Deutschstunde
1954: Siggi Jepsen befindet sich in einem Internat für straffällige Jugendliche. Er soll einen Aufsatz über "Die Freuden der Pflicht" schreiben. Siggi kommt sofort sein Vater in den Sinn: Der beflissene Dorfpolizist Jens Ole Jepsen setzt das 1943 von den...
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1954: Siggi Jepsen befindet sich in einem Internat für straffällige Jugendliche. Er soll einen Aufsatz über "Die Freuden der Pflicht" schreiben. Siggi kommt sofort sein Vater in den Sinn: Der beflissene Dorfpolizist Jens Ole Jepsen setzt das 1943 von den Nazis gegen den Kunstmaler Max Ludwig Nansen verhängte Berufsverbot durch, obwohl dieser sein Freund ist. Siggi stellt sich auf die Seite des Künstlers.
"ich bekenne, ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen."
Siegrfried Lenz
Lenz’ Kindheit und Jugend sind von den Ereignissen des Dritten Reiches geprägt. Im Alter von 13 Jahren trat er der HJ bei, machte 1943 sein Notabitur und wurde dann Soldat bei der Marine der Reichswehr. Er desertierte in Dänemark und kam in englische Kriegsgefangenschaft. Diese Erlebnisse beeinflussen sein journalistisches und literarisches Werk.
In seinem Roman „Die Deutschstunde“, der 1968 erschien, setzt sich Lenz kritisch mit dem Dritten Reich auseinander. Der Protagonist des Romans ist Siggi Jepsen, ein Zögling einer Anstalt für schwererziehbare Jugendliche, der einen Deutschaufsatz zum Thema 'Die Freude der Pflicht' schreiben muss. Darin thematisiert Siggi den Konflikt mit seinem Vater, der zur Zeit des Nationalsozialismus Polizist im norddeutschen Rugbüll ist.
Siggis Vater ist mit dem Maler Nansen befreundet, doch die NS-Zeit verändert diese Freundschaft. „Die Deutschstunde“ schildert, wie der Polizist Jepsen die Durchsetzung des Malverbots für Nansen zu dessen persönlichem Feldzug macht. Nahezu blind erfüllt der Vater seine Pflicht, während der Sohn versucht, die Kunstwerke zu retten. Das Ende des Dritten Reiches bringt keine Veränderung. Der Vater wird kurzfristig interniert, kehrt jedoch später auf seinen Posten zurück, ungebrochen autoritätsgläubig.
Mit der „Deutschstunde“ konfrontiert Siegfried Lenz seine Leserschaft schonungslos mit scheinbar unpolitischer Pflichterfüllung und Heimattreue, welche in der Nachkriegszeit als tragender Pfeiler des Nationalsozialismus demaskiert wurde.
Deutschstundevon Siegfried Lenz
LESEPROBE
Das Malverbot Im Jahr dreiundvierzig, um mal sozu beginnen, an einem Freitag im April, morgens oder mittags, bereitete meinVater Jens Ole Jepsen, der Polizeiposten der Außenstelle Rugbüll, der nördlichstePolizeiposten von Schleswig-Holstein, eine Dienstfahrt nach Bleekenwarf vor, umdem Maler Max Ludwig Nansen, den sie bei uns nur den Maler nannten und nie aufhörten,so zu nennen, ein in Berlin beschlossenes Malverbot zu überbringen. Ohne Eilesuchte mein Vater Regenumhang, Fernglas, Koppel, Taschenlampe zusammen, machte sichmit absichtlichen Verzögerungen am Schreibtisch zu schaffen, knöpfte schon zumzweiten Mal den Uniformrock zu und linste - während ich vermummt und regungslosauf ihn wartete - immer wieder in den mißlungenen Frühlingstag hinaus undhorchte auf den Wind. Es ging nicht nur Wind: dieser Nordwest belagerte ingeräuschvollen Anläufen die Höfe, die Knicks und Baumreihen, erprobte mitTumulten und Überfällen die Standhaftigkeit und formte sich eine Landschaft,eine schwarze Windlandschaft, krumm, zerzaust und voll unfaßbarer Bedeutung.Unser Wind, will ich meinen, machte die Dächer hellhörig und die Bäumeprophetisch, er ließ die alte Mühle wachsen, fegte flach über die Gräben und brachtesie zum Phantasieren, oder er fiel über die Torfkähne her und plünderte dieunförmigen Lasten. Wenn bei uns Wind ging und so weiter, dann mußte man sichschon Ballast in die Taschen stecken - Nägelpakete oder Bleirohre oderBügeleisen -, wenn man ihm gewachsen sein wollte. Solch ein Wind gehört zu uns,und wir konnten Max Ludwig Nansen nicht widersprechen, der Zinnadern platzen ließ,der wütendes Lila nahm und kaltes Weiß, wenn er den Nordwest sichtbar machenwollte - diesen wohlbekannten, uns zukommenden Nordwest, auf den mein Vaterargwöhnisch horchte. Ein Rauchschleier schwebte in der Küche. Ein nach Torf duftender,zuckender Rauchschleier schwebte im Wohnzimmer. Der Wind saß im Ofen und paffteuns das Haus voll, während mein Vater hin und her