Schlafe sanft und ewiglich
Peyton Somerset, beruflich erfolgreiche New Yorkerin, erwartet ein Baby. Dass der Vater des Kindes sich abgesetzt hat, stört sie nicht wirklich. Beunruhigt ist sie allerdings über einen unheimlichen Beobachter, der sie seit Monaten...
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Produktinformationen zu „Schlafe sanft und ewiglich “
Peyton Somerset, beruflich erfolgreiche New Yorkerin, erwartet ein Baby. Dass der Vater des Kindes sich abgesetzt hat, stört sie nicht wirklich. Beunruhigt ist sie allerdings über einen unheimlichen Beobachter, der sie seit Monaten beschattet. Eines Tages ist sie sicher: der Unbekannte war in ihrer Wohnung! Kurz danach verschwindet eine gute Freundin - ebenfalls schwanger - spurlos.
Lese-Probe zu „Schlafe sanft und ewiglich “
Schlafe sanft und ewiglich von Wendy MorganProlog
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»Bitte! Bitte, tun Sie mir nichts! Ich möchte doch bloß mein Baby ...«
»Aber gewiss doch!« Ihr Gegenüber verzieht die Lippen und entblößt weiße, ebenmäßige Zähne. »Sie werden Ihr Baby bekommen.«
Die Worte - und das Lächeln - können Heather nicht im Geringsten beruhigen. Sie wird von einem kalten Schauder gepackt.
Nur unter Aufbietung aller Kräfte gelingt es ihr, die aufkommende Panik zu unterdrücken. An ein Entkommen ist nicht zu denken; hochschwanger liegt sie auf dem Bett ausgestreckt, Hände und Füße an die Bettpfosten gefesselt. Selbst wenn man sie lange genug allein ließe, um die Hände aus den Stricken zu zwängen, selbst wenn sie in Hochform wäre und rennen könnte - weit käme sie nicht. Was jenseits der Zimmertür lauert, weiß Heather nicht - mit verbundenen Augen und unter vorgehaltener Waffe wurde sie an diesen Ort gebracht. Jetzt ist die Augenbinde ab und die Pistole versteckt, doch Heather ahnt ihre Nähe. Ein Risiko darf sie nicht eingehen. Todesangst überkommt sie.
Körperlich hilflos, kann sie sich nur mental wehren. Sie zerbricht sich den Kopf nach einem Ausweg, nach einer schlüssigen Erklärung. Der einzige logische Gedanke, den ihr verworrenes Hirn zu formen vermag, ist der, dass sie in Wirklichkeit gar nicht hier ist. Das Ganze ist völlig unmöglich. Sie muss zu Haus ein ihrem Bett liegen. Es muss sich um einen jener verrückten Albträume handeln, von denen sie seit ein paar Wochen heimgesucht wird.
Die Lider fest zugekniffen, gibt sie sich selbst ein Versprechen: Wenn sie bis zehn zählt und dann die Augen aufschlägt, sieht sie garantiert die vertraute weiß-rosa Streifentapete, den Kuscheltierzoo und über dem Bett die Pinnwand mit den Fotos von ihr und Ryan beim Abschlussball und im Cheerleader-Trainingslager im vergangenen Sommer.
Eins ... zwei ... drei ...
Das Sommerlager war ihr von ihrer Mutter geradezu aufgezwungen worden. Im Vorjahr hatte Heather noch um die Teilnahme gebettelt, aber da konnten sie es sich angeblich nicht leisten. Diesmal hatte ihre Mutter das Geld dafür irgendwie zusammengekratzt, allen Protesten zum Trotz. Heather wäre viel lieber zu Hause geblieben, in der Nähe von Ryan, der im städtischen Schwimmbad als Rettungsschwimmer jobbte.
Natürlich war Ryan der eigentliche Grund, weswegen ihre Mutter sie den Sommer über von Staten Island weghaben wollte. Sie war nämlich der Ansicht, Heather hocke viel zu häufig mit ihm zusammen. Sie hatte Angst, der Tochter könne genau das passieren, was schon ihr selbst passiert war. Alles Betteln und Flehen half nichts: In Sachen Cheerleader-Camp blieb ihre Mutter hart. »Du fährst, Heather. Ende der Diskussion.«
... vier ... fünf ... sechs ... sieben ...
Ende der Diskussion? Von wegen. Nach der Rückkehr aus dem Sommerlager stellte Heather fest, dass ihre Periode ausgeblieben war. Von einem Tag auf den anderen wurde aus Heather das wandelnde Klischee -das römisch-katholische Schulmädchen, das bei der Abschlussfeier der Mittelstufe die Unschuld verliert und sich ein Kind andrehen lässt. Der schlimmste Albtraum ihrer Mutter.
Schlimmer. Sie kam sich vor wie ihre Mutter selbst.
... acht ... neun ... zehn!
Keine rosa-weiße Streifentapete.
Kein Kuscheltierzoo.
Keine Pinnwand.
Der Verzweiflung nahe lässt Heather den Blick durch das unscheinbare, kastenförmige Zimmer schweifen. Weiß getünchte Wände. Kommode, Stuhl, hölzernes Bettgestell. Ein Fenster mit geschlossenen Jalousien; schlichte beige Vorhänge an einer Gardinenstange aus Metall.
Wo bin ich, verdammt noch mal?
Von grenzenlosem Heimweh erfasst, sehnt sie sich nach den bauschigen weißen Tüllgardinen, die ihre Mutter im vergangenen Jahr beim Ausverkauf im Supermarkt erstanden hatte. Heather hatte die Dinger viel zu babyhaft für eine Fünfzehnjährige gefunden. Jetzt würde sie alles dafür geben, sie noch einmal zu sehen. Ihre Mutter wiederzusehen.
»Bitte ...« Wimmernd fügt sie sich in die Erkenntnis, dass dies alles doch kein Albtraum ist.
Sondern Wirklichkeit.
Wieder ragt die Gestalt drohend über dem Bett auf. Jetzt ist Heather fest davon überzeugt, dass ihr Leben - und das ihres Ungeborenen - in Gefahr ist.
