Papa, woher kommt der Hass?
Papa, woher kommt der Hass? von Tahar Ben Jelloun
LESEPROBE
Vorwort vonHeiner Geißler
In jederMinute unseres Lebens, auch in der, in der wir diese Zeilen lesen, befindensich unzählige Menschen im tiefsten Unglück, werden gequält, gefoltert, brutalgeschlagen und getötet. Wenn wir sie gleichzeitig und an einem Ort hörenkönnten, würden ihre Schreie alles Leben auslöschen. Aber nicht Gott hatMillionen Juden vergast oder zehntausend Muslime in Srebrenica ermordet,sondern es waren und sind Menschen, die in ihrem Hass gegen «Andersartige»solche Verbrechen begingen und begehen. Können wir nicht aus der Geschichte lernen?
Nehmen wirals Beispiel den nationalen Hass, der in der ersten Hälfte des letztenJahrhunderts die Ursache war für die schlimmsten Katastrophen und dessenWurzeln weit zurückreichen in die Zeit, in der Napoleon Europa erobert hatte.Ernst Moritz Arndt, ein deutscher Dichter, schrieb 1813, nachdem Napoleon Deutschland besetzthatte: «Ich will den Haß, festen und bleibenden Haß, der Teutschen gegen dieWelschen,... brennenden und blutigen Haß, ich will ihn für lange Zeit, ich willihn für immer. Dieser Haß glühe als Religion des teutschen Volkes.»
Was für einWahnsinn, so würden wir heute sagen. Aber knapp sechzig Jahre später, 1871,hatte dieser Hass dazu geführt, dass die Deutschen über die Franzosenherfielen und das kleindeutsche Kaiserreich im
Herzen des besiegten Feindes im Spiegelsaal des VersaillerSchlosses ausgerufen wurde. Daraufhin schrieb der französische Dichter Paul de Saint-Victorüber den heiligen Hass der Franzosen auf die Deutschen: «Wenn wir wollen, dassFrankreich von Neuem zu seiner ganzen Größe gelangt, dann müssen wir schnelldiesen unmittelbaren, lebendigen wirklichen Hass in unsere Seelen zurückkehrenlassen. Nähren wir ihn dort wie ein heiliges Feuer.»
Aus diesen Hassorgien zweier Völker, zumindest ihrer Eliten,entstand der Erste Weltkrieg und als Folge davon die schlimmste Katastrophe,die die Weltgeschichte bis dahin erlebt hatte: der Zweite Weltkrieg und dermillionenfache Massenmord durch die Nationalsozialisten. Aber - sounwahrscheinlich es für die damaligen Zeitgenossen erschienen war - diesernationale Hass wurde in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts durch dieeuropäische Einigung und die deutsch-französische Freundschaft überwunden.
Doch der Hass von Menschen gegen Menschen scheint wie eineEpidemie zu sein, eine Art Geisteskrankheit, die immer wieder ausbricht. Sieist keineswegs beschränkt auf den modernen Konflikt zwischen westlicher Weltund der Welt des Islam.
Fundamentalisten der amerikanischen Rechten sprengen in Oklahomaschon mal 260 Leute in die Luft und ihre christlich-fundamentalistischenLandsleute erschießen Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, undverfolgen Homosexuelle. Christen schlagen Kinder, die einer anderen Konfessionangehören, halb tot, wenn diese durch ihr Stadtviertel zur Schule gehen, wie inNordirland. Hindufundamentalisten legen Moscheen in Schutt und Asche, und jüdischeund arabische Extremisten verhindern seit vielen Jahren jede gerechte undfriedliche Lösung in Palästina.
Intoleranz, gepaart mit Hass, nennt sich dieserGeisteszustand. Sie ist das Schwert des religiösen, rassischen, kulturellen undvölkischen Fundamentalismus, eine Waffe, die sich je nach Bedarf inFolterkellern oder Gaskammern austobt, sich aber auch in eine fliegende Kerosinbombeoder in von Handys gezündete Handgranaten in den Vorortzügen europäischerHauptstädte verwandeln kann. Der heutige Fundamentalist glaubt - wie diemittelalterliche Inquisition -, den Menschen, wenn er dem Irrtum oder demTeufel verfällt, befreien zu können, indem er ihn verbrennt - auf demScheiterhaufen oder im Inferno terroristischer Bomben. Fundamentalistenmeinen, etwas Gutes zu tun, indem sie das Böse, wie sie es sehen, vernichten.Das Böse der Fundamentalisten ist aber in den Augen anderer Menschen oft etwas Gutes,so die Religionsfreiheit, die in den Verfassungen der westlichen Demokratienverankert ist. Diese ist jedoch zum Beispiel für die iranischen Ajatollahsderart satanisch, dass sie Salman Rushdie zum Tode verurteilten - so wie vor sechshundertJahren Giordano Bruno, Jan Hus und Jeanne d'Arc wegen Ketzerei und Zauberei aufdem Scheiterhaufen landeten. Die Zumutung, die eine andere Meinung, eine andereWeltanschauung, eine andere Hautfarbe für bestimmte Menschen bedeutet,schlägt um in Hass und den Willen, den anderen zu diskriminieren, zuschikanieren, ja sogar zu vernichten. Wenn jemand behauptet, die absoluteWahrheit zu besitzen, macht er sich lächerlich. Hat er jedoch die Macht, dieMenschen, die seiner Macht unterworfen sind, zu zwingen, ihn oder seine Lehreanzubeten, entsteht der Ajatollah oder der von Terrorismusangst gejagteUS-Verteidigungsminister, der im Gefangenenlager Guantanamo das praktiziert,was er bekämpfen will. Der Fundamentalist diskutiert nicht, er schaltet diejenigenaus, die eine andere Meinung haben. (...)
© Rowohlt - Berlin Verlag GmbH
Übersetzung: Christiane Kayser
- Autor: Tahar Ben Jelloun
- Altersempfehlung: 10 - 12 Jahre
- 2005, 118 Seiten, teilweise farbige Abbildungen, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Kayser, Christiane
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 3871345350
- ISBN-13: 9783871345357
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