft und Lebensfreude. Volle Konzertsäle, ihre Autobiografie"Wolfssonate"weltweit ebenso erfolgreich wie ihre CDs, das Engagement für ihre Wölfe überzeugt die Menschen ... Und dennoch überkommt sie das Gefühl einer großen Leere, das Gefühl, den Bezug zu ihren Leidenschaften verloren zu haben. Im Frühjahr letzten Jahres nimmt die Pianistin Helene Grimaud eine Auszeit und stellt sich den existenziellen Fragen, die drängend aus ihrem Innersten aufsteigen. Erschöpft von einem durchgeplanten Leben, von den Anforderungen, die an sie herangetragen werden und die sie an sich selbst stellt, begibt sich Helene Grimaud auf eine Reise, von der sie selbst nicht weiß, wohin sie sie führen wird. Sie fliegt nach Rom. Wie überwindet man seine Zweifel? Wie bestimmt man Leidenschaft, ja sogar Liebe? Helene Grimaud findet Antworten in der Schönheit der Landschaft, den Klängen der Natur, der Reflektion über Musik und Philosophie, aber vor allem in offenen Begegnungen mit Menschen, die wie sie den Weg zu sich selbst gehen. Wie im Konzertsaal gelingt es Helene Grimaud, ihr Lesepublikum mitzunehmen, es Anteil nehmen zu lassen an ihrer Suche nach der Essenz des Lebens und ihrer Reise zum Glück und zu neuer kreativer Schaffenskraft.
"Wer kann uns glcklich machen? Nur wir selbst." - Hlne Grimaud
Die franzsische Starpianistin Hlne Grimaud ist sich am Hhepunkt ihrer Karriere selbst fremd geworden. "Lektionen des Lebens" - ist der bewegende Bericht einer vielschichtigen Reise hin zu neuer schpferischer Kraft und Lebensfreude.
Volle Konzertsle, ihre Autobiografie "Wolfssonate" - weltweit ebenso erfolgreich wie ihre CDs, das Engagement fr ihre Wlfe berzeugt die Menschen ... Und dennoch berkommt sie das Gefhl einer groen Leere, das Gefhl, den Bezug zu ihren Leidenschaften verloren zu haben. Im Frhjahr letzten Jahres nimmt die Pianistin Hlne Grimaud eine Auszeit und stellt sich den existenziellen Fragen, die drngend aus ihrem Innersten aufsteigen. Erschpft von einem durchgeplanten Leben, von den Anforderungen, die an sie herangetragen werden und die sie an sich selbst stellt, begibt sich Hlne Grimaud auf eine Reise, von der sie selbst nicht wei, wohin sie sie fhren wird. Sie fliegt nach Rom.
Wie berwindet man seine Zweifel? Wie bestimmt man Leidenschaft, ja sogar Liebe? Hlne Grimaud findet Antworten in der Schnheit der Landschaft, den Klngen der Natur, der Reflektion ber Musik und Philosophie, aber vor allem in offenen Begegnungen mit Menschen, die wie sie den Weg zu sich selbst gehen. Wie im Konzertsaal gelingt es Hlne Grimaud, ihr Lesepublikum mitzunehmen, es Anteil nehmen zu lassen an ihrer Suche nach der Essenz des Lebens und ihrer Reise zum Glck und zu neuer kreativer Schaffenskraft.
"Schreiben ist eine andere Form, Musik zu interpretieren. Es ist fr mich ein Musizieren mit Worten, meinen Worten."
(Hlne Grimaud)
"In 'Lektionen des Lebens' zeige ich, wie man Zweifel berwinden, wie man seinem Leben einen Sinn geben kann, indem man die Liebe annimmt. Und dies ist zunchst die Liebe zum Leben mit allen seinen Aspekten. Das Leben ist ein Wunder, und man muss lernen, dieses tglich zu erkennen. Es gibt jede Menge Gelegenheiten, den Kopf hngen zu lassen. Also zhlt einzig die Liebe. Die Liebe, die einem geschenkt wird, die anderen verzeiht und uns lebendig sein lsst." - Hlne Grimaud
"Ich mache keinen Unterschied zwischen meinen Aktivitten, sei es das Klavierspielen, die Beschftigung mit den Wlfen oder das Schreiben. Alle dienen mit Nuancen ein und derselben Aussage: Der Leidenschaft zu existieren. Dem Wunsch zu verzaubern. Sich einem schneren und mchtigeren Universum zu verschreiben als dem Unglck. Unsere Aufgabe als Menschen ist es, Gelegenheiten der Liebe und des Enthusiasmus zu erschaffen." - Hlne Grimaud
Die franzsische Starpianistin Hlne Grimaud ist sich am Hhepunkt ihrer Karriere selbst fremd geworden. "Lektionen des Lebens" - ist der bewegende Bericht einer vielschichtigen Reise hin zu neuer schpferischer Kraft und Lebensfreude.
Volle Konzertsle, ihre Autobiografie "Wolfssonate" - weltweit ebenso erfolgreich wie ihre CDs, das Engagement fr ihre Wlfe berzeugt die Menschen ... Und dennoch berkommt sie das Gefhl einer groen Leere, das Gefhl, den Bezug zu ihren Leidenschaften verloren zu haben. Im Frhjahr letzten Jahres nimmt die Pianistin Hlne Grimaud eine Auszeit und stellt sich den existenziellen Fragen, die drngend aus ihrem Innersten aufsteigen. Erschpft von einem durchgeplanten Leben, von den Anforderungen, die an sie herangetragen werden und die sie an sich selbst stellt, begibt sich Hlne Grimaud auf eine Reise, von der sie selbst nicht wei, wohin sie sie fhren wird. Sie fliegt nach Rom.
Wie berwindet man seine Zweifel? Wie bestimmt man Leidenschaft, ja sogar Liebe? Hlne Grimaud findet Antworten in der Schnheit der Landschaft, den Klngen der Natur, der Reflektion ber Musik und Philosophie, aber vor allem in offenen Begegnungen mit Menschen, die wie sie den Weg zu sich selbst gehen. Wie im Konzertsaal gelingt es Hlne Grimaud, ihr Lesepublikum mitzunehmen, es Anteil nehmen zu lassen an ihrer Suche nach der Essenz des Lebens und ihrer Reise zum Glck und zu neuer kreativer Schaffenskraft.
"Schreiben ist eine andere Form, Musik zu interpretieren. Es ist fr mich ein Musizieren mit Worten, meinen Worten."
