Onkel Toms Hütte, Berlin
Ben ist über das Ende des Krieges nicht begeistert, denn...
Ben ist über das Ende des Krieges nicht begeistert, denn jetzt kehren allmählich wieder Ordnung und Disziplin ein. Besonders schmerzlich ist für ihn, dass er nun eigentlich wieder zur Schule gehen müsste, die ihn doch nur ablenkt von seinem großen Vorhaben: Er möchte sich mit allen Mitteln, die einem Jungen in den chaotischen Tagen zwischen Befreiung und Besatzung, Bombardierung und Wiederaufbau, zur Verfügung stehen, seinen ersten Anzug verdienen, um das Mädchen seiner Träume zu beeindrucken.
Als er gerade im Bahnhof "Onkel Toms Hütte" zwischen den Gleisen Zigarettenkippen sammelt, stolpert er über eine Leiche - eine junge Frau, die brutal misshandelt und erwürgt wurde. Inspektor Dietrich, der mit dem Fall betraut wird, stellt bald fest, dass er nach einem Serientäter fahnden muss, denn in kurzer Folge werden drei weitere Opfer aufgefunden, alle weiblich, blond und blauäugig.
Es zeigt sich, dass diese Frauen - eine UfA-Schauspielerin, eine Psychiatriekranken- schwester, eine Prostituierte und eine junge Adelige im Auswärtigen Amt - die Kriegsjahre mit viel Mut, Leidensfähigkeit und Willenskraft überstanden hatten und dennoch kurz nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs elend zu Tode kamen.
In Onkel Toms Hütte, Berlin schildert Pierre Frei die Lebenswege dieser couragierten Frauen und macht die Gefühlswelt der Zeit, die Sehnsüchte, Gewissenskonflikte und bittersüßen Wendungen erfahrbar. Ein ebenso authentisch wie elegant erzählter Roman, der von der ersten Seite an fesselt und bewegt.
Pierre Frei schildert die Lebenswege dieser couragierten Frauen und macht die Gefühlswelt der Zeit, die Sehnsüchte und Gewissenskonflikte erfahrbar. Ein ebenso authentischer wie elegant erzählter Roman, der von der ersten Seite an fesselt und bewegt.
Pierre Frei schildert die Lebenswege dieser couragierten Frauen und macht die Gefühlswelt der Zeit, die Sehnsüchte und Gewissenskonflikte erfahrbar. Ein ebenso authentischer wie elegant erzählter Roman, der von der ersten Seite an fesselt und bewegt.um das Mädchen seiner Träume zu beeindrucken. Als er gerade im Bahnhof "Onkel Toms Hütte" zwischen den Gleisen Zigarettenkippen sammelt, stolpert er über eine Leiche - eine junge Frau, die brutal misshandelt und erwürgt wurde. Inspektor Dietrich, der mit dem Fall betraut wird, stellt bald fest, dass er nach einem Serientäter fahnden muss, denn in kurzer Folge werden
Ein Dutzend Kippen dieser Länge, das Aschenende mit einer Rasierklinge sauber abgeschnitten, brachte vierzig Mark. Fuhr der Ami jedoch weiter, war die Aussicht auf Ernte trübe, weil er den begehrten Stummel am Boden des Waggons zertreten oder aus dem sommerlich offenen Fenster katapultieren würde. Die Amerikaner waren in solchen Dingen völlig unbekümmert.
Ebenso unbekümmert hatte der Quartiermeister der US Army eine Quadratmeile um den U-Bahnhof Onkel Toms Hütte mit Stacheldraht eingezäunt und für die deutschen Fahrgäste nur einen schmalen Zugang gelassen. Auch die Ladenstraßen an den beiden Längsseiten des Bahnhofs wurden "Off Limits" erklärt und zum Einkaufszentrum der ringsum in den beschlagnahmten Wohnhäusern einquartierten Soldaten.
Jahrzehnte zuvor hatte ein Gastwirt sein Ausflugslokal im nahen Grunewald nach Harriet Beecher-Stowes Rührgeschichte "Onkel Toms Hütte" benannt, ein Name, den die Berliner Verkehrsgesellschaft Ende 1929 für ihre neue U-Bahnstation übernahm. Den amerikanischen Besatzern des Jahres 1945 wurde "Aankel Taam" schnell ein fester Begriff.
Die U-Bahn hielt. Der Ami stieg ein, die Zigarette im Mundwinkel, und lehnte sich lässig gegen eine Haltestange. Ein nachfolgender Fahrgast schloss die Tür. Der Beamte in der Bahnsteigmitte hob die Kelle. Der Zugbegleiter ganz vorn gab mit einem Klopfen gegen die Scheibe das Zeichen an den Fahrer weiter und schwang sich in den anrollenden Wagen.
