Tödliche Gaben
Die spannendsten Weihnachtskrimis
Fröhliche Weihnacht überall? Weit gefehlt! In den schottischen Highlands zum Beispiel findet man im Schnee zwei Leichen. Hochspannung vom Feinsten mit Kurz-Krimis von Simon Beckett, Friedrich Ani, Sebastian Fitzek, Kate Pepper, Linwood Barclay u.v.m.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Tödliche Gaben “
Fröhliche Weihnacht überall? Weit gefehlt! In den schottischen Highlands zum Beispiel findet man im Schnee zwei Leichen. Hochspannung vom Feinsten mit Kurz-Krimis von Simon Beckett, Friedrich Ani, Sebastian Fitzek, Kate Pepper, Linwood Barclay u.v.m.
Klappentext zu „Tödliche Gaben “
Gänsehaut unterm Weihnachtsbaum.Fröhliche Weihnacht überall? Weit gefehlt! Rund um den Globus ruht das Verbrechen auch zwischen den Festtagen nicht. In den schottischen Highlands werden im Schnee zwei Leichen gefunden. In den USA setzt sich eine traumatisierte Polizistin mit ihrer Vergangenheit auseinander. Eine Ehefrau in Geldnöten plant einen Mord. In Finnland wird ein kleines Mädchen entführt. Ein Schwerverbrecher sucht den Ort auf, an dem er so viele Leben zerstört hat.
Hochspannung vom Feinsten: Simon Beckett, Friedrich Ani, Linwood Barclay, Oliver Bottini, Sebastian Fitzek, Felicitas Mayall, Chris Mooney, Kate Pepper u.a.
Lese-Probe zu „Tödliche Gaben “
Tödliche Gaben von Simon Beckett und anderen SIMON BECKETT
Schneefall
... mehr
Der Schnee wehte hinab, bedeckte das bereits mit Frost überzogene spröde Gras und ließ es weicher wirken. So weit das Auge reichte, erstreckten sich nach allen Seiten die Grampian Highlands, deren weiße Gipfel und Täler von grünem Gebüsch übersät waren. Der Himmel darüber war so eintönig grau, dass er unendlich schien.
Ich starrte wie hypnotisiert auf die zahllosen, zu Boden sinkenden Schneeflocken und riss mich dann zusammen. Vor mir befand sich der einzige Farbtupfer in der Landschaft: ein quadratisches Zelt, das so gelb leuchtete, als würde die Sonne von innen durch den Stoff brechen.
«Alles in Ordnung, Dr. Hunter?»
Detective Sergeant Winters hatte einen passenden Namen, jedenfalls in diesen Monaten des Jahres. Aber der kalte Name war irreführend. Die Kriminalbeamtin war klein und hübsch und hatte eine sanfte Stimme, die ihr in ihrem Beruf bestimmt keine Hilfe war. In dem Schutzanzug, den sie über ihre Zivilkleidung gezogen hatte, sah sie aus wie ein Kind, das in Erwachsenenkleider geschlüpft war.
«Ich habe mir nur ein wenig die Beine vertreten», sagte ich.
Das gefrorene Gras und die fester werdende Schneedecke knirschten unter meinen Füßen, als ich ihr ins Zelt folgte. Drinnen war die Luft feucht, aber etwas wärmer, ein Eindruck, der durch das von dem gelben Stoff erzeugte falsche Sonnenlicht verstärkt wurde. Einige Gestalten hockten vor einer dunklen, rechteckigen Grube im Grasboden. Aufgrund der weiten Overalls und der Masken wirkten sie geschlechtslos und waren nicht unterscheidbar.
Als ich hereinkam, schauten sie auf. Einer nach dem anderen trat zur Seite, damit ich sehen konnte, was sie da untersucht hatten.
Die Knochen in dem Grab waren klein, wie ich gleich auf den ersten Blick erkennen konnte. Das Team der Spurensicherung hatte sie nur teilweise freigelegt, sodass sie aus der kalten, harten Erde herauszuwachsen schienen. Da sie auch dieselbe Farbe wie der Boden hatten, hätte man meinen können, sie bestünden aus dem gleichen Material. Ich hockte mich neben die Grube. Der Schädel lag schräg auf der Seite, aus den leeren Augenhöhlen und dem Mund rieselte torfige Erde. Er war leicht nach unten geneigt, so als würde er auf das hinab schauen, was die Leiche in den Armen hielt.
An die gebrochenen Rippen schmiegte sich ein zweites Skelett, das wesentlich kleiner war als das andere.
«Ein Schafzüchter hat sie gefunden. Er hat einen Teil des Schädels gesehen, der aus der Erde herausragte», erläuterte Winters und zuckte dann mit den Achseln. «Diese Gegend leidet seit Jahren an Bodenerosion. Wir glauben, dass der heftige Regen im Herbst die letzte Erde weggespült hat, die diese Knochen noch bedeckt hatte. Aber wie Sie sehen können, sind sie nicht besonders tief vergraben gewesen.»
Das stimmte. Das Grab war nicht einmal einen halben Meter tief und bedeckte kaum den traurigen Knochenhaufen, der einmal zwei Leben gewesen war.
«Glauben Sie, es ist wieder passiert?», fragte Winters.
Sie musste nicht erklären, was sie meinte. Dies war meine zweite Reise in die Grampian Highlands innerhalb weniger Monate. Beim letzten Mal hatte ich dabei geholfen, die brutal entstellte Leiche einer jungen Frau aus einem Grab im Hochmoor zu bergen, das allerdings wesentlich tiefer gewesen war als dieses. Damals war ich zum ersten Mal zu den Ermittlungen herangezogen worden, und in den vergangenen zwei Jahren hatte es dann eine Reihe ähnlicher Fälle gegeben. Jedes Mal hatte es sich um junge Frauen gehandelt, deren Leichen furchtbare Wunden aufwiesen. Die Ähnlichkeit der Verletzungen und die Anordnung der Überreste ließen keinen Zweifel daran, dass immer ein und derselbe Mörder dafür verantwortlich war.
