Sterne über Tauranga
Neuseeland-Roman. Originalausgabe
Berlin 1893: Ricarda flieht vor einer Zwangsehe nach Neuseeland und lässt sich dort als Ärztin nieder. Doch ihr beeindruckendes Können missfällt einem Kollegen, der sie mit aller Macht beseitigen will.
Zum Glück hat Ricarda die...
Zum Glück hat Ricarda die...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Sterne über Tauranga “
Berlin 1893: Ricarda flieht vor einer Zwangsehe nach Neuseeland und lässt sich dort als Ärztin nieder. Doch ihr beeindruckendes Können missfällt einem Kollegen, der sie mit aller Macht beseitigen will.
Zum Glück hat Ricarda die Hilfe einer Maori-Heilerin und eines mutigen Farmers.
Zum Glück hat Ricarda die Hilfe einer Maori-Heilerin und eines mutigen Farmers.
Klappentext zu „Sterne über Tauranga “
Zum Missfallen ihrer Eltern bemüht die junge Ricarda Bensdorf sich um eine Anstellung als Ärztin in der Berliner Charité. Aber im Jahr 1893 sind Medizinerinnen in Preußen noch unvorstellbar. Als die Eltern sie zu einer Ehe drängen, beschließt Ricarda, nach Neuseeland auszuwandern, da Frauen dort mehr Rechte besitzen. Heimlich tritt sie die gefährliche Reise an, nicht ahnend, dass sie auch am anderen Ende der Welt auf große Widerstände stoßen wird. Ohne die Hilfe eines mutigen Farmers und die Künste einer Maori-Heilerin wäre sie rettungslos verloren ....
Lese-Probe zu „Sterne über Tauranga “
Sterne über Tauranga von Anne LaureenKapitel 1
Die Dampflokomotive stieß ein lang gezogenes Pfeifen aus, als sie sich mit ihrer Waggonlast dem Lehrter Bahnhof näherte. Zuvor war der Zug an rußgeschwärzten Häusern vorbeigefahren, an Arbeiterunterkünften mit notdürftig geflickten Fenstern, an Wäscheleinen, auf denen vergraute Wäsche zum Trocknen aufgehängt war.
Berlin hat sich nicht verändert, dachte Ricarda.
Sie stand am Fenster ihres Abteils, und mit den vorbeifliegenden Eindrücken kehrten die Erinnerungen zurück. Erinnerungen an ein Mädchen mit langen blonden Zöpfen und gestärkter weißer Schürze, das nur zu gern in die Arbeiterviertel von Berlin lief, um dort mit den Kindern zu spielen, obwohl es doch ins feine Charlottenburg gehörte. Erinnerungen an eine junge Frau, die hart darum gekämpft hatte, ihren Traum zu verwirklichen, und nun ihr Ziel erreicht hatte. Diesmal würde sie für immer nach Berlin zurückkehren und das gewünschte Leben führen.
Die bis fast zum Bersten vollgepackte, rot geblümte Teppichstofftasche stand neben ihr auf dem Sitz. Einer der mitreisenden Herren hatte darauf bestanden, ihr das schwere Gepäckstück von der Ablage zu holen, obwohl sie es auch allein geschafft hätte. Sie war vielleicht von zierlicher Gestalt, dennoch besaß sie eine Körperkraft, die schon so manchen ins Staunen versetzt hatte.
Wahrscheinlich werde ich mich jetzt wieder daran gewöhnen müssen, dass die Männer versuchen, mir alles abzunehmen – die Taschen, die Arbeit, das Denken.
Nicht, dass es in der Schweiz anders gewesen wäre. Sie erinnerte sich noch gut an die verstörten Blicke, die sie geerntet hatte, sobald sie über ihr Medizinstudium sprach. Auch ihre Kommilitonen hatten sie zunächst wie einen Paradiesvogel behandelt.
In der
... mehr
Schweiz war es Frauen zwar seit einigen Jahren erlaubt zu studieren, aber nur wenige Einheimische, sondern vorwiegend Ausländerinnen nutzten diese Möglichkeit. Medizinstudentinnen waren allerdings eher selten anzutreffen, Ricarda war in ihrem Jahrgang die einzige gewesen. Ihr großes Vorbild war Marie Heim-Vögtlin, die als erste Schweizerin das Medizinstudium abgeschlossen hatte, promoviert wurde und nun eine gut gehende Praxis in Zürich führte.