Der Junge sah dem Zug nach. Er hatte sich gegen den Stummel entschieden. Sobald der mit der
Über ihm erschien der Kopf des Kellenmannes. "Was machst du da unten?", fragte er unwirsch.
"Kippen suchen."
"Und? Welche gefunden?" Der Mann dachte an seine leere Pfeife.
"Keine Kippen. Nur 'ne tote Frau." Der Junge deutete gleichgültig neben die Gleise.
Der Fahrdienstleiter setzte sich auf die Bahnsteigkante, legte die Kelle hin und ließ sich ächzend herab. Aus einem der seitlichen Einstiege, durch die man gebückt zu den Kabeln unter dem Bahnsteig gelangte, ragten zwei schlanke Beine in zerrissenen hellen Nylonstrümpfen, an den Füßen braune Pumps mit weißen Blenden und hohen Absätzen, wie sie zur Zeit in den USA Mode waren. Auf dem weißen Leder waren dunkelrote Blutflecken.
"Das is 'ne Amerikanerin. Lauf und hol die Amis." Der Mann kletterte wieder auf den Bahnsteig und eilte in sein Kabuff. Er riss den Hörer des Streckentelefons von der Gabel und kurbelte durch. "Krumme Lanke? Hier Fahrdienstleiter Onkel Tom. Wir haben eine Tote auf Gleis Eins. Stoppen Sie die Züge aus Ihrer Richtung. Ende."
Der Junge hieß Benjamin, aber alle riefen ihn Ben. Er war ein dunkelblonder Bursche von fünfzehn, an dem die Ereignisse der letzten Monate scheinbar spurlos vorübergegangen waren: die Bomben der Engländer und Amerikaner, das Chaos der letzten Kriegstage, das Wüten der Roten Armee. Er hatte das Erlebte einfach in einer Schublade im Kopf abgelegt, um neuen Eindrücken Platz zu schaffen. Neu waren Glenn Miller, Chewing Gum, Hershey's Chocolate und meilenlange Autos, wobei der Buick Eight ganz vorne lag, gefolgt von De Soto, Dodge und Chevrolet. Neu waren grellbunte Schlipse und knöchelkurze enge Hosenbeine, Old Spice und Pepsi Cola. Das alles kam über Nacht: als die Russen vereinbarungsgemäß halb Berlin räumten, und nun auch die westlichen Alliierten Einzug in die zerstörte Hauptstadt hielten.
Ben stieg die breite Treppe zu den Schaltern hinauf und trollte durch die Stacheldrahtpassage hinaus in die staubige Sommerhitze, die einen sofort durstig machte. Er entschied sich im Geiste für eine kalte Waldmeisterbrause. Wenn man den Bügelverschluss öffnete, knallte es verheißungsvoll, und die Kohlensäure stieg rauchend wie ein Dschinn aus der Flasche. Aber es gab keine Waldmeisterbrause, nur staubige Hitze, in der ein Geruch von DDT-Insektenpulver und Spearmint-Kaugummi hing. Seit dem Einzug der Amis roch alles anders.
Langsam schlenderte Ben zum Posten an der Einfahrt des Sperrgebietes. Eile wäre ein Zeichen von Betroffenheit gewesen. "Dead woman on the U-Bahn", sagte er lässig.
"Okay, buddy. It better be true." Der Posten griff zum Telefon.
Der Anruf kam von der Military Police. Inspektor Klaus Dietrich nahm ihn entgegen. "Ja, danke, wir kommen." Er legte auf und rief: "Franke, den Wagen!"
"Wird gerade angeheizt. Das dauert 'ne gute halbe Stunde." Kriminalmeister Franke wies aus dem Fenster auf den alten Opel am Bordstein, aus dessen Heck eine Art abgesägter Badeofen ragte, den ein Polizist mit Holzresten fütterte. Erst wenn diese ausreichend schwelten, würde sich das zum Antrieb des Motors nötige Holzgas entwickeln. Benzin gab es für die Kriminalinspektion Berlin-Zehlendorf nicht.
