Sonne über Wahi-Koura
Neuseeland-Roman. Originalausgabe
Schwere Schicksalsschläge zwingen Helena de Villiers, ihr Weingut im Rheingau zu verkaufen und nach Neuseeland auszuwandern. Dort, auf dem Weingut ihrer Schwiegermutter Louise, will die junge Frau den Neuanfang wagen. Aber auch Louises Besitz ist...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Sonne über Wahi-Koura “
Schwere Schicksalsschläge zwingen Helena de Villiers, ihr Weingut im Rheingau zu verkaufen und nach Neuseeland auszuwandern. Dort, auf dem Weingut ihrer Schwiegermutter Louise, will die junge Frau den Neuanfang wagen. Aber auch Louises Besitz ist bedroht: Ihr größter Widersacher Manson will ihr Land an sich reißen und schreckt selbst vor Mord nicht zurück. Bis Helena sich am anderen Ende der Welt zu Hause fühlt, muss sie so manches Abenteuer überstehen und sich mutig zur Liebe bekennen.
Klappentext zu „Sonne über Wahi-Koura “
Schwere Schicksalsschläge zwingen Helena de Villiers, ihr Weingut im Rheingau zu verkaufen und nach Neuseeland auszuwandern. Dort, auf dem Weingut ihrer Schwiegermutter Louise, will die junge Frau den Neuanfang wagen. Aber auch Louises Besitz ist bedroht: Ihr größter Widersacher Manson will ihr Land an sich reißen und schreckt selbst vor Mord nicht zurück. Bis Helena sich am anderen Ende der Welt zu Hause fühlt, muss sie so manches Abenteuer überstehen und sich mutig zur Liebe bekennen ...
Lese-Probe zu „Sonne über Wahi-Koura “
Sonne über Wahi-Koura von Anne Laureen Prolog
Wiesbaden
1910
Nach einem strengen Winter und einem verregneten Frühjahr
verwöhnte der Sommer die Einwohner und Besucher Wiesbadens
mit Sonnenschein und Blütenpracht. Die Beete mit bunten
Blumen im Garten des Kurhauses leuchteten. Seltene Stauden
und Palmen verbreiteten ein exotisches Flair. Vogelgezwitscher
erklang in den Baumkronen, untermalt vom Plätschern der
Brunnen, die den Platz vor dem neoklassizistischen Gebäude
zierten. Helena von Lilienstein war überwältigt von all dieser
Schönheit. Schwelgend schloss sie die Augen und atmete den
berauschenden Blütenduft ein. Welch kostbarer Augenblick der Ruhe!
Als Kurgesellschafterin Sophie von Brockums hatte es die
Zweiundzwanzigjährige nicht leicht. Die anspruchsvolle Schwester
ihres Vaters litt an einer Lungenkrankheit und war deshalb
noch mürrischer als sonst. Weder der prächtige Kurpark noch
der herrliche Sonnenschein hatte sie zu einem Spaziergang aus
dem Hotel locken können. Sophie hatte es vorgezogen, in ihrem
Zimmer zu bleiben, wo sie ihrer Nichte noch vor wenigen Minuten
Vorhaltungen gemacht hatte. Die alte Dame wollte einfach
nicht begreifen, warum Helena noch immer nicht verheiratet war.
»Tante, du weißt doch, dass mir die Verantwortung für mein
Weingut keine Zeit dazu lässt«, hatte Helena erklärt, ohne
jedoch zu Sophie durchzudringen.
»Ein Gatte sollte dir diese Last abnehmen, damit du dich um
die wahren Pflichten einer Frau kümmern könntest«, hatte sie
erwidert. »Vergiss nicht, dass Frauen nicht zum Arbeiten geboren
sind!«
... mehr
Helena stand der Sinn aber nicht nach Kinderkriegen und
Abendgesellschaften. Ihre Liebe hatte schon immer dem väterlichen
Weingut gehört. Nach dem frühen Tod der Eltern trug sie
die Verantwortung für den Familienbetrieb. Zeit, um auf Bällen
und Empfängen nach einem Bräutigam Ausschau zu halten,
hatte sie nicht. Natürlich wollte sie eines Tages heiraten, doch
warum sollte sie nicht auch als Winzerin erfolgreich sein?
Sophie hatte für diese moderne Ansicht allerdings gar nichts
übrig. Immer wieder versuchte sie, das Interesse der männlichen
Kurgäste auf ihre Nichte zu lenken. Dabei übersah sie
geflissentlich, dass die jüngsten von ihnen doppelt so alt wie
Helena waren.
Ach, wenn Tantchen nur einsehen würde, dass sich die Zeiten
geändert haben!, dachte Helena nun, während sie auf der
Parkbank die wärmende Sonne genoss.
Da ertönten Schritte.
Helena schlug die Augen auf.
Ein Mann stand vor ihr. Er war etwa Mitte dreißig und trug
einen braunen Tweedanzug. Schwarze Locken umrahmten ein
markantes, sonnengebräuntes Gesicht.
Wie lange hat er mich wohl schon beobachtet?, fragte sie sich
erschrocken.
»Excusez-moi,
Mademoiselle, ich wollte Sie nicht aus Ihrer petite sieste reißen.«
»Ein Mittagsschläfchen?«, fragte Helena lachend. »Nein,
nein, Monsieur, ich habe nur die Stille genossen. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich suche die Trinkhalle.« Er lächelte gewinnend. »Können Sie mir sagen, wo ich sie finde?«
Es überraschte Helena, dass er so flüssig deutsch sprach,
wenngleich mit einem ausgeprägten französischen Akzent. Sie
musterte ihn neugierig. Die Trinkhalle des Kurhauses, in der
man jederzeit Quellwasser zu sich nehmen konnte, war eigentlich
nicht zu übersehen. Kaum zu glauben, dass er sie nicht
gefunden hatte . . . Doch sie wollte nicht unhöflich sein. Was für
Augen!, dachte sie, während sie das Gefühl hatte, in dem hellen
Blau zu versinken.
»Sie müssen nur geradeaus gehen. Hinter dem Pavillon befindet sich der Eingang.«
»Vielen Dank.« Der Mann rührte sich nicht von der Stelle.
Was will er denn jetzt noch? Helena zwang sich, nicht nervös an ihrem Ärmel zu zupfen.
»Halten Sie mich bitte nicht für unverschämt, aber dürfte ich Sie bitten, mich zur Trinkhalle zu begleiten?«
»Haben Sie etwa Angst, sich zu verlaufen?«
»Nein, Ihre Beschreibung war sehr gut, doch in Ihrer Begleitung ist der Weg sicher angenehmer.«
Wie kommt er bloß dazu, mich darum zu bitten? »Ich kenne ja nicht mal Ihren Namen!«
Dass sie in wenigen Minuten von ihrer Tante erwartet wurde, verschwieg Helena.