Schon als Kind hatte Ricarda davon geträumt, Ärztin zu werden. Als Siebenjährige hatte sie die Arzttasche ihres Vaters untersucht und die merkwürdigen Instrumente darin bewundert. Danach hatte sie ihrem Vater mit kindlichem Ernst erklärt, dass sie einmal das Gleiche machen wolle wie er.
Heinrich Bensdorf hatte gelacht, seine Kleine auf den Arm gehoben und ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt. »Das ist nichts für Mädchen, schon gar nicht für meine kleine Prinzessin«, waren seine Worte gewesen.
Doch die Faszination war geblieben, und Ricarda, die an j enem Abend mit glühenden Wangen im Bett gelegen und wegen ihres Vorsatzes sogar die geliebten Kekse zur Nacht vergessen hatte, war mehr und mehr überzeugt davon, dass sie Ärztin werden würde. Ein Leben als Prinzessin war ihr noch nie wünschenswert erschienen –nicht einmal, als sie Zeuge eines Defilees des Kaiserpaares und seiner Kinder wurde. Sie wollte Ärztin werden, wollte mitten im Leben stehen und kranke Menschen heilen.
Heinrich Bensdorf und seine Frau hofften, dass sich dieser Wunsch verlieren werde. Aber das tat er nicht, im Gegenteil: Ricarda begann sich nachts in die Praxis, die zum Wohnhaus gehörte, zu schleichen und die medizinischen Bücher ihres Vaters zu studieren. Einmal erwischte er sie dabei. Anstatt sie zu schelten, hatte er nur die Stirn gerunzelt und das Buch aufgehoben, das ihr beim schreckhaften Aufspringen vom Schoß geglitten war.
»Du meinst es also ernst?«
Ricarda hatte genickt.
»Und wie viele von den Büchern hast du schon gelesen?« »Zehn. Vielleicht auch mehr.«
Der Vater hatte sie nachdenklich angesehen. »Und hast du auch verstanden, was dort geschrieben steht?«
»Nein, leider nicht alles, Vater.«
»Nun, ich denke, wenn du älter wirst, wirst du es schon verstehen.«
Insgesamt war ihr Vater der sanftere Elternteil. Ihre Mutter, geplagt von Migräneanfällen und anderen Unpässlichkeiten, hatte ihr nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Ricardas Entschluss, der mit den Jahren immer stärker und fester geworden war, hatte sie stets lautstark missbilligt. Letztlich war es auch ihr Vater gewesen, der sich entgegen seiner inneren Überzeugung hatte erweichen lassen und einem Studium der Medizin zugestimmt hatte. Es war ihm unmöglich, seinem einzigen Kind den Lebenstraum zu verwehren.
Die Bilder der Erinnerung wurden fortgewischt, als der Zug in den Bahnhof einfuhr. Rauch hüllte die Gleise ein und umschloss die Wartenden einen Moment lang wie Nebel. Ricarda versuchte zu erkennen, ob jemand von ihrer Familie auf dem Perron war, um sie abzuholen, doch sie entdeckte kein bekanntes Gesicht. Sie hatte ihren Eltern ihre Ankunftszeit telegrafiert, rechnete aber eigentlich nicht damit, dass sie auf dem Bahnsteig erwartet würde.
Als der Zug vollständig zum Stehen gekommen war, griff Ricarda ihre Tasche und verließ das Abteil. Im Gang hatte sich eine Schlange gebildet. Eine Gruppe Studenten unterhielt sich lautstark, während sich hinter ihr weitere Reisende aufreihten. Es dauerte nicht lange, bis sich einige davon über das Verhalten der Studenten empörten. Ein Lächeln huschte über Ricardas Gesicht. Als sie nach Zürich gereist war, hatte sie solch ein Verhalten auch empörend gefunden, aber mit der Zeit hatte sie sich daran gewöhnt. Jetzt amüsierte sie sich darüber, denn sie kannte den Grund für ihre Ausgelassenheit. Wenn ich keine Frau wäre, würde ich mich ihnen wohl anschließen, in ein Lokal einkehren und das Ende des Semesters feiern. Doch so etwas ziemte sich nicht für eine Frau, nicht einmal in dem Land, in dem sie studieren durfte. Und erst recht nicht in Preußen.
Als Ricarda ausstieg, erfasste Zugluft ihre Röcke, ein eisiger Hauch strich über ihre Wangen. Ein paar Haarsträhnen lösten sich aus ihrer Frisur und umwehten ihren Kopf wie federleichte Bänder.
Zu Hause. Endlich!
