Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim
Roman
Ein amüsanter Schelmenroman über unsere Zeit
Es ist Valentinstag, doch nie zuvor hat Maxwell sich einsamer gefühlt: Seine Frau hat ihn verlassen, seine Jugendliebe hält ihn für einen bemitleidenswerten Verlierer, und auch seine...
Es ist Valentinstag, doch nie zuvor hat Maxwell sich einsamer gefühlt: Seine Frau hat ihn verlassen, seine Jugendliebe hält ihn für einen bemitleidenswerten Verlierer, und auch seine...
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Produktinformationen zu „Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim “
Ein amüsanter Schelmenroman über unsere Zeit
Es ist Valentinstag, doch nie zuvor hat Maxwell sich einsamer gefühlt: Seine Frau hat ihn verlassen, seine Jugendliebe hält ihn für einen bemitleidenswerten Verlierer, und auch seine vierundsiebzig Facebook-Freunde können ihm nicht helfen. Da kommt das seltsame Angebot, an einer Wettfahrt zu den Shetlandinseln teilzunehmen, wie gerufen. Voller Hoffnung macht er sich mit »Emma«, seinem freundlichen Navigationsgerät, auf den Weg - doch die Fahrt zum nördlichsten Punkt des Königreichs entwickelt sich zu einer Reise in die dunkelsten Ecken seiner Vergangenheit.
Jonathan Coe, einer der Stars der Londoner Literaturszene, ist mit einem außerordentlichen Erzähltalent gesegnet: Mit »Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim« hat er einen Roman geschaffen, der voller überraschender Plotwindungen steckt und von Geschichten überbordet - eine höchst vergnügliche Tour de Force durch die Befindlichkeiten unserer Zeit.
Großes Lesevergnügen: tragikomische Familiengeschichte und abenteuerliche Road-Novel zugleich.
Es ist Valentinstag, doch nie zuvor hat Maxwell sich einsamer gefühlt: Seine Frau hat ihn verlassen, seine Jugendliebe hält ihn für einen bemitleidenswerten Verlierer, und auch seine vierundsiebzig Facebook-Freunde können ihm nicht helfen. Da kommt das seltsame Angebot, an einer Wettfahrt zu den Shetlandinseln teilzunehmen, wie gerufen. Voller Hoffnung macht er sich mit »Emma«, seinem freundlichen Navigationsgerät, auf den Weg - doch die Fahrt zum nördlichsten Punkt des Königreichs entwickelt sich zu einer Reise in die dunkelsten Ecken seiner Vergangenheit.
Jonathan Coe, einer der Stars der Londoner Literaturszene, ist mit einem außerordentlichen Erzähltalent gesegnet: Mit »Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim« hat er einen Roman geschaffen, der voller überraschender Plotwindungen steckt und von Geschichten überbordet - eine höchst vergnügliche Tour de Force durch die Befindlichkeiten unserer Zeit.
Großes Lesevergnügen: tragikomische Familiengeschichte und abenteuerliche Road-Novel zugleich.
Klappentext zu „Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim “
Ein amüsanter Schelmenroman über unsere ZeitEs ist Valentinstag, doch nie zuvor hat Maxwell sich einsamer gefühlt: Seine Frau hat ihn verlassen, seine Jugendliebe hält ihn für einen bemitleidenswerten Verlierer, und auch seine vierundsiebzig Facebook-Freunde können ihm nicht helfen. Da kommt das seltsame Angebot, an einer Wettfahrt zu den Shetlandinseln teilzunehmen, wie gerufen. Voller Hoffnung macht er sich mit "Emma", seinem freundlichen Navigationsgerät, auf den Weg - doch die Fahrt zum nördlichsten Punkt des Königreichs entwickelt sich zu einer Reise in die dunkelsten Ecken seiner Vergangenheit.
Jonathan Coe, einer der Stars der Londoner Literaturszene, ist mit einem außerordentlichen Erzähltalent gesegnet: Mit "Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim" hat er einen Roman geschaffen, der voller überraschender Plotwindungen steckt und von Geschichten überbordet - eine höchst vergnügliche Tour de Force durch die Befindlichkeiten unserer Zeit.
Großes Lesevergnügen: tragikomische Familiengeschichte und abenteuerliche Road-Novel zugleich.
"Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim ist das, was man in England unter a good read versteht: Klar, lustig, leichtfüßig und rührend, einen mächtigen Sog entwickelnd - und dabei doch auf geradezu heimtückische Art ernsthaft." -- Spiegel online
"Jonathan Coes neuer Roman geht mit großer erzählerischer Leichtigkeit und Augenzwinkern einem ernsten Thema auf den Grund: Selbsterkenntnis." -- Freundin, 03.11.2010
"Tragikomisches, hemmungslos sentimentales und doch sehr vergnügliches Protokoll einer Selbstfindung." -- HÖRZU, 19.11.2010
"Jonathan Coes neuer Roman geht mit großer erzählerischer Leichtigkeit und Augenzwinkern einem ernsten Thema auf den Grund: Selbsterkenntnis." -- Freundin, 03.11.2010
"Tragikomisches, hemmungslos sentimentales und doch sehr vergnügliches Protokoll einer Selbstfindung." -- HÖRZU, 19.11.2010
Lese-Probe zu „Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim “
Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim von Jonathan Coe Aus dem Englischen von Walter Ahlers
VERTRETER NACKT IN AUTO AUFGEFUNDEN
Ein Streifenwagen der Grampian Police stieß am Donnerstagabend
bei einer Patrouillenfahrt auf der schneebedeckten
A 93 zwischen Braemar und Spittal of Glenshee
auf ein scheinbar verlassenes Auto, das gleich unterhalb
des Glenshee Ski Centre am Straßenrand geparkt war.
Bei näherer Überprüfung stellten die Beamten fest, dass
der bewusstlose Fahrer noch im Auto saß. Die Kleider
des fast nackten Mannes mittleren Alters waren überall
im Wageninneren verstreut. Auf dem Beifahrersitz lagen
zwei leere Whiskyflaschen.
Noch rätselhafter wurde es, als die Beamten den Kofferraum
untersuchten und zwei Pappkartons mit über 400
Zahnbürsten sowie einen großen schwarzen Müllbeutel
entdeckten, der mit Postkarten aus dem Fernen Osten
gefüllt war.
Der Mann litt unter starker Unterkühlung und wurde mit
dem Rettungshubschrauber in die Royal Infirmary nach
Aberdeen geflogen. Später konnte er als Mr Maxwell Sim,
48, aus Watford, England, identifiziert werden.
Mr Sim war als freiberuflicher Handelsvertreter für Guest
Zahnbürsten in Reading unterwegs, eine Firma, die sich
auf ökologische Mundhygiene-Produkte spezialisiert hat.
Der Betrieb war am selben Morgen in Insolvenz gegangen.
Mr Sims Gesundheit konnte vollständig wiederhergestellt
werden, inzwischen dürfte er an seinen Wohnort Watford
zurückgekehrt sein. Ob eine Anzeige wegen Trunkenheit
am Steuer ergeht, ist noch offen.
Aberdeenshire Press & Jounal,
Montag, 9. März 2009
Von SYDNEY bis WATFORD
1
... mehr
Als ich die Chinesin und ihre Tochter beim Kartenspielen sah,
an diesem Tisch im Restaurant, hinter dem das Wasser und
die Lichter des Hafens von Sydney glitzerten, musste ich an
Stuart denken, und daran, warum er das Autofahren aufgegeben
hatte.
An »meinen Freund Stuart«, hätte ich fast gesagt, aber ich
vermute, das entspricht nicht mehr den Tatsachen. Ich scheine
in den letzten Jahren eine Reihe von Freunden verloren zu
haben. Was nicht heißt, dass ich mich auf dramatische Weise
mit ihnen zerstritten hätte. Wir haben einfach beschlossen,
den Kontakt einschlafen zu lassen. Und es muss ein Entschluss
gewesen sein, eine bewusste Entscheidung, denn schließlich ist
es heutzutage bei der Vielfalt der sich bietenden Möglichkeiten
kein Problem mehr, in Kontakt zu bleiben. Aber je älter man
wird, desto zweckloser beginnen manche Freundschaften sich
anzufühlen. Bis man sich irgendwann fragt: »Wozu eigentlich
noch?« Und dann lässt man es bleiben.