»Bitte verzeihen Sie!« Der Fremde deutete eine Verbeugung
an. »Mein Name ist Laurent de Villiers. Wir Neuseeländer vergessen schon mal unsere Manieren.«
»Neuseeländer? Das ist ja kaum zu glauben!«
»Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen meinen Pass, Mademoiselle.«
Diese Wendung war Helena peinlich. Sie hatte ihn nicht als
Lügner hinstellen wollen. Verlegen senkte sie den Kopf. Über
Neuseeland wusste sie nicht viel mehr, als dass diese Insel
irgendwo in der Südsee lag. Aber vielleicht hatte er ihr ja tatsächlich
etwas vorgeflunkert. »Was treibt Sie denn hierher
nach Wiesbaden?«, fragte sie deshalb. »Ich habe Sie für einen
Franzosen gehalten. Ist Neuseeland nicht eine englische Kronkolonie?«
»Das ist richtig. Dennoch gibt es dort zahlreiche Franzosen.
Aber dürfte ich Ihren Namen erfahren, bevor ich Ihnen verrate, was mich hierhergeführt hat?«
Helena war hin und her gerissen. Der Mann verhielt sich
sonderbar, aber er hatte etwas Faszinierendes an sich. »Ich bin Helena von Lilienstein.«
Monsieur de Villiers nahm ihre Hand und hauchte einen
formvollendeten Kuss darüber. »Es ist mir eine Freude, Ihre
Bekanntschaft zu machen, Mademoiselle Lilienstein.«
Helena errötete und schlug verlegen die Augen nieder.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?«
»Keinesfalls, nur . . .«
Er wartete ihren Einwand nicht ab, sondern nahm gleich
Platz. Viel zu nahe. Helena rückte unwillkürlich etwas zur
Seite. Tausend Schmetterlinge schienen in ihrem Bauch zu flattern.
»Ich bin vor einem Jahr nach Deutschland gekommen, weil
ich hier fern von den Ansprüchen meiner Mutter leben kann«, erklärte De Villiers nun.
»Was verlangt sie denn von Ihnen?«, fragte Helena verwundert.
»Dass ich den Familienbetrieb übernehme. Aber ich habe
andere Ambitionen.« Theatralisch breitete er die Arme aus.
»Ich möchte den Himmel erobern!«
Helena lachte. »Nichts weiter als das?«
»Das genügt doch, oder? Auf den Spuren des Ikarus wandeln ...«
Mit ähnlicher Leidenschaft hätte ich vom Weinbau gesprochen,
kam ihr in den Sinn. »Sie wissen aber sicher, welches Schicksal Ikarus erlitten hat.«
Laurent nickte. »Er flog zu nahe an die Sonne, seine Flügel
schmolzen, und er stürzte ab. Aber mir wird das nicht passieren!
Ich werde in einer Maschine aus Eisen, Holz und Tuch
fliegen. Kein Wachs und keine Federn. Haben Sie je von Otto
Lilienthal gehört? Oder von den Gebrüdern Wright?«
Wie seine Augen leuchten!, dachte Helena. »Von Lilienthal
habe ich gehört. Seine Flugapparate waren nicht besonders erfolgreich.«
»Immerhin ist er tausend Mal damit gesegelt. Die Gebrüder
Wright haben das erste Motorflugzeug gebaut. Und Henri Farman
ist im vergangenen Jahr ein Flug von drei Stunden gelungen,
bei dem er hundertachtzig Kilometer zurückgelegt hat.
Ich will diesen Rekord verbessern. Nein, ich werde die gesamte Fliegerei revolutionieren!«
»Und wie stellen Sie sich das vor?«
»Ich habe Kontakt zu Louis B´echereau aufgenommen, der
an einem ganz neuartigen Flugzeug arbeitet. Ich unterstütze
ihn und fliege für ihn. Wir werden Geschichte schreiben!«
Sein eindringlicher Blick stürzte Helena in Verlegenheit. Sie
räusperte sich, griff nach dem Buch, das neben ihr lag, und umklammerte
es wie einen Rettungsanker. »Wollten Sie nicht
eigentlich zur Trinkhalle?«, brachte sie schließlich hervor.
Laurent funkelte sie schelmisch an. »Ich muss gestehen, dass
dies eigentlich nur eine Ausrede war, um Sie in ein Gespräch
zu verwickeln. Ich beobachte Sie schon seit einer Woche, und
mir wollte kein besserer Vorwand einfallen, um Sie anzusprechen.«
Eine Woche!
Helena musste ihn fragend angesehen haben, denn er fügte
rasch hinzu: »Ich habe einen Bekannten, den ich hin und wieder
besuche, wenn er sich im Kurhaus aufhält. Bei meinem
Besuch letzte Woche habe ich gesehen, wie Sie mit einer älteren
Dame hier angekommen sind. Von dem Augenblick an wollte
Ich wissen, wer Sie sind. Und vor lauter Angst, dass Sie wieder
abreisen könnten, ohne dass ich Ihren Namen in Erfahrung
gebracht habe, bin ich auf die Sache mit der Trinkhalle verfallen.«
Helena vergaß vor lauter Anspannung zu atmen. Warum habe ich ihn nicht bemerkt?, fragte sie sich. »Also gut!« Sie
erhob sich resolut von der Bank. »Machen wir einen kleinen
Spaziergang. Ich wünsche allerdings, dass Sie mir noch mehr von sich erzählen.«
Laurent lächelte breit, sprang auf und bot ihr seinen Arm an.
»Das wird sich einrichten lassen. Hoffentlich langweile ich Sie nicht.«
»Wir werden sehen«, gab Helena lächelnd zurück und
hängte sich bei ihm ein. Tantchen wird sicher schon wach sein,
überlegte sie, aber jetzt habe ich eine gute Entschuldigung, wenn ich mich verspäte.
Drei Jahre später...
Seit Stunden lag Helena de Villiers wach und lauschte dem
Vogelgezwitscher, das den Beginn eines strahlenden Septembermorgens
begleitete. Die Sonne malte ein bizarres Muster an
die Zimmerdecke, wurde allmählich kräftiger und tauchte den Raum in rotgoldenes Licht.
Helena verspürte eine ungeduldige Vorfreude. Schon seit
Kindertagen liebte sie den Herbst, der die Winzer für die
Mühen des zurückliegenden Jahres belohnte und zugleich noch einmal all ihr Können forderte.
Zärtlich blickte sie zu ihrem noch schlafenden Ehemann,
bevor sie in ihren Morgenmantel schlüpfte. Barfuß eilte sie zum
Fenster und warf einen Blick auf den Garten, den sie nach der
Hochzeit mit einigen exotischen Stauden versehen hatte - ein
Andenken an ihre erste Begegnung im Kurpark. Tautropfen
glitzerten auf dem Buchsbaum, der einen schmalen Kiesweg
einfasste. Das Laub der Blutbuche, die das Zentrum des Gartens
bildete, leuchtete rot. Unter dem herbstlich verfärbten
Laub des Wilden Weins ragte die weiße Kuppel eines kleinen Pavillons empor.