»Was gibt's? Hast Angst, was? Armes Ding.«
Die Augen, die auf sie herunterblicken, sind sonderbar leer und bar jeder menschlichen Regung. Die fröhliche Stimme, die Heather noch Hilfe beim Beladen ihres Autos angeboten hatte, ist einem beklemmend sachlichen, monotonen Säuseln gewichen. »Ist fast vorbei. Keine Sorge.«
Was soll bald vorbei sein? Oh, lieber Gott, hilf mir!
Heather muss auch noch für ein zweites Klischee herhalten: der hübsche Teenager, der nach einem Bummel durchs Einkaufszentrum spurlos verschwindet.
Noch so ein wahr gewordener Albtraum ihrer Mutter.
Der schlimmste.
»Sieh zu, dass du ein bisschen ruhiger wirst. Das Zittern ist nicht gut für das Kind, hörst du?«
Oh, bitte, bitte! Ich will zu meiner Mom! Ich will nach Hause!
»Hast du Hunger? Quatsch, dumme Frage! Klar hast du Hunger. Du
musst ja für zwei essen, und es ist kurz vor sechs. Zeit fürs Abendbrot.« Sechs Uhr erst?
Dabei kommt es ihr so vor, als sei es schon Stunden her, seit sie aus dem Einkaufszentrum kam und sich im gefrierenden Regen über den vereisten Parkplatz tastete. Um auf die Armbanduhr zu sehen, versucht Heather instinktiv, das linke Handgelenk anzuheben. Doch das wird gehalten von dem Strick, der sie an den Bettpfosten fesselt.
Verzweifelt wimmernd schließt sie die Augen. Eine ganze Bilderflut stürmt auf sie ein.
Die Bestürzung in Ryans schönen blaugrünen Augen, als sie ihm mitteilte, der Schwangerschaftstest sei positiv.
Bittere Enttäuschung und Resignation auf dem Gesicht ihrer Mutter.
Ein winziger Punkt auf dem Ultraschallmonitor. Ein Punkt, von dem sie sich wünschte, er möge auf wundersame Weise verschwinden, damit Ryan wieder Teil ihres Lebens wäre.
Doch das liegt fast acht Monate zurück.
Das alles ereignete sich, bevor sie zum ersten Mal den schnellen Herzschlag des Kindes hörte; bevor sie das erste sachte Flattern spürte, die erste Regung von Leben in ihrem schwellenden Leib. Das alles geschah, ehe die kaum spürbaren Kindsbewegungen den ersten Tritten und Stößen wichen, bisweilen auch einem stakkatoartigen leisen Klopfen - dem Schluckauf des Ungeborenen, so der Arzt. Diese pochenden Laute waren es, bei denen ihr die Schwangerschaft erst so richtig bewusst wurde.
Zu Anfang als Fluch empfunden, hat sich ihr süßes Geheimnis in einen Segen verwandelt; inzwischen sieht Heather dem Datum, vor dem ihr einst regelrecht graute, mit gespannter Vorfreude entgegen. Und es ist bald so weit.
Knapp achtundvierzig Stunden bis zur vorausberechneten Niederkunft.
In letzter Zeit war sie total erledigt und das Wetter dazu auch noch lausig. Warum ist sie da nicht einfach zu Hause geblieben? Wieso musste sie unbedingt noch ein allerletztes Mal im Babyausstattungsladen vorbeischauen?
Weil es ihr nicht passte, dass die Erstausstattung für ihr Baby so bescheiden aussah. Weil sie sich einredete, das Kleine benötige noch ein paar Strampler, noch ein paar Mützchen und winzige Söckchen ...
Vielleicht auch deswegen, weil sie sich innerlich nach einem letzten Einkaufsbummel sehnte. Nach einer Verbindung zu ihren unbeschwerten Teenagertagen, die sie hinter sich gelassen hatte, als ihr Bauch dicker wurde und Ryan sowie ihre Freundinnen nichts mehr von ihr wissen wollten.
»He!« Ein heftiger, schmerzhafter Stoß gegen den Arm reißt Heather jäh in die grausige Gegenwart zurück. Als sie abrupt die Augen aufschlägt, sieht sie über sich aufs Neue das unheimliche, fremde Gesicht. »Du hast meine Frage nicht beantwortet! Ob du Hunger hast!«
Oh, bitte, lieber Gott! Mach, dass dieser verrückte Mensch mir nichts tut!
»Ich will nach Hause.«
Eine überraschend sanfte Hand streichelt ihr über den Kopf. »Still. Alles wird gut.«
Still...
Still, still ... weil's Kindlein schlafen will ...
Die Melodie des Wiegenliedes, das sie, wenn sie allein ist, schon seit Monaten vor sich hin summt, kommt Heather in den Sinn.
»Bitte! Bitte, lassen Sie mich nach Hause!«
Bitte! Ich möchte mein Baby wiegen und Schlaflieder singen. Bitte!
»Bedaure, das geht nicht.« Das Lächeln weicht einer geschäftsmäßigen Mine, die Heather noch beklemmender vorkommt. Sie hat das Gefühl, als diene es einem bestimmten Zweck, dass man sie hier gefangen hält. Als gäbe es einen besonderen Anlass dafür.
»Was möchtest du essen? Hast du Heißhunger auf was Besonderes? Eingelegte Gurken und Eis vielleicht?«
Der Frage folgt ein irres Gelächter, das aber genauso schnell verstummt, wie es losbrach. »Also - was soll ich dir zu essen machen?«
Diese Person ist sicher nicht richtig im Kopf, aber harmlos!, redet Heather sich ein. Wahrscheinlich ist es das Beste, du spielst einfach mit, bis jemand hier auftaucht und dich rettet. Wo immer »hier« sein mag.
Sie hat keine Ahnung, in welche Richtung es ging, nachdem sie hinten in den Laderaum eines Lieferwagens gestoßen worden war. Der Kleinlaster stand auf dem Parkdeck des Einkaufszentrums, dicht neben dem Auto ihrer Mutter - so dicht, dass es Heather eigentlich hätte stutzig machen müssen.
Wieso hast du deine dämlichen Einkäufe nicht selbst geschleppt?
Warum hat sie nicht auf die Mahnungen ihrer Mutter gehört, sich nie von Unbekannten ansprechen zu lassen?