Das Wetter in Zürich unterschied sich nur unwesentlich von dem in Deutschland, dennoch war die Luft in Berlin anders. Sie roch anders. Spree und Havel verliehen ihr etwas Sumpfiges. Und obwohl die Fabrikschlote die Stadt in Rauch hüllten, wehte auch ein Hauch frischer Landluft von den märkischen Feldern herbei, die die Metropole umgaben. All das bildete den Geruch ihrer Kindheit, den Ricarda unter tausenden erkennen würde.
Sie strich das blaugraue Reisekostüm glatt, das aus einem schlicht geschnittenen Rockund einer kurzen Jacke mit gebauschten Ärmeln bestand, zog den Schal ein wenig fester und richtete ihren Mantel. Hinter ihr ertönte ein schrilles Pfeifsignal, das die Reisenden aufforderte, die Türen hinter sich zu schließen. Wenig später setzte sich die Lok schnaubend und ächzend in Bewegung, aber Ricarda achtete nicht mehr darauf. Sie trat aus dem Portal und ließ den Blick über den Bahnhofsvorplatz schweifen.
»Fräulein Ricarda!«, rief plötzlich eine Stimme hinter ihr.
Als sie herumwirbelte, entdeckte sie den Kutscher Johann, der schon vor ihrer Geburt in den Diensten der Familie Bensdorf gestanden hatte. Er strahlte. Sein Haar war seit ihrem letzten Zusammentreffen noch weißer geworden, aber seine Augen waren noch immer die eines jungen Mannes.
»Guten Tag, Johann, wie geht es Ihnen?«, rief Ricarda und umarmte den Kutscher. Seinem Mantel entströmte der vertraute Duft nach Pferd und dem Rasierwasser, mit dem er nicht nur sein Kinn behandelte, sondern auch sein prächtiges Haar zu glätten versuchte.
Ihre Mutter missbilligte engen Kontakt mit dem Personal, aber Johann war für Ricarda beinahe so etwas wie ein Großvater. Manchmal hatte er sie heimlich auf dem Kutschbock sitzen lassen, wenn ihre Eltern nicht da waren und sie es geschafft hatte, dem Kindermädchen für einen kurzen Augenblick zu entwischen. Er hatte ihr die Pferde gezeigt und einiges dazu erklärt. Manchmal hatte er ihr auch Geschichten aus dem Krieg erzählt, in dem er als junger Mann gedient hatte. Liebend gern hätte sie jetzt vorn bei ihm gesessen, aber sie hielt es für besser, den Platz einzunehmen, der kein Getuschel bei der feinen Berliner Gesellschaft hervorrufen würde. Sie hatte ohnehin schon oft Empörung geweckt, weil sie es gewagt hatte zu studieren.
»Ist das alles, was Sie an Gepäck haben?«, fragte der Kutscher und deutete auf ihre Tasche.
Ricarda nickte. »Ja, den Rest habe ich per Post aufgegeben, er wird wohl im Laufe der Woche eintreffen.«
»Oder gar nicht«, neckte Johann sie, während er ihr die Tasche abnahm und auf einen der Sitze hievte.
»Was sollte man einer armen Studentin schon stehlen?«, fragte sie und nahm auf den Lederpolstern Platz. Johann hatte das Verdeck zur Hälfte aufgeklappt, sodass sie sich bei der Fahrt die Stadt ansehen konnte.
»Ich denke, Sie sind jetzt eine richtige Ärztin, Fräulein Ricarda?«, bemerkte er und schwang sich auf den Kutschbock.
»Das stimmt.« Ein Lächeln schlich sich auf Ricardas Gesicht. Mehr denn je wurde ihr bewusst, welchen Schritt sie gewagt und bewältigt hatte. Sie hatte etwas geschafft, was den Frauen in Preußen in der Regel verwehrt blieb. Hier war ihnen sogar verboten, einen Hörsaal zu betreten. Die meisten jungen Mädchen taten das, was die Mütter für sie geplant hatten: heiraten, Kinder gebären und sich auf Bällen und in Salons zu Tode langweilen.
»Nun gut, Frau Doktor, ich nehme an, Sie wollen schnurstracks nach Hause.«
»Ja bitte, Johann«, antwortete sie, aber ihre Stimme klang nicht freudig. Sie wusste, was sie erwartete. Das Wiedersehen mit ihrem Vater würde mit Abstand das Beste an ihrer Heimkehr sein.
»Also gut, dann los!« Johann ließ die Peitsche über den Köpfen der Pferde knallen, und der Landauer fuhr an.