"Wir nehmen die Fahrräder", entschied Dietrich. Er war ein großer Mann von fünfundvierzig, mit früh ergrautem Haar und infolge der Hungerrationen markanten Wangenknochen. Er trug einen grauen, zu weit gewordenen Zweireiher, den einzigen Anzug, den Inge aus der zerstörten Wohnung am Kaiserdamm hatte retten können. Das linke Bein zog er ein wenig nach. Die Prothese scheuerte bei warmem Wetter. Man hatte sie ihm im Hilfslazarett in der Zinnowaldschule angepasst, wo er das Kriegsende überdauerte. Eine Gefangenschaft blieb ihm wegen seiner Verletzung erspart. Schon im Mai durfte er nach Hause. Inge und die Jungs waren ganz in der Nähe bei den Eltern in der Riemeister Straße untergekommen. Inges Vater, Dr. Bruno Hellbich, hatte die Hitlerjahre zwangspensioniert, ansonsten aber unbehelligt überstanden. Danach kehrte er auf seinen Posten als sozialdemokratischer Bezirksrat ins Zehlendorfer Rathaus zurück und konnte dem Schwiegersohn eine Stellung als Inspektor bei der Kripo besorgen. Die Kriminalinspektion Zehlendorf brauchte einen kommissarischen Leiter. Dass Klaus Dietrich vor dem Krieg zweiter Mann in der Direktion der Wach- und Schließgesellschaft und politisch nicht vorbelastet war, machte das Fehlen des linken Unterschenkels und einer kriminalistischen Ausbildung wett. Im Übrigen fand er schnell heraus, dass sein gesunder Menschenverstand völlig ausreichte, um mit Schwarzhändlern, Dieben und Einbrechern fertig zu werden.
Sie erreichten den U-Bahnhof in einer Viertelstunde. Ihre Dienstausweise bahnten ihnen einen Weg durch die anwachsende Menschenmenge.
"Ach du Scheiße, mein Alter", murmelte Ben und verdrückte sich.
Ein amerikanischer Offizier stand mit einem Militärpolizisten und dem Fahrdienstleiter auf den Gleisen. Sie hatten die Tote neben die Schienen gebettet. Sie war blond und hatte ein schönes, ebenmäßiges Gesicht. Ihre blauen Augen starrten ins Nichts. Blutunterlaufene Strangulierungsmale kerbten sich in den zierlichen Hals. Klaus Dietrich deutete auf ihre Nylonstrümpfe, die kaum getragenen Pumps und das helle modische Sommerkleid. "Eine Amerikanerin", meinte er besorgt. "Wenn das ein Deutscher getan hat, gibt's Ärger."
Kriminalmeister Franke kratzte sich am Kopf. "Irgendwie kommt mir ihr Gesicht bekannt vor."
Der Offizier richtete sich auf. "Which of you guys is in charge here?"
"Inspektor Dietrich und Kriminalmeister Franke von der Kriminalinspektion Zehlendorf", stellte Klaus Dietrich vor.
"Captain Ashburner, Military Police." Der Amerikaner war groß und schlank, mit glattem blondem Haar. Ein hellwacher intelligenter Blick traf den Deutschen. Er wies auf seinen Begleiter: "Das ist Sergeant Donovan." Der Sergeant war untersetzt, mit kräftigen breiten Schultern und einem Bürstenhaarschnitt.
Dietrich hob den linken Arm der Toten. Das Glas ihrer Uhr war zersplittert, die Zeiger standen auf 22 Uhr und 42 Minuten. "Vermutlich die Tatzeit", stellte er fest. Er winkte den Fahrdienstleiter heran. "Gestern Abend, gegen Viertel vor elf, wer hatte da Dienst?"
"Ich natürlich", sagte der Mann beleidigt. "Bis zum letzten Zug um 22 Uhr 48, und wieder ab 6 Uhr früh. Man gönnt uns ja kaum noch Nachtruhe."
"Warteten viele Fahrgäste auf den letzten Zug?"
"Ein paar Amis mit ihren Mädchen, und zwei, drei Deutsche."
"War die Tote unter ihnen?"
"Kann sein, kann nicht sein. Musste den Zug um 22 Uhr 34 nach Krumme Lanke abfertigen. Da sieht man sich die Fahrgäste nicht einzeln an. Nur dieser Verrückte mit Schutzbrille und Lederkappe sprang mir sozusagen in die Pupille. Herr Pastor geht Rodeln, dachte ich, wenn Sie wissen, was ich meine."
"Schutzbrille und Lederkappe?"
"Wie ein Motorradfahrer, würde ich sagen. Aber ganz so genau sah ich ihn nun auch wieder nicht. Die Beleuchtung der hinteren Bahnsteighälfte ist seit Wochen im Eimer."
"Er stand also im Halbdunkel."
"Als Einziger, wenn Sie mich so fragen. Die anderen Fahrgäste warteten im Hellen."
"Sahen Sie ihn einsteigen?"