Aber zurück zu Stuart und seiner Autofahrerei. Es waren
die Panikattacken, die ihn zum Aufhören zwangen. Er war ein
guter Autofahrer, achtsam und umsichtig, nie in einen Unfall
verwickelt. Aber ab und zu bekam er eben am Steuer diese
Panikattacken, und mit der Zeit wurden sie heftiger, und sie
häuften sich. Ich weiß noch, wann er mir zum ersten Mal
davon erzählte: während der Mittagspause, in der Kantine des
Kaufhauses in Ealing, in dem wir beide seit ein oder zwei Jahren
arbeiteten. Ich glaube nicht, dass ich ihm sehr aufmerksam
zugehört habe, denn Caroline saß mit uns am Tisch, und
zwischen uns begann es gerade interessant zu werden - da
waren Geschichten über Stuarts Autofahrneurose so ziemlich
das Letzte, was mich interessierte. Aus demselben Grund habe
ich wahrscheinlich auch danach kaum mehr einen Gedanken
daran verschwendet; erst Jahre später, in diesem Restaurant
in Sydney, erinnerte ich mich auf einmal wieder an alles. Sein
Problem war Folgendes gewesen: Während die meisten Menschen
das Hin und Her der Autos auf einer belebten Straße
als einen normalen, ordentlich funktionierenden Verkehrsfluss
wahrnahmen, erschien es Stuart wie eine endlose Abfolge
haarscharf vermiedener Zusammenstöße. Er sah die Autos mit
hoher Geschwindigkeit aufeinander zurasen und sich nur um
Zentimeter verfehlen - ein ums andere Mal, alle paar Sekunden,
den ganzen Tag lang. »Diese ganzen Autos«, sagte er zu mir,
»die alle immer so haarscharf aneinander vorbeischlittern, wie
soll man das nur ertragen?« Am Ende ertrug er es nicht mehr,
und aus war es mit dem Autofahren.
Warum mir dieses Gespräch ausgerechnet an diesem Abend
wieder einfiel? Es war der 14. Februar 2009. Der zweite Samstag
im Februar. Valentinstag, um es deutlich zu sagen. Hinter mir
flimmerten die Hafenlichter auf dem Wasser, und ich musste
allein essen, weil mein Vater sich aus Gründen, die nur ihm
bekannt waren, geweigert hatte, mich zu begleiten, obwohl es
mein letzter Abend in Australien war und ich ja eigens dorthin
gekommen war, um ihn zu besuchen und eine neue Beziehung
zu ihm aufzubauen. Es muss einer der einsamsten Momente in
meinem Leben gewesen sein, und der Anblick der Chinesin, die
an dem Tisch mit ihrer Tochter Karten spielte, brachte es mir
erst so richtig zu Bewusstsein. Die beiden wirkten so glücklich
zusammen. Sie waren einander so nah. Sie sprachen kaum, und
wenn, dann ging es - soweit ich das beurteilen konnte - um
ihre Karten, aber das war gar nicht so wichtig. Man brauchte
nur ihre Blicke zu sehen, ihr Lächeln, die Art, wie sie immer
wieder lachten, die Köpfe zusammensteckten. Verglichen mit
ihnen schien sich von den Gästen an den anderen Tischen
keiner so recht zu amüsieren. Sicher, dort wurde auch geredet
und gelacht. Aber niemand war auch nur annähernd so ein
Herz und eine Seele wie die Chinesin und ihre Tochter. Mir
gegenüber saß ein Paar, das sich offensichtlich bei einem Date
befand: Er sah ständig auf die Uhr, sie überprüfte alle paar Augenblicke
ihr Handy nach neuen Textnachrichten. Hinter mir saß
eine vierköpfige Familie, die beiden kleinen Jungen spielten
mit ihren Nintendo-DS-Konsolen, die Eltern hatten seit zehn
Minuten kein Wort mehr miteinander gewechselt. Zur Linken
versperrte mir eine Gruppe von sechs Freunden teilweise den
Ausblick auf den Hafen: Zwei von ihnen führten eine hitzige
Auseinandersetzung, die als Diskussion um globale Erwärmung
begonnen hatte, sich inzwischen aber mehr um wirtschaftliche
Themen zu drehen schien; keiner der beiden gab auch nur einen
Zentimeter nach, während die anderen vier schweigend dabeisaßen
und gelangweilt Löcher in die Luft guckten. Ein älteres
Paar auf der anderen Seite hatte sich gleich nebeneinander und
nicht einander gegenüber gesetzt, um statt zu reden einfach die
Aussicht genießen zu können. Nichts davon deprimierte mich
sonderlich; auch wenn ich meine Hand dafür ins Feuer gelegt
hätte, dass alle diese Menschen in dem Bewusstsein heimgehen
würden, einen wunderbaren Abend verlebt zu haben. Einzig die
Chinesin und ihre Tochter beneidete ich, und zwar, weil sie ganz
eindeutig etwas Kostbares besaßen: etwas, das mir schmerzhaft
fehlte. Etwas, an dem ich teilhaben wollte.
Woher ich wusste, dass sie eine Chinesin war? Natürlich
wusste ich es nicht mit Sicherheit. Aber sie kam mir chinesisch
vor. Sie hatte langes schwarzes Haar, leicht ungebärdig, ungekämmt.
Ein schmales Gesicht mit hervortretenden Wangenknochen.
(Ich fürchte, ich bin nicht sehr gut darin, Menschen
zu beschreiben - tut mir leid.) Knallroter Lippenstift, ein etwas
eigenwilliger Akzent. Das hübsche Lächeln eine Spur schmallippig
und gerade deshalb irgendwie umso lebhafter. Sie war
teuer angezogen und trug eine Art schwarzen Chiffonschal
(auch mit meinem Talent im Beschreiben von Garderoben
ist es nicht weit her - freuen Sie sich schon auf die nächsten
vierhundert Seiten?), der von einer großen goldenen Brosche
zusammengehalten wurde. Sie war also das, was man wohl »gut
situiert« nennt. Elegant - das würde es treffen. Ausgesprochen
elegant. Auch ihre Tochter war gut gekleidet, auch sie hatte
schwarzes Haar (nun ja, wann trifft man schon mal blonde
Chinesinnen?) und ich schätzte sie auf etwa acht oder neun.
Sie hatte ein ganz besonderes Lachen: Es begann als kehliges
Kichern, aus dem gluckernde Laute hervorsprudelten, sich zur
Kaskade steigerten und dann verloren wie ein Bach, der sich
einen Berghang herab in eine Reihe von Teichen ergießt. (Wie
die Teiche auf der Rückseite des Rose and Crown Pub am Rand
des Golfplatzes, an denen Mum und ich immer vorbeikamen,
wenn wir auf den Lickey Hills spazieren gingen. Daran erinnerte
mich dieses Lachen - auch das sicher einer der Gründe,
warum das Mädchen und ihre Mutter an diesem Abend einen
solchen Eindruck auf mich machten.) Ich weiß nicht, was sie
so zum Lachen brachte, es schien mit dem Kartenspiel zu tun
zu haben, kein albernes Kinderspiel wie Schnippschnapp, aber
auch nichts sonderlich Ernsthaftes und Erwachsenes. Vielleicht
war es Knockout-Whist, etwas in der Art. Was auch immer, es
brachte das kleine Mädchen zum Lachen, und ihre Mutter
stimmte ein, ermunterte sie, ließ sich tragen von den Wellen
des Lachens. Es tat gut, ihnen zuzusehen, aber ich musste
mich mit meinen Blicken zurückhalten: nicht dass sie auf
mich aufmerksam wurden und die Mutter mich womöglich
für einen perversen Widerling hielt. Ein oder zwei Mal schon
hatte sie meinen Blick bemerkt und für Bruchteile von Sekunden
erwidert, aber nie lang genug, dass ich irgendeine Art von
Einladung herauslesen konnte, schon schaute sie wieder weg,
lachte mit ihrer Tochter, und sie verschwanden gemeinsam
hinter dem Schutzschild der Intimität.
Ich hätte Stuart gerne eine SMS geschickt, aber ich hatte seine
Handynummer nicht. Ich hätte ihm schreiben wollen, dass
ich jetzt verstand, was er mir damals über Autos zu erzählen
versucht hatte. Autos sind wie wir Menschen. Tagtäglich laufen
wir umher, hasten hierhin und dorthin, verfehlen einander
nur um Zentimeter, aber haben kaum einmal wirklich Kontakt.
Alle diese Beinaheunfälle. Alle diese potenziellen Kollisionen.
Beängstigend, wenn man genauer darüber nachdenkt - man
sollte es besser bleiben lassen.
Können Sie sich daran erinnern, wo Sie an dem Tag waren,
an dem John Smith starb? Wohl eher nicht, vermutlich. Ich
könnte mir sogar vorstellen, dass kaum noch jemand weiß, wer
John Smith war. Gut, im Lauf der Jahre mögen einem viele John
Smiths untergekommen sein, aber ich meine den Vorsitzenden
der britischen Labour Party, der 1994 einem Herzanfall erlag.