Helena lächelte glücklich in sich hinein. Damals in Wiesbaden
hätte sie nicht geglaubt, dass sie eines Tages mit Laurent
vor den Altar treten würde. Doch nur drei Monate später, als
die ersten Schneeflocken fielen, hatte er um ihre Hand angehalten.
Tante Sophie war überglücklich gewesen. Leider hatte sich
ihr Lungenleiden derart verschlechtert, dass sie noch vor Helenas Hochzeit gestorben war.
Das junge Paar lebte auf Helenas Weingut. Obwohl auch
Laurent aus einer Winzerfamilie stammte, zeigte er nur wenig
Interesse für ihre Arbeit. Seine Leidenschaft galt ausschließlich
der Fliegerei, und da Helena ihn über alles liebte, hatte sie nie versucht, ihn davon abzubringen.
Da siehst du mal, Tantchen, dachte sie so manches Mal, jetzt
bin ich zwar verheiratet, arbeite aber noch immer und habe
keine Zeit für Kaffeekränzchen und Empfänge. Und das gefällt
mir so. Nur hätte ich gern früher ein Kind bekommen . . .
Der Arzt hatte Helena zu Gelassenheit geraten. Es sei normal,
dass manche Frauen erst zwei oder drei Jahre nach der
Hochzeit schwanger würden. Da auch Laurent nicht beunruhigt
wirkte und nicht darauf drängte, Vater zu werden, hatte
Helena sich in ihrem neuen Leben als Ehefrau eingerichtet und genoss es.
Ein Scheppern riss Helena aus ihren Gedanken. Das Leben
in der Küche war schon vor gut einer Stunde erwacht. Obwohl
die Dienstmädchen sich bemühten, leise zu gehen, vernahm
Helena in der Stille deutlich deren Schritte. Kaffeeduft waberte ins Zimmer.
Helena unterdrückte ein leichtes Unwohlsein. Seit Wochen
war sie erschöpft und verspürte morgendliche Übelkeit. Zunächst
hatte sie eine Magenverstimmung vermutet, aber dann
hatten sich die Anzeichen verdichtet, dass sie endlich schwanger
war. Am Vortag hatte ein Besuch beim Hausarzt ihr Gewissheit verschafft.
Ich muss Laurent unbedingt davon erzählen. Heute noch.
Als sich ihr Mann regte, wandte sie sich um. Mit seinem verwuschelten
schwarzen Haar und den blauen Augen wirkte er
noch immer so anziehend wie damals im Kurgarten.
»Du bist ja schon wach!« Gähnend stand er auf. »Kannst es wohl kaum noch erwarten, bis die Lese beginnt.«
»Das weißt du doch!« Sie lächelte versonnen und dachte:
Und noch etwas kann ich kaum erwarten. Vielleicht sollte ich es ihm jetzt sagen ...
Laurent trat zu ihr und schloss sie in die Arme. Der Duft seiner
Haut ließ sie wohlig erschaudern und weckte das Verlangen nach ihm.
Was wäre dabei, wenn wir uns wieder ins Bett zurückzögen
und uns liebten?, überlegte Helena. Aber sie spürte deutlich
seine Unruhe. Schon machte er sich los, gab ihr noch einen
flüchtigen Kuss und verschwand im Badezimmer.
Auch für ihren Mann stand Großes bevor. Seit Tagen redete
er von nichts anderem als von dem neuen Flugzeug, das sein
Freund B´echereau baute. Die Fertigstellung war nur noch eine
Frage von wenigen Tagen. B´echereau hatte Laurent versprochen,
dass er den neuen Metallvogel als Erster fliegen dürfe.
Helena sah dem mit Sorge entgegen, denn sie wusste ihren
Mann lieber bei sich auf der Erde als in der Luft. Da sie ihn
liebte und ahnte, wie viel ihm diese Premiere bedeutete, ließ sie sich jedoch nichts anmerken.
Beim Frühstück saß sie schweigsam gegenüber von Laurent,
der sich der Morgenzeitung widmete, und drehte unruhig die
Tasse in der Hand. Der Kaffee war bereits kalt, und die Rosinenwecke
auf ihrem Teller hatte sie noch nicht angerührt.
Sie musste es ihm sagen, aber sie hatte das Gefühl, dass er mit
seinen Gedanken ganz woanders war.
»Wie wär's, wenn wir nachher einen Spaziergang durch den
Weinberg machen würden?«, schlug sie schließlich vor. »Nur wir zwei.«
Vielleicht ist es albern, so zu zögern, aber diese Nachricht
braucht den richtigen Rahmen, dachte sie. Und vor allem keine
Dienstmädchen, die am Esszimmer vorbeihuschen und die Ohren spitzen.
Laurent legte die Zeitung beiseite. »Ich fürchte, das werden
wir auf heute Abend verschieben müssen.« Ein zufriedenes
Lächeln trat auf seine Züge. »Ich habe es dir noch nicht erzählt,
aber ... dieMaschine ist fertig! Gestern hat mir B´echereau die Nachricht geschickt.«
Schon? Vor Schreck brachte Helena keinen Ton heraus.
Warum hat er mir das nicht schon gestern gesagt?
»Wir werden heute den ersten Testflug durchführen. Einige
wichtige Herren der Soci´et´e Pour les Appareils Deperdussin
werden zugegen sein. Wenn alles so läuft, wie wir es uns vorstellen,
wird die Firma das Modell in die Produktion aufnehmen.
Und ich kann immer behaupten, dass ich der Erste war, der es geflogen hat.«
Helena war vor Angst wie gelähmt. Ohne sich im Flugzeugbau
auszukennen, wusste sie, dass ein Testflug besonders gefährlich
war. Erst wenn eine Maschine in der Luft war, zeigten sich ihre Schwächen.
»Freust du dich denn gar nicht für mich?«
»Natürlich freue ich mich.« Sie trank einen Schluck Kaffee.
»Aber ist das Flugzeug nicht ein bisschen zu schnell fertig
geworden? Vor zwei Wochen hast du noch gesagt, dass es bis
zur Fertigstellung noch gut einen Monat dauern wird.«
Ein Schatten huschte über Laurents Gesicht.
Wusste ich es doch!, dachte Helena empört. Man hat die Arbeiten wegen der Industriellen beschleunigt.
Zärtlich griff Laurent nach ihrer Hand und küsste ihre Fingerspitzen.
