Wie es leuchtet
alltäglichen Wahnsinn der Wendejahre 89/90. Mit einem Mal ist nichts mehr wie bisher. Der Mauerfall spült die rollschuhlaufende Lena aus Karl-Marx-Stadt auf Platz 1 der Charts. Ein...
alltäglichen Wahnsinn der Wendejahre 89/90. Mit einem Mal ist nichts mehr wie bisher. Der Mauerfall spült die rollschuhlaufende Lena aus Karl-Marx-Stadt auf Platz 1 der Charts. Ein furzender Tankwart findet sich als Direktor eines Luxus-Hotels wieder. Und ein 19-jähriger Albino ist plötzlich Volkswirt bei einem Weltkonzern...Thomas Brussigs geniale Persiflage auf das »deutsche Jahr«, in dem alles möglich schien. Und das manche Katerstimmung zurückließ teilweise bis heute.
Wie es leuchtet vonThomas Brussig
LESEPROBE
Am Mittag des 11. August im Jahre 1989 ging eine jungeFrau durch den Eingang des Karl-Marx-Städter Hauptbahnhofes. Die Schalterhallewar fast leer, ein kurzes, extremes Quietschen der Aluminiumtür, die an ihremRahmen schabte, warf ein raumfüllendes Echo. Die junge Frau bekam eineGänsehaut, obwohl schwüle Hitze über der Stadt lag.
Die jungeFrau suchte einen Aushang mit den Fahrplänen, um herauszufinden, wo der Zug um14.12 Uhr aus Dresden ankommt. Aha, auf Bahnsteig 14.
Die jungeFrau trug eine weite Leinenhose und ein rotes T-Shirt. Sie hatte es gelernt,mit den Blicken und Kommentaren der Männer zu leben. »Ganz schön was drin imTank«, hatte sie heute schon gehört - was sie daran erinnerte, daß sie dasT-Shirt mit dem italienischen Motorroller aus den fünfziger Jahren trug. Aufdem Rücken baumelte ein kleiner Rucksack aus Leder.
AufBahnsteig 14 warteten nur wenige Leute auf den Zug. Sie stellte sich nebeneinem Papierkorb aus Waschbeton, dessen herausnehmbarer Plastikkübel mitgeschmolzenem Eis verklebt war. Im Papierkorb lag eine Zeitung. Ein Mann kamlangsam den Bahnsteig entlang geschlendert. Die junge Frau wußte, daß seinSchlendern in ihrer Nähe zu Ende sein wird. Sie wußte auch, daß, wenn sie sich woandershinstellt, ein anderer Mann in ihre Nähe schlendern wird. Also konnte sie auchdort bleiben, wo sie stand.
Die jungeFrau war neunzehn und arbeitete als Physiotherapeutin im Neubau desKarl-Marx-Städter Bezirkskrankenhauses. Sie war keine Krankenschwester, obwohldas wenige Wochen später, als sie in der ganzen Stadt bekannt war, immer wiederbehauptet wurde. Vielleicht galt sie als Krankenschwester, weil sie lange im Schwesternwohnheimwohnte. Oder weil sie bei ihrem Auftritt, der sie bekannt machte, eineSchwesterntracht trug. Aber sie war Physiotherapeutin, keine Krankenschwester.
Sie war miteinem Krankenwagenfahrer zusammen, der zehn Jahre älter war. Er hieß Paul, sienannte ihn Paulchen. Sie ließ sich Liebesbeweise erbringen, indem sie ihm ihrenSchichtplan gab und in den Pausen auf Station seine Anrufe erwartete. Paulchenenttäuschte sie nicht, doch bevor er beim Wählen der letzten Ziffer dieWählscheibe losließ, fragte er sich, worüber er mit ihr reden sollte. Paulchenwar einer der Männer, denen das Reden nicht gegeben ist. Doch sie, erfreut überdie Zuverlässigkeit seiner Anrufe, plauderte drauflos und gab Stichworte, aufdie er reagieren konnte.