Manchen Menschen gefällt es, andere Menschen umzubringen. Als forensischer Anthropologe ist es mein Beruf - meine Berufung -, herauszufinden, wie sie es getan haben, und für die Identifizierung ihrer Opfer zu sorgen. Und manchmal, so Gott will, dabei zu helfen, dass sie es nicht wieder tun.
Doch bei diesen Fällen war das nicht gelungen. Wer auch immer der Mörder war, er hatte - es war fast immer ein er - seit Jahren unbehelligt gemordet. Erst in jüngster Zeit waren seine Taten nach und nach ans Tageslicht gekommen und hatten auf seine Existenz hingewiesen. Ich war mir ziemlich sicher, dass es noch mehr Opfer geben musste, deren Leichen noch nicht gefunden worden waren.
Und dass es weitere geben würde.
Allerdings war ich mir nicht sicher, ob wir es hier mit einem weiteren Opfer dieses Mörders zu tun hatten. «Ich weiß es nicht», antwortete ich.
«Zuerst hielten wir es für möglich. Ich hatte mit den anderen Fällen nichts zu tun, aber ... Na ja, Sie wissen schon, wenn hier draußen eine vergrabene Frau gefunden wird ... Doch dann haben wir das ... das zweite Skelett entdeckt.»
Ich bemerkte ihr Zögern, als könnte sie, indem sie die Worte vermied, die grausame Tatsache verleugnen, die vor ihr ausgebreitet lag. Aber sie war nicht zu verleugnen. Auch wenn man es nicht aussprach, gab es keinen Zweifel daran, dass in den skelettierten Armen ein Kind lag.
Ein Baby.
«Sonst wurde immer nur eine gefunden, oder? Nicht zwei?», fragte Winters, obwohl sie das bereits wusste. Aber sie war nervös und versuchte es zu verbergen. Das war in solchen Situationen nicht ungewöhnlich.
«Ja, es war immer nur eine Leiche», bestätigte ich ihr. Ich hatte mittlerweile die Knochen untersucht, bisher allerdings, ohne sie zu berühren, und versuchte nun, Hinweise darauf zu finden, mit wem wir es zu tun hatten. «Sind Sie sicher, dass es eine Frau ist?»
«Nein, aber ich dachte ...» Winters deutete auf die aneinandergeschmiegten Überreste. «Also, ich nahm an, es handelt sich um eine Mutter mit ... mit Kind. Oder?»
Sie klang besorgt. Ich vermutete, dass sie noch nicht an vielen Mordermittlungen beteiligt gewesen war. Das Team der Spurensicherung, das erfahrener war, wartete geduldig. Die Beamten hatten sich daran gewöhnt, sich von solchen Anblicken nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Oder es zumindest nicht zu zeigen. Was sie in der Nacht träumten, war eine andere Sache.
«Sie könnten recht haben», sagte ich. «Ich wollte nur wissen, ob das bereits festgestellt worden ist.»
Ein Beamter der Spurensicherung meldete sich zu Wort. Unter der Kapuze des Overalls und hinter der Maske konnte man ihn kaum erkennen, aber seine Stimme klang nach einem Mann in den mittleren Jahren, und er sprach in dem rauen, melodischen Singsang der Highlands.
«Noch nicht. Sieht aber so aus, als könnten es tatsächlich Mutter und Kind sein. Der Schädel und die Hüfte scheinen weiblich zu sein, soweit wir sehen können. Über das arme Kind können wir aber noch nichts sagen.»
Ich nickte. Dass der Schädel zierlich und die Hüften eher breit aussahen, war mir bereits selbst aufgefallen, und angesichts der geringen Größe der Überreste konnte es keinen Zweifel daran geben, dass die Leiche eine Frau gewesen war.
Ein Urteil über das Kind zu fällen war aber nicht so leicht. Je jünger ein Baby ist, desto schwerer fällt die Bestimmung des Geschlechts, zudem war von dem winzigen Skelett noch nicht genug freigelegt worden, um überhaupt Vermutungen anzustellen. Der Schädel war teilweise im dunklen Torf vergraben, ich konnte jedoch sehen, dass die Fontanellen, die Lücken zwischen den Schädelplatten eines Neugeborenen, sich noch nicht vollständig geschlossen hatten.
«Weniger als ein Jahr alt, meinen Sie nicht auch?», fragte der Beamte. Sein Ton war sachlich, doch ich meinte eine Spur Traurigkeit herauszuhören.
«Würde ich auch sagen.»
Er nickte, ohne seinen Blick von der Grube abzuwenden. Hinter der Schutzkleidung waren von seinem Gesicht nur die Augen zu sehen, und die waren von einem Faltennetz umringt und wirkten müde. «Ich habe einen Enkel in dem Alter.»
Dazu gab es nichts zu sagen. «Haben Sie an einem der beiden Skelette Spuren von Verletzungen entdeckt?», fragte ich.
«Nur diese.»
Mit einem weichen Pinsel strich er behutsam die restliche Erde vom Unterschenkel der Frau. Das Schienbein war eindeutig in der Mitte gebrochen.
«Der Bruch ist nicht verheilt, er muss also noch frisch gewesen sein, als sie gestorben ist», sagte der Beamte. Sein Atem hing wie eine Nebelwolke in der Luft.
