Vier Pfoten und ein großes Herz
Vier Pfoten und ein großes Herz von Marta Franceschini
LESEPROBE
Ich bin eine englischeSetterhündin, dreifarbig und ungefähr sechs Jahre alt. Meine Geburt und meineVergangenheit sind, wie ich bereits sagte, im Dunkel meiner verstörtenErinnerung verloren gegangen. Ich weiß nur, dass mich irgendjemand am Randeines am Apennin gelegenen Wäldchens in der Nähe von Modenaaufgelesen hat, blutend und ohnmächtig. Das war vor ungefähr vier Jahren. Undso bin ich im Hundeasyl gelandet, wo ich zum Schaden auch noch den Spott zuerdulden hatte: Sie haben mir den Namen Lucia, die Leuchtende, gegeben mir, dieich im Dunkel der Angst lebe. Dort habe ich ein ganzes Jahr in einem Zwingerverbracht, bis exakt dreihundertvierundsechzig Tage nach meiner Ankunft siegekommen ist und mich mitgenommen hat.
Ich habe mich nichtgefreut, den Zwinger zu verlassen. Ich habe mich vielmehr meinem Schicksalergeben mit dem Wissen, dass es nur noch schlimmer kommen kann und man demeigenen Schicksal nicht entkommt. Doch stattdessen wurde ich liebevoll auf denArm genommen, in ein Auto gesetzt und schließlich in einem warmen Haus aufeinem weichen Sofa wieder abgesetzt. Als ich endlich den Mut fand, mir meineUmgebung näher anzusehen, traf mich ein Blick aus zwei schwarzen Augen, denschönsten, die ich je gesehen hatte, und eine Hand streckte sich mir entgegen,die ich sofort zu lecken begann. Sie heißt Marta, und für mich ist sie weitausmehr als nur meine Herrin. Jeder weiß, dass Hunde ihre Besitzer lieben, aberich bin überzeugt, dass meine Liebe eine ganz besondere ist. Marta war nichtnur meine Rettung, sondern sie ist auch der lebendige Beweis dafür, dass dasGESETZ existiert und einen Körper, eine Stimme, zwei Hände und vor allem zweiwunderschöne schwarze Augen hat. Sie ist für mich eine große, gütige Mutter.Sie ist meine Hoffnung, meine Zuflucht, meine Nahrung; sie verleiht mirBedeutung. Sie ist die Wurzel, die mich mit der Erde verbindet, und die Brücke,die mir erlaubt, mich dem Himmel zu nähern. Sie wohnt in mir, reguliert dieSchläge meines Herzens und beherrscht die Funktionen meines Körpers. Wo ichende, beginnt sie, und wo sie endet, beginne ich. Wir sind ein Kreis, eineSpirale, ein Stern. Wir sind in Ordnung inmitten des Chaos. Ich bin sie, undsie ist ich.
Aus diesem Grundebringe ich ihr eine alles umfassende und bedingungslose Liebe entgegen, auchwenn sie mir hin und wieder die ein oder andere grausame Prüfung abverlangt. Somuss ich allein auf dem Sofa schlafen oder höchstens im Bett mit der Kleinen;endlose Stunden muss ich, zu Hause eingesperrt, auf sie warten, und, was amschlimmsten ist: Ich muss drei Mal am Tag mit ihr spazieren gehen. Ich hassees, das Haus zu verlassen, weil mir dort draußen - wen wundert es - alles undjeder Angst einjagt. Selbst wenn ich mich jedes Mal wieder unter dem Bettverstecke, holt sie mich unerbittlich darunter hervor und zerrt mich nachdraußen.
Deneinzigen Spaziergang, den ich recht gerne mache,ist unser nachmittäglicher Ausflug, dann gehen wir nämlich in den Park. Ja, denndas Einzige, wovor ich mich nicht fürchte, ist die Natur. Die Erde unter denPfoten spüren, über die Blätter jagen und mich im Schlamm wälzen, das sind diewirklich schönen Momente in meinem Leben! Aber vor allem liebe ich es, wie derWind dahinzugaloppieren. Nicht dass die Angst mich dann verließe, nein, abersie verwandelt sich in gespannte Aufmerksamkeit. Ich bleibe wachsam, aber dieAnspannung der Angst lässt nach, meine Muskeln lockern sich, meine Beine werdenlänger, meine Knochen beweglicher, sodass ich meine Energie freisetzen undmeine Verkrampfung lösen kann. Ich fliege dahin wie ein Pfeil, den Abhang aufder anderen Seite der großen Wiese hinunter, dann im Galopp wieder zurück, undaufs Neue hinunter. Und im Laufen kann ich endlich wieder lächeln.
© Goldmann Verlag
Übersetzung: Gabriela Schönberger
- Autor: Marta Franceschini
- 2002, 126 Seiten, Maße: 11,5 x 18,2 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Arkana
- ISBN-10: 3442451078
- ISBN-13: 9783442451074
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