Schwarze Oliven
Schwarze Oliven von Martha Tod Dudman
LESEPROBE
1
Neun Monatenach unserer Trennung begegnet er mir zum ersten Mal wieder. Seit Beginn desJahres erwarte ich diesen Augenblick mit Schrecken, kleide mich aber immerentsprechend, weil ich gut aussehen will, wenn ich irgendwann tatsächlich aufDavid treffe. Es passiert in Rogerson sFeinkosttempel, als ich bei den Oliven stehe. Ich höre, wie die Tür aufgeht,schaue kurz hin und sehe ihn reinkommen, aber ich habe ihm den Rücken zugewandt,und er bemerkt mich nicht. Mich durchfährt ein Gefühl, als würde mein Handy inder Hosentasche losvibrieren - als bekäme ich einen schwachen Stromschlag. Alswäre ich plötzlich gelähmt. Vielleicht übersieht er mich ja. Erkennt meinenHinterkopf nicht oder die Jacke, die ich trage, und auch nicht die Form meinesHinterns, die ihm einst so vertraut war.
Ist sieauch da? Ich recke den Hals und werfe einen Blick hinter mich, sehe aber keineFrau in seiner Nähe. Er ist allein. Ich wende mich wieder zum Kühlfach. Wie sieglänzen, die schwarzen Oliven in ihren kleinen Plastikbehältern! Ich will michmit Oliven ablenken, über Oliven nachdenken - über die verschiedenen Farben undOberflächenstrukturen, über ihren unterschiedlichen Salzgehalt.
Es sindauch andere Leute im Laden, aber die zählen nicht. Mein Bewusstsein registriertnur ihn.
Er geht zuder Theke, wo der Kaffee gemahlen wird, und fragt nach Kaffee aus Samoa. Seine Stimmedurchdringt den ganzen Laden bis zu mir. Zum ersten Mal nach neun Monaten höre ichseine Stimme wieder, nachdem ich sie zwölf Jahre lang jeden Tag gehört habe.Ich starre auf die Oliven. Über den Behältern stecken weiße Kärtchen, die perHand mit energischen Blockbuchstaben schwarz beschriftet sind. Ob dieVerkäuferin im weißen Kittel das geschrieben hat? Die Oliven sind darauf sovollmundig, geradezu poetisch charakterisiert, als handelte es sich um Weinoder um von den Mitarbeitern empfohlene Romane in einer Buchhandlung:Fleischig, saftig, mild. Herb, verführerisch. Probieren Sie diese Sorte zueinem trockenen Weißwein. Alles ist unwirklich.
»Kann ichIhnen helfen?«
Die Frau imweißen Kittel mit dem breiten, gesunden Gesicht und der unvorteilhaftenklobigen Kochmütze lächelt mich an.
Ich bildemir ein, dass sie es weiß, und die andere Frau, die dort drüben das Roastbeef schneidet,weiß es auch, und auch der Mann im braunen Mantel, der die Gläser mit dem Gourmetsenfmustert - alle wissen, welches Drama sich in diesem Laden gerade abspielt. Sie allewissen, dass ich - die Frau vor dem Olivenkühlfach - vor neun Monaten von dem Mann,der, meine Nähe nicht ahnend,soeben samoanischen Kaffee kauft, verlassen wurde.
Soll ichmit ihm sprechen? An ihm vorbeistolzieren? Mich vor ihm verstecken? Neun Monatelang habe ich mir diesen Moment ausgemalt. Habe all das Traurige,Vorwurfsvolle, Zornige, das ich ihm zu sagen habe, einstudiert. Worte vollerSchmerz und Rachgier. Worte voller Wut. Doch jetzt, hier in Rogerson sFeinkosttempel, bin ich stumm. Am liebsten würde ich zu der Frau mit der unförmigenMütze gehen, den Kopf an ihre frisch gestärkte Weißkittelbrust lehnen und michausweinen.