»Keine Sorge, mein Liebling, unsere Techniker
verstehen ihr Handwerk! Diese Sache ist wichtig. Die Herren
von der Société sind nicht gerade für ihre Geduld bekannt. Und
die Konkurrenz schläft nicht. Das weißt du ebenso gut wie ich.«
»Aber ich kann nicht abstürzen, wenn beim Keltern etwas
falsch gemacht wird. Denk an die Geschichte von Ikarus!«
»Ich werde nicht abstürzen, ma chérie.« Er stockte, als käme
ihm wieder in den Sinn, was er bei ihrer ersten Begegnung im
Park gesagt hatte, und setzte hinzu: »Immerhin sind meine
Flügel solide und nicht aus Wachs und Federn. Außerdem sehe ich den Weinberg nur zu gern von oben.«
Enthoben aller Sorgen, dachte Helena, schluckte die Erwiderung
jedoch hinunter und nickte. Sie wusste, dass Laurent
sich niemals ändern würde. Der Weinbau interessierte ihn
nicht. Den überließ er nur zu gern seiner Frau. Aber daraus
hatte Laurent ja nie ein Geheimnis gemacht. Und sie wollte keinen
Streit mit ihm. Helena beschloss, die gute Nachricht auf
den Abend zu verschieben. Wahrscheinlich nimmst du sie dann
besser auf als jetzt, wo du mit dem Kopf bereits über den Wolken
bist. Die Neuigkeit würde dich bestimmt nur ablenken, überlegte sie.
Laurent schaute sie noch eine Weile zärtlich an, dann leerte er seine Tasse und erhob sich.
»Willst du nichts essen?«, fragte Helena, denn sie hätte ihn gern noch etwas länger bei sich behalten.
»Ich bringe wahrscheinlich erst etwas hinunter, wenn der
Testflug gelaufen ist. Heute Abend werde ich dir haarklein
berichten, was die Konstrukteure gesagt haben. Und wie es
sich angefühlt hat, dort oben zu sein - frei wie ein Vogel.«
Damit beugte er sich über sie und legte die Arme um ihre
Schultern. »Wir werden Geschichte schreiben, Helena. Und
ich werde es mir nicht nehmen lassen, über den Weinberg zu
fliegen und dir zuzuwinken.« Damit gab er ihr einen Kuss und verabschiedete sich.
Nachdem sie ihr Kopftuch geknotet hatte, trat Helena vor
die Tür. Ebenso wie ihre Arbeiter trug sie grobe Kleidung: Leinenhose,
Baumwollbluse und kniehohe Stiefel. Das hatte ihr in
den ersten Jahren große Verwunderung eingebracht und in der
feinen Gesellschaft von Koblenz empörtes Getuschel ausgelöst.
Doch mittlerweile hatten sich zumindest ihre Leute daran gewöhnt.
Ende September waren alle Tätigkeiten auf dem Weingut darauf
ausgerichtet, einen reibungslosen Ablauf der Lese zu
gewährleisten. Pressen wurden überprüft, Erntekörbe ausgebessert,
Fässer geschwefelt und vom Weinstein befreit oder
aussortiert - sofern das Reinigen nicht mehr möglich war. Ein
rauchiger Duft nach Holz drang aus der hauseigenen Küferei, da die neuen Fässer ihre Rauchversiegelung erhielten.
Die Betriebsamkeit auf dem Hof erfüllte Helena mit ungeheurem
Tatendrang. Mit dem Vorsatz, einige Trauben zur
Probe zu ernten, um ihren Reifegrad zu bestimmen, eilte sie
zum Schuppen, wo die Lesebütten standen. Unterwegs hielt sie
einen jungen Burschen an, der einen Holzkasten zum Kelterhaus trug. »Sind das die neuen Korken, Michael?«
»Ja, Frau de Villiers, sie sind gerade angekommen.« Er klappte den Deckel auf.
Die Korken lagen fein säuberlich sortiert in der Kiste. An
den Längsseiten war bereits der Umriss einer Lilie, das Markenzeichen
des Weingutes Lilienstein, eingebrannt.
Helena nahm einen Korken heraus und drehte ihn zwischen den Fingern.
Eine sehr gute Qualität. Acht Jahresringe, glatte Spiegel,
wenig Poren. Die besten Korken seit Jahren. Zuversichtlich
lächelnd legte sie den Korken zurück und ließ den Burschen ziehen.
»Guten Morgen, Frau de Villiers! Auf ein Wort!«
Helena wandte sich um. Aus dem Kelterhaus eilte ihr Kellermeister
Ludwig Bergau mit einem Spaten in der Hand entgegen. Seine Miene wirkte besorgt.
»Guten Morgen, Herr Bergau! Ist das Wetter nicht herrlich?«
Bergau, ein hochgewachsener, kräftiger Mann Anfang fünfzig,
räusperte sich, als habe er einen Frosch im Hals. »Es gibt da etwas, was Sie sich anschauen sollten.«
Helena stutzte. Was will er mit der Schaufel? »Worum geht es denn, Herr Bergau?«
»Das sollten wir besprechen, wenn wir oben sind. Ich will
keine Pferde scheu machen, aber heute Morgen ist mir beim Rundgang etwas aufgefallen.«
Helena wurde unwohl zumute. Wenn Bergau besorgt war,
dann sicher aus gutem Grund. Ist etwas mit den Rebstöcken?
Einige von ihnen kümmerten ein wenig, aber das hatte sie bisher der Sommerhitze zugeschrieben. »Also gut, gehen wir!«
Nachdem sie den Gutshof hinter sich gelassen hatten, erklommen
sie den Weinberg auf dem Südhang des Lahntals. Der
unter ihnen gelegene Fluss glitzerte im Sonnenschein, der von
keiner einzigen Wolke getrübt wurde. Ideales Flugwetter, ging
Helena durch den Kopf, und in Gedanken schickte sie Laurent,
der in diesen Minuten vermutlich in seine Maschine stieg, einen liebevollen Gruß.
Die Rebstöcke an dem Spalier, zu dem Bergau sie führte,
boten einen äußerst traurigen Anblick. Besorgt betrachtete Helena die schlaffen, bräunlich verfärbten Blätter.
»Ich habe diese Stöcke schon eine Weile im Auge. Anfänglich
habe ich genau wie Sie vermutet, dass die Hitze an dem
Zustand schuld ist. Aber jetzt ist mir aufgefallen, dass auch
andere Stöcke kränkeln. Vermutlich haben sie sich die Reblaus eingefangen.«
Bergau griff behutsam nach einer Traube und zog sie unter
dem Laub hervor. Die Beeren waren bräunlich gelb und
schrumpelig. »Sehen Sie? Die Pflanze verdurstet. Gallen habe
ich an den Blättern zwar noch nicht entdeckt, doch das muss nichts heißen.«
Obwohl sie bisher von dieser Plage verschont geblieben
waren, kannte Helena die Anzeichen von Reblausbefall. Ihr
Vater hatte sie bereits als junges Mädchen in den komplizierten
Fortpflanzungskreis dieses Schädlings eingeweiht. In diesem
Zyklus gab es eine Phase, in der die Reblauseier, geschützt
von netzartigen Gebilden, den Gallen, an den Unterseiten des
Laubes hafteten. Das war ein sicheres Zeichen für den Befall
mit Blattrebläusen, den harmloseren Vertretern dieser Art. Wurzelrebläuse
waren wesentlich gefährlicher, denn deren Auftreten
bemerkte man erst, wenn die Weinstöcke bereits nachhaltig geschädigt waren.