»Ich warte!«, zischt die Stimme jetzt. »Los, sag schon! Was möchtest du essen?«
»Irgendwas!« Vor Todesangst ist Heather die Kehle wie zugeschnürt. Nur mit Mühe würgt sie dieses eine Wort heraus.
»Ach, komm schon! Du hast doch sicher einen besonderen Wunsch! Sogar zum Tode Verurteilte dürfen sich die Henkersmahlzeit selbst aussuchen.«
Die Henkersmahlzeit.
In diesem Augenblick fällt es Heather wie Schuppen von den Augen. Sie wird nie mehr nach Hause kommen. Nie wieder heim zu ihrer Mom. Und wird nie selbst eine Mommy werden.
In Tränen aufgelöst, fleht sie um ihr Leben, obwohl sie ahnt, dass alles vergebens ist. »Bitte!«, jammert sie wieder und wieder. »Lassen Sie mich gehen. Ich möchte nur mein Baby bekommen.«
»Das wirst du! Versprochen! Glaub mir, was ich verspreche, das halte ich. Immer.«
»Bitte ...«
»Bleib ruhig. Du kriegst dein Kind ...«
Das kapiert doch kein Mensch!, durchzuckt es Heather noch wild. Dann hört sie die grausigsten Worte überhaupt: »Du bekommst dein Kind, und zwar direkt nach deiner letzten Mahlzeit. Und eins kannst du mir ruhig abnehmen: Was auf dich zukommt, erfordert deine ganze Kraft.«
Zehn Jahre später
Erster Monat
Februar
1. Kapitel
»Mrs. Somerset, ich habe eine gute Nachricht für Sie!« Mit dem Klemmbrett in der Hand und einem breiten Lächeln auf dem attraktiven Gesicht tritt Dr. Lombardo schwungvoll ins Untersuchungszimmer.
»0 mein Gott!« Die Tränen schießen Peyton in die grauen Augen. »Wann ist es so weit?«
»Wie bitte? Da haben Sie wohl was missverstanden. Mit der guten Nachricht meinte ich den Dow-Jones-Index. Der ist gerade einundvierzig Punkte nach oben geschossen.«
Er macht bloß Spaß!, versichert sich Peyton. Trotzdem verspürt sie einen leichten Anflug von Beklommenheit, als wäre alles zu schön, um wahr zu sein. »Ich bin aber doch schwanger ... oder?«
»Und ob Sie schwanger sind!« Der Geburtshelfer ergreift ihre Rechte und umschließt sie mit seiner warmen Hand. »Herzlichen Glückwunsch!«
Peyton stößt einen Seufzer der Erleichterung aus. Nicht, dass sie ernsthaft gezweifelt hätte. Vier zu Hause vorgenommene Schwangerschaftstests konnten unmöglich irren. Dennoch hat sie auf Anraten der Arzthelferin die Praxis aufgesucht und eine Blutuntersuchung machen lassen. Um Gewissheit zu bekommen.
Und die hat sie jetzt also.
In ungefähr acht Monaten wird sie Mutter sein.
»Ich verschreibe Ihnen noch pränatale Vitamine«, teilt Dr. Lombardo ihr mit, wobei er eifrig seine Aufzeichnungen durchblättert. »Ferner müssen ein paar Untersuchungstermine festgelegt werden. Ultraschall, Amniozentese ...«
»Fruchtwasserpunktion? «
»Die empfehle ich all meinen Patientinnen über vierzig. Bei Spätgebä-
renden liegt ein erhöhtes Risiko für gewisse Schädigungen beim Ungeborenen vor, und deshalb ...«
»Ich werde doch erst im September vierzig.« Nach Peytons Berechnungen müsste das Kind im darauf folgenden Monat zur Welt kommen.
Der Arzt zieht die Schultern hoch. »Letzten Endes müssen Sie's selbst wissen. Ich gebe Ihnen ein paar Informationsblätter, damit Sie eine fundierte Entscheidung treffen können.«
Sie nickt zwar, weiß aber jetzt schon, wie diese Entscheidung ausfallen wird. Sie hat zur Vorbereitung auf Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft weiß Gott genug Material studiert. Für sie als mündige Patientin steht ohnehin fest, dass die Tests überflüssig sind. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass das Kind irgendeine schlimme Fehlbildung hätte - was der liebe Gott, so hoffte sie, verhütete -, würde sie es trotzdem austragen. Ganz bewusst.
Wenn Peyton Somerset sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog sie es auch durch. Auf ihre Tour.
Der Arzt schildert inzwischen lang und breit alle möglichen Symptome, mit denen sie eventuell zu kämpfen haben könnte. Peyton unterbricht ihn. »Darf ich mir schnell meine Handtasche holen? Dann kann ich mir einiges gleich in mein Filofax eintragen.«
»Nicht nötig. Ich gebe Ihnen eine unserer Broschüren mit. In denen wird alles Notwendige erklärt.«
»Prima, vielen Dank.« Peyton ist froh, dass sie nicht an Lombardo vorbei nach nebenan marschieren muss, wo ihre Sachen an einem Garderobenhaken hängen. Unter dem schlecht sitzenden Patientenkittel ist sie nämlich splitternackt.
Sicher, im Grunde genommen hat Lombardo bei ihr schon alles gesehen, und zwar zur Genüge. Aber sie kann nichts dafür. Er sieht halt gut aus, der Arzt.
Er doziert weiter und weist sie darauf hin, dass er in einer Gemeinschaftspraxis mit etlichen Spezialisten sowie einer staatlich geprüften Hebamme arbeitet. Danach erklärt er ihr, was sie bei den kommenden Terminen zu erwarten hat. Zu versunken in Gedanken an ihre unmittelbare Zukunft, hört sie ihm kaum zu. Morgendliche Übelkeit? Mag sein. Umstandsmode? Aber gewiss!
Sie lächelt in sich hinein und fragt sich, was jetzt wohl mehr Spaß machen könnte als der sonst obligatorische Frühlingseinkauf. Eine komplette Umstandsgarderobe wird fällig. Nichts in Pastellfarben oder mit Rüschen ...