Es ist mir klar, dass sein Ableben nicht die weltweite Resonanz
erfahren hat wie der Tod von JFK oder Lady Di, aber trotzdem
weiß ich ganz genau, wo ich damals war. Ich saß beim Mittagessen
in der Kantine des Kaufhauses in Ealing. Stuart war dabei
und noch zwei, drei andere, einer von ihnen eine absolute Nervensäge
namens Dave. Er arbeitete in der Elektroabteilung und
war genau die Art Mann, die ich nicht ausstehen konnte. Laut
und langweilig und viel zu sehr von sich eingenommen. Und
am Nebentisch saß, ganz allein, diese hübsche Frau, Anfang
zwanzig, mit schulterlangem hellbraunem Haar, die einsam
und fehl am Platz wirkte und immer wieder zu uns herüberschaute.
Ihr Name war (wie ich bald erfahren sollte) Caroline.
Ich arbeitete erst seit ein, zwei Monaten in diesem Kaufhaus.
Davor war ich zwei oder drei Jahre herumgereist, hatte für eine
Firma aus St Albans Spielzeug verkauft, eigentlich ein ganz
netter Job. Ich hatte mich mit Trevor Paige angefreundet, dem
anderen Vertreter für die Region Südwest, und wir hatten in
diesen zwei oder drei Jahren eine Menge Spaß miteinander,
doch nach nicht allzu langer Zeit hatte das Reisen für mich
gründlich an Reiz verloren. Ich begann, mich nach Möglichkeiten
umzusehen, mich irgendwo niederzulassen. Ich hatte
erst kürzlich eine Anzahlung auf ein nettes kleines Reihenhaus
in Watford geleistet (nicht weit von Trevors, wie es der Zufall
wollte), und jetzt hielt ich nach einer neuen Arbeitsstelle Ausschau.
Das Kaufhaus in Ealing war einer meiner regelmäßigen
Anlaufpunkte für Vertreterbesuche, und ich hatte Freundschaft
mit Stuart geschlossen, dem Leiter der Spielzeugabteilung. Die
meisten aus Geschäftsbeziehungen erwachsenen Freundschaften
behalten wohl immer etwas Künstliches, aber Stuart und
ich mochten uns wirklich, und nach einer Weile richtete ich es
möglichst so ein, dass Ealing meine letzte Anlaufstelle des Tages
war, um nach dem Verkaufsgespräch mit ihm noch einen trinken
gehen zu können. Und dann rief Stuart mich eines Abends
zu Hause an, außerhalb der Arbeitszeit, um mir zu berichten,
dass er befördert worden war, und schlug mir vor, mich für
seinen Job als Leiter der Spielzeugabteilung zu bewerben. Zuerst
zögerte ich; ich war mir nicht sicher, wie Trevor es aufnehmen
würde, aber als ich es ihm sagte, fand er es gut. Er wusste, dass
es genau das war, wonach ich gesucht hatte. Und so arbeitete
ich nur ein paar Monate später ganztags in Ealing, saß jeden
Mittag mit Stuart und seinen Kollegen in der Kantine. Damals
begann ich Notiz von der hübschen Frau mit dem hellbraunen
Haar zu nehmen, Anfang zwanzig, die offenbar jeden Tag allein
am Nebentisch aß.
Es kommt mir vor, als wäre es eine Ewigkeit her. Damals
schien noch alles möglich. Alles. Ob so ein Gefühl je wiederkommt?
Lieber nicht drüber nachdenken.
Also: John Smiths Tod. An dem Tag hatte sich ein ganzer
Trupp von uns an einem der Resopaltische zum Mittag essen
versammelt. Es war im Frühsommer 1994. Ob es an dem Tag
regnete oder die Sonne schien, weiß ich nicht, weil wir in unse-
rem trübe beleuchteten Kantinenraum nie auch nur die leiseste
Ahnung vom Wetter draußen hatten. Wir nahmen unsere Mahlzeiten
im permanenten Schummer ein. Aber an diesem Tag war
etwas anders: Dave - der unerträgliche Kerl aus der Elektroabteilung
- hatte Caroline zu uns an den Tisch geholt, zweifellos
in der Absicht, bei ihr zu landen, und es war eine Qual, es
miterleben zu müssen, weil er sich gar so dilettantisch dabei
anstellte. Nachdem er mit Schilderungen seines Sportwagens
und der supermodernen Stereoanlage in seiner schicken Junggesellenbehausung
in Hammersmith bei ihr abgeblitzt war, griff
er den Tod von John Smith auf, der am selben Morgen in den
Nachrichten gemeldet worden war, und nahm ihn zum Anlass
für eine Reihe geschmackloser Witze über Herzinfarkte. Etwa
in der Art: Die Ärzte konnten nach Smiths erstem Herzinfarkt
in den späten Achtzigern das Herz wiederbeleben, nicht aber
das Gehirn - kein Wunder also, dass man ihn an die Spitze
der Labour Party gewählt hatte. Caroline reagierte auf diese Art
Humor mit demselben verächtlichen Schweigen, mit dem sie
der Unterhaltung von Anfang an gefolgt war, und abgesehen
von ein paar lauen Lachern, die weder von Caroline noch von
mir stammten, erntete er keinerlei Reaktion, bis ich mich - zu
meiner eigenen Verwunderung - sagen hörte: »Das ist nicht
lustig, Dave. Echt nicht.« Die meisten Kollegen waren bereits
fertig mit dem Essen, und nach und nach standen alle auf und
gingen, nur Caroline und ich nicht. Keiner von uns sagte etwas,
aber wir blieben beide sitzen und ließen uns wie in stillschweigender
Übereinkunft Zeit mit unserem Nachtisch. Und so saßen
wir ein, zwei Minuten in verlegenem, irgendwie erwartungsvollem
Schweigen da, bis ich etwas betreten bemerkte, dass
Sensibilität nicht gerade eine von Daves Stärken sei, und da
hörte ich zum allerersten Mal Carolines Stimme.
Ich glaube, das war der Moment, in dem ich mich in sie
verliebte. Einfach wegen dieser Stimme. Ich hatte, passend zu
ihrem Äußeren, eine geschliffene, ultrakultivierte Sprechweise
erwartet, stattdessen bekam ich breitesten, bodenständigsten
Lancaster-Akzent zu hören. Es traf mich so unversehens - es
verzauberte mich derart -, dass ich im ersten Moment gar
nicht mitbekam, was sie sagte, und nur ihre Stimme auf mich
wirken ließ, beinahe so, als würde jemand in einer besonders
wohlklingenden Fremdsprache zu mir sprechen. Bevor ich
einen zu desaströsen Eindruck machen konnte, riss ich mich
jedoch zusammen und konzentrierte mich und bekam gerade
noch mit, dass sie wissen wollte, warum ich mich nicht an den
Scherzen beteiligt hatte. Ob ich der Labour Party nahestehe,
fragte sie, und ich antwortete, nein, damit habe es nichts zu
tun. Ich hielt es einfach nicht für richtig, sagte ich, Witze über
einen frisch Verstorbenen zu machen, schon gar nicht über
einen anständigen Mann, der Frau und Kinder hinterließ. Caroline
sah das genauso, aber sie schien noch aus einem anderen
Grund traurig über seinen Tod zu sein: Er komme zur absoluten
Unzeit für die britische Politik, meinte sie, denn John Smith
hätte wahrscheinlich die nächste Wahl gewonnen und wäre
ein hervorragender Premierminister geworden.
Ich muss gestehen, dass dieses Gespräch nicht gerade typisch
für unsere Kantine war, und schon gar nicht für die Gespräche,
die ich normalerweise dort führte. Ich habe mich nie besonders
für Politik interessiert. (An den beiden letzten Wahlen habe ich
mich gar nicht mehr beteiligt, und Tony Blair habe ich 1997 nur
gewählt, weil ich glaubte, dass Caroline es von mir erwartete.)
Und als ich gleich darauf erfuhr, dass Caroline nur als Teilzeitkraft
in der Umstandsmodenabteilung arbeitete und gerade
begonnen hatte, ihren ersten Roman zu schreiben, fühlte ich
mich erst recht überfordert. Ich lese so gut wie nie Bücher und
versuche schon gar nicht, welche zu schreiben. Aber irgendwie
machte mich das nur noch neugieriger. Ich wurde nicht
richtig schlau aus Caroline, das war es. Nachdem ich Jahre
damit verbracht hatte, herumzureisen und die Leute zu überfallen,
um ihnen meine neue Ware anzudrehen, war ich leid-
lich überzeugt von meiner Fähigkeit, andere einzuschätzen, in
Sekundenschnelle erkennen zu können, was in ihnen vorging.