(Hlne Grimaud)
"In 'Lektionen des Lebens' zeige ich, wie man Zweifel berwinden, wie man seinem Leben einen Sinn geben kann, indem man die Liebe annimmt. Und dies ist zunchst die Liebe zum Leben mit allen seinen Aspekten. Das Leben ist ein Wunder, und man muss lernen, dieses tglich zu erkennen. Es gibt jede Menge Gelegenheiten, den Kopf hngen zu lassen. Also zhlt einzig die Liebe. Die Liebe, die einem geschenkt wird, die anderen verzeiht und uns lebendig sein lsst." - Hlne Grimaud
"Ich mache keinen Unterschied zwischen meinen Aktivitten, sei es das Klavierspielen, die Beschftigung mit den Wlfen oder das Schreiben. Alle dienen mit Nuancen ein und derselben Aussage: Der Leidenschaft zu existieren. Dem Wunsch zu verzaubern. Sich einem schneren und mchtigeren Universum zu verschreiben als dem Unglck. Unsere Aufgabe als Menschen ist es, Gelegenheiten der Liebe und des Enthusiasmus zu erschaffen." - Hlne Grimaud
Lese-Probe zu „Lektionen des Lebens “
Ich wachte hungrig auf. Da ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gegessen hatte, hatte ich Hunger auf Erde, auf Kontinente, auf Gewitter, auf lautes Treiben. In meinem Bauch wtete ein alles verschlingender Appetit auf Dfte - Salz auf der Haut, Harz der hohen schwarzen Tannen, Gras, liebevoll gemht im Frhling. Ich hatte Lust, in das rohe Fleisch eines Fisches zu beien, mit meinen Ohren in die Symphonie der Welt einzutauchen, zu schauen, um wirklich zu sehen, mich von Licht blenden zu lassen, meine Hnde in die warme Erde zu tauchen und die feuchte Schnauze der Wlfe zu berhren.In die Welt zurckzukehren, die sich dreht und die drhnt.
Der Hunger hatte mich in der Nacht berfallen. Er hatte mich aus meinem Bett getrieben. Im Rahmen meines Fensters blhte der Himmel und funkelte vor Sternen. Kein Mond, aber ein bleicher Schimmer schien von den Felsen, den Bumen auszugehen, mit dem Sommer vom Boden aufzusteigen und aus den Bchen zu quellen. Er erinnerte mich daran, dass ich als Kind den Stamm einer Eiche eingeritzt hatte, um das Blut meines Handgelenks mit seinem Lebenssaft zu vermischen - ich hatte mir damals meine Blutsbrderschaft erfunden.
An welchem Tag, in welchem Monat, in welchem Jahr hatte ich diesen Schwur gebrochen. Ja, in welcher Stunde? Die Zeit entzog sich mir, ging durch mich hindurch. Ich hatte nicht mehr genug davon, weder fr die Wlfe - obwohl das Zentrum die Zustimmung fr ein Auswilderungsprogramm fr bedrohte Tierarten erhalten hatte - noch fr die Liebe. Und auch nicht fr die Einsamkeit. Und die Musik? Die Frage ging mir flchtig durch den Kopf, als ich wieder einschlief. Die Musik? - Mein ganzes Leben, da sie bei allem brigen den Ton angab.
Am Morgen fhlte ich noch immer diese Leere in mir. Drauen war die Luft mild. Die grne Dnung des Windes in den Bumen erinnerte mich an das Meer und weckte mit seinem Rauschen den Wunsch in mir zu reisen. Die Frage, die der Schlaf verjagt hatte, tauchte wieder auf. Ich verscheuchte sie, indem ich mich schttelte;
... mehr
ich war doch glcklich in der Musik, wie man es in der Ehe ist, nicht wahr? Und hatte ich nicht bereits geantwortet, als ich entschieden hatte, dass jede die Musik betreffende Frage eine Antwort bereithielt: nicht darin, dass man der Vergangenheit nachtrauert, sondern dass man die Zukunft gestaltet. Diese Bewegung hin zum Universellen, zu einer Vershnung der Gegenstze.
"Nicht darin, dass man der Vergangenheit nachtrauert, sondern dass man die Zukunft gestaltet." Ich wiederholte mir diesen Satz whrend meiner Yogastunde. Aschtanga-Yoga, ein flieendes Yoga, man wechselt ganz sanft von einer Position in die nchste, allein dem Rhythmus des Atems folgend. Anstatt eine Position zu erreichen und darin zu erstarren, bewegt man sich in einem ununterbrochenen Legato. Es gibt Bewegungen, die man respektieren muss, eine Bewegungschoreographie, Bewegungen, die sich miteinander verbinden. Vergessen, Sanftheit, tiefer Rhythmus. Seit vier Jahren schon machte ich Yoga; das vollkommen ungesunde Leben, das meinen Alltag bestimmte, hatte ich schlielich auf grausame Weise zu spren bekommen: Whrend einer Tournee konnte ich mich in Paris trotz Spritzen und Massagen vor Rckenschmerzen nicht mehr bewegen. Ich hatte das Konzert absagen mssen, mit Krankengymnastik begonnen; dann Yoga und schlielich Aschtanga-Yoga.
Eigentlich hatte ich diese Form von Yoga im letzten Juni entdeckt, ich war damals in Washington, in einem Hotel, unmittelbar nach dem Scheitern der Aufnahme der jeweils zweiten Klaviersonate von Chopin und Rachmaninow. Ich war mde - schon? Seit wie vielen Wochen war ich es in Wirklichkeit schon? Ich schaltete das Fernsehgert an, um abzuschalten vor meinem Konzert. Eine Reportage erklrte die Kunst des Aschtanga-Yoga und weckte in mir den Wunsch, es zu erlernen. ber das Internet bestellte ich Bcher; der Vorteil einer Methode ist, dass man allein lernen kann, man ist sein eigener Lehrer, was zwar nicht ideal ist, aber immerhin besser als nichts, da ich nicht die Zeit habe, Unterricht zu nehmen.
Keine Zeit mehr fr Unterricht, keine Zeit mehr fr die Wlfe - selbst das Saubermachen der Gehege des Zentrums fehlte mir, der raue Kontakt mit dem Holz der Schaufeln und Rechen. Und die Musik? Die Lust auf Musik war so stark wie immer; dessen war ich mir sicher. Ich versprte den gleichen unwiderstehlichen Drang, ein Stck zu spielen, es immer wieder zu ben, den Klang eines hohen Tons abzumildern, jeden Ton ganz rein leuchten zu lassen, alles hrbar zu machen; in den Schmelztiegel des Stcks das Gold seines Lebens zu gieen. Mit dieser Absicht wollte ich eine neue Version der Sonate von Rachmaninow einspielen, die ich zum ersten Mal mit fnfzehn aufgenommen hatte. Seitdem hatte ich Jahr fr Jahr jene groe Wahrheit besser begriffen, die ich aus dem Unterricht meines Lehrers Pierre Barbizet mitgenommen hatte: Die Musik beginnt in Wirklichkeit erst mit dem Hrer, ab dem Augenblick, in dem sie in die Wrme eines Herzens dringt und im Verborgenen seine Stille bewohnt. "Vergiss nicht", hatte er zu mir gesagt, "ein Musiker ist gro nur durch die Gre, die er bei seinen Mitmenschen ans Licht bringt."