"Nee. Ich muss ja dem Zugbegleiter vorne das Signal zur Abfahrt geben. Tschuldigung, der 11 Uhr 10."
"Hey, Kraut, have a look." Der MP-Sergeant reichte Dietrich eine Umhängetasche. "Keine Amerikanerin, sondern eine von euch. Karin Rembach, fünfundzwanzig. Arbeitet in unserem Dry Cleaning Shop da drüben." Er wies durch das Trenngitter in die Ladenstraße. "Nylons und Schuhe hat vermutlich ihr Boyfriend für sie im PX gekauft. Soldat Dennis Morgan ist beim Signal Corps in Lichterfelde stationiert."
Klaus Dietrich öffnete die Tasche. Ein Ausweis für deutsche Angestellte der US Army und ein Zettel mit Namen und Kasernenanschrift des Soldaten verrieten, woher die Weisheit des Sergeants stammte. "Ich würde diesen Morgan gerne vernehmen."
"Ein Kraut will einen Amerikaner verhören? Hast du immer noch nicht kapiert, wer den Krieg gewonnen hat?", bellte der Sergeant.
"Ich habe vor allem kapiert, dass der Krieg vorbei ist, und dass Mord jetzt wieder bestraft wird", entgegnete Klaus Dietrich ruhig.
Einen Moment schien es, als würde der bullige Donovan auf ihn losgehen, aber sein Captain schaltete sich ein: "Ich werde Morgan befragen und Ihnen das Protokoll schicken. Sie schicken mir dafür den Obduktionsbefund. Eine Ambulanz unseres Medical Corps bringt die Tote wohin Sie wollen. Good bye, Inspektor."
Der Kriminalmeister sah den Amerikanern nach. "Nicht sehr freundlich, die Herren."
"Das Vorrecht der Sieger. Franke, was halten Sie von dem Mann mit der Schutzbrille?"
"Entweder ein Verrückter, wie der Fahrdienstleiter meint, oder einer, der nicht erkannt werden wollte. Herr Inspektor, warum nennen die uns Kraut?"
Klaus Dietrich lachte. "Unsere transatlantischen Befreier meinen, wir Deutschen äßen nichts als Sauerkraut."
"Mit Eisbein und Erbspüree." Die Stimme des Kriminalmeisters hatte plötzlich einen sehnsüchtigen Klang. Eine Sirene kam näher und verstummte. Zwei G.I.s mit Rotkreuz-Armbinden trugen eine Bahre die Treppe runter. Das Leichenschauhaus in Berlin Mitte war ausgebombt und lag überdies im sowjetischen Sektor. Klaus Dietrich ließ die Tote darum ins nahe Krankenhaus "Waldfrieden" bringen. Sein Freund Walter Möbius war dort Chefarzt.
"Ich nehme sie mir später vor", sagte Dr. Möbius. "Ich muss die Lebenden operieren, solange das Tageslicht reicht und anschließend weiter bis zur Stromsperre um neun Uhr. Wenn du unbedingt dabei sein willst - ab drei Uhr früh haben wir wieder Strom."
Ein jüngerer Mann im feinsten Vorkriegs-Glencheck zündete sich vor dem U-Bahnhof lässig eine extralange Pall Mall an. Ben blickte neidisch auf die dicken Kreppsohlen seiner Wildlederschuhe. Er kannte ihn flüchtig. Hendrijk Claasen war Holländer und Schwarzhändler. Nur ein Schwarzhändler konnte sich so einen scharfen Anzug leisten. Ben wollte auch einen Glencheck-Anzug und Kreppsohlen. Er malte sich aus, wie er Heidi Rödel maßgekleidet auf zentimeterdicken Sohlen gegenübertreten würde. Dann war Gert Schlomm in seinen lächerlichen kurzen Lederhosen abgemeldet.
Der Junge trottete vom Bahnhof nach Hause, froh, eine Begegnung mit seinem Vater vermieden zu haben. Papa hätte Fragen gestellt. In diesem Falle, wieso Ben tote Frauen auf U-Bahngleisen fand, statt in der Schule zu sein. Papa hatte eine leise sarkastische Art, immer haargenau den wunden Punkt zu treffen.
Ben hatte nichts gegen die Schule an sich, nur gegen ihre Regelmäßigkeit. Das hinter ihm liegende Chaos hatte nicht nur Angst und Schrecken gebracht, sondern auch Abenteuer und Freiheit, und es fiel ihm schwer, sich wieder an eine festgefügte Ordnung zu gewöhnen.