Aber mit Menschen wie Caroline hatte ich es noch nicht oft
zu tun bekommen. Ich war auf keiner Universität gewesen (sie
hatte in Manchester Geschichte studiert) und hatte die meiste
Zeit meines Erwachsenenlebens in Gesellschaft von Männern
verbracht - Geschäftsleuten noch dazu. Die Art Menschen, die
nicht viel von sich erzählen und dazu tendieren, sich mit dem
Status quo abzufinden. Damit verglichen war Caroline für mich
eine unbekannte Größe. Schon wie sie an diesen Job gekommen
sein mochte, war mir ein Rätsel.
Sie erklärte es mir bei unserem ersten Date, und eine lustige
Geschichte war es nicht. Wir saßen in einer Filiale des Spaghetti
House (einer meiner Lieblingsketten zu der Zeit, auch
wenn sie heute eher dünn gesät sind), und während Caroline in
ihren Tagliatelle à la Carbonara stocherte, erzählte sie mir, dass
sie während ihres Studiums in Manchester ihre große Liebe
kennengelernt hatte, einen Englischstudenten im gleichen
Jahr. Dieser hatte dann einen Job bei einer Londoner Fernseh-
Produktionsfirma bekommen, und sie waren zusammen hierhergezogen
und hatten sich eine Wohnung in Ealing gesucht.
Carolines Traum bestand darin, Bücher zu schreiben - Romane
und Kurzgeschichten -, deshalb hatte sie diese Teilzeitstelle
als Verkäuferin angenommen, um sich an den Abenden und
Wochenenden ihrer Schreiberei widmen zu können. Unterdessen
hatte ihr Freund mit einer Kollegin in der Produktionsfirma
angebändelt, sich über beide Ohren in sie verliebt, und nach
nur ein paar Wochen saß Caroline allein und verlassen in einer
Stadt, in der sie niemanden kannte, mit einer Arbeit, die ihr
keinen Spaß machte.
Muss ich noch mehr sagen? Es war die alte Geschichte: Sie
versuchte sich über eine Enttäuschung hinwegzutrösten. Sie
mochte mich, weil ich nett zu ihr war und weil sie mich auf
einem Tiefpunkt kennengelernt hatte, und wohl auch deshalb,
weil ich nicht ganz so grob und unsensibel war wie die anderen
Jungs in der Kantine. Trotzdem konnte es keinen Zweifel
geben, dass ich eigentlich nicht in ihrer Liga spielte. Erstaunlich
eigentlich, dass wir so lange zusammenblieben. Aber niemand
kann in die Zukunft schauen. Es fällt mir ja schon schwer, die
nächsten vierzehn Tage vorherzusehen, geschweige denn fünfzehn
Jahre. Damals waren wir jung und naiv, und am Ende des
Abends im Spaghetti House, als ich sie fragte, ob sie nicht Lust
hätte, am Wochenende mit mir aufs Land zu fahren, hatten wir
beide nicht die leiseste Ahnung, was daraus werden würde, und
das Einzige, woran ich mich erinnere, ist das dankbare Leuchten
in ihren Augen, als sie meinem Vorschlag zustimmte.
Das war vor fünfzehn Jahren. Sind fünfzehn Jahre viel Zeit
oder wenig? Ich nehme an, das ist relativ. Verglichen mit der
Geschichte der Menschheit sind fünfzehn Jahre nicht einmal ein
Wimpernschlag, und trotzdem kommt es mir so vor, als sei es ein
sehr langer Weg gewesen von diesem ersten Date im Spaghetti
House mit seinen Hoffnungen und seiner Aufbruchsstimmung
bis zu dem Abend vor ein paar Monaten, dem 14. Februar 2009,
als ich (mit achtundvierzig Jahren) allein in einem Restaurant
in Australien saß, hinter mir die glitzernden Hafenlichter, und
den Blick nicht von der schönen Chinesin und ihrer Tochter
wenden konnte, die an ihrem Tisch Karten spielten. Da hatte sich
Caroline bereits verabschiedet, das heißt, gegangen war sie ohne
Abschied. Seit sechs Monaten war sie weg, und unsere Tochter
Lucy hatte sie mitgenommen. Sie waren in den Norden gezogen,
nach Kendal im Lake District. Was mochte es gewesen sein, das
sie letztlich aus dem Haus getrieben hatte? Einfach nur das langsame
Anwachsen der Enttäuschung, vermute ich. Abgesehen
von Lucys Geburt hatte sich in den letzten fünfzehn Jahren keine
von Carolines Hoffnungen erfüllt. Der große Roman war ungeschrieben
geblieben. Soviel ich weiß, hat sie nicht eine einzige
Kurzgeschichte zu Ende gebracht. Lucys Ankunft hatte ihr einen
dicken Strich durch all ihre Pläne gemacht. Die Mutterschaft ist
wohl doch ein anspruchsvoller Job. Natürlich verstand ich nicht,
weshalb die Ehe mit mir sie davon abgehalten haben sollte, auch
nur eine Zeile zu schreiben, wenn es ihr solch ein Anliegen war.
Vielleicht (und es schmerzt, sich das einzugestehen) schämte
sich Caroline tief in ihrem Inneren für mich. Für mich und meine
Stellung, um es genauer zu sagen. Ich war inzwischen zu einem
der größten Kaufhäuser im Zentrum Londons gewechselt, wo
ich als Beauftragter für die Nachkaufbetreuung arbeitete. Meiner
Ansicht nach ein ausgezeichneter Job. Aber vielleicht gab es
etwas in ihr, das ihr sagte, der Ehemann einer ambitionierten
Schriftstellerin sollte etwas mehr ... tja, was eigentlich ... von
einem Künstler? ... einem Intellektuellen? haben. Man sollte
meinen, dass wir über solche Dinge geredet hätten, aber das
Traurigste an unserer Ehe war zum Schluss der völlige Mangel
an Kommunikation. Wir schienen verlernt zu haben, miteinander
zu reden, außer in Form feindseligen Gebrülls, gefolgt von
kränkenden Schmähungen und fliegenden Haushaltsgegenständen.
Ich will hier nicht alle Einzelheiten wiedergeben, aber ich
erinnere mich noch gut an einen unserer Wortwechsel beim
vorletzten Krach, oder war es der davor? Auslöser war ein Disput
darüber, ob man die rostfreie Stahlplatte unseres Herds besser
mit einem groben Topfkratzer oder einem weichen Schwamm
reinigte, und keine dreißig Sekunden später hörte ich mich zu
Caroline sagen: »Du liebst mich nicht mehr.« Als sie dem nicht
widersprach, sagte ich: »Manchmal glaube ich, dass du mich
nicht mal besonders magst«, und was bekam ich zur Antwort?
»Wie kann man jemanden mögen, der sich selbst nicht mag.«
Tja, solange sie in Rätseln sprach, kamen wir natürlich nicht
weiter.
Die Chinesin und ihre Tochter blieben lange in dem Restaurant,
bis gegen halb elf, was mich angesichts des Alters der Tochter
doch etwas verwunderte. Sie waren längst mit dem Essen fertig,
allein das Kartenspiel hielt sie noch an ihrem Platz. Die meisten
Tische waren leer, und auch für mich wurde es langsam
Zeit, in die Wohnung meines Vaters zurückzukehren. Es gab
noch ein paar Dinge mit ihm zu besprechen, ehe ich am Nachmittag
des nächsten Tages meinen Rückflug antrat. Bevor ich
aufbrach, musste ich noch mal pinkeln, also stand ich auf und
ging hinunter in den Keller zur Herrentoilette.