«Wahrscheinlich», stimmte ich zu. Ein Verdacht kam in mir auf, doch ich musste Gewissheit haben, ehe ich etwas sagte. Ich bückte mich, um die Rippen des größeren Skeletts zu untersuchen, und berührte sie vorsichtig mit meinen in Latexhandschuhen steckenden Fingern. Aus der Nähe waren die Knochen zerfressen und abgenutzt, wodurch sie noch zerbrechlicher wirkten. «Haben Sie Kleidungsreste gefunden?», fragte ich.
«Überhaupt keine.» Seine Stimme klang wütend. «Sieht so aus, als wären sie nackt vergraben worden.»
«Auf gewisse Weise hoffe ich ja, dass es derselbe Mörder ist», sagte Winters und versuchte, ihr Unbehagen hinter vorgespielter Forschheit zu verbergen. «Ist schon schlimm genug, wenn einer hier draußen herumläuft.»
Ich sagte nichts und schaute nur hinab auf die Skelette.
«Und, wollen Sie anfangen, Dr. Hunter?», meinte Winters nach einer Weile, vielleicht entnervt von meinem Schweigen.
Ich stand auf. «Nein. Hier gibt es für mich nichts zu tun.»
Die Gesichter in dem gelben Zelt starrten mich an. Winters' Verwirrung wich der Verärgerung. «Tut mir leid, aber das verstehe ich nicht. Wir haben hier einen Doppelmord, wahrscheinlich von einem Serienmörder verübt. Und für Sie gibt es nichts zu tun?»
«Ich glaube nicht, dass die beiden ermordet worden sind», entgegnete ich. «Und selbst wenn sie ermordet worden wären, könnte man nichts mehr tun. Es ist vor zu langer Zeit passiert.»
Winters blinzelte, als ihr dämmerte, was ich meinte. «Vor zu langer ... ? Meinen Sie, die Skelette sind alt?»
«Nicht nur alt. Sie sind uralt. Sie haben schon so lange dort gelegen, dass die Erde bereits in die Knochen eingedrungen ist und sie hat vermodern lassen. Deswegen die gleiche Farbe. Und deswegen gibt es auch keine Kleidungsreste.» Ich zuckte müde mit den Achseln. «Egal, ob sie Wolle oder Baumwolle oder gar Leder getragen haben, die Kleidung ist schon vor Jahrhunderten verrottet.»
Winters machte ein Gesicht, als wüsste sie nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte.
«Glauben Sie, es könnte ein rituelles Grab sein?», fragte der ältere Beamte der Spurensicherung. Die Atmosphäre im Zelt hatte sich verändert, die Anspannung war verflogen.
«Das müssen Sie einen Archäologen fragen», sagte ich. «Aber ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie begraben worden sind. Die Knochen weisen Zahnspuren auf. Ich würde sagen, sie lagen eine ganze Weile im Freien. Lange genug jedenfalls, dass sich Tiere über die Überreste hergemacht haben. Keine großen, sonst wären die Knochen verstreut worden. Wahrscheinlich nur Vögel und Nager.»
«Die armen Teufel», sagte er sanft. «Haben Sie eine Idee, woran sie gestorben sind?»
«Ich glaube, das haben Sie bereits herausgefunden. Das gebrochene Bein der Mutter. Damit konnte sie nicht mehr weitergehen. Und wenn das Wetter so war wie jetzt ...»
Der Satz musste nicht beendet werden. Er nickte. «Sie hat sich also einfach hingelegt und ist mit ihrem Baby gestorben. Und dann haben sich die Knochen im Boden abgelagert und wurden allmählich zugeweht. Deswegen sind sie auch kaum mit Erde bedeckt.»
Stille entstand. Einer der Polizeibeamten durchbrach sie. «Sollen wir dann einpacken?»
Winters seufzte verärgert auf. «Meinetwegen.»
Ich folgte ihr nach draußen. Es schneite noch immer, und nach dem Aufenthalt in dem gelben Zelt blendete das Weiß. Die eisigen Flocken erfüllten die Luft und schwirrten langsam zu Boden. Ich schaute in die leere Landschaft und dachte an die junge Frau, die hier draußen vor unzähligen Jahren allein mit ihrem Kind gestorben war.
Wieder eine Geschichte, die letztlich für immer unbekannt bleiben würde.
«Ich werde das Präsidium bitten, einen Archäologen herzuschicken», sagte Winters, zog die Latexhandschuhe aus und öffnete den Reißverschluss ihres Overalls. Sie klang lustlos, und ich bezweifelte, dass sie selbst ihre Stimmung als Enttäuschung erkannte. Oder die Enttäuschung zugeben würde, wenn sie sie erkannte. «Tut mir leid, dass Sie umsonst den ganzen Weg hier rauskommen mussten.»
«Es ist nicht Ihre Schuld», sagte ich, aber sie hatte sich schon abgewandt, um einem uniformierten Constable Anweisungen zu erteilen, und hörte mich nicht.
«Trotzdem, danke, dass Sie gekommen sind, Dr. Hunter», sagte sie, als sie mir zum Abschied die Hand schüttelte. Da die Latexhandschuhe bei diesem Wetter kaum wärmten, war ihre eiskalt. Sie wollte sich umdrehen, hielt dann aber inne und schenkte mir ein Lächeln, ein wenig ironisch und ein wenig gehemmt. «Ach, und fröhliche Weihnachten.»
«Fröhliche Weihnachten», sagte ich. Dann machte ich mich auf den langen Weg über das Hochmoor zurück zu meinem Wagen.
Übersetzung: Andree Hesse
OLIVER BOTTINI
Die Rückkehr des Mörders
Hans Martensen spielte mit seinem Sohn Schach, als der Anruf kam. Keine Unterbrechungen, wenn sie spielten, hatten sie vereinbart, es sei denn, es war dienstlich.
«Tut mir leid», sagte Martensen.