ging und offenbar nach Gründensuchte, um seinen Aufbruch zu verzögern, hier etwas ablegte, dort etwasaufnahm, die Gamaschen im Büro anlegte, das Dienstbuch am Eßtisch in der Kücheaufschlug und immer noch etwas fand, was seine Pflicht hinausschob, bis er mitärgerlichem Erstaunen feststellen mußte, daß etwas Neues aus ihm entstandenwar, daß er sich gegen seinen Willen in einen vorschriftsmäßigen Landpolizistenverwandelt hatte, dem zur Erfüllung seines Auftrags nichts mehr fehlte als dasDienstfahrrad, das, gegen einen Sägebock gelehnt, im Schuppen stand. So war esan diesem Tag vermutlich die aus Gewohnheit zustande gekommene äußereDienstbereitschaft, die ihn schließlich zum Aufbruch zwang, nicht der Eifer,nicht die Berufsfreude und schon gar nicht die ihm zugefallene Aufgabe; ersetzte sich wie so oft in Bewegung, anscheinend weil er komplett uniformiertund ausgerüstet war. Er variierte nicht seinen Gruß, bevor er ging, er trat wieimmer auf den dämmrigen Flur, lauschte, rief gegen die geschlossenen Türen: Tschüß,nech!, erhielt von keiner Seite eine Antwort, war jedoch nicht verblüfft oderenttäuscht darüber, sondern tat so, als hätte man ihm geantwortet, denn ernickte befriedigt, zog mich nickend zur Haustür, wandte sich noch einmal an derSchwelle um und machte eine unbestimmte Geste des Abschieds, bevor der Wind unsaus dem Türrahmen riß. Draußen legte er sich sogleich mit der Schulter gegenden Wind, senkte sein Gesicht - ein trockenes, leeres Gesicht, auf dem alles,jedes Lächeln, jeder Ausdruck von Mißtrauen oder Zustimmung sehr langsamentstand und dadurch eine unerhörte, wenn auch mitunter verzögerteBedeutsamkeit erlangte, so daß es den Anschein hatte, als verstehe er alles zwargründlich, aber zu spät - und ging vornübergebeugt über den Hof, auf dem derWind spitze Kreisel drehte und eine Zeitung zerzauste, einen Sieg in Afrika,einen Sieg auf dem Atlantik, einen gewissermaßen entscheidenden Sieg an derAltmetallfront zerzauste und knüllte und gegen den Maschendraht unseres Gartenspreßte. Er ging zum offenen Schuppen. Stöhnend hob er mich auf denGepäckträger. Er packte das Fahrrad mit einer Hand an der Hinterkante des Sattels,mit der anderen an der Lenkstange und drehte es herum. Dann schob er es zumZiegelweg hinab, hielt unter dem spitzen, auf unser Rotsteinhaus zielendenSchild »Polizeiposten Rugbüll«, brachte das linke Pedal in günstigeAusgangsstellung, saß auf und fuhr mit straff geblähtem Umhang, der zwischenden Beinen mit einer Klammer zusammengefaßt war, Richtung Bleekenwarf. Das ginggut bis zur Mühle oder sogar fast bis zur Holmsenwarf mit ihren wippendenHecken, denn so lange segelte er gebläht und kräftig gebauscht vor dem Wind,doch dann, als er sich gegen den Deich wandte, den Deich gebeugt erklomm, glicher sofort dem Mann auf dem Prospekt »Mit dem Fahrrad durch Schleswig-Holstein«,einem verbissenen Wanderer, der durch Versteifung, Krümmung und vom Sattel abgehobenemGesäß bereitwillig die Mühsal erkennen ließ, mit der man sich hier fortbewegenmuß auf der Suche nach heimischer Schönheit. Der Prospekt verriet jedoch nichtnur die Mühsal, er deutete auch das Maß der Geschicklichkeit an, das notwendigist, um bei fallsüchtigem, seitlichem Nordwest mit dem Fahrrad auf dem Kamm desDeiches zu fahren; außerdem veranschaulichte er die in Windfahrten zweckmäßige Körperhaltung,ließ das Erlebnis des norddeutschen Horizonts ahnen, zeigte die schlohweißenKraftlinien des Windes und bevorzugte als vertraute Garnierung des Deiches diegleichen blöden und verzottelten Schafe, die auch meinem Vater und mirnachblickten. Da eine Beschreibung des Prospekts zwangsläufig zu einer Beschreibungmeines Vaters werden muß, wie er auf dem Deich nach Bleekenwarf fuhr, möchteich, zur Vervollständigung des Bildes, noch die Mantel-, Herings- und Lachmöwenerwähnen sowie die seltene Bürgermeistermöwe, die, dekorativ über demerschöpften Radler verteilt, durch nachlässigen Druck etwas verwischt, wieweiße Staubtücher zum Trocknen in der Luft hingen.
Lizenzausgabe der Süddeutsche Zeitung GmbH, München für dieSüddeutsche Zeitung Bibliothek 2004
© 1968 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
- Autor: Siegfried Lenz
- 2006, 41. Aufl., 576 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423134119
- ISBN-13: 9783423134118
Maxi 03/2009
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