Talk Talk
Dana versteht die Welt nicht mehr: Sie sitzt im Gefängnis und wird Verbrechen beschuldigt, die jemand anders in ihrem Namen begangen hat. Als sie wieder auf freien Fuß kommt, ist ihr Leben ruiniert. Dana muss den Betrüger finden, denn die Behörden helfen ihr nicht.
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Dana versteht die Welt nicht mehr: Sie sitzt im Gefängnis und wird Verbrechen beschuldigt, die jemand anders in ihrem Namen begangen hat. Als sie wieder auf freien Fuß kommt, ist ihr Leben ruiniert. Dana muss den Betrüger finden, denn die Behörden helfen ihr nicht.
Talk Talk von T.C. Boyle
LESEPROBE
Sie hattenicht die Absicht, in einem stickigen Büro herumzusitzen und mit demfuchtelnden Iverson vor den Leuten von der OpferhilfeErklärungen abzugeben oder ihre idiotischen Fragen zu beantworten undFragebögen auszufüllen - sie hatte keine Sekunde für derlei übrig. Nicht eineeinzige. Sie wollte diesen Overall ausziehen, sie wollte ihre Kleider, ihreSchlüssel, ihren Wagen zurück - und die Hausarbeiten, die Hausarbeiten ihrerStudenten. Und sie mußte in der Schule anrufen undalles erklären, sie mußte persönlich hingehen undsich Dr. Koch auf Gnade oder Ungnade ausliefern, sie mußteihre Klasse unterrichten und ihre Arbeit tun - sofern sie überhaupt noch einehatte. Denn wer sollte ihr schon glauben? Man wurde nicht grundlos eingesperrt,jedenfalls nicht in diesem Land. Noch während die bürokratische Prozedur ihrerEntlassung lief und Marie Eustace vom Gericht eineschriftliche Bescheinigung erwirkte, aus der hervorging, daßsie unschuldig war, sah Dana das wütende, ungläubige Gesicht von Dr. Koch vorsich. Nicht einmal mehr eine Woche bis zu den Ferien, und eine seinerLehrerinnen genehmigte sich ein paar Tage Sonderurlaub...
Doch wonach sie sich am meisten sehnte, während sie irgendwo in den Tiefen desGebäudes in einem farblosen Zimmer darauf wartete, daßdie Aufhebung der Klage in ihre Akte eingetragen wurde und sie in ihr Lebenzurückkehren durfte, war eine Dusche. Sie bearbeitete ihre Fingernägel, fuhrmit einem Nagel unter den anderen: Sie waren schwarz von diesem Schmutz, vondem Schmutz dieser häßlichen, hämischen Frauen, derHuren und Obdachlosen, der Süchtigen und Betrunkenen, der gemeinen Betrunkenen.Auf der Straße war sie hundertmal an solchen Frauen vorbeigegangen und hatteMitleid mit ihnen gehabt, hatte immer in die Handtasche gegriffen und ihnenKleingeld oder einen Dollarschein gegeben. Aber damit war jetzt Schluß. Sie waren wirklich gemein, das wußtesie nun, gemein im Sinne von roh, vulgär, niederträchtig, unflätig. Undkleinlich. Abstoßend. Ohne menschliche Gefühle, ohne Liebe, es sei denn fürsich selbst. Menu peuple, Mob, Lumpenproletariat. Daswaren sie. In dieser Zelle, auf der Straße, überall war es wie in Der Herr derFliegen. Und welche Rolle war ihr zugedacht? Die von Ralph, die von Piggy. Aber sie war kein Opfer, sie weigerte sich, eins zusein, und sobald sie zu Hause war, sobald sie die Tür hinter sich geschlossenund die Welt ausgesperrt hatte, würde sie sich unter die Dusche stellen und denSchmutz abschrubben, bis das Wasser kalt wurde, und dann würde sie Dr. Kochanrufen und auf dem kürzesten Weg zur Verwahrstelle für beschlagnahmte Wagenfahren, wo immer die war, und die Hausarbeiten vom Rücksitz holen. Schon beidem Gedanken daran durchfuhr es sie: Wie sollte sie das aufholen? Es warverrückt. Wie in den Alpträumen, die sie morgens kurz vor dem Aufwachen hatteund in denen sie unvorbereitet, ohne Plan, mit wirrem Haar vor ihrer Klassestand und ihre Kleider in einem Haufen zu ihren Füßen lagen. Nackt. Erstarrt.Unfähig zu sprechen, sei es mit den Händen oder dem Mund.