«Du hast sowieso verloren», sagte sein Sohn und deutete auf den weißen Läufer.
Sie saßen in T-Shirts im Wintergarten und tranken Bier und spielten die dritte Partie an diesem Samstagvormittag. Einmal hatte Martensen gewonnen, einmal sein Sohn. So war es meistens, es ging hin und her. Draußen schien die Sonne, und der hartgefrorene Schnee, der den Boden bedeckte, hatte zu tauen begonnen. Auf dem Dach des Wintergartens wurde der Schnee lichter.
«Nein», sagte Martensen nach einem Moment, wies auf seine beiden Türme und dachte, dass er aufpassen musste, den weißen Läufer hatte er übersehen. Er wusste, dass er kein besonders guter Schachspieler war, es ärgerte ihn längst nicht mehr. Kein besonders guter Vater, kein besonders guter Ehemann, kein besonders guter Polizist. Es hatte eine Weile gedauert, inzwischen war er mit sich im Reinen. Er war ja nicht schlecht. Er war nur einfach nicht besonders gut, und das galt schließlich für viele andere auch.
«Bin gleich wieder da», sagte er und ging ins Wohnzimmer. Das Diensthandy lag auf dem Kaminsims, auf dem Display stand «Arndt».
«Janisch ist draußen», sagte Arndt Theissen.
Martensen blickte durch die Glasscheibe in den Wintergarten. Sein Sohn hatte sich vorgebeugt, die langen Haare verbargen sein Gesicht. Mit dem Zeigefinger klopfte er sich nachdenklich auf die Lippen, eine Geste, die Martensen liebte, weil sie für ihn reserviert zu sein schien. Nur beim Schach klopfte sich sein Sohn auf die Lippen und war ruhig und konzentriert und nah bei ihm.
«Hast du gehört, Hans?»
«Ja. Woher weißt du's?»
«Die JVA hat angerufen.»
Martensens Blick lag noch immer auf seinem Sohn, und er dachte, wie schnell die Jahre vergingen. Als er Janisch verhaftet hatte, war sein Sohn ein oder zwei Jahre alt gewesen. Jetzt war er sechzehn. Dazwischen, so kam es ihm vor, lag nicht viel. Ein paar schlaflose Nächte, ein paar Elternabende, ein paar Auseinandersetzungen, ein paar Partien Schach, eine Scheidung. Nicht viel.
«Ich frage mich, ob er herkommt», sagte Arndt Theissen.
«Warum sollte er?»
«Vielleicht will er seine Mutter sehen. Oder seinen Anwalt. Oder die Frau.»
«Vielleicht.» Martensen versuchte, sich an die Frau zu erinnern, aber es gelang ihm nicht. Er hatte vieles vergessen, was mit Janisch und dem Mord zusammenhing, im Gegensatz zu Arndt Theissen, der sich wenige Wochen vor dem Mord ans LKA Berlin beworben hatte. Aber dann hatte er bei den Pressekonferenzen keine gute Figur abgegeben, und außerdem waren sie Janisch ein, zwei Tage zu spät auf die Spur gekommen. Die Bewerbung war abgelehnt worden, und Arndt Theissen war in Meinbrunn geblieben.
«Red mit ihnen. Frag sie, ob er sich gemeldet hat. Ob sie wissen, was er vorhat.»
«Gut», sagte Martensen und ließ sich die Telefonnummern und Adressen diktieren. Jenseits der Glasscheibe griff sein Sohn nach dem Bier, lehnte sich zurück und prostete ihm zu. Martensen nickte lächelnd. Er dachte an den weißen Läufer und fragte sich, ob er noch etwas übersehen hatte, sein Sohn wirkte mit einem Mal sehr entspannt.
«Sag ihnen, sie sollen aufpassen.»
«Aufpassen?»
«Aber mach ihnen keine Angst.»
Martensen überlegte einen Moment. «Vielleicht will er Vergebung.»
«Natürlich.»
«Vielleicht bereut er es. Kommt doch vor.» «Natürlich», wiederholte Arndt Theissen.
Während Martensen in den Wintergarten zurückkehrte, ging ihm Arndt Theissens Andeutung durch den Kopf. Der Anwalt hatte den Fall verloren, die Mutter hatte sich öffentlich von ihrem Sohn abgewandt, die Frau hatte gegen ihn ausgesagt. Falls Janisch kam, dann deshalb? Weil er sich rächen wollte?
Sein Sohn unterdrückte ein Lächeln, und Martensen setzte sich auf den Korbstuhl, blickte unruhig auf seine beiden Türme und den weißen Läufer und fragte sich erneut, ob er noch etwas übersehen hatte. Und so war es, wenige Züge später war er schachmatt.
...
Copyright © dieser Ausgabe 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Der Schnee wehte hinab, bedeckte das bereits mit Frost überzogene spröde Gras und ließ es weicher wirken. So weit das Auge reichte, erstreckten sich nach allen Seiten die Grampian Highlands, deren weiße Gipfel und Täler von grünem Gebüsch übersät waren. Der Himmel darüber war so eintönig grau, dass er unendlich schien.
Ich starrte wie hypnotisiert auf die zahllosen, zu Boden sinkenden Schneeflocken und riss mich dann zusammen. Vor mir befand sich der einzige Farbtupfer in der Landschaft: ein quadratisches Zelt, das so gelb leuchtete, als würde die Sonne von innen durch den Stoff brechen.
«Alles in Ordnung, Dr. Hunter?»
Detective Sergeant Winters hatte einen passenden Namen, jedenfalls in diesen Monaten des Jahres. Aber der kalte Name war irreführend. Die Kriminalbeamtin war klein und hübsch und hatte eine sanfte Stimme, die ihr in ihrem Beruf bestimmt keine Hilfe war. In dem Schutzanzug, den sie über ihre Zivilkleidung gezogen hatte, sah sie aus wie ein Kind, das in Erwachsenenkleider geschlüpft war.