Mir ist,als könnte ich ewig weinen. Gleich hier bei den Oliven könnte ich losheulen.Dann würde mein verschwimmender Blick weiterschweifen zu den edlenMinzepastillen, den getrockneten Nektarinen, den Ingwerscheiben in Schokolade.Ich würde die ausgefallenen Gelees in den eckigen Gläsern betrachten, derenForm etwas Privilegiertes hat, und alle diese Gegenstände würden so sinnloserscheinen wie mir völlig unbekannte Dinge, wie Gespräche aus Wörtern, die ichnicht verstehe. Und zuletzt würde ich mich meinem ungeheuren Kummer hingebenund mich wie ein kleines Kind an diesen weichen glatten Kittel werfen undweinen, weinen, weinen:
rotztriefende, schrille, wohltuende Kinderschluchzer - achtlos, endlos und allesabschließend. Die Tränen des ganzen bisherigen Jahres.
Die Frauhinter der Theke sieht mich gespannt an. Vielleicht hat sie mir eine Fragegestellt.
»Nein,danke«, sage ich vorsichtshalber. Ich flüstere, weil ich nicht will, dass Davidmich hört, sich umdreht und mich ansieht. Ich bin noch nicht so weit. NeunMonate, und immer noch nicht so weit. Wie soll ich mit dieser Situationumgehen? Ich werfe erneut einen Blick über die Schulter. Er steht weiterhin mitdem Rücken zu mir. Er hat mich nicht gesehen. Das Ganze ist immer noch alleinmeine Show. Ich habe sie so gründlich geprobt, aber jetzt, in der Situationselbst, zögere ich. Ich habe solche Scheu vor dem Mann, den ich einmal in- undauswendig kannte. Der Mann, mit dem ich zwölf Jahre lang jeden Tag gesprochenhabe, der Mann, mit dem ich geschlafen habe, ist jetzt ein Fremder.
Mit leeremBlick sehe ich die Dame im weißen Kittel an, als könnte sie mir einen guten Ratgeben, und die Dame erwidert meinen Blick und denkt sich, was immer sie sichdenkt.
Hier in Rogerson s Feinkosttempel, dem auf altmodisch getrimmtenEdelsupermarkt, kann ich unmöglich mit ihm reden. Nicht zwischen teuren Weinen,Dillbohnen und Käsestangen. Lautlos schleiche ich mich zum Regal, postiere michdahinter und luge ums Eck zu ihm hinüber. Ist er noch so groß wie früher? Siehter nicht irgendwie verändert aus? Aber an den Pulli, den er trägt, habe icheinmal mein Gesicht gelegt, das weiß ich noch. Es ist zu viel. Ich kann nichtdie Fröhliche mimen, die ich gern wäre, und irgendeine lässige und gleichzeitigspitze Bemerkung von mir geben - scheinbar freundlich, aber mit scharferSchneide versehen, der Stich, den man erst später spürt - Nanu, was ist dasdenn? -, wenn das Blut schon an einem hinabrinnt. Mirfällt
nichts ein,was ich sagen oder tun könnte. Eigentlich will ich mich nur an denEspressomaschinen und Lakritzschnüren vorbeizwängen, zur Tür gehen und fliehen.
Und währendich mich jetzt hinter die diversen Honige und Chutneys des Lebens ducke, istes, als wären alle anderen Menschen in diesem Laden erstarrt - wie in denFilmszenen, wenn sich nur zwei Schauspieler bewegen und alle anderen völligreglos verharren. Wie in der romantischen Ballszene in West Side Story, wennTony und Maria sich zum ersten Mal begegnen. Die anderen Schauspieler wirken,als wären sie aus Holz oder Wachs oder aus
irgendeineranderen unbelebten Substanz statt aus Fleisch und Blut. Starr stehen sie da:die Frau mit dem komischen Hut, die wie eine Bibliothekarin aussieht, dasbehäbige ältere Ehepaar, das beim Wein herumstreicht, der elfenhafte dünneMann, der einen Gratis-Probierbecher mit ecuadorianischem Kaffee in der Handhält, die Dame bei den Salsas, der bärtige Mann, derden Kaffee röstet und in längliche weiße Papiertüten abfüllt. Allesamt zurBedeutungslosigkeit erstarrt.
Nur wirbeide - David und ich -, nur wir zwei sind lebendig in der Stille des großenLadens.
© Droemer/Knaur Verlag
Übersetzung:Michaela Grabinger
- Autor: Martha Tod Dudman
- 2008, 224 Seiten, Maße: 13 x 20,7 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Michaela Grabinger
- Verlag: DROEMER KNAUR
- ISBN-10: 3426197952
- ISBN-13: 9783426197950
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