Helena presste die Lippen zusammen. Was soll ich nur tun?
Die Reblausplage hat in Baden ganze Weinberge vernichtet. Wenn sich der Verdacht bewahrheitet . . .
»Soll ich die Wurzeln freilegen?« Bergaus Stimme riss sie aus den Gedanken.
»Nehmen Sie den dort drüben!« Helena deutete auf einen besonders schwächlichen Stock.
Bergau setzte den Spaten an.
Erschaudernd verschränkte Helena die Arme vor der Brust.
Bitte, lieber Gott, lass es nicht sein!, flehte sie still.
Ein Brummen am Himmel lenkte sie ab. Sie legte den Kopf
in den Nacken und beschirmte die Augen mit der rechten Hand.
Laurent! Das Flugzeug war wirklich imposant. Die Spannweite der Flügel war enorm, der Rumpf glänzte silbrig. Der
mächtige Propeller und die Räder blitzten in der Sonne. Leider
flog es zu hoch, sodass Helena ihren Mann in der Führerkanzel
nicht erkennen konnte. Dennoch winkte sie, als die Maschine
mit ohrenbetäubendem Lärm über sie hinwegdonnerte. Dann
wandte sie sich wieder dem Kellermeister zu, der seine Arbeit gerade beendete.
»Da haben wir sie.« Bergau strich Erdklumpen von den Wurzeln.
Copyright .
2011 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Helena stand der Sinn aber nicht nach Kinderkriegen und
Abendgesellschaften. Ihre Liebe hatte schon immer dem väterlichen
Weingut gehört. Nach dem frühen Tod der Eltern trug sie
die Verantwortung für den Familienbetrieb. Zeit, um auf Bällen
und Empfängen nach einem Bräutigam Ausschau zu halten,
hatte sie nicht. Natürlich wollte sie eines Tages heiraten, doch
warum sollte sie nicht auch als Winzerin erfolgreich sein?
Sophie hatte für diese moderne Ansicht allerdings gar nichts
übrig. Immer wieder versuchte sie, das Interesse der männlichen
Kurgäste auf ihre Nichte zu lenken. Dabei übersah sie
geflissentlich, dass die jüngsten von ihnen doppelt so alt wie
Helena waren.
Ach, wenn Tantchen nur einsehen würde, dass sich die Zeiten
geändert haben!, dachte Helena nun, während sie auf der
Parkbank die wärmende Sonne genoss.
Da ertönten Schritte.
Helena schlug die Augen auf.
Ein Mann stand vor ihr. Er war etwa Mitte dreißig und trug
einen braunen Tweedanzug. Schwarze Locken umrahmten ein
markantes, sonnengebräuntes Gesicht.
Wie lange hat er mich wohl schon beobachtet?, fragte sie sich
erschrocken.
»Excusez-moi,
Mademoiselle, ich wollte Sie nicht aus Ihrer petite sieste reißen.«
»Ein Mittagsschläfchen?«, fragte Helena lachend. »Nein,
nein, Monsieur, ich habe nur die Stille genossen. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich suche die Trinkhalle.« Er lächelte gewinnend. »Können Sie mir sagen, wo ich sie finde?«
Es überraschte Helena, dass er so flüssig deutsch sprach,
wenngleich mit einem ausgeprägten französischen Akzent. Sie
musterte ihn neugierig. Die Trinkhalle des Kurhauses, in der
man jederzeit Quellwasser zu sich nehmen konnte, war eigentlich
nicht zu übersehen. Kaum zu glauben, dass er sie nicht
gefunden hatte . . . Doch sie wollte nicht unhöflich sein. Was für
Augen!, dachte sie, während sie das Gefühl hatte, in dem hellen
Blau zu versinken.
»Sie müssen nur geradeaus gehen. Hinter dem Pavillon befindet sich der Eingang.«
»Vielen Dank.« Der Mann rührte sich nicht von der Stelle.
Was will er denn jetzt noch? Helena zwang sich, nicht nervös an ihrem Ärmel zu zupfen.
»Halten Sie mich bitte nicht für unverschämt, aber dürfte ich Sie bitten, mich zur Trinkhalle zu begleiten?«
»Haben Sie etwa Angst, sich zu verlaufen?«
»Nein, Ihre Beschreibung war sehr gut, doch in Ihrer Begleitung ist der Weg sicher angenehmer.«
Wie kommt er bloß dazu, mich darum zu bitten? »Ich kenne ja nicht mal Ihren Namen!«
Dass sie in wenigen Minuten von ihrer Tante erwartet wurde, verschwieg Helena.
»Bitte verzeihen Sie!« Der Fremde deutete eine Verbeugung
an. »Mein Name ist Laurent de Villiers. Wir Neuseeländer vergessen schon mal unsere Manieren.«
»Neuseeländer? Das ist ja kaum zu glauben!«
»Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen meinen Pass, Mademoiselle.«
Diese Wendung war Helena peinlich. Sie hatte ihn nicht als
Lügner hinstellen wollen. Verlegen senkte sie den Kopf. Über
Neuseeland wusste sie nicht viel mehr, als dass diese Insel
irgendwo in der Südsee lag. Aber vielleicht hatte er ihr ja tatsächlich
etwas vorgeflunkert. »Was treibt Sie denn hierher
nach Wiesbaden?«, fragte sie deshalb. »Ich habe Sie für einen
Franzosen gehalten. Ist Neuseeland nicht eine englische Kronkolonie?«
»Das ist richtig. Dennoch gibt es dort zahlreiche Franzosen.
Aber dürfte ich Ihren Namen erfahren, bevor ich Ihnen verrate, was mich hierhergeführt hat?«
Helena war hin und her gerissen. Der Mann verhielt sich
sonderbar, aber er hatte etwas Faszinierendes an sich. »Ich bin Helena von Lilienstein.«
Monsieur de Villiers nahm ihre Hand und hauchte einen
formvollendeten Kuss darüber. »Es ist mir eine Freude, Ihre
Bekanntschaft zu machen, Mademoiselle Lilienstein.«
Helena errötete und schlug verlegen die Augen nieder.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?«
»Keinesfalls, nur . . .«
Er wartete ihren Einwand nicht ab, sondern nahm gleich
Platz. Viel zu nahe. Helena rückte unwillkürlich etwas zur
Seite. Tausend Schmetterlinge schienen in ihrem Bauch zu flattern.