«Ich habe mir nur ein wenig die Beine vertreten», sagte ich.
Das gefrorene Gras und die fester werdende Schneedecke knirschten unter meinen Füßen, als ich ihr ins Zelt folgte. Drinnen war die Luft feucht, aber etwas wärmer, ein Eindruck, der durch das von dem gelben Stoff erzeugte falsche Sonnenlicht verstärkt wurde. Einige Gestalten hockten vor einer dunklen, rechteckigen Grube im Grasboden. Aufgrund der weiten Overalls und der Masken wirkten sie geschlechtslos und waren nicht unterscheidbar.
Als ich hereinkam, schauten sie auf. Einer nach dem anderen trat zur Seite, damit ich sehen konnte, was sie da untersucht hatten.
Die Knochen in dem Grab waren klein, wie ich gleich auf den ersten Blick erkennen konnte. Das Team der Spurensicherung hatte sie nur teilweise freigelegt, sodass sie aus der kalten, harten Erde herauszuwachsen schienen. Da sie auch dieselbe Farbe wie der Boden hatten, hätte man meinen können, sie bestünden aus dem gleichen Material. Ich hockte mich neben die Grube. Der Schädel lag schräg auf der Seite, aus den leeren Augenhöhlen und dem Mund rieselte torfige Erde. Er war leicht nach unten geneigt, so als würde er auf das hinab schauen, was die Leiche in den Armen hielt.
An die gebrochenen Rippen schmiegte sich ein zweites Skelett, das wesentlich kleiner war als das andere.
«Ein Schafzüchter hat sie gefunden. Er hat einen Teil des Schädels gesehen, der aus der Erde herausragte», erläuterte Winters und zuckte dann mit den Achseln. «Diese Gegend leidet seit Jahren an Bodenerosion. Wir glauben, dass der heftige Regen im Herbst die letzte Erde weggespült hat, die diese Knochen noch bedeckt hatte. Aber wie Sie sehen können, sind sie nicht besonders tief vergraben gewesen.»
Das stimmte. Das Grab war nicht einmal einen halben Meter tief und bedeckte kaum den traurigen Knochenhaufen, der einmal zwei Leben gewesen war.
«Glauben Sie, es ist wieder passiert?», fragte Winters.
Sie musste nicht erklären, was sie meinte. Dies war meine zweite Reise in die Grampian Highlands innerhalb weniger Monate. Beim letzten Mal hatte ich dabei geholfen, die brutal entstellte Leiche einer jungen Frau aus einem Grab im Hochmoor zu bergen, das allerdings wesentlich tiefer gewesen war als dieses. Damals war ich zum ersten Mal zu den Ermittlungen herangezogen worden, und in den vergangenen zwei Jahren hatte es dann eine Reihe ähnlicher Fälle gegeben. Jedes Mal hatte es sich um junge Frauen gehandelt, deren Leichen furchtbare Wunden aufwiesen. Die Ähnlichkeit der Verletzungen und die Anordnung der Überreste ließen keinen Zweifel daran, dass immer ein und derselbe Mörder dafür verantwortlich war.
Manchen Menschen gefällt es, andere Menschen umzubringen. Als forensischer Anthropologe ist es mein Beruf - meine Berufung -, herauszufinden, wie sie es getan haben, und für die Identifizierung ihrer Opfer zu sorgen. Und manchmal, so Gott will, dabei zu helfen, dass sie es nicht wieder tun.
Doch bei diesen Fällen war das nicht gelungen. Wer auch immer der Mörder war, er hatte - es war fast immer ein er - seit Jahren unbehelligt gemordet. Erst in jüngster Zeit waren seine Taten nach und nach ans Tageslicht gekommen und hatten auf seine Existenz hingewiesen. Ich war mir ziemlich sicher, dass es noch mehr Opfer geben musste, deren Leichen noch nicht gefunden worden waren.
Und dass es weitere geben würde.
Allerdings war ich mir nicht sicher, ob wir es hier mit einem weiteren Opfer dieses Mörders zu tun hatten. «Ich weiß es nicht», antwortete ich.
«Zuerst hielten wir es für möglich. Ich hatte mit den anderen Fällen nichts zu tun, aber ... Na ja, Sie wissen schon, wenn hier draußen eine vergrabene Frau gefunden wird ... Doch dann haben wir das ... das zweite Skelett entdeckt.»
Ich bemerkte ihr Zögern, als könnte sie, indem sie die Worte vermied, die grausame Tatsache verleugnen, die vor ihr ausgebreitet lag. Aber sie war nicht zu verleugnen. Auch wenn man es nicht aussprach, gab es keinen Zweifel daran, dass in den skelettierten Armen ein Kind lag.
Ein Baby.
«Sonst wurde immer nur eine gefunden, oder? Nicht zwei?», fragte Winters, obwohl sie das bereits wusste. Aber sie war nervös und versuchte es zu verbergen. Das war in solchen Situationen nicht ungewöhnlich.
«Ja, es war immer nur eine Leiche», bestätigte ich ihr. Ich hatte mittlerweile die Knochen untersucht, bisher allerdings, ohne sie zu berühren, und versuchte nun, Hinweise darauf zu finden, mit wem wir es zu tun hatten. «Sind Sie sicher, dass es eine Frau ist?»
«Nein, aber ich dachte ...» Winters deutete auf die aneinandergeschmiegten Überreste. «Also, ich nahm an, es handelt sich um eine Mutter mit ... mit Kind. Oder?»