Er steuerte das Haus von der Rückseite an, kroch in den Verschlag am Ende des Gartens und zog die Schultasche unter ein paar leeren Kartoffelsäcken vor. Seine Großmutter jätete an der Veranda Unkraut. Den Rasen hatte sie schon vor Monaten umgegraben und Tabak angepflanzt. Der Bezirksrat war ein starker Raucher. Sie trocknete die Blätter für ihn auf dem Herd. Es stank grässlich im ganzen Haus, doch das war das kleinere Übel. Hellbich war unausstehlich, wenn sein Körper vergeblich nach Nikotin lechzte.
"Bei Frau Kalkfurth gibt's eine Sonderzuteilung Margarine. Ralf steht schon an. Geh und löse ihn ab. Deine Mutter kommt später. Sie ist zum Schuster. Hoffentlich kann er die Sandalen deines Bruders nochmal reparieren. Der Junge läuft inzwischen in zerlöcherten Turnschuhen rum."
"Okay." Ben stieg die steile Treppe hinauf ins Dachzimmer, das er mit Ralf teilte. Er warf die Schultasche aufs Bett. Das leere Päckchen Lucky Strike legte er zwecks späterer Verwertung zu der Rasierklinge in die Tischlade, ehe er wieder runterging.
In der Küche war niemand. Er zog die linke Schublade aus dem Küchenschrank, langte in die Öffnung, schob den Riegel nach unten und drückte die verschlossene Tür von innen auf. Inge Dietrich verwahrte unten im Schrank die Brotrationen der Familie: morgens und mittags für jeden zwei trockene Scheiben. Abends gab es "warm".
Ben säbelte sich eine extradicke Scheibe ab und klemmte sie zwischen die Zähne. Er tat den Laib zurück in den Schrank, machte die Tür zu und zog den Riegel hoch. Er setzte die Schublade wieder ein. Dann trabte er los, den schlangestehenden kleinen Bruder abzulösen. Unterwegs verzehrte er seine Beute mit möglichst kleinen Bissen. Das verlängerte den Genuss.
Frau Kalkfurths Laden befand sich im ehemaligen Wohnzimmer eines Reihenhauses "Am Hegewinkel". Andere der kleinen Straßen mit den bunten Eigenheimen hießen "Hochsitzweg", "Lappjagen" oder "Auerhahnbalz". Ein jagdbesessener Bezirksbürgermeister hatte sie einst so getauft. Die ans Haus gebaute Garage diente als Lager. Früher beherbergte sie das Familienauto. Die Kalkfurths hatten eine große Fleischerei im Osten Berlins. Inzwischen war die Fleischerei längst eine Ruine und das Automobil, ein "Adler", nur noch Erinnerung.
Weil sie schon vor dem Krieg in der Branche tätig war, erhielt die Witwe Kalkfurth nach dem Zusammenbruch die kostbare Gewerbegenehmigung für ein Lebensmittelgeschäft. Ihr früherer Fleischergeselle Heinz Winkelmann stand hinter dem improvisierten Ladentisch. Sie selbst dirigierte das kleine Unternehmen vom Rollstuhl aus und klebte abends die Rationsabschnitte der Kundschaft auf große Bögen Zeitungspapier. Ein Vertreter der Zuteilungsstelle holte sie wöchentlich ab. Das Haus am Hegewinkel bewohnte sie alleine. Diskrete Gaben von Butter, Dauerwurst und Räucherspeck an den zuständigen Sachbearbeiter beim Wohnungsamt bewahrten sie vor der Einweisung Obdachloser.
Die Schlange vor dem Laden war endlos und grau. Viele der Frauen trugen alte Männerhosen und Kopftücher. Es gab keinen Friseur. Ralf stand ziemlich weit hinten. Er wischte mit einem abgebrochenen Zweig im Zickzack über den Gehsteig. Kalkfurths getigertes Kätzchen versuchte, den Zweig zu fangen. Das Spiel fand ein plötzliches Ende, als sich ein Dackel ganz am Ende der Schlange losriss und das Kätzchen attackierte. Es floh mit langen Sätzen in die Garage.
Ralf packte den kläffenden Hund am Halsband und zerrte ihn zu seinem Besitzer. "Können Sie nicht auf Ihren Köter aufpassen?", rief er mit heller Stimme.
"Nich frech werden, mein Junge. Lehmann, sitz." Der Mann nahm den Dackel an die Leine.
Copyright © in der Verlagsgruppe Random House
teau im Südwesten Frankreichs.
- Autor: Pierre Frei
- 2003, 4, 542 Seiten, Maße: 15,5 x 23 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896672509
- ISBN-13: 9783896672506
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