»Ich bin vor einem Jahr nach Deutschland gekommen, weil
ich hier fern von den Ansprüchen meiner Mutter leben kann«, erklärte De Villiers nun.
»Was verlangt sie denn von Ihnen?«, fragte Helena verwundert.
»Dass ich den Familienbetrieb übernehme. Aber ich habe
andere Ambitionen.« Theatralisch breitete er die Arme aus.
»Ich möchte den Himmel erobern!«
Helena lachte. »Nichts weiter als das?«
»Das genügt doch, oder? Auf den Spuren des Ikarus wandeln ...«
Mit ähnlicher Leidenschaft hätte ich vom Weinbau gesprochen,
kam ihr in den Sinn. »Sie wissen aber sicher, welches Schicksal Ikarus erlitten hat.«
Laurent nickte. »Er flog zu nahe an die Sonne, seine Flügel
schmolzen, und er stürzte ab. Aber mir wird das nicht passieren!
Ich werde in einer Maschine aus Eisen, Holz und Tuch
fliegen. Kein Wachs und keine Federn. Haben Sie je von Otto
Lilienthal gehört? Oder von den Gebrüdern Wright?«
Wie seine Augen leuchten!, dachte Helena. »Von Lilienthal
habe ich gehört. Seine Flugapparate waren nicht besonders erfolgreich.«
»Immerhin ist er tausend Mal damit gesegelt. Die Gebrüder
Wright haben das erste Motorflugzeug gebaut. Und Henri Farman
ist im vergangenen Jahr ein Flug von drei Stunden gelungen,
bei dem er hundertachtzig Kilometer zurückgelegt hat.
Ich will diesen Rekord verbessern. Nein, ich werde die gesamte Fliegerei revolutionieren!«
»Und wie stellen Sie sich das vor?«
»Ich habe Kontakt zu Louis B´echereau aufgenommen, der
an einem ganz neuartigen Flugzeug arbeitet. Ich unterstütze
ihn und fliege für ihn. Wir werden Geschichte schreiben!«
Sein eindringlicher Blick stürzte Helena in Verlegenheit. Sie
räusperte sich, griff nach dem Buch, das neben ihr lag, und umklammerte
es wie einen Rettungsanker. »Wollten Sie nicht
eigentlich zur Trinkhalle?«, brachte sie schließlich hervor.
Laurent funkelte sie schelmisch an. »Ich muss gestehen, dass
dies eigentlich nur eine Ausrede war, um Sie in ein Gespräch
zu verwickeln. Ich beobachte Sie schon seit einer Woche, und
mir wollte kein besserer Vorwand einfallen, um Sie anzusprechen.«
Eine Woche!
Helena musste ihn fragend angesehen haben, denn er fügte
rasch hinzu: »Ich habe einen Bekannten, den ich hin und wieder
besuche, wenn er sich im Kurhaus aufhält. Bei meinem
Besuch letzte Woche habe ich gesehen, wie Sie mit einer älteren
Dame hier angekommen sind. Von dem Augenblick an wollte
Ich wissen, wer Sie sind. Und vor lauter Angst, dass Sie wieder
abreisen könnten, ohne dass ich Ihren Namen in Erfahrung
gebracht habe, bin ich auf die Sache mit der Trinkhalle verfallen.«
Helena vergaß vor lauter Anspannung zu atmen. Warum habe ich ihn nicht bemerkt?, fragte sie sich. »Also gut!« Sie
erhob sich resolut von der Bank. »Machen wir einen kleinen
Spaziergang. Ich wünsche allerdings, dass Sie mir noch mehr von sich erzählen.«
Laurent lächelte breit, sprang auf und bot ihr seinen Arm an.
»Das wird sich einrichten lassen. Hoffentlich langweile ich Sie nicht.«
»Wir werden sehen«, gab Helena lächelnd zurück und
hängte sich bei ihm ein. Tantchen wird sicher schon wach sein,
überlegte sie, aber jetzt habe ich eine gute Entschuldigung, wenn ich mich verspäte.
Drei Jahre später...
Seit Stunden lag Helena de Villiers wach und lauschte dem
Vogelgezwitscher, das den Beginn eines strahlenden Septembermorgens
begleitete. Die Sonne malte ein bizarres Muster an
die Zimmerdecke, wurde allmählich kräftiger und tauchte den Raum in rotgoldenes Licht.
Helena verspürte eine ungeduldige Vorfreude. Schon seit
Kindertagen liebte sie den Herbst, der die Winzer für die
Mühen des zurückliegenden Jahres belohnte und zugleich noch einmal all ihr Können forderte.
Zärtlich blickte sie zu ihrem noch schlafenden Ehemann,
bevor sie in ihren Morgenmantel schlüpfte. Barfuß eilte sie zum
Fenster und warf einen Blick auf den Garten, den sie nach der
Hochzeit mit einigen exotischen Stauden versehen hatte - ein
Andenken an ihre erste Begegnung im Kurpark. Tautropfen
glitzerten auf dem Buchsbaum, der einen schmalen Kiesweg
einfasste. Das Laub der Blutbuche, die das Zentrum des Gartens
bildete, leuchtete rot. Unter dem herbstlich verfärbten
Laub des Wilden Weins ragte die weiße Kuppel eines kleinen Pavillons empor.
Helena lächelte glücklich in sich hinein. Damals in Wiesbaden
hätte sie nicht geglaubt, dass sie eines Tages mit Laurent
vor den Altar treten würde. Doch nur drei Monate später, als
die ersten Schneeflocken fielen, hatte er um ihre Hand angehalten.
Tante Sophie war überglücklich gewesen. Leider hatte sich
ihr Lungenleiden derart verschlechtert, dass sie noch vor Helenas Hochzeit gestorben war.
Das junge Paar lebte auf Helenas Weingut. Obwohl auch
Laurent aus einer Winzerfamilie stammte, zeigte er nur wenig
Interesse für ihre Arbeit. Seine Leidenschaft galt ausschließlich
der Fliegerei, und da Helena ihn über alles liebte, hatte sie nie versucht, ihn davon abzubringen.
Da siehst du mal, Tantchen, dachte sie so manches Mal, jetzt
bin ich zwar verheiratet, arbeite aber noch immer und habe
keine Zeit für Kaffeekränzchen und Empfänge. Und das gefällt
mir so. Nur hätte ich gern früher ein Kind bekommen . . .
Der Arzt hatte Helena zu Gelassenheit geraten. Es sei normal,
dass manche Frauen erst zwei oder drei Jahre nach der
Hochzeit schwanger würden. Da auch Laurent nicht beunruhigt
wirkte und nicht darauf drängte, Vater zu werden, hatte
Helena sich in ihrem neuen Leben als Ehefrau eingerichtet und genoss es.
Ein Scheppern riss Helena aus ihren Gedanken. Das Leben
in der Küche war schon vor gut einer Stunde erwacht. Obwohl
die Dienstmädchen sich bemühten, leise zu gehen, vernahm
Helena in der Stille deutlich deren Schritte. Kaffeeduft waberte ins Zimmer.