Sie klang besorgt. Ich vermutete, dass sie noch nicht an vielen Mordermittlungen beteiligt gewesen war. Das Team der Spurensicherung, das erfahrener war, wartete geduldig. Die Beamten hatten sich daran gewöhnt, sich von solchen Anblicken nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Oder es zumindest nicht zu zeigen. Was sie in der Nacht träumten, war eine andere Sache.
«Sie könnten recht haben», sagte ich. «Ich wollte nur wissen, ob das bereits festgestellt worden ist.»
Ein Beamter der Spurensicherung meldete sich zu Wort. Unter der Kapuze des Overalls und hinter der Maske konnte man ihn kaum erkennen, aber seine Stimme klang nach einem Mann in den mittleren Jahren, und er sprach in dem rauen, melodischen Singsang der Highlands.
«Noch nicht. Sieht aber so aus, als könnten es tatsächlich Mutter und Kind sein. Der Schädel und die Hüfte scheinen weiblich zu sein, soweit wir sehen können. Über das arme Kind können wir aber noch nichts sagen.»
Ich nickte. Dass der Schädel zierlich und die Hüften eher breit aussahen, war mir bereits selbst aufgefallen, und angesichts der geringen Größe der Überreste konnte es keinen Zweifel daran geben, dass die Leiche eine Frau gewesen war.
Ein Urteil über das Kind zu fällen war aber nicht so leicht. Je jünger ein Baby ist, desto schwerer fällt die Bestimmung des Geschlechts, zudem war von dem winzigen Skelett noch nicht genug freigelegt worden, um überhaupt Vermutungen anzustellen. Der Schädel war teilweise im dunklen Torf vergraben, ich konnte jedoch sehen, dass die Fontanellen, die Lücken zwischen den Schädelplatten eines Neugeborenen, sich noch nicht vollständig geschlossen hatten.
«Weniger als ein Jahr alt, meinen Sie nicht auch?», fragte der Beamte. Sein Ton war sachlich, doch ich meinte eine Spur Traurigkeit herauszuhören.
«Würde ich auch sagen.»
Er nickte, ohne seinen Blick von der Grube abzuwenden. Hinter der Schutzkleidung waren von seinem Gesicht nur die Augen zu sehen, und die waren von einem Faltennetz umringt und wirkten müde. «Ich habe einen Enkel in dem Alter.»
Dazu gab es nichts zu sagen. «Haben Sie an einem der beiden Skelette Spuren von Verletzungen entdeckt?», fragte ich.
«Nur diese.»
Mit einem weichen Pinsel strich er behutsam die restliche Erde vom Unterschenkel der Frau. Das Schienbein war eindeutig in der Mitte gebrochen.
«Der Bruch ist nicht verheilt, er muss also noch frisch gewesen sein, als sie gestorben ist», sagte der Beamte. Sein Atem hing wie eine Nebelwolke in der Luft.
«Wahrscheinlich», stimmte ich zu. Ein Verdacht kam in mir auf, doch ich musste Gewissheit haben, ehe ich etwas sagte. Ich bückte mich, um die Rippen des größeren Skeletts zu untersuchen, und berührte sie vorsichtig mit meinen in Latexhandschuhen steckenden Fingern. Aus der Nähe waren die Knochen zerfressen und abgenutzt, wodurch sie noch zerbrechlicher wirkten. «Haben Sie Kleidungsreste gefunden?», fragte ich.
«Überhaupt keine.» Seine Stimme klang wütend. «Sieht so aus, als wären sie nackt vergraben worden.»
«Auf gewisse Weise hoffe ich ja, dass es derselbe Mörder ist», sagte Winters und versuchte, ihr Unbehagen hinter vorgespielter Forschheit zu verbergen. «Ist schon schlimm genug, wenn einer hier draußen herumläuft.»
Ich sagte nichts und schaute nur hinab auf die Skelette.
«Und, wollen Sie anfangen, Dr. Hunter?», meinte Winters nach einer Weile, vielleicht entnervt von meinem Schweigen.
Ich stand auf. «Nein. Hier gibt es für mich nichts zu tun.»
Die Gesichter in dem gelben Zelt starrten mich an. Winters' Verwirrung wich der Verärgerung. «Tut mir leid, aber das verstehe ich nicht. Wir haben hier einen Doppelmord, wahrscheinlich von einem Serienmörder verübt. Und für Sie gibt es nichts zu tun?»
«Ich glaube nicht, dass die beiden ermordet worden sind», entgegnete ich. «Und selbst wenn sie ermordet worden wären, könnte man nichts mehr tun. Es ist vor zu langer Zeit passiert.»
Winters blinzelte, als ihr dämmerte, was ich meinte. «Vor zu langer ... ? Meinen Sie, die Skelette sind alt?»
«Nicht nur alt. Sie sind uralt. Sie haben schon so lange dort gelegen, dass die Erde bereits in die Knochen eingedrungen ist und sie hat vermodern lassen. Deswegen die gleiche Farbe. Und deswegen gibt es auch keine Kleidungsreste.» Ich zuckte müde mit den Achseln. «Egal, ob sie Wolle oder Baumwolle oder gar Leder getragen haben, die Kleidung ist schon vor Jahrhunderten verrottet.»
Winters machte ein Gesicht, als wüsste sie nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte.
«Glauben Sie, es könnte ein rituelles Grab sein?», fragte der ältere Beamte der Spurensicherung. Die Atmosphäre im Zelt hatte sich verändert, die Anspannung war verflogen.
«Das müssen Sie einen Archäologen fragen», sagte ich. «Aber ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie begraben worden sind. Die Knochen weisen Zahnspuren auf. Ich würde sagen, sie lagen eine ganze Weile im Freien. Lange genug jedenfalls, dass sich Tiere über die Überreste hergemacht haben. Keine großen, sonst wären die Knochen verstreut worden. Wahrscheinlich nur Vögel und Nager.»