Sie war so erregt, daß sie Bridgerbeinahe vergessen hätte. Aber da war er, eilte durch den Korridor auf sie zu,als sie mit Marie Eustace und Iversonund der frisch gestempelten Erklärung aus der Tür trat, und sein Gesicht warvoller Liebe und Mitgefühl. Sie ließ sich von ihm umarmen, obwohl sie sich fürihren Körpergeruch schämte und wütend auf ihn war: Warum hatte er nichtsunternommen? Er sagte etwas, doch das war ganz sinnlos, denn sie spürte nurseinen Atem, als er sie an sich drückte, und dann hielt sie ihn auf Armeslängevon sich ab und gebärdete: Wie konntest du mich nur da drin lassen?
Seine Gebärden waren unbeholfen, kaum lesbar. Er hatte einen Kurs inGebärdensprache gemacht, aber seine Hände waren wie Schmiedehämmer, die dieWorte erschlugen. Ich habs versucht.
Du hast es nicht genug versucht.
In diesem Augenblick schaltete sich ein Justizwachtmeister in einem braunenHemd ein. Er sagte etwas zu Marie Eustace und Iverson, und dann drehte Marie sich um und sah Danaentnervt an. Sie rollte die Augen und stampfte mit dem Fuß auf. »Was ist?« sagte Dana. »Was ist jetzt?«
»Sie werden es nicht glauben«, sagte sie, und ihr entschuldigender Blick gingzwischen dem dolmetschenden Iverson und Dana hin undher, »aber... tja, ich fürchte, Sie müssen zur Entlassung zurück insBezirksgefängnis.«
Dana schüttelte den Kopf. Sie schüttelte ihn heftig. Hin und her. Dasverstanden sie ja wohl, oder? »Nein«, sagte sie und spürte, daßihre Stimme laut wurde und ihren Kehlkopf zusammenpreßte,bis er sich wie ein praller kleiner Ball anfühlte. Dann wandte sie derRechtsanwältin und dem Justizwachtmeister den Rücken und gebärdete wütend zu Iverson: Ich bin unschuldig, das habe ich schriftlich, undich werde nicht dorthin zurückgehen, niemals, und niemand, nicht Sie oder irgend jemand anders, sollte versuchen, mich dazu zuzwingen!
Iverson machte ein Gesicht wie ein schlechterSchauspieler, seine Hände stockten und stotterten, als er für die Anwältinübersetzte. Dana weigerte sich, sie anzusehen, obwohl Marie Eustacezu ihr sprach, obwohl sie ihr eine Hand auf den Arm legte, bis Dana sieabschüttelte. Sie sah nur Iverson an. Es führt keinWeg daran vorbei, sagte er. Das Gesetz verlangt es, ganz gleich, ob einerunschuldig ist oder nicht. Man hat Sie im Bus hierhergebrachtund muß Sie im Bus zurückbringen. Sie müssen dieseSachen zurückgeben und Ihre eigenen Kleider und Ihr persönliches Eigentum inEmpfang nehmen, und dann gibt es noch ein paar Formulare -
Nein, gebärdete sie, nein. Ich gehe nicht. Voller Wut ließ sie ihre Händeverstummen, begann, an dem Overall zu reißen, und rief so laut, daß alle es hören konnten, der Wachtmeister und Bridger und die Richterin in ihrem Richterzimmer: »Dannnehmt doch das Scheiß ding! Dann gehe ich eben nackt hier raus! Das ist miregal, das ist mir egal!«
Letztlich war es ihr nicht egal - sie wurde gezwungen, es sich nicht egal seinzu lassen. Der Wachtmeister trat vor und sagte, sie befinde sich noch immer inGewahrsam, und er werde sie, wenn nötig, zwingen. Marie EustaceGesicht war wütend. Sie blies Luft in die Richtung des Wachtmeisters, und Iverson übersetzte die Drohung, und Bridgernahm Dana in die Arme, als wollte er sie mit seinem Körper abschirmen. Sie warnoch nie im Leben so wütend gewesen. Die Absurdität - es war wie aus einemRoman von Kafka, oder schlimmer: wie etwas, was nur in einem Polizeistaatpassierte, in Kuba, Nord-Korea, Liberia. Doch was sie innerhalb einer Sekundelammfromm und friedlich machte, war der Anblick der Hand des Wachtmeisters, dieBridgers Handgelenk packte. Sie verstand nicht, wasdie beiden sagten - ihre Gesichter waren gerötet, ihre Münder in hektischerBewegung -, doch sie begriff sofort, daß Bridger ganz kurz davor war, selbst verhaftet zu werden,wegen Behinderung eines Beamten in Ausübung des Dienstes oder ähnlichem Unsinn.»Schon gut«, sagte sie laut, »schon gut«, und der Beamte nahm sie am Ellbogen,führte sie durch den Korridor, öffnete eine schwere Tür und sperrte sie wiederin die Zelle zu Angela und Beatrice Flowers und denanderen.