Paulchenwar ein Radiobastler. Er verkörperte die Paradoxie aller Radiobastler: Sie machen inKommunikationstechnik, ohne im geringsten kommunikationsbegabt zu sein. Erkonnte stundenlang mit dem Lötkolben über eigens geätzten Leiterplatten sitzenund immer ausgefeiltere Schaltungen bauen. Mittlerweile war er Techniker einerBand, einer Band allerdings, die nicht wie jede ordentliche Rock'n'Roll-Bandlaute und schmutzige Lieder johlte, ihre Wut auspackte und gehörigen Lärmproduzierte, nein, Paulchens Band machte etwas, das sich Trickbeat nannte. Trickbeat war eine Musik,die alles außerhalb von sich selbst als »zu konventionell« verachtete.Trickbeat war eine Musik, die experimentell klingen sollte und auchexperimentell klang. Trickbeat war eine Musik, die mit schwerer intellektuellerFracht, ohne eine Spur von Aufsässigkeit aus den Boxen und über die Bühnewankte. Klangdemonstrationen der ausgefeilten technischen Soundausstattungstanden ungeniert im Vordergrund; es klang, als ob vier Instrumentenvertreterdie revolutionären Möglichkeiten ihrer neuen Ware vorführen. MinimalistischeKlangfiguren aus vielerlei Glucksen, Fauchen und Schwirren rangen, unterlegtvon stolpernden Rhythmen, um die Vorherrschaft. Um dem Avantgardecharakter derkonzertanten Performance nachzuhelfen, bestanden die Texte, die entweder ineinem leiernden oder in einem monotonen Gesang dargeboten wurden, ausavantgardistischer Lyrik aller Völker und Epochen. Paulchens Radiobastlertumhatte die Band, in der sein jüngster Bruder Sebastian mitspielte, erst aufdiesen Weg gebracht: Die Band, die mit sich nichts Rechtes anzufangen wußte,wurde von Paul mit immer raffinierterer Technik beliefert - bis sich schließlichdie Technik verselbständigte und zum eigentlichen Gegenstand des Bandschaffenswurde.
Die Bandnannte sich Plan Quadrat und bekam eines Tages sogar einen Plattenvertrag - wenn auchnur für eine »Kleeblatt-LP«. Kleeblatt bedeutet: Die Platte teilen sich vierNachwuchsbands, von denen jede drei Titel liefert.
DerPlattenvertrag war ein kleines Wunder. Plan Quadrat hatte weder Manager noch Telefon. Esgab Dutzende Bands, die in den gleichen halbvollen oder halbleerenKulturhäusern spielten wie Plan Quadrat und vergeblich von einem Plattenvertrag träumten, aber mit einem Manager, der natürlichtelefonisch erreichbar war. Plan Quadrat wertete den Plattenvertrag als Indiz für ihr Genie.
Pünktlichum 14.12 Uhr hörte die junge Frau auf Bahnsteig 14 über sich dasLautsprecherbrummen eines - um sich darin auszukennen, war sie lange genug miteinem Radiobastler zusammen - nicht abgeschirmten Kabels, dann die Durchsage, daß der Zug aus Dresdenungefähr zwanzig Minuten Verspätung haben wird. Die Stimme aus dem Lautsprecherwar mitleidslos, ihre Spielart des sächsischen Dialektes empfand die junge Frauals grob und dreckig. Und mit welchem Triumph das entscheidende Wort derDurchsage, Verspätung, betont wurde - es klang, als ob alle Utopisten, die noch immeran die Fahrpläne der Deutschen Reichsbahn glaubten, sich endlich an die rauheWirklichkeit gewöhnen sollten. Auch der letzte Satz der Durchsage, Wir bittenum ihr Verständnis, ließnicht die Spur von Bedauern anklingen, sondern kam im Kommandoton. (...)
© S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2004
- Autor: Thomas Brussig
- 2004, 606 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100095804
- ISBN-13: 9783100095800
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