«Die armen Teufel», sagte er sanft. «Haben Sie eine Idee, woran sie gestorben sind?»
«Ich glaube, das haben Sie bereits herausgefunden. Das gebrochene Bein der Mutter. Damit konnte sie nicht mehr weitergehen. Und wenn das Wetter so war wie jetzt ...»
Der Satz musste nicht beendet werden. Er nickte. «Sie hat sich also einfach hingelegt und ist mit ihrem Baby gestorben. Und dann haben sich die Knochen im Boden abgelagert und wurden allmählich zugeweht. Deswegen sind sie auch kaum mit Erde bedeckt.»
Stille entstand. Einer der Polizeibeamten durchbrach sie. «Sollen wir dann einpacken?»
Winters seufzte verärgert auf. «Meinetwegen.»
Ich folgte ihr nach draußen. Es schneite noch immer, und nach dem Aufenthalt in dem gelben Zelt blendete das Weiß. Die eisigen Flocken erfüllten die Luft und schwirrten langsam zu Boden. Ich schaute in die leere Landschaft und dachte an die junge Frau, die hier draußen vor unzähligen Jahren allein mit ihrem Kind gestorben war.
Wieder eine Geschichte, die letztlich für immer unbekannt bleiben würde.
«Ich werde das Präsidium bitten, einen Archäologen herzuschicken», sagte Winters, zog die Latexhandschuhe aus und öffnete den Reißverschluss ihres Overalls. Sie klang lustlos, und ich bezweifelte, dass sie selbst ihre Stimmung als Enttäuschung erkannte. Oder die Enttäuschung zugeben würde, wenn sie sie erkannte. «Tut mir leid, dass Sie umsonst den ganzen Weg hier rauskommen mussten.»
«Es ist nicht Ihre Schuld», sagte ich, aber sie hatte sich schon abgewandt, um einem uniformierten Constable Anweisungen zu erteilen, und hörte mich nicht.
«Trotzdem, danke, dass Sie gekommen sind, Dr. Hunter», sagte sie, als sie mir zum Abschied die Hand schüttelte. Da die Latexhandschuhe bei diesem Wetter kaum wärmten, war ihre eiskalt. Sie wollte sich umdrehen, hielt dann aber inne und schenkte mir ein Lächeln, ein wenig ironisch und ein wenig gehemmt. «Ach, und fröhliche Weihnachten.»
«Fröhliche Weihnachten», sagte ich. Dann machte ich mich auf den langen Weg über das Hochmoor zurück zu meinem Wagen.
Übersetzung: Andree Hesse
OLIVER BOTTINI
Die Rückkehr des Mörders
Hans Martensen spielte mit seinem Sohn Schach, als der Anruf kam. Keine Unterbrechungen, wenn sie spielten, hatten sie vereinbart, es sei denn, es war dienstlich.
«Tut mir leid», sagte Martensen.
«Du hast sowieso verloren», sagte sein Sohn und deutete auf den weißen Läufer.
Sie saßen in T-Shirts im Wintergarten und tranken Bier und spielten die dritte Partie an diesem Samstagvormittag. Einmal hatte Martensen gewonnen, einmal sein Sohn. So war es meistens, es ging hin und her. Draußen schien die Sonne, und der hartgefrorene Schnee, der den Boden bedeckte, hatte zu tauen begonnen. Auf dem Dach des Wintergartens wurde der Schnee lichter.
«Nein», sagte Martensen nach einem Moment, wies auf seine beiden Türme und dachte, dass er aufpassen musste, den weißen Läufer hatte er übersehen. Er wusste, dass er kein besonders guter Schachspieler war, es ärgerte ihn längst nicht mehr. Kein besonders guter Vater, kein besonders guter Ehemann, kein besonders guter Polizist. Es hatte eine Weile gedauert, inzwischen war er mit sich im Reinen. Er war ja nicht schlecht. Er war nur einfach nicht besonders gut, und das galt schließlich für viele andere auch.
«Bin gleich wieder da», sagte er und ging ins Wohnzimmer. Das Diensthandy lag auf dem Kaminsims, auf dem Display stand «Arndt».
«Janisch ist draußen», sagte Arndt Theissen.
Martensen blickte durch die Glasscheibe in den Wintergarten. Sein Sohn hatte sich vorgebeugt, die langen Haare verbargen sein Gesicht. Mit dem Zeigefinger klopfte er sich nachdenklich auf die Lippen, eine Geste, die Martensen liebte, weil sie für ihn reserviert zu sein schien. Nur beim Schach klopfte sich sein Sohn auf die Lippen und war ruhig und konzentriert und nah bei ihm.
«Hast du gehört, Hans?»
«Ja. Woher weißt du's?»
«Die JVA hat angerufen.»
Martensens Blick lag noch immer auf seinem Sohn, und er dachte, wie schnell die Jahre vergingen. Als er Janisch verhaftet hatte, war sein Sohn ein oder zwei Jahre alt gewesen. Jetzt war er sechzehn. Dazwischen, so kam es ihm vor, lag nicht viel. Ein paar schlaflose Nächte, ein paar Elternabende, ein paar Auseinandersetzungen, ein paar Partien Schach, eine Scheidung. Nicht viel.
«Ich frage mich, ob er herkommt», sagte Arndt Theissen.
«Warum sollte er?»
«Vielleicht will er seine Mutter sehen. Oder seinen Anwalt. Oder die Frau.»