Ich uriniere nicht gern im Stehen. Fragen Sie mich nicht,
warum. Vielleicht hatte ich als kleiner Junge ein traumatisches
Erlebnis, eine sexuelle Belästigung auf einer öffentlichen Toilette
oder so was Ähnliches, wer weiß das schon. Jedenfalls
mag ich nicht im Stehen pinkeln, auch dann nicht, wenn ich
allein auf der Herrentoilette bin, denn es könnte ja schließlich
jemand hereinkommen, wenn ich noch nicht fertig bin, und
dann müsste ich mitten im vollen Strahl abbrechen, den Hahn
zudrehen und, fast rasend vor Ärger und Verlegenheit, mit halb
voller Blase aus der Toilette stürmen. Ich setzte mich also in
eine der Kabinen, traf die üblichen Vorkehrungen: wischte die
Brille mit Toilettenpapier ab und so weiter - und dann traf sie
mich wie ein Keulenschlag: die Einsamkeit. Ich saß hier im
Untergrund in einem winzigen Kabuff, Zehntausende Meilen
weit weg von zu Hause. Wenn mich auf dieser Kloschüssel
nun ein Herzinfarkt ereilte? Wahrscheinlich würde mich kurz
vor Lokalschluss jemand vom Personal finden. Man würde die
Polizei rufen, einen Blick in meinen Pass und auf die Kreditkarten
werfen, und über irgendwelche internationale Datenbanken,
davon bin ich überzeugt, ließe sich eine Verbindung
zu Dad und Caroline herstellen, und man würde sie anrufen,
um es ihnen mitzuteilen. Wie würde Caroline die Nachricht
aufnehmen? Zuerst wäre sie sicher ziemlich bestürzt, aber wie
tief würde es wirklich gehen? Ich spielte in ihrem Leben längst
keine große Rolle mehr. Lucy würde es natürlich etwas härter
treffen, aber auch sie entfernte sich immer mehr von mir: Seit
über einem Monat hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Und
sonst? Möglich, dass mein Tod die eine oder andere Gefühlsregung
bei Freunden oder Arbeitskollegen auslösen würde, aber
sicher nichts Größeres. Meinen alten Schulfreund Chris würden
eventuell ... na ja, vielleicht ein paar Anwandlungen der Trauer
darüber anfliegen, dass wir uns fremd geworden waren und seit
so langer Zeit nicht mehr gesehen hatten. Trevor Paige würde
traurig sein, ehrlich traurig. Und auch Janice, seine Frau. Aber
darüber hinaus würde mein Ableben keine großen Wellen schlagen.
Ein inaktiv gewordener Facebook-Account - aber würde
es überhaupt irgendeiner meiner Facebook-Freunde merken?
Ich bezweifelte es. Ich war jetzt allein auf der Welt, mutterseelenallein.
Am nächsten Tag würde ich nach Hause fliegen,
und wenn ich wieder da war, wartete niemand auf mich, nur
eine unbewohnte, mit Ikea-Möbeln vollgestellte Wohnung und
die Rechnungen, Kontoauszüge und Pizzaservice-Prospekte
von drei Wochen. Und jetzt saß ich hier, wie gesagt, allein
unter der Erde in einem kleinen Holzkasten im Keller eines
Restaurants am Hafen von Sydney, und oben, wenige Meter
über meinem Kopf, waren zwei Menschen, die - so allein sie
in anderer Hinsicht sein mochten auf dieser Welt - wenigstens
einander hatten, wenigstens miteinander verbunden waren,
mit einer Stärke und Intensität, die jeder, der Augen im Kopf
hatte, auf den ersten Blick erkennen musste. Darum beneidete
ich sie von ganzem Herzen. Der Gedanke daran erfüllte mich
mit dem plötzlichen, unbezwingbaren Verlangen, die schöne
Chinesin und ihre schöne Tochter, die einander so lieb hatten,
kennenzulernen. Auf einmal erschien mir die Vorstellung
unerträglich, das Restaurant zu verlassen, ohne wenigstens den
Versuch gemacht zu haben, mich ihnen vorzustellen - ihnen
zu Bewusstsein zu bringen, dass es mich gab.
Und was noch erstaunlicher war: Je mehr ich darüber nachdachte,
desto klarer wurde mir, dass es keinen Grund gab, den
Gedanken nicht in die Tat umzusetzen. Warum zögerte ich
noch? Wenn ich mich auf etwas verstand, dann auf so etwas.
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Als ich die Chinesin und ihre Tochter beim Kartenspielen sah,
an diesem Tisch im Restaurant, hinter dem das Wasser und
die Lichter des Hafens von Sydney glitzerten, musste ich an
Stuart denken, und daran, warum er das Autofahren aufgegeben
hatte.
An »meinen Freund Stuart«, hätte ich fast gesagt, aber ich
vermute, das entspricht nicht mehr den Tatsachen. Ich scheine
in den letzten Jahren eine Reihe von Freunden verloren zu
haben. Was nicht heißt, dass ich mich auf dramatische Weise
mit ihnen zerstritten hätte. Wir haben einfach beschlossen,
den Kontakt einschlafen zu lassen. Und es muss ein Entschluss
gewesen sein, eine bewusste Entscheidung, denn schließlich ist
es heutzutage bei der Vielfalt der sich bietenden Möglichkeiten
kein Problem mehr, in Kontakt zu bleiben. Aber je älter man
wird, desto zweckloser beginnen manche Freundschaften sich
anzufühlen. Bis man sich irgendwann fragt: »Wozu eigentlich
noch?« Und dann lässt man es bleiben.
Aber zurück zu Stuart und seiner Autofahrerei. Es waren
die Panikattacken, die ihn zum Aufhören zwangen. Er war ein
guter Autofahrer, achtsam und umsichtig, nie in einen Unfall
verwickelt. Aber ab und zu bekam er eben am Steuer diese
Panikattacken, und mit der Zeit wurden sie heftiger, und sie
häuften sich. Ich weiß noch, wann er mir zum ersten Mal
davon erzählte: während der Mittagspause, in der Kantine des
Kaufhauses in Ealing, in dem wir beide seit ein oder zwei Jahren
arbeiteten. Ich glaube nicht, dass ich ihm sehr aufmerksam
zugehört habe, denn Caroline saß mit uns am Tisch, und
zwischen uns begann es gerade interessant zu werden - da
waren Geschichten über Stuarts Autofahrneurose so ziemlich
das Letzte, was mich interessierte. Aus demselben Grund habe
ich wahrscheinlich auch danach kaum mehr einen Gedanken
daran verschwendet; erst Jahre später, in diesem Restaurant
in Sydney, erinnerte ich mich auf einmal wieder an alles. Sein
Problem war Folgendes gewesen: Während die meisten Menschen
das Hin und Her der Autos auf einer belebten Straße
als einen normalen, ordentlich funktionierenden Verkehrsfluss
wahrnahmen, erschien es Stuart wie eine endlose Abfolge
haarscharf vermiedener Zusammenstöße. Er sah die Autos mit
hoher Geschwindigkeit aufeinander zurasen und sich nur um
Zentimeter verfehlen - ein ums andere Mal, alle paar Sekunden,
den ganzen Tag lang. »Diese ganzen Autos«, sagte er zu mir,
»die alle immer so haarscharf aneinander vorbeischlittern, wie
soll man das nur ertragen?« Am Ende ertrug er es nicht mehr,
und aus war es mit dem Autofahren.
Warum mir dieses Gespräch ausgerechnet an diesem Abend
wieder einfiel? Es war der 14. Februar 2009. Der zweite Samstag
im Februar. Valentinstag, um es deutlich zu sagen. Hinter mir
flimmerten die Hafenlichter auf dem Wasser, und ich musste
allein essen, weil mein Vater sich aus Gründen, die nur ihm
bekannt waren, geweigert hatte, mich zu begleiten, obwohl es
mein letzter Abend in Australien war und ich ja eigens dorthin
gekommen war, um ihn zu besuchen und eine neue Beziehung
zu ihm aufzubauen. Es muss einer der einsamsten Momente in
meinem Leben gewesen sein, und der Anblick der Chinesin, die
an dem Tisch mit ihrer Tochter Karten spielte, brachte es mir
erst so richtig zu Bewusstsein. Die beiden wirkten so glücklich
zusammen. Sie waren einander so nah. Sie sprachen kaum, und
wenn, dann ging es - soweit ich das beurteilen konnte - um
ihre Karten, aber das war gar nicht so wichtig. Man brauchte
nur ihre Blicke zu sehen, ihr Lächeln, die Art, wie sie immer
wieder lachten, die Köpfe zusammensteckten. Verglichen mit
ihnen schien sich von den Gästen an den anderen Tischen
keiner so recht zu amüsieren. Sicher, dort wurde auch geredet
und gelacht. Aber niemand war auch nur annähernd so ein
Herz und eine Seele wie die Chinesin und ihre Tochter. Mir
gegenüber saß ein Paar, das sich offensichtlich bei einem Date
befand: Er sah ständig auf die Uhr, sie überprüfte alle paar Augenblicke
ihr Handy nach neuen Textnachrichten. Hinter mir saß
eine vierköpfige Familie, die beiden kleinen Jungen spielten
mit ihren Nintendo-DS-Konsolen, die Eltern hatten seit zehn
Minuten kein Wort mehr miteinander gewechselt. Zur Linken
versperrte mir eine Gruppe von sechs Freunden teilweise den
Ausblick auf den Hafen: Zwei von ihnen führten eine hitzige
Auseinandersetzung, die als Diskussion um globale Erwärmung
begonnen hatte, sich inzwischen aber mehr um wirtschaftliche
Themen zu drehen schien; keiner der beiden gab auch nur einen
Zentimeter nach, während die anderen vier schweigend dabeisaßen
und gelangweilt Löcher in die Luft guckten. Ein älteres
Paar auf der anderen Seite hatte sich gleich nebeneinander und
nicht einander gegenüber gesetzt, um statt zu reden einfach die
Aussicht genießen zu können. Nichts davon deprimierte mich
sonderlich; auch wenn ich meine Hand dafür ins Feuer gelegt
hätte, dass alle diese Menschen in dem Bewusstsein heimgehen
würden, einen wunderbaren Abend verlebt zu haben. Einzig die
Chinesin und ihre Tochter beneidete ich, und zwar, weil sie ganz
eindeutig etwas Kostbares besaßen: etwas, das mir schmerzhaft
fehlte. Etwas, an dem ich teilhaben wollte.
