Das kleine Buch vom Beten / perfect days (PDF)

DER ABEND (S. 53-54)

Das Tagewerk beenden

Eigentlich ist der Schreibtisch noch nicht leer: Es liegen Akten darauf, die heute unbearbeitet geblieben sind, es „schweben" Gespräche darüber, die an diesem Tag hätten geführt werden müssen. Werkstücke sind nicht fertig geworden, da einige Teile nicht passten und neu bearbeitet werden müssen. Selten gelingt es mir, am Ende eines Arbeitstages alle Aufgaben erledigt zu haben, die ich mir vorgenommen hatte und alle Erwartungen erfüllt zu haben, die ich auch an mich selbst hatte.

Wenn ich mich auf den Heimweg mache, reist das Unerledigte des Tages als Last im seelischen Gepäck meistens mit. Gern würde ich mir den alten Vers zur Lebensweisheit machen, der lautet: „Einem jeden Recht getan ist eine Kunst, die niemand kann!" Redensart Doch das gelingt mir nicht. Die verpassten Möglichkeiten, der Anspruch, den ich selbst an mich stelle, eine nahezu perfekte Leistung zu erbringen, machen mich unruhig, mürrisch, unausgeglichen. Bald werde ich zu Hause sein. Dort erwarten mich Menschen, die mit meinem Berufsalltag nichts zu tun haben. Sie sind die falschen Adressaten meiner gedrückten oder gereizten Stimmungen, die ich also vorab abbauen muss.

Ich muss lernen, Frieden mit dem Unfertigen in meinem Leben zu schließen. Das gilt für den Beruf wie für alle anderen Bereiche des Lebens. Menschen sind unvollkommen und vieles in unserem Leben bleibt fragmentarisch. Zwei Übungen helfen mir, Frieden mit dem „Liegengebliebenen" in meinem Leben zu schließen. Die erste braucht ein wenig Fantasie: Ich stelle mir vor, neben unserer Haustür steht eine große Kiste.

Bevor ich das Haus betrete, lege ich alles dort hinein, was meine Stimmung drückt und mein Denken einnimmt. Wenn ich mich am anderen Morgen von meinen Lieben verabschiede und mich auf den Weg zur Arbeit mache, kann ich es wieder mitnehmen. Doch oftmals, wenn ich den Deckel der imaginären Kiste hochhebe, merke ich, dass nichts mehr von dem