»Ich kann Ihnen nur wärmstens ans Herz legen, sich für einen Schwangerschaftskurs einzutragen«, bemerkt Dr. Lombardo gerade. »Wir bieten einen an, der von unserer praxiseigenen Hebamme geleitet wird. Außerdem läuft ein guter im Krankenhaus. Der umfasst nicht nur Atemtechnik, sondern auch Schmerzbehandlung und -bewältigung.«
Peyton verdrängt vorübergehend ihre Visionen von den zahlreichen Boutiquen, die sich in Manhattan gezielt auf zahlungskräftige berufstätige Mütter in spe spezialisiert haben. »Ich glaube«, teilt sie Dr. Lombardo mit, »ich werde mich für eine natürliche Geburt entscheiden.«
»Das mag sich für Sie zum jetzigen Zeitpunkt noch ganz toll anhören, aber ...«
Exakt. Er kennt sie eben zu wenig und begreift nicht, dass sie sich von Horrorgeschichten aus dem Kreißsaal nicht so leicht umwerfen lässt. Mittlerweile lässt sich eine Peyton Somerset nicht mehr schnell ins Bockshorn jagen. Was streng genommen sowieso schon immer galt.
Jawohl, nur vor einem hat sie echt einen Horror: dass sie die Fassung verliert. Die Herrschaft über ihren Körper, ihre Gefühle, ihre Zukunft.
Ja, Beherrschung ist das Schlüsselwort.
Dr. Lombardo nimmt den Faden wieder auf. »Aber wenn ich«, fährt er fort, »einen Dollar gekriegt hätte für jede Patientin, die anfangs jeglicher Betäubung abschwört und es sich, kaum dass der Muttermund sich ein paar Zentimeter öffnet, dann doch anders überlegt - da könnte ich mich glatt schon aufs Altenteil begeben. Als junger Privatier.«
Peyton kichert pflichtschuldig. Wie alt mag er sein? Etwa in ihrem Alter; etwas jünger vielleicht. Im Grunde genommen der Inbegriff des hochgewachsenen, dunkelhaarigen Dr. Beauty, wie er in nachmittäglichen TV-Seifenopern auftritt.
»Außerdem sollten Sie sich überlegen, wen Sie bei der Geburt dabei haben wollen, Ms. Somerset«, fügt er hinzu. »Als Beistand.«
»Sie können ruhig Peyton zu mir sagen.«
Er lächelt. »Besorgen Sie sich einen Geburtsbeistand, Peyton. Jemanden, der Ihnen Tag und Nacht nicht von der Seite weicht. Von dem Moment an, wo sie den ersten Krampf spüren, bis hin zur Niederkunft.«
Peyton zwingt sich dazu, seinem Blick standzuhalten, und nickt. »Kein Problem.«
»Gut.«
Kein Problem?
Hätte sie so jemanden - jemanden, der gewillt wäre, ihr Tag und Nacht nicht von der Seite zu weichen und ihr durch die größte Herausforderung ihres Lebens zu helfen -, dann wäre sie überhaupt nicht hier.
Sondern wieder zu Hause in Talbot Corners, und sie würde ihr Baby auf die althergebrachte Weise bekommen.
Aber sie ist nun mal hier in Manhattan und muss mit Schwangerschaft und Geburt ganz allein fertig werden.
Du hast es dir so ausgesucht!, mahnt sie sich. Du lebst dein Leben auf deine Art. Jetzt gibt's kein Zurück mehr. Du willst auch gar nicht zurück.
Doch für Peyton Somerset, für die Beherrschtheit das Schlüsselwort ist, scheint die Zukunft auf einmal unsicher.
Was, wenn sie jetzt ihren Job verliert? Wo sie doch schwanger ist. Oder weil sie schwanger ist. Wie soll sie dann sich und das Kind ernähren?
Mal angenommen, sie behält ihren Arbeitsplatz: Was, wenn sie keine anständige Kindertagesstätte findet? Wenn dem Kleinen etwas zustößt? Oder wenn ihr nach der Geburt selbst etwas passiert? Einer Alleinerziehenden?
Schluss damit, Peyton! Seit wann hast du Selbstzweifel? Seit wann wirst du wankelmütig?
Unsicherheit ist nicht erlaubt. Und damit Schluss.
»Also?«, fragt Dr. Lombardo. »Noch Fragen, Mom?«
Mom! Toll! Du wirst jemandes Mom!
»Nein«, antwortet Peyton, der nun der Kopf schwirrt. »Überhaupt keine.«
»Es fallen Ihnen bestimmt welche ein, kaum dass Sie hier raus sind. Zögern Sie nicht, in der Praxis anzurufen. Jederzeit. Sie können uns auch eine E-Mail schicken, wenn das für Sie bequemer ist. Wir sind für Sie da und gewöhnt an Patientinnen, die auf sich allein gestellt sind.«
»Das hört man gern.« Denn in diese Kategorie passt sie hundertprozentig. In der Tat: So allein hat sie sich im ganzen Leben noch nicht gefühlt.
»Mr. und Mrs. Cordell?«
Derry schaut von ihrer Illustrierten auf. Bisher hat sie so getan, als lese sie angestrengt in einer veralteten Ausgabe eines Frauenmagazins, sich aber die Fingernägel bis aufs Nagelbett dabei abgeknabbert.
Dr. Lombardos Sprechstundenhilfe winkt.
Linden, der neben Derry sitzt, springt auch prompt auf und wirft die Ausgabe des Wissenschaftsblattes beiseite, in das er sich die vergangenen zwanzig Minuten voll und ganz vertieft hatte. Dabei müsste man eigentlich annehmen, dass er genauso aufgeregt wäre wie sie! Sehr zu Derrys Unmut wirkt ihr Mann indes vollkommen entspannt, erst recht, seit er weiß, dass die Krankenversicherung die Kosten des Besuchs übernimmt.
Nicht einmal über die zehn Dollar Zuzahlung hat er gemeckert. Für ein Schnäppchen ist er eben immer zu haben.
»Fertig?«, fragt er.
Sie nickt. Gibt's das überhaupt, dass man als Frau bereit ist zu erfahren, warum die Regel Monat für Monat genauso präzise eintrifft wie die Telefonrechnung? Nachdem man über ein Jahr lang probiert hat, schwanger zu werden?
Nur die Ruhe, einmal wird's schon klappen. Pustekuchen. Die haben alle leicht reden: Ihre Mutter, ihre älteren Schwestern, ihre Freundinnen. Bei denen ist alles anders. Normal. Die wollten Kinder und kriegten auch welche.