Woher ich wusste, dass sie eine Chinesin war? Natürlich
wusste ich es nicht mit Sicherheit. Aber sie kam mir chinesisch
vor. Sie hatte langes schwarzes Haar, leicht ungebärdig, ungekämmt.
Ein schmales Gesicht mit hervortretenden Wangenknochen.
(Ich fürchte, ich bin nicht sehr gut darin, Menschen
zu beschreiben - tut mir leid.) Knallroter Lippenstift, ein etwas
eigenwilliger Akzent. Das hübsche Lächeln eine Spur schmallippig
und gerade deshalb irgendwie umso lebhafter. Sie war
teuer angezogen und trug eine Art schwarzen Chiffonschal
(auch mit meinem Talent im Beschreiben von Garderoben
ist es nicht weit her - freuen Sie sich schon auf die nächsten
vierhundert Seiten?), der von einer großen goldenen Brosche
zusammengehalten wurde. Sie war also das, was man wohl »gut
situiert« nennt. Elegant - das würde es treffen. Ausgesprochen
elegant. Auch ihre Tochter war gut gekleidet, auch sie hatte
schwarzes Haar (nun ja, wann trifft man schon mal blonde
Chinesinnen?) und ich schätzte sie auf etwa acht oder neun.
Sie hatte ein ganz besonderes Lachen: Es begann als kehliges
Kichern, aus dem gluckernde Laute hervorsprudelten, sich zur
Kaskade steigerten und dann verloren wie ein Bach, der sich
einen Berghang herab in eine Reihe von Teichen ergießt. (Wie
die Teiche auf der Rückseite des Rose and Crown Pub am Rand
des Golfplatzes, an denen Mum und ich immer vorbeikamen,
wenn wir auf den Lickey Hills spazieren gingen. Daran erinnerte
mich dieses Lachen - auch das sicher einer der Gründe,
warum das Mädchen und ihre Mutter an diesem Abend einen
solchen Eindruck auf mich machten.) Ich weiß nicht, was sie
so zum Lachen brachte, es schien mit dem Kartenspiel zu tun
zu haben, kein albernes Kinderspiel wie Schnippschnapp, aber
auch nichts sonderlich Ernsthaftes und Erwachsenes. Vielleicht
war es Knockout-Whist, etwas in der Art. Was auch immer, es
brachte das kleine Mädchen zum Lachen, und ihre Mutter
stimmte ein, ermunterte sie, ließ sich tragen von den Wellen
des Lachens. Es tat gut, ihnen zuzusehen, aber ich musste
mich mit meinen Blicken zurückhalten: nicht dass sie auf
mich aufmerksam wurden und die Mutter mich womöglich
für einen perversen Widerling hielt. Ein oder zwei Mal schon
hatte sie meinen Blick bemerkt und für Bruchteile von Sekunden
erwidert, aber nie lang genug, dass ich irgendeine Art von
Einladung herauslesen konnte, schon schaute sie wieder weg,
lachte mit ihrer Tochter, und sie verschwanden gemeinsam
hinter dem Schutzschild der Intimität.
Ich hätte Stuart gerne eine SMS geschickt, aber ich hatte seine
Handynummer nicht. Ich hätte ihm schreiben wollen, dass
ich jetzt verstand, was er mir damals über Autos zu erzählen
versucht hatte. Autos sind wie wir Menschen. Tagtäglich laufen
wir umher, hasten hierhin und dorthin, verfehlen einander
nur um Zentimeter, aber haben kaum einmal wirklich Kontakt.
Alle diese Beinaheunfälle. Alle diese potenziellen Kollisionen.
Beängstigend, wenn man genauer darüber nachdenkt - man
sollte es besser bleiben lassen.
Können Sie sich daran erinnern, wo Sie an dem Tag waren,
an dem John Smith starb? Wohl eher nicht, vermutlich. Ich
könnte mir sogar vorstellen, dass kaum noch jemand weiß, wer
John Smith war. Gut, im Lauf der Jahre mögen einem viele John
Smiths untergekommen sein, aber ich meine den Vorsitzenden
der britischen Labour Party, der 1994 einem Herzanfall erlag.
Es ist mir klar, dass sein Ableben nicht die weltweite Resonanz
erfahren hat wie der Tod von JFK oder Lady Di, aber trotzdem
weiß ich ganz genau, wo ich damals war. Ich saß beim Mittagessen
in der Kantine des Kaufhauses in Ealing. Stuart war dabei
und noch zwei, drei andere, einer von ihnen eine absolute Nervensäge
namens Dave. Er arbeitete in der Elektroabteilung und
war genau die Art Mann, die ich nicht ausstehen konnte. Laut
und langweilig und viel zu sehr von sich eingenommen. Und
am Nebentisch saß, ganz allein, diese hübsche Frau, Anfang
zwanzig, mit schulterlangem hellbraunem Haar, die einsam
und fehl am Platz wirkte und immer wieder zu uns herüberschaute.
Ihr Name war (wie ich bald erfahren sollte) Caroline.
Ich arbeitete erst seit ein, zwei Monaten in diesem Kaufhaus.
Davor war ich zwei oder drei Jahre herumgereist, hatte für eine
Firma aus St Albans Spielzeug verkauft, eigentlich ein ganz
netter Job. Ich hatte mich mit Trevor Paige angefreundet, dem
anderen Vertreter für die Region Südwest, und wir hatten in
diesen zwei oder drei Jahren eine Menge Spaß miteinander,
doch nach nicht allzu langer Zeit hatte das Reisen für mich
gründlich an Reiz verloren. Ich begann, mich nach Möglichkeiten
umzusehen, mich irgendwo niederzulassen. Ich hatte
erst kürzlich eine Anzahlung auf ein nettes kleines Reihenhaus
in Watford geleistet (nicht weit von Trevors, wie es der Zufall
wollte), und jetzt hielt ich nach einer neuen Arbeitsstelle Ausschau.
Das Kaufhaus in Ealing war einer meiner regelmäßigen
Anlaufpunkte für Vertreterbesuche, und ich hatte Freundschaft
mit Stuart geschlossen, dem Leiter der Spielzeugabteilung. Die
meisten aus Geschäftsbeziehungen erwachsenen Freundschaften
behalten wohl immer etwas Künstliches, aber Stuart und
ich mochten uns wirklich, und nach einer Weile richtete ich es
möglichst so ein, dass Ealing meine letzte Anlaufstelle des Tages
war, um nach dem Verkaufsgespräch mit ihm noch einen trinken
gehen zu können. Und dann rief Stuart mich eines Abends
zu Hause an, außerhalb der Arbeitszeit, um mir zu berichten,
dass er befördert worden war, und schlug mir vor, mich für
seinen Job als Leiter der Spielzeugabteilung zu bewerben. Zuerst
zögerte ich; ich war mir nicht sicher, wie Trevor es aufnehmen
würde, aber als ich es ihm sagte, fand er es gut. Er wusste, dass
es genau das war, wonach ich gesucht hatte. Und so arbeitete
ich nur ein paar Monate später ganztags in Ealing, saß jeden
Mittag mit Stuart und seinen Kollegen in der Kantine. Damals
begann ich Notiz von der hübschen Frau mit dem hellbraunen
Haar zu nehmen, Anfang zwanzig, die offenbar jeden Tag allein
am Nebentisch aß.
Es kommt mir vor, als wäre es eine Ewigkeit her. Damals
schien noch alles möglich. Alles. Ob so ein Gefühl je wiederkommt?
Lieber nicht drüber nachdenken.