«Vielleicht.» Martensen versuchte, sich an die Frau zu erinnern, aber es gelang ihm nicht. Er hatte vieles vergessen, was mit Janisch und dem Mord zusammenhing, im Gegensatz zu Arndt Theissen, der sich wenige Wochen vor dem Mord ans LKA Berlin beworben hatte. Aber dann hatte er bei den Pressekonferenzen keine gute Figur abgegeben, und außerdem waren sie Janisch ein, zwei Tage zu spät auf die Spur gekommen. Die Bewerbung war abgelehnt worden, und Arndt Theissen war in Meinbrunn geblieben.
«Red mit ihnen. Frag sie, ob er sich gemeldet hat. Ob sie wissen, was er vorhat.»
«Gut», sagte Martensen und ließ sich die Telefonnummern und Adressen diktieren. Jenseits der Glasscheibe griff sein Sohn nach dem Bier, lehnte sich zurück und prostete ihm zu. Martensen nickte lächelnd. Er dachte an den weißen Läufer und fragte sich, ob er noch etwas übersehen hatte, sein Sohn wirkte mit einem Mal sehr entspannt.
«Sag ihnen, sie sollen aufpassen.»
«Aufpassen?»
«Aber mach ihnen keine Angst.»
Martensen überlegte einen Moment. «Vielleicht will er Vergebung.»
«Natürlich.»
«Vielleicht bereut er es. Kommt doch vor.» «Natürlich», wiederholte Arndt Theissen.
Während Martensen in den Wintergarten zurückkehrte, ging ihm Arndt Theissens Andeutung durch den Kopf. Der Anwalt hatte den Fall verloren, die Mutter hatte sich öffentlich von ihrem Sohn abgewandt, die Frau hatte gegen ihn ausgesagt. Falls Janisch kam, dann deshalb? Weil er sich rächen wollte?
Sein Sohn unterdrückte ein Lächeln, und Martensen setzte sich auf den Korbstuhl, blickte unruhig auf seine beiden Türme und den weißen Läufer und fragte sich erneut, ob er noch etwas übersehen hatte. Und so war es, wenige Züge später war er schachmatt.
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Autoren-Porträt von Simon Beckett
Silke Jellinghaus, geboren 1975, ist Übersetzerin, Autorin und Lektorin und lebt in Hamburg. Unter anderem hat sie Jojo Moyes und Olivia Manning übersetzt. Tanja Handels, geboren 1971 in Aachen, lebt und arbeitet in München, übersetzt zeitgenössische britische und amerikanische Literatur, unter anderem von Zadie Smith, Bernardine Evaristo, Anna Quindlen und Charlotte McConaghy, und ist auch als Dozentin für Literarisches Übersetzen tätig. 2019 wurde sie mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet. Andree Hesse wurde 1966 in Braunschweig geboren und wuchs bei Celle auf. Bevor er sich an der Filmhochschule in München einschrieb, erlernte er das Sattlerhandwerk. Sein erster Roman erschien 2001. Andree Hesse lebt als freier Autor und Übersetzer in Berlin. Katharina Naumann ist Autorin, freie Lektorin und Übersetzerin und lebt in Hamburg. Sie hat unter anderem Werke von Jojo Moyes, Anna McPartlin und Jeanine Cummins übersetzt. Gabriele Schrey-Vasara, geboren 1953 in Rheydt, studierte Geschichte, Romanistik und Finnougristik in Göttingen und lebt seit 1979 in Helsinki. 2008 erhielt sie den Staatlichen finnischen Übersetzerpreis. SIMON BECKETT ist einer der erfolgreichsten englischen Thrillerautoren. Seine Serie um den forensischen Anthropologen David Hunter wird rund um den Globus gelesen und wurde für Paramount+ als sechsteilige Serie verfilmt: «Die Chemie des Todes», «Kalte Asche», «Leichenblässe», «Verwesung», «Totenfang» und «Die ewigen Toten» waren allesamt Bestseller, ebenso sein atmosphärischer Psychothriller «Der Hof». «Die Verlorenen», der Auftakt einer neuen Thrillerserie um den ehemaligen Polizisten Jonah Colley, stand mehrere Wochen auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Simon Beckett ist verheiratet und lebt in Sheffield. Chris Mooney, aufgewachsen in Lynn/Massachussetts, ist einer der erfolgreichsten neuen amerikanischen Thrillerautoren. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Boston. Leena Lehtolainen, 1964 geboren, lebt und arbeitet als
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Literaturwissenschaftlerin, Kritikerin und Autorin in Degerby, westlich von Helsinki. Sie ist eine der auch international erfolgreichsten finnischen Schriftstellerinnen, ihre Ermittlerin Maria Kallio gilt nicht nur als eine Art Kultfigur der finnischen Krimiszene, sondern erfreut sich auch bei deutschen Leserinnen und Lesern seit dem Erscheinen des ersten Bandes der Reihe 1994 ungebrochener Beliebtheit. Bevor Felicitas Mayall sich ganz der Schriftstellerei widmete, arbeitete sie als Journalistin bei der "Süddeutschen Zeitung". Die Wahl-Münchnerin veröffentlichte unter ihrem Klarnamen Barbara Veit Kinder- und Sachbücher, bevor sie sich mit ihrer erfolgreichen Krimiserie um die Münchner Kommissarin Laura Gottberg in die Herzen vieler Leser schrieb. Bis zu ihrem Tod lebte die Mutter zweier Söhne mit ihrem australischen Ehemann am Chiemsee und reiste von dort oft nach Italien und Australien. Jay Bonansinga lebt mit seiner Familie in Evanston, Illinois. Er unterrichtet Creative Writing an der Northwestern University.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Simon Beckett
- 2010, 6. Aufl., 224 Seiten, Maße: 11,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Herausgegeben: Silke Jellinghaus
- Übersetzer: Tanja Handels, Andree Hesse, Katharina Naumann
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499255537
- ISBN-13: 9783499255533
- Erscheinungsdatum: 19.10.2010
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