Die Gefangenen
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Die Gefangenen von Guido Knopp
LESEPROBE
Am Ende eines Krieges, der von deutschem Boden ausging, waren elf Millionendeutsche Soldaten in Gefangenschaft der Anti-Hitler-Koalition. Undhunderttausende Zivilisten: Frauen, Kinder, alte Menschen, die alsZivilverschleppte in den Weiten der Sowjetunion Fronarbeiten leisten mussten.Der Großteil einer ganzen Generation weiß aus eigenem Erleben, was es hieß,Gefangener zu sein. Von ihnen kehrten über zehn Millionen heim. Die ersten -ganz alte, sehr junge oder todkranke Gefangene - kamen oft schon in den Wochennach der Kapitulation nach Hause; die letzten erst elf Jahre später - nacheiner Zeit des Hungers, der Entbehrungen, der Zwangsarbeit. Über eine MillionGefangene sind gestorben. Ihre Spuren haben sich verloren - wie die vonungezählten Soldaten, die bis heute vermisst sind.
Die Heimkehrer haben das Erlebte oft verdrängt. Zu sehr lasteten Erfahrungenauf ihnen, die sie gern vergessen wollten. Heute, sechs Jahrzehnte nach alldem, brechen viele ihr Schweigen, erzählen uns in diesem Buch ihr Schicksal:von der Gefangennahme, dem Weg ins Lager, den Überlebensstrategien, demalltäglichen Daseinskampf. Sie berichten von Ängsten, Träumen, Fluchtversuchen,Hoffnungen - und von der Heimkehr. Dabei waren ihre Erlebnisse ganzunterschiedlich, ja sogar höchst gegensätzlich. Der Autor weiß etwa aus denErzählungen seines Vaters, der im Mai 1943 in Tunesien in amerikanischeGefangenschaft geriet und diese bis zum Mai 1946 in so unwirtlichen Gegenden wieTexas, Florida und Kalifornien zu verbringen hatte, was es hieß, dort »Prisonerof War« zu sein: gut bestückte Lagerbibliotheken, samstags neue Filme, täglichWeißbrot, morgens Corn Flakes, mittags Schweinebraten, abends Steaks. Der dünneJunge nahm zwölf Kilogramm zu - was der Heimkehrer im Hungerwinter 1946/47 ganzrasch wieder revidierte. Ganz andere Erinnerungen hat ein Onkel des Autors zubieten, der als »prisonnier de guerre« in einem französischen Bergwerk knappdem Hungertod entging.
Die ersten deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs waren inbritischem Gewahrsam: meist U-Boot-Männer oder Flieger. Doch nur wenige bliebenauf der Insel - und nur dann, wenn sie über kriegswichtige Kenntnisseverfügten, die für die Geheimdienste von Interesse waren. In diesem Buch isterstmals dokumentiert, dass dies mitunter Informationen waren, die unfreiwilligpreisgegeben wurden: Der britische Geheimdienst belauschte etwa diePrivatgespräche gefangener deutscher Generale - und hörte unter anderem erstaunlicheDebatten über deren Wissen und Nicht-wissen-Wollen, was den Judenmord betraf.Die britische Regierung sah die deutschen Kriegsgefangenen in England alsGefahr für die eigene Sicherheit. Bis 1944 gab es in ganz Großbritannien nichtmehr als 2000 Kriegsgefangene; die Mehrzahl war nach Kanada, Kenia, Südafrikaoder gar Australien verfrachtet worden. Erst in den letzten Monaten desKrieges, nach der Landung der Alliierten in der französischen Normandie,füllten sich die Lager auch auf der britischen Insel. Briten und Deutschehielten sich bei der Behandlung der Gefangenen der jeweils anderen Seite in derRegel an die Genfer Konvention. Und konsequenter als jede andere Machtbetrieben die Briten, was sie »Re-education« nannten: Umerziehung oderDemokratisierung »ihrer« Deutschen. Ein prominentes Beispiel war hier unteranderen der spätere Verleger Wolf Jobst Siedler.
Mit ganz anderen Problemen konfrontiert sahen sich die deutschenKriegsgefangenen in der Sowjetunion. Waren bis zur Schlacht um Stalingrad nurwenige zehntausend Soldaten der Wehrmacht in sowjetischem Gewahrsam, so stiegendie Zahlen nach dem Zusammenbruch der Sechsten Armee rasch an. Als GeneralPaulus kapitulierte, waren schon 150000 seiner Soldaten den Kämpfen, der Kälteund dem Hunger zum Opfer gefallen. 92000 Mann traten den qualvollen Weg in dieGefangenschaft an. Nur 6000 von ihnen sollten die Heimat wiedersehen. Was sichbeide Völker, Deutsche und Russen, während des Krieges antaten, setzte sich inder Gefangenschaft fort. Hitler führte den Vernichtungskrieg im Osten ganzbewusst jenseits des Völkerrechts. Von den 5,75 Millionen sowjetischenGefangenen in deutschem Gewahrsam starben 3,3 Millionen - mehr als die Hälfte.