Das also war der Grund fr dieses Gefhl der Frustration, diesen Drang, den ich sprte, unbedingt einen zustzlichen Schritt machen zu mssen - aber ich wusste nicht, in welche Richtung. Vermutlich trbte die - atemlose - Abfolge der Konzerte diese Ahnung. Ich beschwerte mich nicht ber meinen Terminkalender, die Bhne und der Kontakt mit dem Publikum erfllten mich stets mit der gleichen Freude - wer knnte jemals auch nur annhernd das Glck beschreiben, der Botschafter der Musik, der Orpheus von Chopin oder von Brahms zu sein?
Um dieses Glck zu verlngern, hatte ich mir gewnscht, dass die Aufnahme meiner neuen Platte vor Publikum stattfnde. Meine Vorstellung war, die Wiederholungen im Beisein der Zuhrer zu machen, um ihnen zu zeigen, wie Musiker und Produzenten zusammenarbeiten, welche Aufgaben der Toningenieur, der Produzent oder der knstlerische Aufnahmeleiter haben - diese Mnner im Hintergrund -, Zauberer, Alchimisten der Technik. Die Aufnahme htte in Amsterdam, im Saal des Concertgebouw, stattfinden sollen, aus verwaltungstechnischen Grnden war das Projekt jedoch abgesagt worden.
Das bedeutete eine neuerliche Verzgerung. Solche Zwischenflle gehren zum Alltag der Knstler, aber eigenartigerweise machte diese mich sehr traurig, und ich hasse Traurigkeit, diesen Schleier, der sich zwischen dich und die Dinge legt, die Farben abstumpft, die Klnge dmpft und den Wein sauer macht. Ich war selbst in meinem Schwung abgebremst. Ich fhlte mich am Fu einer Felswand, die unablssig in die Hhe wuchs. Diese neue Plattenaufnahme natrlich, und sofort danach wrde Bartk dran sein, unter Leitung von Pierre Boulez. Eine groe Ehre: Der Maestro feierte seinen achtzigsten Geburtstag. Aber da war auch dieses Schutzprogramm fr den roten Wolf und den mexikanischen Wolf, dem das Zentrum sich angeschlossen hatte; der Fang eines Tieres in Kanada war bereits geplant. Zune mussten verstrkt werden, um einen Nachbarn zu beruhigen, der panische Angst vor den Wlfen hatte; und ich musste mich endlich ernsthaft mit dieser zweiten Sonate von Chopin beschftigen; damit, welchen Flgel ich whlen sollte, um den Klang zu erzielen, der mir vorschwebte, einen direkten Klang, einen Klang der Dringlichkeit auf der Ebene des Spiels, der aber zugleich hell und dunkel bleiben sollte. Und der ganze Papierkram im Zusammenhang mit dem Einfangen des Wolfs. Der Klang? Hell, ja, aber nicht zu einschmeichelnd, damit man den krperlichen Einsatz noch sprt.
Erschpfung. Man sollte sein Wrterbuch zu Rate ziehen, wie man seinen Arzt konsultiert. Im Eintrag des Petit Robert erkannte ich alle Symptome wieder, die mir seit Wochen zu schaffen machten: Mattigkeit, Abgespanntheit, Schlappheit, Erschlaffung, Schwche, Mdigkeit, Verminderung, Abbau. Ich hatte zugelassen, dass die Routine mich auslaugte. Und zugleich entdeckte ich unter den Antonymen das Heilmittel. Ich war erschpft? Ich musste auftanken, mich bereichern. Die Anweisung war sehr przise: Flle, Reichtum; Wohlergehen, Entfaltung, Selbstverwirklichung. Und eben dieser Hunger, der mich geweckt hatte, dieser Hunger, der aus meinem innersten Wesen hervorgebrochen war.
Zwei Minuten des Nachdenkens, und meine Entscheidung war getroffen. Ich hatte drei Wochen Ferien vor mir. Ich wrde auf Reisen gehen. Ich wrde wandern. Ich wrde atmen.
Wo? Im ersten Augenblick schien mir das Ziel nicht wichtig. Nur das Reisen zhlte, und endlich einmal wrde der Aufbruch nicht dem Ritual meiner Tourneen gehorchen: Schnell das Bhnenkostm in die Reisetasche geworfen, aufmerksames Studium des Terminkalenders, Anrufe bei den Agenten, offizielle Abendessen, Taxi-Flugzeug-Taxi-Hotel, stndig von Stadt zu Stadt und nachts in unbekannten Hotelzimmern die Augen verzweifelt offen, weit aufgerissen, weil die Anspannung des Konzerts nicht von einem abfllt und der Zeitunterschied sich bemerkbar macht.
Ich wrde endlich ungehindert laufen, wie eine Laufmasche, mir einen Weg bahnen im Netz der Zeit. Diese Vorstellung entzckte mich geradezu - es war diese Freude, die man versprt, wenn man die Schule schwnzt, wenn man pltzlich ausreit, und ich hatte mir schon so lange kein richtiges Ausbrechen mehr gegnnt. Ich wrde die Zeit verlangsamen, aus der Routine ausbrechen.
Vor allem wrde ich mich sammeln, mich auf mich selbst besinnen. Ich brauchte Raum, Liebe und Einsamkeit. Vielleicht wrde ich dann die Ursache der Unruhe finden, die mich qulte, die Frage, die mir keine Ruhe lie und mich verwirrte, und die Antwort darauf.
In "Der wahre Klassiker der vollkommenen Lehre", in dem Li Tseu das grundlegende Vorhaben jeder Kunst beschreibt, heit es: "Wonach ich strebe, sagte Meister Zhiang, ist nicht, die Saiten gut zu zupfen, und auch nicht, schne Klnge zu erzeugen. Was ich suche, habe ich noch nicht in meinem Herzen gefunden. Wie knnte mir also drauen das Instrument antworten?" Eben in diesem Drauen wollte ich die Antwort suchen, im Brausen der weiten Welt. Ich erinnerte mich nur allzu gut an den Schluss von Li Tseus Erzhlung, um an dem Heilmittel zu zweifeln: "Dann, nach einigen weiteren Jahren, spielte er eines Tages im Frhling im Chang-Modus den zweiten der fnf Tne, der dem Herbst entspricht: Ein frischer Wind erhob sich pltzlich. Die Pflanzen und die Frchte an den Bumen wurden reif: Es war Herbst geworden. Daraufhin zupfte er seine Gitarre im Kiao-Modus. Ein heier Wind blies, und alles blhte: Es war Sommer geworden. Er zupfte die Yu-Saite, und Frost und Schnee erschienen, und die Wasserlufe gefroren: Es war Winter geworden. Daraufhin zupfte er die Che-Saite: Die heie Sonne erschien, und das Eis schmolz."