Also: John Smiths Tod. An dem Tag hatte sich ein ganzer
Trupp von uns an einem der Resopaltische zum Mittag essen
versammelt. Es war im Frühsommer 1994. Ob es an dem Tag
regnete oder die Sonne schien, weiß ich nicht, weil wir in unse-
rem trübe beleuchteten Kantinenraum nie auch nur die leiseste
Ahnung vom Wetter draußen hatten. Wir nahmen unsere Mahlzeiten
im permanenten Schummer ein. Aber an diesem Tag war
etwas anders: Dave - der unerträgliche Kerl aus der Elektroabteilung
- hatte Caroline zu uns an den Tisch geholt, zweifellos
in der Absicht, bei ihr zu landen, und es war eine Qual, es
miterleben zu müssen, weil er sich gar so dilettantisch dabei
anstellte. Nachdem er mit Schilderungen seines Sportwagens
und der supermodernen Stereoanlage in seiner schicken Junggesellenbehausung
in Hammersmith bei ihr abgeblitzt war, griff
er den Tod von John Smith auf, der am selben Morgen in den
Nachrichten gemeldet worden war, und nahm ihn zum Anlass
für eine Reihe geschmackloser Witze über Herzinfarkte. Etwa
in der Art: Die Ärzte konnten nach Smiths erstem Herzinfarkt
in den späten Achtzigern das Herz wiederbeleben, nicht aber
das Gehirn - kein Wunder also, dass man ihn an die Spitze
der Labour Party gewählt hatte. Caroline reagierte auf diese Art
Humor mit demselben verächtlichen Schweigen, mit dem sie
der Unterhaltung von Anfang an gefolgt war, und abgesehen
von ein paar lauen Lachern, die weder von Caroline noch von
mir stammten, erntete er keinerlei Reaktion, bis ich mich - zu
meiner eigenen Verwunderung - sagen hörte: »Das ist nicht
lustig, Dave. Echt nicht.« Die meisten Kollegen waren bereits
fertig mit dem Essen, und nach und nach standen alle auf und
gingen, nur Caroline und ich nicht. Keiner von uns sagte etwas,
aber wir blieben beide sitzen und ließen uns wie in stillschweigender
Übereinkunft Zeit mit unserem Nachtisch. Und so saßen
wir ein, zwei Minuten in verlegenem, irgendwie erwartungsvollem
Schweigen da, bis ich etwas betreten bemerkte, dass
Sensibilität nicht gerade eine von Daves Stärken sei, und da
hörte ich zum allerersten Mal Carolines Stimme.
Ich glaube, das war der Moment, in dem ich mich in sie
verliebte. Einfach wegen dieser Stimme. Ich hatte, passend zu
ihrem Äußeren, eine geschliffene, ultrakultivierte Sprechweise
erwartet, stattdessen bekam ich breitesten, bodenständigsten
Lancaster-Akzent zu hören. Es traf mich so unversehens - es
verzauberte mich derart -, dass ich im ersten Moment gar
nicht mitbekam, was sie sagte, und nur ihre Stimme auf mich
wirken ließ, beinahe so, als würde jemand in einer besonders
wohlklingenden Fremdsprache zu mir sprechen. Bevor ich
einen zu desaströsen Eindruck machen konnte, riss ich mich
jedoch zusammen und konzentrierte mich und bekam gerade
noch mit, dass sie wissen wollte, warum ich mich nicht an den
Scherzen beteiligt hatte. Ob ich der Labour Party nahestehe,
fragte sie, und ich antwortete, nein, damit habe es nichts zu
tun. Ich hielt es einfach nicht für richtig, sagte ich, Witze über
einen frisch Verstorbenen zu machen, schon gar nicht über
einen anständigen Mann, der Frau und Kinder hinterließ. Caroline
sah das genauso, aber sie schien noch aus einem anderen
Grund traurig über seinen Tod zu sein: Er komme zur absoluten
Unzeit für die britische Politik, meinte sie, denn John Smith
hätte wahrscheinlich die nächste Wahl gewonnen und wäre
ein hervorragender Premierminister geworden.
Ich muss gestehen, dass dieses Gespräch nicht gerade typisch
für unsere Kantine war, und schon gar nicht für die Gespräche,
die ich normalerweise dort führte. Ich habe mich nie besonders
für Politik interessiert. (An den beiden letzten Wahlen habe ich
mich gar nicht mehr beteiligt, und Tony Blair habe ich 1997 nur
gewählt, weil ich glaubte, dass Caroline es von mir erwartete.)
Und als ich gleich darauf erfuhr, dass Caroline nur als Teilzeitkraft
in der Umstandsmodenabteilung arbeitete und gerade
begonnen hatte, ihren ersten Roman zu schreiben, fühlte ich
mich erst recht überfordert. Ich lese so gut wie nie Bücher und
versuche schon gar nicht, welche zu schreiben. Aber irgendwie
machte mich das nur noch neugieriger. Ich wurde nicht
richtig schlau aus Caroline, das war es. Nachdem ich Jahre
damit verbracht hatte, herumzureisen und die Leute zu überfallen,
um ihnen meine neue Ware anzudrehen, war ich leid-
lich überzeugt von meiner Fähigkeit, andere einzuschätzen, in
Sekundenschnelle erkennen zu können, was in ihnen vorging.
Aber mit Menschen wie Caroline hatte ich es noch nicht oft
zu tun bekommen. Ich war auf keiner Universität gewesen (sie
hatte in Manchester Geschichte studiert) und hatte die meiste
Zeit meines Erwachsenenlebens in Gesellschaft von Männern
verbracht - Geschäftsleuten noch dazu. Die Art Menschen, die
nicht viel von sich erzählen und dazu tendieren, sich mit dem
Status quo abzufinden. Damit verglichen war Caroline für mich
eine unbekannte Größe. Schon wie sie an diesen Job gekommen
sein mochte, war mir ein Rätsel.
Sie erklärte es mir bei unserem ersten Date, und eine lustige
Geschichte war es nicht. Wir saßen in einer Filiale des Spaghetti
House (einer meiner Lieblingsketten zu der Zeit, auch
wenn sie heute eher dünn gesät sind), und während Caroline in
ihren Tagliatelle à la Carbonara stocherte, erzählte sie mir, dass
sie während ihres Studiums in Manchester ihre große Liebe
kennengelernt hatte, einen Englischstudenten im gleichen
Jahr. Dieser hatte dann einen Job bei einer Londoner Fernseh-
Produktionsfirma bekommen, und sie waren zusammen hierhergezogen
und hatten sich eine Wohnung in Ealing gesucht.
Carolines Traum bestand darin, Bücher zu schreiben - Romane
und Kurzgeschichten -, deshalb hatte sie diese Teilzeitstelle
als Verkäuferin angenommen, um sich an den Abenden und
Wochenenden ihrer Schreiberei widmen zu können. Unterdessen
hatte ihr Freund mit einer Kollegin in der Produktionsfirma
angebändelt, sich über beide Ohren in sie verliebt, und nach
nur ein paar Wochen saß Caroline allein und verlassen in einer
Stadt, in der sie niemanden kannte, mit einer Arbeit, die ihr
keinen Spaß machte.
Muss ich noch mehr sagen? Es war die alte Geschichte: Sie
versuchte sich über eine Enttäuschung hinwegzutrösten. Sie
mochte mich, weil ich nett zu ihr war und weil sie mich auf
einem Tiefpunkt kennengelernt hatte, und wohl auch deshalb,
weil ich nicht ganz so grob und unsensibel war wie die anderen
Jungs in der Kantine. Trotzdem konnte es keinen Zweifel
geben, dass ich eigentlich nicht in ihrer Liga spielte. Erstaunlich
eigentlich, dass wir so lange zusammenblieben. Aber niemand
kann in die Zukunft schauen. Es fällt mir ja schon schwer, die
nächsten vierzehn Tage vorherzusehen, geschweige denn fünfzehn
Jahre. Damals waren wir jung und naiv, und am Ende des
Abends im Spaghetti House, als ich sie fragte, ob sie nicht Lust
hätte, am Wochenende mit mir aufs Land zu fahren, hatten wir
beide nicht die leiseste Ahnung, was daraus werden würde, und
das Einzige, woran ich mich erinnere, ist das dankbare Leuchten
in ihren Augen, als sie meinem Vorschlag zustimmte.