So soll's ja auch sein. Bloß ...
...
Übersetzung: Martin Hillebrand
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
»Bitte! Bitte, tun Sie mir nichts! Ich möchte doch bloß mein Baby ...«
»Aber gewiss doch!« Ihr Gegenüber verzieht die Lippen und entblößt weiße, ebenmäßige Zähne. »Sie werden Ihr Baby bekommen.«
Die Worte - und das Lächeln - können Heather nicht im Geringsten beruhigen. Sie wird von einem kalten Schauder gepackt.
Nur unter Aufbietung aller Kräfte gelingt es ihr, die aufkommende Panik zu unterdrücken. An ein Entkommen ist nicht zu denken; hochschwanger liegt sie auf dem Bett ausgestreckt, Hände und Füße an die Bettpfosten gefesselt. Selbst wenn man sie lange genug allein ließe, um die Hände aus den Stricken zu zwängen, selbst wenn sie in Hochform wäre und rennen könnte - weit käme sie nicht. Was jenseits der Zimmertür lauert, weiß Heather nicht - mit verbundenen Augen und unter vorgehaltener Waffe wurde sie an diesen Ort gebracht. Jetzt ist die Augenbinde ab und die Pistole versteckt, doch Heather ahnt ihre Nähe. Ein Risiko darf sie nicht eingehen. Todesangst überkommt sie.
Körperlich hilflos, kann sie sich nur mental wehren. Sie zerbricht sich den Kopf nach einem Ausweg, nach einer schlüssigen Erklärung. Der einzige logische Gedanke, den ihr verworrenes Hirn zu formen vermag, ist der, dass sie in Wirklichkeit gar nicht hier ist. Das Ganze ist völlig unmöglich. Sie muss zu Haus ein ihrem Bett liegen. Es muss sich um einen jener verrückten Albträume handeln, von denen sie seit ein paar Wochen heimgesucht wird.
Die Lider fest zugekniffen, gibt sie sich selbst ein Versprechen: Wenn sie bis zehn zählt und dann die Augen aufschlägt, sieht sie garantiert die vertraute weiß-rosa Streifentapete, den Kuscheltierzoo und über dem Bett die Pinnwand mit den Fotos von ihr und Ryan beim Abschlussball und im Cheerleader-Trainingslager im vergangenen Sommer.
Eins ... zwei ... drei ...
Das Sommerlager war ihr von ihrer Mutter geradezu aufgezwungen worden. Im Vorjahr hatte Heather noch um die Teilnahme gebettelt, aber da konnten sie es sich angeblich nicht leisten. Diesmal hatte ihre Mutter das Geld dafür irgendwie zusammengekratzt, allen Protesten zum Trotz. Heather wäre viel lieber zu Hause geblieben, in der Nähe von Ryan, der im städtischen Schwimmbad als Rettungsschwimmer jobbte.
Natürlich war Ryan der eigentliche Grund, weswegen ihre Mutter sie den Sommer über von Staten Island weghaben wollte. Sie war nämlich der Ansicht, Heather hocke viel zu häufig mit ihm zusammen. Sie hatte Angst, der Tochter könne genau das passieren, was schon ihr selbst passiert war. Alles Betteln und Flehen half nichts: In Sachen Cheerleader-Camp blieb ihre Mutter hart. »Du fährst, Heather. Ende der Diskussion.«
... vier ... fünf ... sechs ... sieben ...
Ende der Diskussion? Von wegen. Nach der Rückkehr aus dem Sommerlager stellte Heather fest, dass ihre Periode ausgeblieben war. Von einem Tag auf den anderen wurde aus Heather das wandelnde Klischee -das römisch-katholische Schulmädchen, das bei der Abschlussfeier der Mittelstufe die Unschuld verliert und sich ein Kind andrehen lässt. Der schlimmste Albtraum ihrer Mutter.
Schlimmer. Sie kam sich vor wie ihre Mutter selbst.
... acht ... neun ... zehn!
Keine rosa-weiße Streifentapete.
Kein Kuscheltierzoo.
Keine Pinnwand.
Der Verzweiflung nahe lässt Heather den Blick durch das unscheinbare, kastenförmige Zimmer schweifen. Weiß getünchte Wände. Kommode, Stuhl, hölzernes Bettgestell. Ein Fenster mit geschlossenen Jalousien; schlichte beige Vorhänge an einer Gardinenstange aus Metall.
Wo bin ich, verdammt noch mal?
Von grenzenlosem Heimweh erfasst, sehnt sie sich nach den bauschigen weißen Tüllgardinen, die ihre Mutter im vergangenen Jahr beim Ausverkauf im Supermarkt erstanden hatte. Heather hatte die Dinger viel zu babyhaft für eine Fünfzehnjährige gefunden. Jetzt würde sie alles dafür geben, sie noch einmal zu sehen. Ihre Mutter wiederzusehen.
»Bitte ...« Wimmernd fügt sie sich in die Erkenntnis, dass dies alles doch kein Albtraum ist.
Sondern Wirklichkeit.
Wieder ragt die Gestalt drohend über dem Bett auf. Jetzt ist Heather fest davon überzeugt, dass ihr Leben - und das ihres Ungeborenen - in Gefahr ist.
»Was gibt's? Hast Angst, was? Armes Ding.«
Die Augen, die auf sie herunterblicken, sind sonderbar leer und bar jeder menschlichen Regung. Die fröhliche Stimme, die Heather noch Hilfe beim Beladen ihres Autos angeboten hatte, ist einem beklemmend sachlichen, monotonen Säuseln gewichen. »Ist fast vorbei. Keine Sorge.«
Was soll bald vorbei sein? Oh, lieber Gott, hilf mir!
Heather muss auch noch für ein zweites Klischee herhalten: der hübsche Teenager, der nach einem Bummel durchs Einkaufszentrum spurlos verschwindet.
Noch so ein wahr gewordener Albtraum ihrer Mutter.
Der schlimmste.
»Sieh zu, dass du ein bisschen ruhiger wirst. Das Zittern ist nicht gut für das Kind, hörst du?«
Oh, bitte, bitte! Ich will zu meiner Mom! Ich will nach Hause!