Mein der frische Wind, die Pflanzen und die Frchte, die Sommerblumen und die Schneeflocken.
Mein der Zauber.
Ich delegierte die laufenden Geschfte des Zentrums, rief Sid McLauchlan, den Plattenproduzenten, an, um ihm die Suche nach einem neuen Aufnahmesaal zu bertragen, und schaltete meinen Anrufbeantworter aus. Dann verlie ich South Salem leichten Herzens und ruhigen Gewissens. Eine Stunde spter war ich in New York.
Kurz vor Manhattan hatte meine Aufregung sich ein wenig gelegt. Schn, ich hatte beschlossen, auf Reisen zu gehen. Aber wohin? Mein Herz schwankte zwischen drei Mglichkeiten: Eine Fahrt quer durch die Vereinigten Staaten, nach Westen, um den Apache National Forest und das Gila Wildness Area kreuz und quer zu durchstreifen; das alte Europa, weil ich das unbestimmte Gefhl hatte, dass ich dort, auf dem Boden von Liszt und Brahms, von Vivaldi und Wagner, von Granados und Chopin, diesen tiefen Sinn wiederfinden wrde, den ich verloren hatte und der stets so lebenswichtig fr mich, so wesentlich fr mein Gleichgewicht gewesen war. Und zugleich lockte mich Afrika.
Ich hatte die physische Existenz dieses Kontinents auf einer Reise zu den Galapagos-Inseln gesprt, im Blinzeln eines Leguans, der aus einer uralten Zeit zu kommen schien. Afrika, das hatte etwas Endgltiges. Schon in der Musik des Wortes Afrika hrte man das Trompeten des Elefanten, das Fauchen des Geparden und das Brllen des Lwen, und auch das gewaltige Knacken des Bodens unter der Gluthitze der Sonne; selbst die Leere war dort vermutlich voller Leben. Afrika, das war der Urgesang des Planeten Erde. Ich ahnte eine tiefe, eine existenzielle Frhlichkeit - frhlich, aber nicht zwangslufig glcklich - im Wesen dieses Kontinents, der ebenso aus tiefster Seele frhlich sein kann, wie die Indianer von Altiplano traurig und verdstert sein knnen. Man muss der Welt sein Ohr leihen, und mir hat das asthmatische Atmen dieses Andenvolks in der Panflte immer einen Stich ins Herz gegeben - diese stille Klage, die sie an einen tauben Himmel richten, seit ihre Gtter gettet wurden, dieser seither unmgliche Dialog, und dann all das Blut, das sinnlos ber die groen Stufen ihrer Pyramiden geflossen ist, dieses Blut, dessen Blutkrperchen ihre Rasse nicht mehr hatte regenerieren knnen, und ihre Anmie in dieser Musik; diese Rasse, die unter dem Sauerstoffmangel und der Blindheit der Gtter leidet; diese Mnner und Frauen, betubt vom verhngnisvollen Kauen der Kokabltter, und ihr Wunsch, zu entsagen und in den erloschenen Sternen eines Himmels zu sterben, den ihre Vorfahren gezeichnet hatten.
In Afrika dagegen sprte man deutlich, dass der Schpfer seiner Phantasie freien Lauf gelassen hat; man vergegenwrtige sich nur einmal gleichzeitig den Hals der Giraffe, die groen Ohren und den Rssel des Elefanten, das Ying des Rhinozeroshorns und das Yang seines Schwanzes, ja sogar das scheckige Lachen der Hyne. Afrika, das war der ungezgelte Humor des Lieben Gottes. Und der Affenbrotbaum? Nur ein unschuldiger Geist hatte den Affenbrotbaum erfinden, aus dem Chaos das Ungefhr einer geometrischen Form gewinnen knnen, dieses groe vertikale, leicht dickbuchige Rechteck, gespickt mit gekruselten Zweigen, pflanzlichen dreadlocks. Wenn ich den karibischen Musikern zusah, wie sie ihre steel-drums schlugen, um ihnen diesen kristallklaren, wasserhellen Klang zu entlocken, ging mir immer durch den Kopf, dass die uralte Erinnerung an den Affenbrotbaum, den Knigsbaum ihrer Heimat, ihnen die Idee fr diese Frisur eingegeben hatte. Noch heute werfe ich, wenn ich mir das Paradies vorstellen will, hinter meinen Lidern Affenbrotbume und Gnus, rotbraune Giraffen und gewaltige Elefanten auf einen Haufen. Afrika musste von einem Seraphen mit Beamtenseele entworfen worden sein, darauf bedacht, das Story Board der Schpfung zu entwerfen.
Ganz klar Afrika.
Ja, aber der Apache Forest.
Oder Europa mit seinen geistigen Ablagerungen.
Die Zeit verging, und ich konnte mich nicht entschlieen, durch die Tr dieses Reisebros auf dem Broadway zur 11. Strae hinzugehen. Es war Mittag. Ich machte ein paar Schritte auf dem Gehsteig. Am Fu eines Wolkenkratzers, der gerade renoviert wurde, war eines dieser Restaurants, die man berall in den USA findet und die etwas von einem Eisenbahnwagen haben: eine lange Schaufensterscheibe, ein langer Bartresen und, Abteilen hnlich, zwischen Sitzbnke fr zwei Personen geschobene Tische. Die Barhocker aus Weimetall waren am Boden festgeschraubt. Ich warf meine Tasche auf den Boden und setzte mich auf einen der Sthle, wobei ich das Gefhl hatte, in eine andere Geschichte, ein anderes Leben zu treten. Und zugleich schien es mir, als wrde ich endgltig diese hermetisch abgeschlossene fenster- und lukenlose Zeitblase verlassen, in welche die letzten Monate mich eingeschlossen hatten - ich hatte mir Ferien genommen oder, besser, ich trumte ins Blaue hinein.
Eine dicke schwarze Mama polierte den Tresen. "Audrey". Ein mit zwei kleinen Rosen geschmckter Button verriet ihren Vornamen auf der weien Nylonbluse, und wie ein kleines Boot bei starkem Seegang hob und senkte sich das Namensschild auf ihrer linken Brust im Rhythmus des Atems seiner Besitzerin.
Es gab Hot Dogs, die unvermeidlichen Bagels, die Kaffeemaschine und eine sechsseitige Speisekarte. Ich fragte mich, ob ich Hunger hatte, ob man berhaupt Lust auf Essen haben konnte in diesem Land, wo man zu jeder Tages- und Nachtzeit isst, aber da lockten auch in Frischhaltefolie verpackte Salate und, vielleicht das Sicherste, Spiegeleier mit Speck, das Stammgericht hier, zu dem man aus groen Bechern dnnen, lauwarmen Kaffee trank. Ich bestellte beides und behielt mir vor, nach dem Aussehen zu entscheiden, der Frische des Salatblatts oder der Wlbung des Eigelbs.