Umgekehrt war Stalin trotz des Drucks der Westalliierten nicht bereit, sich zurHaager Landkriegsordnung zu bekennen. Auch die Genfer Konvention hatte dieSowjetunion nicht unterzeichnet.
Die meisten der oft riesigen sowjetischen Gefangenenlager lagen weit hinter derFront. Viele der über drei Millionen deutschen Soldaten, die im Osten bisKriegsende gefangen genommen wurden, überlebten schon den Marsch in die Lagernicht. Hunderttausende bezahlten die Todesmärsche bis zur nächsten Bahnstation,die Transporte im offenen Güterwagen, den quälenden Hunger, die absehbarenSeuchen mit dem Leben.
Die Erinnerung der Überlebenden berührt noch heute - zumal sie in denallermeisten Fällen nicht von Hass geprägt ist. Immer wieder ist in denBerichten die Rede davon, wie, bei aller offiziellen Unbarmherzigkeit, dierussische Zivilbevölkerung, die selbst oft Hunger litt, den abgerissenenGefangenen Lebensmittel zusteckte - und das, obwohl die Wehrmacht auf demRückzug Richtung Westen Tausende von Bauerndörfern in Brand gesetzt hatte.
Die Rache der Sieger traf Hunderttausende deutscher Zivilisten, die in denletzten Kriegs- und ersten Friedenstagen von sowjetischen Sonderkommandosaufgegriffen wurden. Alter und Geschlecht spielten in der Regel keine Rolle.Viele überlebten die Strapazen des Transports nicht. Erst nach wochenlangerFahrt erreichten die Verschleppten ihre Bestimmungsorte: Arbeitslager in derUkraine, in Stalingrad, im Kaukasus und im Ural, am Kaspischen und Weißen Meer,in Sibirien, in Kasachstan und Usbekistan. Viele der Verschleppten waren jungeFrauen und Mädchen. Gleichsam als lebende Reparationsleistungen mussten sie fürjene Verbrechen büßen, die von Deutschen und in deutschem Namen in derSowjetunion begangen worden waren.
In den Arbeitslagern war der Tod allgegenwärtig - ob durch Hunger, Krankheitund Verzweiflung. Wohl die meisten der Verschleppten kehrten nicht zurück. Nochimmer gilt eine große Anzahl von ihnen als vermisst. Manche wurden anonym beiirgendeinem Lager in den Weiten der Sowjetunion verscharrt, andere fanden nochals kleine Kinder Aufnahme in einer russischen Familie und vergaßen ihreHerkunft - dann wurde aus Paul Pawel, aus Liesabeth Maria. Ihr Schicksal zähltzu den verdrängten und traumatischen Kapiteln des 20. Jahrhunderts.
Den Überlebenden geht es nach eigenem Bekunden nicht um Aufrechnung von Schuld.Wenn frühere deutsche Zwangsarbeiter über ihre tragischen Erfahrungen zu redenbeginnen, ist es für viele wohl der erste Schritt auch zur Bewältigung einerZeit, die manche der Frauen in ihren Träumen noch bis heute heimsucht. Langewurde dieser Opfer nicht gedacht. Jetzt ist es Zeit, dass sie sprechen.
Alles andere als traumatisch waren in der Regel die Erfahrungen der Deutschen,die ab 1942 in amerikanische Gefangenschaft gerieten. Eingesetzt alsHilfskräfte in militärischen Einrichtungen oder in der Landwirtschaft, ging esdiesen Gefangenen so gut wie in keinem anderen Gewahrsam: Es gabSportveranstaltungen, ja regelrechte Fußballmeisterschaften mit US-Wachen alsFans; es gab Lageruniversitäten, Fernkurse, Konzerte und Theateraufführungen.Die Genfer Konvention, derzufolge die Kriegsgefangenen genauso unterzubringenund zu ernähren waren wie die eigene Truppe, wurde in den USA so exakteingehalten, dass manche amerikanische Zivilisten protestierten, den Deutschenginge es besser als ihnen selbst. Erst gegen Ende des Krieges, mit derEntdeckung der Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Bergen-Belsen,änderte sich die Situation. Als die Gefangenen die Todesbilder aus den Lagernvorgeführt bekamen, taten viele dies zunächst als »alliierte Propaganda« ab,weil sie es nicht glauben wollten.