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Schon als Kind hatte Ricarda davon geträumt, Ärztin zu werden. Als Siebenjährige hatte sie die Arzttasche ihres Vaters untersucht und die merkwürdigen Instrumente darin bewundert. Danach hatte sie ihrem Vater mit kindlichem Ernst erklärt, dass sie einmal das Gleiche machen wolle wie er.
Heinrich Bensdorf hatte gelacht, seine Kleine auf den Arm gehoben und ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt. »Das ist nichts für Mädchen, schon gar nicht für meine kleine Prinzessin«, waren seine Worte gewesen.
Doch die Faszination war geblieben, und Ricarda, die an j enem Abend mit glühenden Wangen im Bett gelegen und wegen ihres Vorsatzes sogar die geliebten Kekse zur Nacht vergessen hatte, war mehr und mehr überzeugt davon, dass sie Ärztin werden würde. Ein Leben als Prinzessin war ihr noch nie wünschenswert erschienen –nicht einmal, als sie Zeuge eines Defilees des Kaiserpaares und seiner Kinder wurde. Sie wollte Ärztin werden, wollte mitten im Leben stehen und kranke Menschen heilen.
Heinrich Bensdorf und seine Frau hofften, dass sich dieser Wunsch verlieren werde. Aber das tat er nicht, im Gegenteil: Ricarda begann sich nachts in die Praxis, die zum Wohnhaus gehörte, zu schleichen und die medizinischen Bücher ihres Vaters zu studieren. Einmal erwischte er sie dabei. Anstatt sie zu schelten, hatte er nur die Stirn gerunzelt und das Buch aufgehoben, das ihr beim schreckhaften Aufspringen vom Schoß geglitten war.
»Du meinst es also ernst?«
Ricarda hatte genickt.
»Und wie viele von den Büchern hast du schon gelesen?« »Zehn. Vielleicht auch mehr.«
Der Vater hatte sie nachdenklich angesehen. »Und hast du auch verstanden, was dort geschrieben steht?«
»Nein, leider nicht alles, Vater.«
»Nun, ich denke, wenn du älter wirst, wirst du es schon verstehen.«
Insgesamt war ihr Vater der sanftere Elternteil. Ihre Mutter, geplagt von Migräneanfällen und anderen Unpässlichkeiten, hatte ihr nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Ricardas Entschluss, der mit den Jahren immer stärker und fester geworden war, hatte sie stets lautstark missbilligt. Letztlich war es auch ihr Vater gewesen, der sich entgegen seiner inneren Überzeugung hatte erweichen lassen und einem Studium der Medizin zugestimmt hatte. Es war ihm unmöglich, seinem einzigen Kind den Lebenstraum zu verwehren.
Die Bilder der Erinnerung wurden fortgewischt, als der Zug in den Bahnhof einfuhr. Rauch hüllte die Gleise ein und umschloss die Wartenden einen Moment lang wie Nebel. Ricarda versuchte zu erkennen, ob jemand von ihrer Familie auf dem Perron war, um sie abzuholen, doch sie entdeckte kein bekanntes Gesicht. Sie hatte ihren Eltern ihre Ankunftszeit telegrafiert, rechnete aber eigentlich nicht damit, dass sie auf dem Bahnsteig erwartet würde.
Als der Zug vollständig zum Stehen gekommen war, griff Ricarda ihre Tasche und verließ das Abteil. Im Gang hatte sich eine Schlange gebildet. Eine Gruppe Studenten unterhielt sich lautstark, während sich hinter ihr weitere Reisende aufreihten. Es dauerte nicht lange, bis sich einige davon über das Verhalten der Studenten empörten. Ein Lächeln huschte über Ricardas Gesicht. Als sie nach Zürich gereist war, hatte sie solch ein Verhalten auch empörend gefunden, aber mit der Zeit hatte sie sich daran gewöhnt. Jetzt amüsierte sie sich darüber, denn sie kannte den Grund für ihre Ausgelassenheit. Wenn ich keine Frau wäre, würde ich mich ihnen wohl anschließen, in ein Lokal einkehren und das Ende des Semesters feiern. Doch so etwas ziemte sich nicht für eine Frau, nicht einmal in dem Land, in dem sie studieren durfte. Und erst recht nicht in Preußen.
Als Ricarda ausstieg, erfasste Zugluft ihre Röcke, ein eisiger Hauch strich über ihre Wangen. Ein paar Haarsträhnen lösten sich aus ihrer Frisur und umwehten ihren Kopf wie federleichte Bänder.
Zu Hause. Endlich!