"Ist das alles, was du nimmst, Schtzchen?", fragte Audrey, whrend der Kellner, ein groer, blasser und gebeugter, junger Mann, zwei Ksekuchen zu einem Tisch mit Arbeitern brachte, die ihre Bauarbeiterhelme auf den Boden gelegt hatten.
Ich liebe es, in den USA mit Kellnern und Taxifahrern zu reden. Sie erzhlen mir ihr Leben, von ihren Kindern, ihren anderen Jobs, ihren Nten und ihrem hufig komplizierten Liebesleben. "Ich habe eine Frau, die eine richtige Nervensge ist", hatte mir einer frhlich erzhlt, "und ich musste mir einfach eine Geliebte nehmen! Sie ist schlimmer als meine Frau." Ich erinnere mich noch, auf welch kindliche und lsterne Weise er von den Frauen sprach, die fr ihn so etwas wie das letzte unbekannte Territorium waren, das es zu erobern galt, eine Art Sugetier, fr das er, wie viele Mnner, eine Mischung aus Begierde und berlegenheit, Angst und Schrecken empfand.
Audrey wollte wissen, wo ich mit meiner Reisetasche hinwollte. Ich erzhlte ihr von meinem Dilemma, und whrend ich so redete, stellte sich pltzlich eine phantastische Analogie zwischen den afrikanischen Bildern, die mir noch immer im Kopf herumgingen, und der Musik von Bartk her, die ich unter der Leitung von Pierre Boulez aufnehmen sollte. Bartk hat eine regionale Musik komponiert, eine ethnische Musik, ebenso wie Mahler das Lied von der Erde zu komponieren gewusst hat: In seinen Symphonien hrt man die Kuhglocken auf den Almen, aus seinen Klngen quillt der Saft des Frhlings.
Nein, Pech fr Afrika. Ich verabschiedete mich endgltig von diesem verlockenden Reiseziel.
Blieben der Westen Amerikas und Europa.
Arizona und Neu-Mexiko reizten mich vor allem deswegen, weil in diesen beiden Staaten die Wlder lagen, in denen die Wlfe des Zentrums nach ihrer Auswilderung ihr neues und freies Leben fhren wrden, in Rumen, in denen sie ihre Instinkte ausleben konnten. Vor zwei Jahren hatte ich ein Dossier eingereicht, um das Zentrum in das Programm des Species Survival Plan aufnehmen zu lassen, das der Internationalen Union fr Naturschutz untersteht. Gab es da eine Analogie zu meinem eigenen Leben? Die unvermeidlichen schtzenden Drahtzune um das Gebiet des Zentrums strten mich immer mehr. Ich hatte die Wlfe lieben gelernt durch Alawa, meine Alawa, den Inbegriff einer Wlfin; sie war damals frei, und jedes husliche Leben, jeder Vogelgesang verstummte, wenn sie sich nachts nherte. Die wichtigste Aufgabe des Zentrums, die Erziehung, gengte mir nicht mehr; ich wollte die Wlfe ihrem innersten Wesen, ihrem natrlichen Raum zurckgeben - der Freiheit. Die Lebenskraft, die ich mir fr mich selbst wnschte, sollten auch sie wiederfinden. Und eben diese Rckfhrung in das freie Leben war das Ziel des Species Survival Plan.
"Soll ich Ihnen dessen Aufgaben erlutern?", fragte ich die Kellnerin, die, ganz Ohr jetzt und voller Respekt, zwei in Fett schwimmende Spiegeleier, ein verkohltes Wrstchen und Speck vor mich hinstellte, so dass ich beschloss, doch lieber den Salat zu nehmen, der frisch aussah, obwohl er sicher wie Gummi schmeckte.
Sie nickte.
"Nun, es geht zum Beispiel um den Schutz des sibirischen Tigers oder des Schneeleoparden in Skandinavien."
Sie schien jetzt noch verblffter. Ich fuhr fort und erklrte ihr, dass die Vertretungen in den USA sich den Schutz des mexikanischen und des roten Wolfs auf die Fahnen geschrieben hatten.
"Der rote Wolf?!" Der Ton meiner Gesprchspartnerin schwankte zwischen Frage und Ausruf.Ehrlich fasziniert, legte sie ihren Lappen weg. Ich hatte dieses Leuchten bereits in den Pupillen der Kinder und der Erwachsenen, die ins Zentrum kamen, bemerkt, wenn sie ihren ersten Wolf erblickten. Und diesen freudigen Schauder, wenn sie mit dem wilden Leben in Berhrung kamen. Und jetzt hatte ich einem Wirbelwind gleich die animalische und mythische Welt des Wolfs in dieses Restaurant im Herzen Manhattans gebracht - das Leben, phantastisch und blutig.
"Nicht darin, dass man der Vergangenheit nachtrauert, sondern dass man die Zukunft gestaltet." Ich wiederholte mir diesen Satz whrend meiner Yogastunde. Aschtanga-Yoga, ein flieendes Yoga, man wechselt ganz sanft von einer Position in die nchste, allein dem Rhythmus des Atems folgend. Anstatt eine Position zu erreichen und darin zu erstarren, bewegt man sich in einem ununterbrochenen Legato. Es gibt Bewegungen, die man respektieren muss, eine Bewegungschoreographie, Bewegungen, die sich miteinander verbinden. Vergessen, Sanftheit, tiefer Rhythmus. Seit vier Jahren schon machte ich Yoga; das vollkommen ungesunde Leben, das meinen Alltag bestimmte, hatte ich schlielich auf grausame Weise zu spren bekommen: Whrend einer Tournee konnte ich mich in Paris trotz Spritzen und Massagen vor Rckenschmerzen nicht mehr bewegen. Ich hatte das Konzert absagen mssen, mit Krankengymnastik begonnen; dann Yoga und schlielich Aschtanga-Yoga.
Eigentlich hatte ich diese Form von Yoga im letzten Juni entdeckt, ich war damals in Washington, in einem Hotel, unmittelbar nach dem Scheitern der Aufnahme der jeweils zweiten Klaviersonate von Chopin und Rachmaninow. Ich war mde - schon? Seit wie vielen Wochen war ich es in Wirklichkeit schon? Ich schaltete das Fernsehgert an, um abzuschalten vor meinem Konzert. Eine Reportage erklrte die Kunst des Aschtanga-Yoga und weckte in mir den Wunsch, es zu erlernen. ber das Internet bestellte ich Bcher; der Vorteil einer Methode ist, dass man allein lernen kann, man ist sein eigener Lehrer, was zwar nicht ideal ist, aber immerhin besser als nichts, da ich nicht die Zeit habe, Unterricht zu nehmen.