Helena unterdrückte ein leichtes Unwohlsein. Seit Wochen
war sie erschöpft und verspürte morgendliche Übelkeit. Zunächst
hatte sie eine Magenverstimmung vermutet, aber dann
hatten sich die Anzeichen verdichtet, dass sie endlich schwanger
war. Am Vortag hatte ein Besuch beim Hausarzt ihr Gewissheit verschafft.
Ich muss Laurent unbedingt davon erzählen. Heute noch.
Als sich ihr Mann regte, wandte sie sich um. Mit seinem verwuschelten
schwarzen Haar und den blauen Augen wirkte er
noch immer so anziehend wie damals im Kurgarten.
»Du bist ja schon wach!« Gähnend stand er auf. »Kannst es wohl kaum noch erwarten, bis die Lese beginnt.«
»Das weißt du doch!« Sie lächelte versonnen und dachte:
Und noch etwas kann ich kaum erwarten. Vielleicht sollte ich es ihm jetzt sagen ...
Laurent trat zu ihr und schloss sie in die Arme. Der Duft seiner
Haut ließ sie wohlig erschaudern und weckte das Verlangen nach ihm.
Was wäre dabei, wenn wir uns wieder ins Bett zurückzögen
und uns liebten?, überlegte Helena. Aber sie spürte deutlich
seine Unruhe. Schon machte er sich los, gab ihr noch einen
flüchtigen Kuss und verschwand im Badezimmer.
Auch für ihren Mann stand Großes bevor. Seit Tagen redete
er von nichts anderem als von dem neuen Flugzeug, das sein
Freund B´echereau baute. Die Fertigstellung war nur noch eine
Frage von wenigen Tagen. B´echereau hatte Laurent versprochen,
dass er den neuen Metallvogel als Erster fliegen dürfe.
Helena sah dem mit Sorge entgegen, denn sie wusste ihren
Mann lieber bei sich auf der Erde als in der Luft. Da sie ihn
liebte und ahnte, wie viel ihm diese Premiere bedeutete, ließ sie sich jedoch nichts anmerken.
Beim Frühstück saß sie schweigsam gegenüber von Laurent,
der sich der Morgenzeitung widmete, und drehte unruhig die
Tasse in der Hand. Der Kaffee war bereits kalt, und die Rosinenwecke
auf ihrem Teller hatte sie noch nicht angerührt.
Sie musste es ihm sagen, aber sie hatte das Gefühl, dass er mit
seinen Gedanken ganz woanders war.
»Wie wär's, wenn wir nachher einen Spaziergang durch den
Weinberg machen würden?«, schlug sie schließlich vor. »Nur wir zwei.«
Vielleicht ist es albern, so zu zögern, aber diese Nachricht
braucht den richtigen Rahmen, dachte sie. Und vor allem keine
Dienstmädchen, die am Esszimmer vorbeihuschen und die Ohren spitzen.
Laurent legte die Zeitung beiseite. »Ich fürchte, das werden
wir auf heute Abend verschieben müssen.« Ein zufriedenes
Lächeln trat auf seine Züge. »Ich habe es dir noch nicht erzählt,
aber ... dieMaschine ist fertig! Gestern hat mir B´echereau die Nachricht geschickt.«
Schon? Vor Schreck brachte Helena keinen Ton heraus.
Warum hat er mir das nicht schon gestern gesagt?
»Wir werden heute den ersten Testflug durchführen. Einige
wichtige Herren der Soci´et´e Pour les Appareils Deperdussin
werden zugegen sein. Wenn alles so läuft, wie wir es uns vorstellen,
wird die Firma das Modell in die Produktion aufnehmen.
Und ich kann immer behaupten, dass ich der Erste war, der es geflogen hat.«
Helena war vor Angst wie gelähmt. Ohne sich im Flugzeugbau
auszukennen, wusste sie, dass ein Testflug besonders gefährlich
war. Erst wenn eine Maschine in der Luft war, zeigten sich ihre Schwächen.
»Freust du dich denn gar nicht für mich?«
»Natürlich freue ich mich.« Sie trank einen Schluck Kaffee.
»Aber ist das Flugzeug nicht ein bisschen zu schnell fertig
geworden? Vor zwei Wochen hast du noch gesagt, dass es bis
zur Fertigstellung noch gut einen Monat dauern wird.«
Ein Schatten huschte über Laurents Gesicht.
Wusste ich es doch!, dachte Helena empört. Man hat die Arbeiten wegen der Industriellen beschleunigt.
Zärtlich griff Laurent nach ihrer Hand und küsste ihre Fingerspitzen.
»Keine Sorge, mein Liebling, unsere Techniker
verstehen ihr Handwerk! Diese Sache ist wichtig. Die Herren
von der Société sind nicht gerade für ihre Geduld bekannt. Und
die Konkurrenz schläft nicht. Das weißt du ebenso gut wie ich.«
»Aber ich kann nicht abstürzen, wenn beim Keltern etwas
falsch gemacht wird. Denk an die Geschichte von Ikarus!«
»Ich werde nicht abstürzen, ma chérie.« Er stockte, als käme
ihm wieder in den Sinn, was er bei ihrer ersten Begegnung im
Park gesagt hatte, und setzte hinzu: »Immerhin sind meine
Flügel solide und nicht aus Wachs und Federn. Außerdem sehe ich den Weinberg nur zu gern von oben.«
Enthoben aller Sorgen, dachte Helena, schluckte die Erwiderung
jedoch hinunter und nickte. Sie wusste, dass Laurent
sich niemals ändern würde. Der Weinbau interessierte ihn
nicht. Den überließ er nur zu gern seiner Frau. Aber daraus
hatte Laurent ja nie ein Geheimnis gemacht. Und sie wollte keinen
Streit mit ihm. Helena beschloss, die gute Nachricht auf
den Abend zu verschieben. Wahrscheinlich nimmst du sie dann
besser auf als jetzt, wo du mit dem Kopf bereits über den Wolken
bist. Die Neuigkeit würde dich bestimmt nur ablenken, überlegte sie.
Laurent schaute sie noch eine Weile zärtlich an, dann leerte er seine Tasse und erhob sich.
»Willst du nichts essen?«, fragte Helena, denn sie hätte ihn gern noch etwas länger bei sich behalten.
»Ich bringe wahrscheinlich erst etwas hinunter, wenn der
Testflug gelaufen ist. Heute Abend werde ich dir haarklein
berichten, was die Konstrukteure gesagt haben. Und wie es
sich angefühlt hat, dort oben zu sein - frei wie ein Vogel.«
Damit beugte er sich über sie und legte die Arme um ihre
Schultern. »Wir werden Geschichte schreiben, Helena. Und
ich werde es mir nicht nehmen lassen, über den Weinberg zu
fliegen und dir zuzuwinken.« Damit gab er ihr einen Kuss und verabschiedete sich.