Es war beinahe Mitternacht, als sie schließlich aus dem Bezirksgefängnis in Thomsonville, fünfundzwanzig Kilometer von San Roque entfernt, entlassen wurde, und Bridgerwartete in einem überfüllten, grellerleuchteten Saalauf sie. Lange hielt sie ihn einfach im Arm. Sie hatte nicht weinen wollen,aber als alles vorbei war und sie ihn dort sah, konnte sie die Tränen nichtzurückhalten. Dann gingen sie zum Ausgang, und sie machte sich von ihm los,rannte hinaus und stand für einen langen Augenblick auf den Stufen und spürtedie Luft auf ihrem Gesicht: salzig und ganz leicht nach Fisch riechend, gekühltvom Meer, reine Luft, seit Freitag morgen die erste reine Luft in ihren Lungen.Bridger blieb hinter ihr stehen und legte ihr einenArm um die Schultern, doch sie stieß ihn weg. Mit einemmal war sie wiederwütend. »Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie es da drinnen war?« wollte sie wissen. »Kannst du dir das vorstellen?«
Auf dem Heimweg, auf dem ganzen Weg zu ihrer Dusche, ihrem Bett und der Tür,die Menschen aussperrte und nicht einsperrte, versuchte er, ihr alles zuerklären, aber sie verstand nur sehr wenig, denn seine Hände waren am Lenkrad,und er bewegte den Mund so schnell wie alle Hörenden, und das machte sie nur umso unnachsichtiger. Als sie endlich, ein Handtuch um den Kopf gewickelt, ausdem Badezimmer trat, als das Bier, das er ihr geholt, und das Sandwich, das erihr gemacht hatte, auf dem Couchtisch standen, führte er sie zum Computer undbegann wie wild zu tippen. Er schrieb eine ausführ liche Rechtfertigung, die der Epilog eines russischenRomans hätte sein können, und sie sah, was er getan und wie sehr er sichangestrengt hatte, und daß nicht er schuld war,sondern das System - oder nein, der Dieb, der Dieb war schuld, und jetzt kamihr das Bild seines Gesichts in den Sinn, dieses verschwommene, mit ihrem Namenversehene Gesicht auf einem Stück Papier, das Gesicht eines Mannes, man stellesich vor, eines Mannes, und nach einer Weile lehnte sie sich an ihn, schlangdie Arme um ihn und begann zu verzeihen.
© Hanser Verlag
Aus demAmerikanischen von Dirk van Gunsteren
- Autor: T. C. Boyle
- 2006, 394 Seiten, Maße: 14,7 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Gunsteren, Dirk van
- Übersetzer: Dirk van Gunsteren
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446207589
- ISBN-13: 9783446207585
- Erscheinungsdatum: 26.08.2006
"T.C. Boyle, der begnadete Vielschreiber erkundet in seinem elften Roman die Welt der Gehörlosen. Er gönnt seiner Heldin keinen Behindertenbonus - und keine Pause. In rasanten Satzkaskaden treibt er die Geschichte voran, bis zum Showdown. Ein zeitloses Vergnügen." Martin Wolf, Der Spiegel, 02.10.06
"T.C. Boyle lässt in "Talk Talk" seiner erzählerischen Meisterschaft wieder freien Lauf und findet auch die Zwischentöne. Er ist in seinem Element. (...) So hat er, ein großes Buch über Sprache und Wirklichkeit geschrieben. Und ohne agitieren zu wollen, auch ein hochpolitisches Buch über Klassen und den gnadenlosen Kampf aller gegen alle." Michael Freud, Der Standard, 02.09.06
"Einen richtigen Thriller hat Boyle da hingelegt, ein rasantes Roadmovie und eine Lovestory." Brigitte, 30.08.06
"Jetzt zu einem meiner Lieblingsschriftsteller: Ich habe seinen neuen Roman gelesen - was heißt gelesen - verschlungen! Er heißt "Talk Talk" und das ist nicht der Name einer Talkshow, sondern der englische Ausdruck für die Gebärdensprache der Taubstummen. Eine Taubstumme ist nämlich die Heldin der Geschichte. Sie ist das Opfer einer bedrohlichen, neuen Form von Kriminalität. Jemand stiehlt Daten, räumt damit unter falschem Namen das Konto leer und macht auch noch Schulden. Doch der Reihe nach. Hier ist er: Der einzigartige T.C. Boyle!" Wolfgang Herles, Aspekte, ZDF, 01.09.06
"Er präsentiert sich nachdenklicher und ernsthafter als zuvor, geht tiefer in die menschliche Psyche und beweist, dass er auch das Spiel mit den Zwischentönen und Grauschattierungen in den Lebenswelten seiner Protagonisten beherrscht." Irene Binal, Neue Zürcher Zeitung, 10.01.07
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