Keine Zeit mehr fr Unterricht, keine Zeit mehr fr die Wlfe - selbst das Saubermachen der Gehege des Zentrums fehlte mir, der raue Kontakt mit dem Holz der Schaufeln und Rechen. Und die Musik? Die Lust auf Musik war so stark wie immer; dessen war ich mir sicher. Ich versprte den gleichen unwiderstehlichen Drang, ein Stck zu spielen, es immer wieder zu ben, den Klang eines hohen Tons abzumildern, jeden Ton ganz rein leuchten zu lassen, alles hrbar zu machen; in den Schmelztiegel des Stcks das Gold seines Lebens zu gieen. Mit dieser Absicht wollte ich eine neue Version der Sonate von Rachmaninow einspielen, die ich zum ersten Mal mit fnfzehn aufgenommen hatte. Seitdem hatte ich Jahr fr Jahr jene groe Wahrheit besser begriffen, die ich aus dem Unterricht meines Lehrers Pierre Barbizet mitgenommen hatte: Die Musik beginnt in Wirklichkeit erst mit dem Hrer, ab dem Augenblick, in dem sie in die Wrme eines Herzens dringt und im Verborgenen seine Stille bewohnt. "Vergiss nicht", hatte er zu mir gesagt, "ein Musiker ist gro nur durch die Gre, die er bei seinen Mitmenschen ans Licht bringt."
Das also war der Grund fr dieses Gefhl der Frustration, diesen Drang, den ich sprte, unbedingt einen zustzlichen Schritt machen zu mssen - aber ich wusste nicht, in welche Richtung. Vermutlich trbte die - atemlose - Abfolge der Konzerte diese Ahnung. Ich beschwerte mich nicht ber meinen Terminkalender, die Bhne und der Kontakt mit dem Publikum erfllten mich stets mit der gleichen Freude - wer knnte jemals auch nur annhernd das Glck beschreiben, der Botschafter der Musik, der Orpheus von Chopin oder von Brahms zu sein?
Um dieses Glck zu verlngern, hatte ich mir gewnscht, dass die Aufnahme meiner neuen Platte vor Publikum stattfnde. Meine Vorstellung war, die Wiederholungen im Beisein der Zuhrer zu machen, um ihnen zu zeigen, wie Musiker und Produzenten zusammenarbeiten, welche Aufgaben der Toningenieur, der Produzent oder der knstlerische Aufnahmeleiter haben - diese Mnner im Hintergrund -, Zauberer, Alchimisten der Technik. Die Aufnahme htte in Amsterdam, im Saal des Concertgebouw, stattfinden sollen, aus verwaltungstechnischen Grnden war das Projekt jedoch abgesagt worden.
Das bedeutete eine neuerliche Verzgerung. Solche Zwischenflle gehren zum Alltag der Knstler, aber eigenartigerweise machte diese mich sehr traurig, und ich hasse Traurigkeit, diesen Schleier, der sich zwischen dich und die Dinge legt, die Farben abstumpft, die Klnge dmpft und den Wein sauer macht. Ich war selbst in meinem Schwung abgebremst. Ich fhlte mich am Fu einer Felswand, die unablssig in die Hhe wuchs. Diese neue Plattenaufnahme natrlich, und sofort danach wrde Bartk dran sein, unter Leitung von Pierre Boulez. Eine groe Ehre: Der Maestro feierte seinen achtzigsten Geburtstag. Aber da war auch dieses Schutzprogramm fr den roten Wolf und den mexikanischen Wolf, dem das Zentrum sich angeschlossen hatte; der Fang eines Tieres in Kanada war bereits geplant. Zune mussten verstrkt werden, um einen Nachbarn zu beruhigen, der panische Angst vor den Wlfen hatte; und ich musste mich endlich ernsthaft mit dieser zweiten Sonate von Chopin beschftigen; damit, welchen Flgel ich whlen sollte, um den Klang zu erzielen, der mir vorschwebte, einen direkten Klang, einen Klang der Dringlichkeit auf der Ebene des Spiels, der aber zugleich hell und dunkel bleiben sollte. Und der ganze Papierkram im Zusammenhang mit dem Einfangen des Wolfs. Der Klang? Hell, ja, aber nicht zu einschmeichelnd, damit man den krperlichen Einsatz noch sprt.
Erschpfung. Man sollte sein Wrterbuch zu Rate ziehen, wie man seinen Arzt konsultiert. Im Eintrag des Petit Robert erkannte ich alle Symptome wieder, die mir seit Wochen zu schaffen machten: Mattigkeit, Abgespanntheit, Schlappheit, Erschlaffung, Schwche, Mdigkeit, Verminderung, Abbau. Ich hatte zugelassen, dass die Routine mich auslaugte. Und zugleich entdeckte ich unter den Antonymen das Heilmittel. Ich war erschpft? Ich musste auftanken, mich bereichern. Die Anweisung war sehr przise: Flle, Reichtum; Wohlergehen, Entfaltung, Selbstverwirklichung. Und eben dieser Hunger, der mich geweckt hatte, dieser Hunger, der aus meinem innersten Wesen hervorgebrochen war.
Zwei Minuten des Nachdenkens, und meine Entscheidung war getroffen. Ich hatte drei Wochen Ferien vor mir. Ich wrde auf Reisen gehen. Ich wrde wandern. Ich wrde atmen.
Wo? Im ersten Augenblick schien mir das Ziel nicht wichtig. Nur das Reisen zhlte, und endlich einmal wrde der Aufbruch nicht dem Ritual meiner Tourneen gehorchen: Schnell das Bhnenkostm in die Reisetasche geworfen, aufmerksames Studium des Terminkalenders, Anrufe bei den Agenten, offizielle Abendessen, Taxi-Flugzeug-Taxi-Hotel, stndig von Stadt zu Stadt und nachts in unbekannten Hotelzimmern die Augen verzweifelt offen, weit aufgerissen, weil die Anspannung des Konzerts nicht von einem abfllt und der Zeitunterschied sich bemerkbar macht.
Ich wrde endlich ungehindert laufen, wie eine Laufmasche, mir einen Weg bahnen im Netz der Zeit. Diese Vorstellung entzckte mich geradezu - es war diese Freude, die man versprt, wenn man die Schule schwnzt, wenn man pltzlich ausreit, und ich hatte mir schon so lange kein richtiges Ausbrechen mehr gegnnt. Ich wrde die Zeit verlangsamen, aus der Routine ausbrechen.
Vor allem wrde ich mich sammeln, mich auf mich selbst besinnen. Ich brauchte Raum, Liebe und Einsamkeit. Vielleicht wrde ich dann die Ursache der Unruhe finden, die mich qulte, die Frage, die mir keine Ruhe lie und mich verwirrte, und die Antwort darauf.