US-Gefangenschaft ganz anderer Art - auch unter dem Eindruck dieser Bilder -erlebten jene Deutschen, welche gegen Kriegsende in Westdeutschland inamerikanische Hände gerieten. Von April bis Juli 1945 pferchten US-Truppenentlang des Rheins fast eine Million deutscher Soldaten in riesigen Camps unterfreiem Himmel zusammen. Zelte gab es nicht, Stacheldraht umschloss morastigeWiesen. Täglich wurden Massengräber ausgehoben. In drei Monaten starben 4500Gefangene. Wer die Kraft dazu hatte, grub sich mit den Händen Erdlöcher alsSchutz vor Wind und Regen. Das Internationale Rote Kreuz protestiertevergeblich.
Als im Sommer 1945 im Südwesten Deutschlands die französische Besatzungszoneeingerichtet wurde, übernahm die vierte Siegermacht prompt hunderttausendeGefangene der US-Armee. Die Erinnerung an die demütigende Besatzung war nochgegenwärtig, und so behandelten französische Militärs die ehemaligen Okkupantenrigider als Briten und Amerikaner. Vertreter des Roten Kreuzes warnten, dassfast 200000 deutsche Kriegsgefangene in französischen Lagern zu verhungerndrohten. Verzweifelt versuchten viele die Flucht, doch nur wenigen gelang sie.Angesichts des Elends in den Lagern verziehen französische Bauern mitunterschneller als ihre Regierung und versorgten die Deutschen über den Stacheldrahthinweg mit Wasser und Brot - spontane Gesten des Mitleids und derHilfsbereitschaft. Einmal aus den Lagern heraus und zur Feldarbeit eingeteilt,entwickelten sich auf den Höfen da und dort schon erste deutsch-französischeBande.
Immerhin kehrten die letzten Kriegsgefangenen in französischem Gewahrsam 1948zurück nach Deutschland - zu einem Zeitpunkt, als noch Hunderttausende ihrerKameraden in den Lagern Stalins festgehalten wurden. Wie zuvor sowjetischeZwangsarbeiter in Hitlers Reich, so mussten auch die deutschen Kriegsgefangenenjahrelange Zwangsarbeit leisten - in Kohlegruben und in Steinbrüchen genausowie beim Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Städte. Einige der Gefangenenwagten die Flucht; nur wenigen gelang sie. Wer das Glück hatte, schon Ende derVierziger-, Anfang der Fünfzigerjahre nach Hause entlassen zu werden, trafnicht selten auf Not und Verwüstung. Einige erfuhren erst jetzt vom Tod ihrerFamilien, andere trafen ihre Frauen in den Armen anderer Männer an.
Der Neubeginn für die vom Krieg traumatisierten Männer war nicht leicht. Mitteder Fünfzigerjahre waren noch immer fast 10000 Deutsche in sowjetischemGewahrsam - unter ihnen freilich auch notorische Nazis: Personen aus HitlersEntourage, SS-Ärzte aus Auschwitz und ein Gauleiter. Die meisten allerdingswaren ehemalige Soldaten, die man in Scheinprozessen zu 25 Jahren Zwangsarbeitverurteilt hatte.
In der Bundesrepublik zumindest waren sie nicht vergessen. Viele Menschen stelltenjeweils am 4. Mai, dem »Tag der Treue«, Kerzen in die Fenster, um an dieGefangenen zu erinnern. 1955 reiste Konrad Adenauer nach Moskau, um die Letztennach Hause zurückzuholen. Nach zähem Ringen hatte seine Mission Erfolg. AbOktober 1955 erreichte der erste Transport das Lager Friedland: Auftakt für dielegendäre »Heimkehr der Zehntausend« - Augenblicke kollektiver Emotion. Niewaren Freud und Leid so nahe beieinander: Während sich zu den Klängen desChorals »Nun danket alle Gott« lange getrennte Familienangehörige in den Armenlagen, warteten viele Mütter vergebens auf ihre Söhne, Frauen vergebens aufihre Männer. Manche warteten noch Jahrzehnte - bis zu ihrem Tod. Noch zu Beginndes 21. Jahrhunderts ist das Schicksal von 1,5 Millionen vermissten Soldatenungeklärt.
Es sind dramatische und traurige, traumatische und tragische Erfahrungen,welche die Erinnerungen überlebender Gefangener bereithalten. Doch allemal sindes Erfahrungen, aus denen wir, die Nachgeborenen, lernen können: wozu Menschenfähig sind, im Guten wie im Bösen. Die Archive, die uns Auskunft geben überMillionen Schicksale, stehen mittlerweile sämtlich offen. Wir haben sie genutztzu einem Zeitpunkt, da die Zeugen jener Jahre, welche die Gefangenschaft erlebthaben, noch reden können. Hören wir ihnen zu.
© Goldmann Verlag
- Autor: Guido Knopp
- 2005, 416 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 12,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Mitarbeit: Berkel, Alexander; Brauburger, Stefan
- Herausgegeben: Mario Sporn
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442153239
- ISBN-13: 9783442153237
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