Nachdem sie ihr Kopftuch geknotet hatte, trat Helena vor
die Tür. Ebenso wie ihre Arbeiter trug sie grobe Kleidung: Leinenhose,
Baumwollbluse und kniehohe Stiefel. Das hatte ihr in
den ersten Jahren große Verwunderung eingebracht und in der
feinen Gesellschaft von Koblenz empörtes Getuschel ausgelöst.
Doch mittlerweile hatten sich zumindest ihre Leute daran gewöhnt.
Ende September waren alle Tätigkeiten auf dem Weingut darauf
ausgerichtet, einen reibungslosen Ablauf der Lese zu
gewährleisten. Pressen wurden überprüft, Erntekörbe ausgebessert,
Fässer geschwefelt und vom Weinstein befreit oder
aussortiert - sofern das Reinigen nicht mehr möglich war. Ein
rauchiger Duft nach Holz drang aus der hauseigenen Küferei, da die neuen Fässer ihre Rauchversiegelung erhielten.
Die Betriebsamkeit auf dem Hof erfüllte Helena mit ungeheurem
Tatendrang. Mit dem Vorsatz, einige Trauben zur
Probe zu ernten, um ihren Reifegrad zu bestimmen, eilte sie
zum Schuppen, wo die Lesebütten standen. Unterwegs hielt sie
einen jungen Burschen an, der einen Holzkasten zum Kelterhaus trug. »Sind das die neuen Korken, Michael?«
»Ja, Frau de Villiers, sie sind gerade angekommen.« Er klappte den Deckel auf.
Die Korken lagen fein säuberlich sortiert in der Kiste. An
den Längsseiten war bereits der Umriss einer Lilie, das Markenzeichen
des Weingutes Lilienstein, eingebrannt.
Helena nahm einen Korken heraus und drehte ihn zwischen den Fingern.
Eine sehr gute Qualität. Acht Jahresringe, glatte Spiegel,
wenig Poren. Die besten Korken seit Jahren. Zuversichtlich
lächelnd legte sie den Korken zurück und ließ den Burschen ziehen.
»Guten Morgen, Frau de Villiers! Auf ein Wort!«
Helena wandte sich um. Aus dem Kelterhaus eilte ihr Kellermeister
Ludwig Bergau mit einem Spaten in der Hand entgegen. Seine Miene wirkte besorgt.
»Guten Morgen, Herr Bergau! Ist das Wetter nicht herrlich?«
Bergau, ein hochgewachsener, kräftiger Mann Anfang fünfzig,
räusperte sich, als habe er einen Frosch im Hals. »Es gibt da etwas, was Sie sich anschauen sollten.«
Helena stutzte. Was will er mit der Schaufel? »Worum geht es denn, Herr Bergau?«
»Das sollten wir besprechen, wenn wir oben sind. Ich will
keine Pferde scheu machen, aber heute Morgen ist mir beim Rundgang etwas aufgefallen.«
Helena wurde unwohl zumute. Wenn Bergau besorgt war,
dann sicher aus gutem Grund. Ist etwas mit den Rebstöcken?
Einige von ihnen kümmerten ein wenig, aber das hatte sie bisher der Sommerhitze zugeschrieben. »Also gut, gehen wir!«
Nachdem sie den Gutshof hinter sich gelassen hatten, erklommen
sie den Weinberg auf dem Südhang des Lahntals. Der
unter ihnen gelegene Fluss glitzerte im Sonnenschein, der von
keiner einzigen Wolke getrübt wurde. Ideales Flugwetter, ging
Helena durch den Kopf, und in Gedanken schickte sie Laurent,
der in diesen Minuten vermutlich in seine Maschine stieg, einen liebevollen Gruß.
Die Rebstöcke an dem Spalier, zu dem Bergau sie führte,
boten einen äußerst traurigen Anblick. Besorgt betrachtete Helena die schlaffen, bräunlich verfärbten Blätter.
»Ich habe diese Stöcke schon eine Weile im Auge. Anfänglich
habe ich genau wie Sie vermutet, dass die Hitze an dem
Zustand schuld ist. Aber jetzt ist mir aufgefallen, dass auch
andere Stöcke kränkeln. Vermutlich haben sie sich die Reblaus eingefangen.«
Bergau griff behutsam nach einer Traube und zog sie unter
dem Laub hervor. Die Beeren waren bräunlich gelb und
schrumpelig. »Sehen Sie? Die Pflanze verdurstet. Gallen habe
ich an den Blättern zwar noch nicht entdeckt, doch das muss nichts heißen.«
Obwohl sie bisher von dieser Plage verschont geblieben
waren, kannte Helena die Anzeichen von Reblausbefall. Ihr
Vater hatte sie bereits als junges Mädchen in den komplizierten
Fortpflanzungskreis dieses Schädlings eingeweiht. In diesem
Zyklus gab es eine Phase, in der die Reblauseier, geschützt
von netzartigen Gebilden, den Gallen, an den Unterseiten des
Laubes hafteten. Das war ein sicheres Zeichen für den Befall
mit Blattrebläusen, den harmloseren Vertretern dieser Art. Wurzelrebläuse
waren wesentlich gefährlicher, denn deren Auftreten
bemerkte man erst, wenn die Weinstöcke bereits nachhaltig geschädigt waren.
Helena presste die Lippen zusammen. Was soll ich nur tun?
Die Reblausplage hat in Baden ganze Weinberge vernichtet. Wenn sich der Verdacht bewahrheitet . . .
»Soll ich die Wurzeln freilegen?« Bergaus Stimme riss sie aus den Gedanken.
»Nehmen Sie den dort drüben!« Helena deutete auf einen besonders schwächlichen Stock.
Bergau setzte den Spaten an.
Erschaudernd verschränkte Helena die Arme vor der Brust.
Bitte, lieber Gott, lass es nicht sein!, flehte sie still.
Ein Brummen am Himmel lenkte sie ab. Sie legte den Kopf
in den Nacken und beschirmte die Augen mit der rechten Hand.
Laurent! Das Flugzeug war wirklich imposant. Die Spannweite der Flügel war enorm, der Rumpf glänzte silbrig. Der
mächtige Propeller und die Räder blitzten in der Sonne. Leider
flog es zu hoch, sodass Helena ihren Mann in der Führerkanzel
nicht erkennen konnte. Dennoch winkte sie, als die Maschine
mit ohrenbetäubendem Lärm über sie hinwegdonnerte. Dann
wandte sie sich wieder dem Kellermeister zu, der seine Arbeit gerade beendete.
»Da haben wir sie.« Bergau strich Erdklumpen von den Wurzeln.
Copyright .
2011 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Anne Laureen
- 2011, 382 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404160479
- ISBN-13: 9783404160471
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