In "Der wahre Klassiker der vollkommenen Lehre", in dem Li Tseu das grundlegende Vorhaben jeder Kunst beschreibt, heit es: "Wonach ich strebe, sagte Meister Zhiang, ist nicht, die Saiten gut zu zupfen, und auch nicht, schne Klnge zu erzeugen. Was ich suche, habe ich noch nicht in meinem Herzen gefunden. Wie knnte mir also drauen das Instrument antworten?" Eben in diesem Drauen wollte ich die Antwort suchen, im Brausen der weiten Welt. Ich erinnerte mich nur allzu gut an den Schluss von Li Tseus Erzhlung, um an dem Heilmittel zu zweifeln: "Dann, nach einigen weiteren Jahren, spielte er eines Tages im Frhling im Chang-Modus den zweiten der fnf Tne, der dem Herbst entspricht: Ein frischer Wind erhob sich pltzlich. Die Pflanzen und die Frchte an den Bumen wurden reif: Es war Herbst geworden. Daraufhin zupfte er seine Gitarre im Kiao-Modus. Ein heier Wind blies, und alles blhte: Es war Sommer geworden. Er zupfte die Yu-Saite, und Frost und Schnee erschienen, und die Wasserlufe gefroren: Es war Winter geworden. Daraufhin zupfte er die Che-Saite: Die heie Sonne erschien, und das Eis schmolz."
Mein der frische Wind, die Pflanzen und die Frchte, die Sommerblumen und die Schneeflocken.
Mein der Zauber.
Ich delegierte die laufenden Geschfte des Zentrums, rief Sid McLauchlan, den Plattenproduzenten, an, um ihm die Suche nach einem neuen Aufnahmesaal zu bertragen, und schaltete meinen Anrufbeantworter aus. Dann verlie ich South Salem leichten Herzens und ruhigen Gewissens. Eine Stunde spter war ich in New York.
Kurz vor Manhattan hatte meine Aufregung sich ein wenig gelegt. Schn, ich hatte beschlossen, auf Reisen zu gehen. Aber wohin? Mein Herz schwankte zwischen drei Mglichkeiten: Eine Fahrt quer durch die Vereinigten Staaten, nach Westen, um den Apache National Forest und das Gila Wildness Area kreuz und quer zu durchstreifen; das alte Europa, weil ich das unbestimmte Gefhl hatte, dass ich dort, auf dem Boden von Liszt und Brahms, von Vivaldi und Wagner, von Granados und Chopin, diesen tiefen Sinn wiederfinden wrde, den ich verloren hatte und der stets so lebenswichtig fr mich, so wesentlich fr mein Gleichgewicht gewesen war. Und zugleich lockte mich Afrika.
Ich hatte die physische Existenz dieses Kontinents auf einer Reise zu den Galapagos-Inseln gesprt, im Blinzeln eines Leguans, der aus einer uralten Zeit zu kommen schien. Afrika, das hatte etwas Endgltiges. Schon in der Musik des Wortes Afrika hrte man das Trompeten des Elefanten, das Fauchen des Geparden und das Brllen des Lwen, und auch das gewaltige Knacken des Bodens unter der Gluthitze der Sonne; selbst die Leere war dort vermutlich voller Leben. Afrika, das war der Urgesang des Planeten Erde. Ich ahnte eine tiefe, eine existenzielle Frhlichkeit - frhlich, aber nicht zwangslufig glcklich - im Wesen dieses Kontinents, der ebenso aus tiefster Seele frhlich sein kann, wie die Indianer von Altiplano traurig und verdstert sein knnen. Man muss der Welt sein Ohr leihen, und mir hat das asthmatische Atmen dieses Andenvolks in der Panflte immer einen Stich ins Herz gegeben - diese stille Klage, die sie an einen tauben Himmel richten, seit ihre Gtter gettet wurden, dieser seither unmgliche Dialog, und dann all das Blut, das sinnlos ber die groen Stufen ihrer Pyramiden geflossen ist, dieses Blut, dessen Blutkrperchen ihre Rasse nicht mehr hatte regenerieren knnen, und ihre Anmie in dieser Musik; diese Rasse, die unter dem Sauerstoffmangel und der Blindheit der Gtter leidet; diese Mnner und Frauen, betubt vom verhngnisvollen Kauen der Kokabltter, und ihr Wunsch, zu entsagen und in den erloschenen Sternen eines Himmels zu sterben, den ihre Vorfahren gezeichnet hatten.
In Afrika dagegen sprte man deutlich, dass der Schpfer seiner Phantasie freien Lauf gelassen hat; man vergegenwrtige sich nur einmal gleichzeitig den Hals der Giraffe, die groen Ohren und den Rssel des Elefanten, das Ying des Rhinozeroshorns und das Yang seines Schwanzes, ja sogar das scheckige Lachen der Hyne. Afrika, das war der ungezgelte Humor des Lieben Gottes. Und der Affenbrotbaum? Nur ein unschuldiger Geist hatte den Affenbrotbaum erfinden, aus dem Chaos das Ungefhr einer geometrischen Form gewinnen knnen, dieses groe vertikale, leicht dickbuchige Rechteck, gespickt mit gekruselten Zweigen, pflanzlichen dreadlocks. Wenn ich den karibischen Musikern zusah, wie sie ihre steel-drums schlugen, um ihnen diesen kristallklaren, wasserhellen Klang zu entlocken, ging mir immer durch den Kopf, dass die uralte Erinnerung an den Affenbrotbaum, den Knigsbaum ihrer Heimat, ihnen die Idee fr diese Frisur eingegeben hatte. Noch heute werfe ich, wenn ich mir das Paradies vorstellen will, hinter meinen Lidern Affenbrotbume und Gnus, rotbraune Giraffen und gewaltige Elefanten auf einen Haufen. Afrika musste von einem Seraphen mit Beamtenseele entworfen worden sein, darauf bedacht, das Story Board der Schpfung zu entwerfen.
Ganz klar Afrika.
Ja, aber der Apache Forest.
Oder Europa mit seinen geistigen Ablagerungen.
Die Zeit verging, und ich konnte mich nicht entschlieen, durch die Tr dieses Reisebros auf dem Broadway zur 11. Strae hinzugehen. Es war Mittag. Ich machte ein paar Schritte auf dem Gehsteig. Am Fu eines Wolkenkratzers, der gerade renoviert wurde, war eines dieser Restaurants, die man berall in den USA findet und die etwas von einem Eisenbahnwagen haben: eine lange Schaufensterscheibe, ein langer Bartresen und, Abteilen hnlich, zwischen Sitzbnke fr zwei Personen geschobene Tische. Die Barhocker aus Weimetall waren am Boden festgeschraubt. Ich warf meine Tasche auf den Boden und setzte mich auf einen der Sthle, wobei ich das Gefhl hatte, in eine andere Geschichte, ein anderes Leben zu treten. Und zugleich schien es mir, als wrde ich endgltig diese hermetisch abgeschlossene fenster- und lukenlose Zeitblase verlassen, in welche die letzten Monate mich eingeschlossen hatten - ich hatte mir Ferien genommen oder, besser, ich trumte ins Blaue hinein.