Das war vor fünfzehn Jahren. Sind fünfzehn Jahre viel Zeit
oder wenig? Ich nehme an, das ist relativ. Verglichen mit der
Geschichte der Menschheit sind fünfzehn Jahre nicht einmal ein
Wimpernschlag, und trotzdem kommt es mir so vor, als sei es ein
sehr langer Weg gewesen von diesem ersten Date im Spaghetti
House mit seinen Hoffnungen und seiner Aufbruchsstimmung
bis zu dem Abend vor ein paar Monaten, dem 14. Februar 2009,
als ich (mit achtundvierzig Jahren) allein in einem Restaurant
in Australien saß, hinter mir die glitzernden Hafenlichter, und
den Blick nicht von der schönen Chinesin und ihrer Tochter
wenden konnte, die an ihrem Tisch Karten spielten. Da hatte sich
Caroline bereits verabschiedet, das heißt, gegangen war sie ohne
Abschied. Seit sechs Monaten war sie weg, und unsere Tochter
Lucy hatte sie mitgenommen. Sie waren in den Norden gezogen,
nach Kendal im Lake District. Was mochte es gewesen sein, das
sie letztlich aus dem Haus getrieben hatte? Einfach nur das langsame
Anwachsen der Enttäuschung, vermute ich. Abgesehen
von Lucys Geburt hatte sich in den letzten fünfzehn Jahren keine
von Carolines Hoffnungen erfüllt. Der große Roman war ungeschrieben
geblieben. Soviel ich weiß, hat sie nicht eine einzige
Kurzgeschichte zu Ende gebracht. Lucys Ankunft hatte ihr einen
dicken Strich durch all ihre Pläne gemacht. Die Mutterschaft ist
wohl doch ein anspruchsvoller Job. Natürlich verstand ich nicht,
weshalb die Ehe mit mir sie davon abgehalten haben sollte, auch
nur eine Zeile zu schreiben, wenn es ihr solch ein Anliegen war.
Vielleicht (und es schmerzt, sich das einzugestehen) schämte
sich Caroline tief in ihrem Inneren für mich. Für mich und meine
Stellung, um es genauer zu sagen. Ich war inzwischen zu einem
der größten Kaufhäuser im Zentrum Londons gewechselt, wo
ich als Beauftragter für die Nachkaufbetreuung arbeitete. Meiner
Ansicht nach ein ausgezeichneter Job. Aber vielleicht gab es
etwas in ihr, das ihr sagte, der Ehemann einer ambitionierten
Schriftstellerin sollte etwas mehr ... tja, was eigentlich ... von
einem Künstler? ... einem Intellektuellen? haben. Man sollte
meinen, dass wir über solche Dinge geredet hätten, aber das
Traurigste an unserer Ehe war zum Schluss der völlige Mangel
an Kommunikation. Wir schienen verlernt zu haben, miteinander
zu reden, außer in Form feindseligen Gebrülls, gefolgt von
kränkenden Schmähungen und fliegenden Haushaltsgegenständen.
Ich will hier nicht alle Einzelheiten wiedergeben, aber ich
erinnere mich noch gut an einen unserer Wortwechsel beim
vorletzten Krach, oder war es der davor? Auslöser war ein Disput
darüber, ob man die rostfreie Stahlplatte unseres Herds besser
mit einem groben Topfkratzer oder einem weichen Schwamm
reinigte, und keine dreißig Sekunden später hörte ich mich zu
Caroline sagen: »Du liebst mich nicht mehr.« Als sie dem nicht
widersprach, sagte ich: »Manchmal glaube ich, dass du mich
nicht mal besonders magst«, und was bekam ich zur Antwort?
»Wie kann man jemanden mögen, der sich selbst nicht mag.«
Tja, solange sie in Rätseln sprach, kamen wir natürlich nicht
weiter.
Die Chinesin und ihre Tochter blieben lange in dem Restaurant,
bis gegen halb elf, was mich angesichts des Alters der Tochter
doch etwas verwunderte. Sie waren längst mit dem Essen fertig,
allein das Kartenspiel hielt sie noch an ihrem Platz. Die meisten
Tische waren leer, und auch für mich wurde es langsam
Zeit, in die Wohnung meines Vaters zurückzukehren. Es gab
noch ein paar Dinge mit ihm zu besprechen, ehe ich am Nachmittag
des nächsten Tages meinen Rückflug antrat. Bevor ich
aufbrach, musste ich noch mal pinkeln, also stand ich auf und
ging hinunter in den Keller zur Herrentoilette.
Ich uriniere nicht gern im Stehen. Fragen Sie mich nicht,
warum. Vielleicht hatte ich als kleiner Junge ein traumatisches
Erlebnis, eine sexuelle Belästigung auf einer öffentlichen Toilette
oder so was Ähnliches, wer weiß das schon. Jedenfalls
mag ich nicht im Stehen pinkeln, auch dann nicht, wenn ich
allein auf der Herrentoilette bin, denn es könnte ja schließlich
jemand hereinkommen, wenn ich noch nicht fertig bin, und
dann müsste ich mitten im vollen Strahl abbrechen, den Hahn
zudrehen und, fast rasend vor Ärger und Verlegenheit, mit halb
voller Blase aus der Toilette stürmen. Ich setzte mich also in
eine der Kabinen, traf die üblichen Vorkehrungen: wischte die
Brille mit Toilettenpapier ab und so weiter - und dann traf sie
mich wie ein Keulenschlag: die Einsamkeit. Ich saß hier im
Untergrund in einem winzigen Kabuff, Zehntausende Meilen
weit weg von zu Hause. Wenn mich auf dieser Kloschüssel
nun ein Herzinfarkt ereilte? Wahrscheinlich würde mich kurz
vor Lokalschluss jemand vom Personal finden. Man würde die
Polizei rufen, einen Blick in meinen Pass und auf die Kreditkarten
werfen, und über irgendwelche internationale Datenbanken,
davon bin ich überzeugt, ließe sich eine Verbindung
zu Dad und Caroline herstellen, und man würde sie anrufen,
um es ihnen mitzuteilen. Wie würde Caroline die Nachricht
aufnehmen? Zuerst wäre sie sicher ziemlich bestürzt, aber wie
tief würde es wirklich gehen? Ich spielte in ihrem Leben längst
keine große Rolle mehr. Lucy würde es natürlich etwas härter
treffen, aber auch sie entfernte sich immer mehr von mir: Seit
über einem Monat hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Und
sonst? Möglich, dass mein Tod die eine oder andere Gefühlsregung
bei Freunden oder Arbeitskollegen auslösen würde, aber
sicher nichts Größeres. Meinen alten Schulfreund Chris würden
eventuell ... na ja, vielleicht ein paar Anwandlungen der Trauer
darüber anfliegen, dass wir uns fremd geworden waren und seit
so langer Zeit nicht mehr gesehen hatten. Trevor Paige würde
traurig sein, ehrlich traurig. Und auch Janice, seine Frau. Aber
darüber hinaus würde mein Ableben keine großen Wellen schlagen.
Ein inaktiv gewordener Facebook-Account - aber würde
es überhaupt irgendeiner meiner Facebook-Freunde merken?
Ich bezweifelte es. Ich war jetzt allein auf der Welt, mutterseelenallein.
Am nächsten Tag würde ich nach Hause fliegen,
und wenn ich wieder da war, wartete niemand auf mich, nur
eine unbewohnte, mit Ikea-Möbeln vollgestellte Wohnung und
die Rechnungen, Kontoauszüge und Pizzaservice-Prospekte
von drei Wochen. Und jetzt saß ich hier, wie gesagt, allein
unter der Erde in einem kleinen Holzkasten im Keller eines
Restaurants am Hafen von Sydney, und oben, wenige Meter
über meinem Kopf, waren zwei Menschen, die - so allein sie
in anderer Hinsicht sein mochten auf dieser Welt - wenigstens
einander hatten, wenigstens miteinander verbunden waren,
mit einer Stärke und Intensität, die jeder, der Augen im Kopf
hatte, auf den ersten Blick erkennen musste. Darum beneidete
ich sie von ganzem Herzen. Der Gedanke daran erfüllte mich
mit dem plötzlichen, unbezwingbaren Verlangen, die schöne
Chinesin und ihre schöne Tochter, die einander so lieb hatten,
kennenzulernen. Auf einmal erschien mir die Vorstellung
unerträglich, das Restaurant zu verlassen, ohne wenigstens den
Versuch gemacht zu haben, mich ihnen vorzustellen - ihnen
zu Bewusstsein zu bringen, dass es mich gab.
Und was noch erstaunlicher war: Je mehr ich darüber nachdachte,
desto klarer wurde mir, dass es keinen Grund gab, den
Gedanken nicht in die Tat umzusetzen. Warum zögerte ich
noch? Wenn ich mich auf etwas verstand, dann auf so etwas.
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Autoren-Porträt von Jonathan Coe
Jonathan Coe wurde 1961 in Birmingham geboren. Er ist einer der Stars der Londoner Literaturszene; sein preisgekrönter Roman "Allein mit Shirley" wurde in fünfzehn Sprachen übersetzt. Jonathan Coe lebt mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern in London.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jonathan Coe
- 2010, 1, 405 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Walters Ahlers
- Übersetzer: Walter Ahlers
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421044848
- ISBN-13: 9783421044846
Rezension zu „Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim “
"Jonathan Coes neuer Roman geht mit großer erzählerischer Leichtigkeit und Augenzwinkern einem ernsten Thema auf den Grund: Selbsterkenntnis." Freundin, 03.11.2010
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