»Hast du Hunger? Quatsch, dumme Frage! Klar hast du Hunger. Du
musst ja für zwei essen, und es ist kurz vor sechs. Zeit fürs Abendbrot.« Sechs Uhr erst?
Dabei kommt es ihr so vor, als sei es schon Stunden her, seit sie aus dem Einkaufszentrum kam und sich im gefrierenden Regen über den vereisten Parkplatz tastete. Um auf die Armbanduhr zu sehen, versucht Heather instinktiv, das linke Handgelenk anzuheben. Doch das wird gehalten von dem Strick, der sie an den Bettpfosten fesselt.
Verzweifelt wimmernd schließt sie die Augen. Eine ganze Bilderflut stürmt auf sie ein.
Die Bestürzung in Ryans schönen blaugrünen Augen, als sie ihm mitteilte, der Schwangerschaftstest sei positiv.
Bittere Enttäuschung und Resignation auf dem Gesicht ihrer Mutter.
Ein winziger Punkt auf dem Ultraschallmonitor. Ein Punkt, von dem sie sich wünschte, er möge auf wundersame Weise verschwinden, damit Ryan wieder Teil ihres Lebens wäre.
Doch das liegt fast acht Monate zurück.
Das alles ereignete sich, bevor sie zum ersten Mal den schnellen Herzschlag des Kindes hörte; bevor sie das erste sachte Flattern spürte, die erste Regung von Leben in ihrem schwellenden Leib. Das alles geschah, ehe die kaum spürbaren Kindsbewegungen den ersten Tritten und Stößen wichen, bisweilen auch einem stakkatoartigen leisen Klopfen - dem Schluckauf des Ungeborenen, so der Arzt. Diese pochenden Laute waren es, bei denen ihr die Schwangerschaft erst so richtig bewusst wurde.
Zu Anfang als Fluch empfunden, hat sich ihr süßes Geheimnis in einen Segen verwandelt; inzwischen sieht Heather dem Datum, vor dem ihr einst regelrecht graute, mit gespannter Vorfreude entgegen. Und es ist bald so weit.
Knapp achtundvierzig Stunden bis zur vorausberechneten Niederkunft.
In letzter Zeit war sie total erledigt und das Wetter dazu auch noch lausig. Warum ist sie da nicht einfach zu Hause geblieben? Wieso musste sie unbedingt noch ein allerletztes Mal im Babyausstattungsladen vorbeischauen?
Weil es ihr nicht passte, dass die Erstausstattung für ihr Baby so bescheiden aussah. Weil sie sich einredete, das Kleine benötige noch ein paar Strampler, noch ein paar Mützchen und winzige Söckchen ...
Vielleicht auch deswegen, weil sie sich innerlich nach einem letzten Einkaufsbummel sehnte. Nach einer Verbindung zu ihren unbeschwerten Teenagertagen, die sie hinter sich gelassen hatte, als ihr Bauch dicker wurde und Ryan sowie ihre Freundinnen nichts mehr von ihr wissen wollten.
»He!« Ein heftiger, schmerzhafter Stoß gegen den Arm reißt Heather jäh in die grausige Gegenwart zurück. Als sie abrupt die Augen aufschlägt, sieht sie über sich aufs Neue das unheimliche, fremde Gesicht. »Du hast meine Frage nicht beantwortet! Ob du Hunger hast!«
Oh, bitte, lieber Gott! Mach, dass dieser verrückte Mensch mir nichts tut!
»Ich will nach Hause.«
Eine überraschend sanfte Hand streichelt ihr über den Kopf. »Still. Alles wird gut.«
Still...
Still, still ... weil's Kindlein schlafen will ...
Die Melodie des Wiegenliedes, das sie, wenn sie allein ist, schon seit Monaten vor sich hin summt, kommt Heather in den Sinn.
»Bitte! Bitte, lassen Sie mich nach Hause!«
Bitte! Ich möchte mein Baby wiegen und Schlaflieder singen. Bitte!
»Bedaure, das geht nicht.« Das Lächeln weicht einer geschäftsmäßigen Mine, die Heather noch beklemmender vorkommt. Sie hat das Gefühl, als diene es einem bestimmten Zweck, dass man sie hier gefangen hält. Als gäbe es einen besonderen Anlass dafür.
»Was möchtest du essen? Hast du Heißhunger auf was Besonderes? Eingelegte Gurken und Eis vielleicht?«
Der Frage folgt ein irres Gelächter, das aber genauso schnell verstummt, wie es losbrach. »Also - was soll ich dir zu essen machen?«
Diese Person ist sicher nicht richtig im Kopf, aber harmlos!, redet Heather sich ein. Wahrscheinlich ist es das Beste, du spielst einfach mit, bis jemand hier auftaucht und dich rettet. Wo immer »hier« sein mag.
Sie hat keine Ahnung, in welche Richtung es ging, nachdem sie hinten in den Laderaum eines Lieferwagens gestoßen worden war. Der Kleinlaster stand auf dem Parkdeck des Einkaufszentrums, dicht neben dem Auto ihrer Mutter - so dicht, dass es Heather eigentlich hätte stutzig machen müssen.
Wieso hast du deine dämlichen Einkäufe nicht selbst geschleppt?
Warum hat sie nicht auf die Mahnungen ihrer Mutter gehört, sich nie von Unbekannten ansprechen zu lassen?
»Ich warte!«, zischt die Stimme jetzt. »Los, sag schon! Was möchtest du essen?«
»Irgendwas!« Vor Todesangst ist Heather die Kehle wie zugeschnürt. Nur mit Mühe würgt sie dieses eine Wort heraus.
»Ach, komm schon! Du hast doch sicher einen besonderen Wunsch! Sogar zum Tode Verurteilte dürfen sich die Henkersmahlzeit selbst aussuchen.«
Die Henkersmahlzeit.
In diesem Augenblick fällt es Heather wie Schuppen von den Augen. Sie wird nie mehr nach Hause kommen. Nie wieder heim zu ihrer Mom. Und wird nie selbst eine Mommy werden.