Eine dicke schwarze Mama polierte den Tresen. "Audrey". Ein mit zwei kleinen Rosen geschmckter Button verriet ihren Vornamen auf der weien Nylonbluse, und wie ein kleines Boot bei starkem Seegang hob und senkte sich das Namensschild auf ihrer linken Brust im Rhythmus des Atems seiner Besitzerin.
Es gab Hot Dogs, die unvermeidlichen Bagels, die Kaffeemaschine und eine sechsseitige Speisekarte. Ich fragte mich, ob ich Hunger hatte, ob man berhaupt Lust auf Essen haben konnte in diesem Land, wo man zu jeder Tages- und Nachtzeit isst, aber da lockten auch in Frischhaltefolie verpackte Salate und, vielleicht das Sicherste, Spiegeleier mit Speck, das Stammgericht hier, zu dem man aus groen Bechern dnnen, lauwarmen Kaffee trank. Ich bestellte beides und behielt mir vor, nach dem Aussehen zu entscheiden, der Frische des Salatblatts oder der Wlbung des Eigelbs.
"Ist das alles, was du nimmst, Schtzchen?", fragte Audrey, whrend der Kellner, ein groer, blasser und gebeugter, junger Mann, zwei Ksekuchen zu einem Tisch mit Arbeitern brachte, die ihre Bauarbeiterhelme auf den Boden gelegt hatten.
Ich liebe es, in den USA mit Kellnern und Taxifahrern zu reden. Sie erzhlen mir ihr Leben, von ihren Kindern, ihren anderen Jobs, ihren Nten und ihrem hufig komplizierten Liebesleben. "Ich habe eine Frau, die eine richtige Nervensge ist", hatte mir einer frhlich erzhlt, "und ich musste mir einfach eine Geliebte nehmen! Sie ist schlimmer als meine Frau." Ich erinnere mich noch, auf welch kindliche und lsterne Weise er von den Frauen sprach, die fr ihn so etwas wie das letzte unbekannte Territorium waren, das es zu erobern galt, eine Art Sugetier, fr das er, wie viele Mnner, eine Mischung aus Begierde und berlegenheit, Angst und Schrecken empfand.
Audrey wollte wissen, wo ich mit meiner Reisetasche hinwollte. Ich erzhlte ihr von meinem Dilemma, und whrend ich so redete, stellte sich pltzlich eine phantastische Analogie zwischen den afrikanischen Bildern, die mir noch immer im Kopf herumgingen, und der Musik von Bartk her, die ich unter der Leitung von Pierre Boulez aufnehmen sollte. Bartk hat eine regionale Musik komponiert, eine ethnische Musik, ebenso wie Mahler das Lied von der Erde zu komponieren gewusst hat: In seinen Symphonien hrt man die Kuhglocken auf den Almen, aus seinen Klngen quillt der Saft des Frhlings.
Nein, Pech fr Afrika. Ich verabschiedete mich endgltig von diesem verlockenden Reiseziel.
Blieben der Westen Amerikas und Europa.
Arizona und Neu-Mexiko reizten mich vor allem deswegen, weil in diesen beiden Staaten die Wlder lagen, in denen die Wlfe des Zentrums nach ihrer Auswilderung ihr neues und freies Leben fhren wrden, in Rumen, in denen sie ihre Instinkte ausleben konnten. Vor zwei Jahren hatte ich ein Dossier eingereicht, um das Zentrum in das Programm des Species Survival Plan aufnehmen zu lassen, das der Internationalen Union fr Naturschutz untersteht. Gab es da eine Analogie zu meinem eigenen Leben? Die unvermeidlichen schtzenden Drahtzune um das Gebiet des Zentrums strten mich immer mehr. Ich hatte die Wlfe lieben gelernt durch Alawa, meine Alawa, den Inbegriff einer Wlfin; sie war damals frei, und jedes husliche Leben, jeder Vogelgesang verstummte, wenn sie sich nachts nherte. Die wichtigste Aufgabe des Zentrums, die Erziehung, gengte mir nicht mehr; ich wollte die Wlfe ihrem innersten Wesen, ihrem natrlichen Raum zurckgeben - der Freiheit. Die Lebenskraft, die ich mir fr mich selbst wnschte, sollten auch sie wiederfinden. Und eben diese Rckfhrung in das freie Leben war das Ziel des Species Survival Plan.
"Soll ich Ihnen dessen Aufgaben erlutern?", fragte ich die Kellnerin, die, ganz Ohr jetzt und voller Respekt, zwei in Fett schwimmende Spiegeleier, ein verkohltes Wrstchen und Speck vor mich hinstellte, so dass ich beschloss, doch lieber den Salat zu nehmen, der frisch aussah, obwohl er sicher wie Gummi schmeckte.
Sie nickte.
"Nun, es geht zum Beispiel um den Schutz des sibirischen Tigers oder des Schneeleoparden in Skandinavien."
Sie schien jetzt noch verblffter. Ich fuhr fort und erklrte ihr, dass die Vertretungen in den USA sich den Schutz des mexikanischen und des roten Wolfs auf die Fahnen geschrieben hatten.
"Der rote Wolf?!" Der Ton meiner Gesprchspartnerin schwankte zwischen Frage und Ausruf.Ehrlich fasziniert, legte sie ihren Lappen weg. Ich hatte dieses Leuchten bereits in den Pupillen der Kinder und der Erwachsenen, die ins Zentrum kamen, bemerkt, wenn sie ihren ersten Wolf erblickten. Und diesen freudigen Schauder, wenn sie mit dem wilden Leben in Berhrung kamen. Und jetzt hatte ich einem Wirbelwind gleich die animalische und mythische Welt des Wolfs in dieses Restaurant im Herzen Manhattans gebracht - das Leben, phantastisch und blutig.
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Autoren-Porträt von Hélène Grimaud
Hélène Grimaud, Jahrgang 1969, verbringt die Hälfte des Jahres in South Salem nahe New York und führt dort das Wolf Conservation Center, ein "Erziehungszentrum für Wölfe, in dem auch Menschen etwas lernen". Die andere Hälfte ihrer Zeit widmet sie der Musik: weltweite Konzerttourneen und CD-Einspielungen. "Credo", im Frühjahr 2004 erschienen, war auf allen Klassik-Bestsellerlisten platziert.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hélène Grimaud
- 2007, 1, 222 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Killisch-Horn, Michael von
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3764502401
- ISBN-13: 9783764502409
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