Das Wetter in Zürich unterschied sich nur unwesentlich von dem in Deutschland, dennoch war die Luft in Berlin anders. Sie roch anders. Spree und Havel verliehen ihr etwas Sumpfiges. Und obwohl die Fabrikschlote die Stadt in Rauch hüllten, wehte auch ein Hauch frischer Landluft von den märkischen Feldern herbei, die die Metropole umgaben. All das bildete den Geruch ihrer Kindheit, den Ricarda unter tausenden erkennen würde.
Sie strich das blaugraue Reisekostüm glatt, das aus einem schlicht geschnittenen Rockund einer kurzen Jacke mit gebauschten Ärmeln bestand, zog den Schal ein wenig fester und richtete ihren Mantel. Hinter ihr ertönte ein schrilles Pfeifsignal, das die Reisenden aufforderte, die Türen hinter sich zu schließen. Wenig später setzte sich die Lok schnaubend und ächzend in Bewegung, aber Ricarda achtete nicht mehr darauf. Sie trat aus dem Portal und ließ den Blick über den Bahnhofsvorplatz schweifen.
»Fräulein Ricarda!«, rief plötzlich eine Stimme hinter ihr.
Als sie herumwirbelte, entdeckte sie den Kutscher Johann, der schon vor ihrer Geburt in den Diensten der Familie Bensdorf gestanden hatte. Er strahlte. Sein Haar war seit ihrem letzten Zusammentreffen noch weißer geworden, aber seine Augen waren noch immer die eines jungen Mannes.
»Guten Tag, Johann, wie geht es Ihnen?«, rief Ricarda und umarmte den Kutscher. Seinem Mantel entströmte der vertraute Duft nach Pferd und dem Rasierwasser, mit dem er nicht nur sein Kinn behandelte, sondern auch sein prächtiges Haar zu glätten versuchte.
Ihre Mutter missbilligte engen Kontakt mit dem Personal, aber Johann war für Ricarda beinahe so etwas wie ein Großvater. Manchmal hatte er sie heimlich auf dem Kutschbock sitzen lassen, wenn ihre Eltern nicht da waren und sie es geschafft hatte, dem Kindermädchen für einen kurzen Augenblick zu entwischen. Er hatte ihr die Pferde gezeigt und einiges dazu erklärt. Manchmal hatte er ihr auch Geschichten aus dem Krieg erzählt, in dem er als junger Mann gedient hatte. Liebend gern hätte sie jetzt vorn bei ihm gesessen, aber sie hielt es für besser, den Platz einzunehmen, der kein Getuschel bei der feinen Berliner Gesellschaft hervorrufen würde. Sie hatte ohnehin schon oft Empörung geweckt, weil sie es gewagt hatte zu studieren.
»Ist das alles, was Sie an Gepäck haben?«, fragte der Kutscher und deutete auf ihre Tasche.
Ricarda nickte. »Ja, den Rest habe ich per Post aufgegeben, er wird wohl im Laufe der Woche eintreffen.«
»Oder gar nicht«, neckte Johann sie, während er ihr die Tasche abnahm und auf einen der Sitze hievte.
»Was sollte man einer armen Studentin schon stehlen?«, fragte sie und nahm auf den Lederpolstern Platz. Johann hatte das Verdeck zur Hälfte aufgeklappt, sodass sie sich bei der Fahrt die Stadt ansehen konnte.
»Ich denke, Sie sind jetzt eine richtige Ärztin, Fräulein Ricarda?«, bemerkte er und schwang sich auf den Kutschbock.
»Das stimmt.« Ein Lächeln schlich sich auf Ricardas Gesicht. Mehr denn je wurde ihr bewusst, welchen Schritt sie gewagt und bewältigt hatte. Sie hatte etwas geschafft, was den Frauen in Preußen in der Regel verwehrt blieb. Hier war ihnen sogar verboten, einen Hörsaal zu betreten. Die meisten jungen Mädchen taten das, was die Mütter für sie geplant hatten: heiraten, Kinder gebären und sich auf Bällen und in Salons zu Tode langweilen.
»Nun gut, Frau Doktor, ich nehme an, Sie wollen schnurstracks nach Hause.«
»Ja bitte, Johann«, antwortete sie, aber ihre Stimme klang nicht freudig. Sie wusste, was sie erwartete. Das Wiedersehen mit ihrem Vater würde mit Abstand das Beste an ihrer Heimkehr sein.
»Also gut, dann los!« Johann ließ die Peitsche über den Köpfen der Pferde knallen, und der Landauer fuhr an.
Copyright 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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Bibliographische Angaben
- Autor: Anne Laureen
- 2010, 416 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404164687
- ISBN-13: 9783404164684
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