In Tränen aufgelöst, fleht sie um ihr Leben, obwohl sie ahnt, dass alles vergebens ist. »Bitte!«, jammert sie wieder und wieder. »Lassen Sie mich gehen. Ich möchte nur mein Baby bekommen.«
»Das wirst du! Versprochen! Glaub mir, was ich verspreche, das halte ich. Immer.«
»Bitte ...«
»Bleib ruhig. Du kriegst dein Kind ...«
Das kapiert doch kein Mensch!, durchzuckt es Heather noch wild. Dann hört sie die grausigsten Worte überhaupt: »Du bekommst dein Kind, und zwar direkt nach deiner letzten Mahlzeit. Und eins kannst du mir ruhig abnehmen: Was auf dich zukommt, erfordert deine ganze Kraft.«
Zehn Jahre später
Erster Monat
Februar
1. Kapitel
»Mrs. Somerset, ich habe eine gute Nachricht für Sie!« Mit dem Klemmbrett in der Hand und einem breiten Lächeln auf dem attraktiven Gesicht tritt Dr. Lombardo schwungvoll ins Untersuchungszimmer.
»0 mein Gott!« Die Tränen schießen Peyton in die grauen Augen. »Wann ist es so weit?«
»Wie bitte? Da haben Sie wohl was missverstanden. Mit der guten Nachricht meinte ich den Dow-Jones-Index. Der ist gerade einundvierzig Punkte nach oben geschossen.«
Er macht bloß Spaß!, versichert sich Peyton. Trotzdem verspürt sie einen leichten Anflug von Beklommenheit, als wäre alles zu schön, um wahr zu sein. »Ich bin aber doch schwanger ... oder?«
»Und ob Sie schwanger sind!« Der Geburtshelfer ergreift ihre Rechte und umschließt sie mit seiner warmen Hand. »Herzlichen Glückwunsch!«
Peyton stößt einen Seufzer der Erleichterung aus. Nicht, dass sie ernsthaft gezweifelt hätte. Vier zu Hause vorgenommene Schwangerschaftstests konnten unmöglich irren. Dennoch hat sie auf Anraten der Arzthelferin die Praxis aufgesucht und eine Blutuntersuchung machen lassen. Um Gewissheit zu bekommen.
Und die hat sie jetzt also.
In ungefähr acht Monaten wird sie Mutter sein.
»Ich verschreibe Ihnen noch pränatale Vitamine«, teilt Dr. Lombardo ihr mit, wobei er eifrig seine Aufzeichnungen durchblättert. »Ferner müssen ein paar Untersuchungstermine festgelegt werden. Ultraschall, Amniozentese ...«
»Fruchtwasserpunktion? «
»Die empfehle ich all meinen Patientinnen über vierzig. Bei Spätgebä-
renden liegt ein erhöhtes Risiko für gewisse Schädigungen beim Ungeborenen vor, und deshalb ...«
»Ich werde doch erst im September vierzig.« Nach Peytons Berechnungen müsste das Kind im darauf folgenden Monat zur Welt kommen.
Der Arzt zieht die Schultern hoch. »Letzten Endes müssen Sie's selbst wissen. Ich gebe Ihnen ein paar Informationsblätter, damit Sie eine fundierte Entscheidung treffen können.«
Sie nickt zwar, weiß aber jetzt schon, wie diese Entscheidung ausfallen wird. Sie hat zur Vorbereitung auf Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft weiß Gott genug Material studiert. Für sie als mündige Patientin steht ohnehin fest, dass die Tests überflüssig sind. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass das Kind irgendeine schlimme Fehlbildung hätte - was der liebe Gott, so hoffte sie, verhütete -, würde sie es trotzdem austragen. Ganz bewusst.
Wenn Peyton Somerset sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog sie es auch durch. Auf ihre Tour.
Der Arzt schildert inzwischen lang und breit alle möglichen Symptome, mit denen sie eventuell zu kämpfen haben könnte. Peyton unterbricht ihn. »Darf ich mir schnell meine Handtasche holen? Dann kann ich mir einiges gleich in mein Filofax eintragen.«
»Nicht nötig. Ich gebe Ihnen eine unserer Broschüren mit. In denen wird alles Notwendige erklärt.«
»Prima, vielen Dank.« Peyton ist froh, dass sie nicht an Lombardo vorbei nach nebenan marschieren muss, wo ihre Sachen an einem Garderobenhaken hängen. Unter dem schlecht sitzenden Patientenkittel ist sie nämlich splitternackt.
Sicher, im Grunde genommen hat Lombardo bei ihr schon alles gesehen, und zwar zur Genüge. Aber sie kann nichts dafür. Er sieht halt gut aus, der Arzt.
Er doziert weiter und weist sie darauf hin, dass er in einer Gemeinschaftspraxis mit etlichen Spezialisten sowie einer staatlich geprüften Hebamme arbeitet. Danach erklärt er ihr, was sie bei den kommenden Terminen zu erwarten hat. Zu versunken in Gedanken an ihre unmittelbare Zukunft, hört sie ihm kaum zu. Morgendliche Übelkeit? Mag sein. Umstandsmode? Aber gewiss!
Sie lächelt in sich hinein und fragt sich, was jetzt wohl mehr Spaß machen könnte als der sonst obligatorische Frühlingseinkauf. Eine komplette Umstandsgarderobe wird fällig. Nichts in Pastellfarben oder mit Rüschen ...
»Ich kann Ihnen nur wärmstens ans Herz legen, sich für einen Schwangerschaftskurs einzutragen«, bemerkt Dr. Lombardo gerade. »Wir bieten einen an, der von unserer praxiseigenen Hebamme geleitet wird. Außerdem läuft ein guter im Krankenhaus. Der umfasst nicht nur Atemtechnik, sondern auch Schmerzbehandlung und -bewältigung.«
Peyton verdrängt vorübergehend ihre Visionen von den zahlreichen Boutiquen, die sich in Manhattan gezielt auf zahlungskräftige berufstätige Mütter in spe spezialisiert haben. »Ich glaube«, teilt sie Dr. Lombardo mit, »ich werde mich für eine natürliche Geburt entscheiden.«
»Das mag sich für Sie zum jetzigen Zeitpunkt noch ganz toll anhören, aber ...«
Exakt. Er kennt sie eben zu wenig und begreift nicht, dass sie sich von Horrorgeschichten aus dem Kreißsaal nicht so leicht umwerfen lässt. Mittlerweile lässt sich eine Peyton Somerset nicht mehr schnell ins Bockshorn jagen. Was streng genommen sowieso schon immer galt.
Jawohl, nur vor einem hat sie echt einen Horror: dass sie die Fassung verliert. Die Herrschaft über ihren Körper, ihre Gefühle, ihre Zukunft.
Ja, Beherrschung ist das Schlüsselwort.
Dr. Lombardo nimmt den Faden wieder auf. »Aber wenn ich«, fährt er fort, »einen Dollar gekriegt hätte für jede Patientin, die anfangs jeglicher Betäubung abschwört und es sich, kaum dass der Muttermund sich ein paar Zentimeter öffnet, dann doch anders überlegt - da könnte ich mich glatt schon aufs Altenteil begeben. Als junger Privatier.«
Peyton kichert pflichtschuldig. Wie alt mag er sein? Etwa in ihrem Alter; etwas jünger vielleicht. Im Grunde genommen der Inbegriff des hochgewachsenen, dunkelhaarigen Dr. Beauty, wie er in nachmittäglichen TV-Seifenopern auftritt.
»Außerdem sollten Sie sich überlegen, wen Sie bei der Geburt dabei haben wollen, Ms. Somerset«, fügt er hinzu. »Als Beistand.«
»Sie können ruhig Peyton zu mir sagen.«
Er lächelt. »Besorgen Sie sich einen Geburtsbeistand, Peyton. Jemanden, der Ihnen Tag und Nacht nicht von der Seite weicht. Von dem Moment an, wo sie den ersten Krampf spüren, bis hin zur Niederkunft.«
Peyton zwingt sich dazu, seinem Blick standzuhalten, und nickt. »Kein Problem.«
»Gut.«
Kein Problem?
Hätte sie so jemanden - jemanden, der gewillt wäre, ihr Tag und Nacht nicht von der Seite zu weichen und ihr durch die größte Herausforderung ihres Lebens zu helfen -, dann wäre sie überhaupt nicht hier.
Sondern wieder zu Hause in Talbot Corners, und sie würde ihr Baby auf die althergebrachte Weise bekommen.
Aber sie ist nun mal hier in Manhattan und muss mit Schwangerschaft und Geburt ganz allein fertig werden.
Du hast es dir so ausgesucht!, mahnt sie sich. Du lebst dein Leben auf deine Art. Jetzt gibt's kein Zurück mehr. Du willst auch gar nicht zurück.
Doch für Peyton Somerset, für die Beherrschtheit das Schlüsselwort ist, scheint die Zukunft auf einmal unsicher.
Was, wenn sie jetzt ihren Job verliert? Wo sie doch schwanger ist. Oder weil sie schwanger ist. Wie soll sie dann sich und das Kind ernähren?
Mal angenommen, sie behält ihren Arbeitsplatz: Was, wenn sie keine anständige Kindertagesstätte findet? Wenn dem Kleinen etwas zustößt? Oder wenn ihr nach der Geburt selbst etwas passiert? Einer Alleinerziehenden?
Schluss damit, Peyton! Seit wann hast du Selbstzweifel? Seit wann wirst du wankelmütig?
Unsicherheit ist nicht erlaubt. Und damit Schluss.
»Also?«, fragt Dr. Lombardo. »Noch Fragen, Mom?«
Mom! Toll! Du wirst jemandes Mom!
»Nein«, antwortet Peyton, der nun der Kopf schwirrt. »Überhaupt keine.«
»Es fallen Ihnen bestimmt welche ein, kaum dass Sie hier raus sind. Zögern Sie nicht, in der Praxis anzurufen. Jederzeit. Sie können uns auch eine E-Mail schicken, wenn das für Sie bequemer ist. Wir sind für Sie da und gewöhnt an Patientinnen, die auf sich allein gestellt sind.«
»Das hört man gern.« Denn in diese Kategorie passt sie hundertprozentig. In der Tat: So allein hat sie sich im ganzen Leben noch nicht gefühlt.
»Mr. und Mrs. Cordell?«
Derry schaut von ihrer Illustrierten auf. Bisher hat sie so getan, als lese sie angestrengt in einer veralteten Ausgabe eines Frauenmagazins, sich aber die Fingernägel bis aufs Nagelbett dabei abgeknabbert.
Dr. Lombardos Sprechstundenhilfe winkt.
Linden, der neben Derry sitzt, springt auch prompt auf und wirft die Ausgabe des Wissenschaftsblattes beiseite, in das er sich die vergangenen zwanzig Minuten voll und ganz vertieft hatte. Dabei müsste man eigentlich annehmen, dass er genauso aufgeregt wäre wie sie! Sehr zu Derrys Unmut wirkt ihr Mann indes vollkommen entspannt, erst recht, seit er weiß, dass die Krankenversicherung die Kosten des Besuchs übernimmt.
Nicht einmal über die zehn Dollar Zuzahlung hat er gemeckert. Für ein Schnäppchen ist er eben immer zu haben.
»Fertig?«, fragt er.
Sie nickt. Gibt's das überhaupt, dass man als Frau bereit ist zu erfahren, warum die Regel Monat für Monat genauso präzise eintrifft wie die Telefonrechnung? Nachdem man über ein Jahr lang probiert hat, schwanger zu werden?
Nur die Ruhe, einmal wird's schon klappen. Pustekuchen. Die haben alle leicht reden: Ihre Mutter, ihre älteren Schwestern, ihre Freundinnen. Bei denen ist alles anders. Normal. Die wollten Kinder und kriegten auch welche.
So soll's ja auch sein. Bloß ...
...
Übersetzung: Martin Hillebrand
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Wendy Morgan
Wendy Morgan hat Englische Literatur mit dem Schwerpunkt Kreatives Schreiben studiert. Nach ihrem Studium hat sie zunächst als Lektorin und Journalistin gearbeitet, um sich dann ganz ihrem Traumberuf als Schriftstellerin zu widmen. Sie hat in den USA schon zahlreiche erfolgreiche Krimis veröffentlicht. Wendy Morgan lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in New York.
Bibliographische Angaben
- Autor: Wendy Morgan
- 2012, 1, 416 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386800694X
- ISBN-13: 9783868006940
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